Als Forscherin ging Maria Sibylla Merian gegen alle Widerstände – als Künstlerin schenkte sie uns einen neuen Blick auf die Welt.
Niederlande, Ende des 17. Jahrhunderts: Um der Enge ihrer unglücklichen Ehe zu entfliehen, versucht die Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian in Amsterdam den Neuanfang. Ihr großer Traum ist es, ins ferne Surinam zu reisen, um dort die faszinierende Vielfalt der Schmetterlinge zu studieren und die Freiheit zu finden, die ihr in Europa immer verwehrt wurde. Der Start in den Niederlanden allerdings ist holprig, die erwarteten Malschülerinnen bleiben aus, und Financiers für eine Forschungsreise nach Übersee finden sich auch keine. Aber Maria gibt nicht auf. Hartnäckig rennt sie Türen ein, knüpft Kontakte und bringt ihre ältere Tochter unter die Haube. Doch als es endlich so weit ist, zögert sie – denn mit dem enigmatischen Jan de Jong, der immer wieder ihren Weg kreuzt, gibt es nun jemanden, der sie in der Heimat hält …
Ruth Kornberger wurde 1980 in Bremen geboren und studierte Angewandte Medienwissenschaft in Ilmenau. Ihre Kurzgeschichten sind in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen. Sie ist Mitglied der Autorenkollektive Junge Literatur Mannheim und Qindie. Mit ihrer Familie lebt sie in Weinheim.
Besuchen Sie uns auf www.cbertelsmann.de und Facebook.
RUTH
KORNBERGER
Frau Merian
und die Wunder
der Welt
ROMAN
C. Bertelsmann
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
1. Auflage
© Ruth Kornberger 2021
© 2021 C. Bertelsmann
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb
Redaktion: Sarvin Zakikhani
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagabbildungen: © Christie’s Images Ltd/Artothek;
© Christie’s Images/Bridgeman Images
Vor- und Nachsatz: © Bridgeman Images
Karte [[>>]]: Algemeene kaart van […] Suriname … [etc.].
Amsterdam, Covens & Mortier, nach 1758.
Allard Pierson, Bibliothek der Amsterdamer Universität,
HB-KZL 105.20.03
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-26695-0
V002
www.cbertelsmann.de
Prolog
Plantage La Providentia (Surinam), Mai 1700
Es war dunkel im Zimmer, und durch die dünnen Holzwände drang das Rufen fremder Tiere. Die Bewohner des Urwalds sangen, kreischten und zirpten noch immer, lockten, warnten und drohten einander. Sobald die Affen und Vögel endlich ihre Schlafplätze aufgesucht hatten, würde es ein wenig stiller werden.
Oder lärmten sie nicht immer noch, sondern schon wieder? Maria war, als hätte sie im Bett nur kurz die Augen geschlossen, aber dieses Gefühl täuschte sie häufig. In den tropischen Nächten fand sie oft nur leichten Schlaf und erhob sich kaum erholter, als sie sich niedergelegt hatte. Jetzt wurden die Sklaven zur Arbeit gerufen. Zuerst erscholl die Stimme von fern, aber nach zwei Wiederholungen war sie direkt am Fenster. Der Morgen war angebrochen.
Maria stand auf und scheuchte den Papagei fort.
»Von mir bekommst du nichts!«, rief sie.
Jemand hatte den Fehler begangen, das Tier zu füttern, und nun wurde man es nicht mehr los. Es äffte den Aufseher der Plantage nach und begleitete die religiösen Lieder der Labadisten mit schrillen Tönen.
Ein schmaler Streifen Helligkeit zeigte sich am Horizont. Kaum hatte Maria ihre Röcke angezogen und die Bluse geschnürt, war der Raum in Licht getaucht. In Surinam begann der Tag nicht mit der Gemächlichkeit eines niederländischen Sonnenaufgangs. Aus Richtung der Sklavenquartiere erklang Gesang. Die Arbeiter zogen auf die Felder. Hühner gackerten aufgeregt.
Maria trat an Dorotheas Bett. Sanft legte sie ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn und lächelte. So weckte sie ihr Kind seit zweiundzwanzig Jahren.
»Was ist?« Dorothea blinzelte unwirsch und gähnte.
»Du schwitzt.«
»Natürlich. Du etwa nicht?«
»Doch. Aber geht es dir sonst gut? Keine Kopfschmerzen?«
Damit hatte die Krankheit bei der Labadistenschwester Liese angefangen, und innerhalb von vier Tagen war ihr Bett für Dorothea frei geworden.
»Du redest es noch herbei, Mutter.«
»Nun denn, gehen wir zur Morgenandacht.«
Dorothea verzog das Gesicht. »Ich glaube, mir ist doch ein wenig unwohl.«
Maria schmunzelte. »Ich entschuldige dich, ausnahmsweise.«
Die Gemeinschaft betete in der Kapelle. Auch Marias Mund sprach die vertrauten Worte, doch ihr Geist widmete sich schon dem Werk des Tages. In der Kühle dieser ersten Stunden gelang das Denken am besten. Später wurde das Blut in den Adern dick und der Kopf schwer, man garte in der Hitze wie Gemüse in einer Brühe, und bei Anbruch der Nacht konnte man nur noch ermattet auf das Lager sinken.
Zum Morgenmahl, das aus wässrigem Getreidebrei und dünnem Tee bestand, kam Dorothea als Letzte. Sie murmelte eine Entschuldigung und bot an, den Spüldienst zu übernehmen.
Die Brüder und Schwestern zerstreuten sich. An diesem Vormittag wollten sie ein neues Gemüsebeet anlegen und den Bootssteg erneuern.
Während Dorothea Schalen und Löffel wusch, füllte Maria Wasser in einen ledernen Trinkschlauch. Heute ging es endlich einmal wieder in den Urwald. Sie schärfte ihr Messer und untersuchte die Klinge auf Rostspuren. In den Regenmonaten durchfeuchtete alles, und auch während des übrigen Jahres schritt die Verwitterung viel schneller voran als zu Hause. Schmetterlinge zu spannen war ein zweckloses Unterfangen, die Falter verschimmelten statt zu trocknen, oder fielen Käfern und Schaben zum Opfer. Durch Ritzen und Nähte drangen die Räuberchen, und scheiterten sie doch einmal an einem Behältnis, überließen sie den Schmaus den Kumpanen, die kleiner waren oder über schärfere Beißwerkzeuge verfügten.
Maria spürte einen Blick auf sich. Bruder Paul beobachtete sie vom Flur aus. Während die anderen Gläubigen Maria als sonderbaren Gast abzutun schienen, dessen Marotten einem immer unverständlich bleiben würden, wollte Paul, der erst seit Kurzem bei der Gemeinschaft lebte, Marias Rätsel ergründen. Täglich löcherte er sie mit Fragen:
– Über Aderi, Marias einheimische Begleiterin. (»Uralt. Warum nimmst du keine jüngere Indianerin mit?«)
– Über Marias Bluse (»Aus Seide. Wem hast du die gestohlen?«)
Heute trieb ihn Verwunderung über das Messer um: »Das ist viel zu klein. Welches Tier willst du damit erlegen?«
Maria lächelte. »Ich töte kein Tier damit.«
Paul schien nachzudenken. Kurz sah er hinaus zum Urwald, der sich weiter erstreckte, als jemals ein Weißer vorgedrungen war. Die wilde Landschaft barg Jaguare, Skorpione und ganze Völker, die niemand hier kannte. Es kursierten nur Gerüchte über sie. Im Inneren des Landes sollte es eine Hochebene geben, bewohnt von Stämmen, deren Mitglieder im Gegensatz zu Marias Führerin kriegerisch waren.
Warum bloß, mochte Paul sich denken, soll man weiter in dieses Land eindringen, dessen Küsten allein sich bereits durch Hitze, Krankheit, Piratenüberfälle und Sklavenaufstände für viele Siedler als tödlich erweisen? Paul schien die sicheren Grenzen des Gemüsegartens vorzuziehen.
»Ich gebe dir ein größeres Messer«, sagte Paul.
Ersatz konnte Maria gebrauchen. Paul reichte ihr ein Messer mit graviertem Griff, sein eigenes. Sie lächelte. Freundlich von ihm. Aber eine andere Sache benötigte sie noch dringender.
»Hast du Schnaps?«, fragte sie.
Empört schüttelte Paul den Kopf. Er schien kurz davor, ihr sein Messer wieder wegzunehmen.
»Für die Insekten«, ergänzte sie. »Könntest du ein paar Liter besorgen, wenn ihr demnächst nach Paramaribo rudert? Manche Plantagenbesitzer brennen selbst welchen aus Zuckerrohr. Ich brauche das reine, hochprozentige Destillat, nicht den Punsch, den sie damit mischen.«
»Du weißt, wir sollen uns von geistigen Getränken fernhalten. Das ist eine der wichtigsten Regeln«, sagte Paul. »Wäre Schnaps da, könnte jemand in Versuchung geraten.«
Maria seufzte. »Dann muss ich mit dem auskommen, was ich noch habe.« Sie nickte Paul zum Abschied zu.
»Aderi wartet auf uns.« Die Indianerin betrat das gerodete Gebiet der Plantage nicht, sondern blieb stets zwischen den letzten Bäumen stehen. Ihr Enkel wurde von den Labadisten unterrichtet. Von ihm hatte Aderi Niederländisch gelernt. Einerseits schien sie neugierig zu sein, andererseits legte sie große Vorsicht an den Tag. Maria glaubte verstanden zu haben, dass ihr Misstrauen von der Bibel herrührte. Die Labadisten lasen jeden Tag viele Stunden darin und wollten auch alle anderen dazu bringen, es zu tun. Den Grund dafür begriff Aderi nicht. Ob es ein magisches Ritual sei, hatte sie von Maria wissen wollen. Aber es passierte doch nichts. Also würde der Zauber noch kommen?
Über Marias Wünsche hingegen schien sie sich überhaupt nicht zu wundern. Wollte Maria einen blauen Vogel aus nächster Nähe sehen, zeigte Aderi ihr einen Strauch, von dessen Früchten er naschte. Deutete Maria auf einen Schmetterling, brachte Aderi Tage später die passende Raupe. Nur einmal hatte Aderi nicht weitergewusst. Ein Falter, so groß wie zwei Hände? Solch einen hatte sie noch nie gesehen. Aber es gab diese Art, Maria besaß den Beweis.
Geleitet von der Indianerin, machten Maria und Dorothea sich auf den Weg. Die Eingeborene kannte Pfade durch den Urwald, aber schnell kam man auch auf denen nicht voran. Man stolperte über Wurzeln und verfing sich in Ranken. Die surinamische Natur lehrte Demut, und befolgte man ihre Lektion, beschenkte sie einen reich. Man brauchte ja nur stehen zu bleiben und den Kopf zu heben, um eine vielstöckige Wunderkammer zu erblicken. Sträucher wurden von kleinen Bäumen überragt, und die wiederum bildeten das Unterholz für die alten Riesen, deren Laub den Wald bekrönte. Schlingpflanzen umwickelten Stämme, Vögel bauten ihre Nester in Astgabelungen, Affen jagten sich in schwindelerregender Höhe. Maria bestaunte den scheinbar mühelosen Flug eines Schmetterlings. Auf einem Blatt rastete das Tier. Maria hätte es mit ihrem Netz erreichen können, aber sie ließ ihm die Freiheit. Diese Falterart besaß sie schon. Heute hoffte sie, eine andere zu fangen.
Jäh wurde sie von der Indianerin beiseitegezogen.
»Ori!«
Mit der freien Hand deutete Aderi auf den Boden. Zu Marias Linken ruhte eine rot-weiß-schwarz geringelte Schlange auf einem abgebrochenen Ast. Sie war zusammengerollt, aber Maria hatte schon gesehen, wie die Tiere blitzschnell vorschossen. Auch Dorothea wich dem Tier mit gehörigem Abstand aus.
»Augen immer unten«, sagte Aderi.
Mit klopfendem Herzen nickte Maria. Diese Ermahnung hatte sie schon oft bekommen. Sie heftete ihren Blick auf Aderis nackte Füße vor sich, die bei jedem Schritt geschmeidig abrollten. Die Indianerin trat nur auf Erde, niemals auf Blätter. Marias Fersen schmerzten. Ihre Strümpfe waren dünn gescheuert und schützten die Haut kaum noch vor dem Leder der Stiefel. Sie müsste sich mal wieder abends zum Stopfen hinsetzen, aber dafür fand sie nie Zeit, es gab immer noch so viele Beobachtungen niederzuschreiben. Einmal hatte sie versucht, barfuß zu gehen wie die Indianerin, aber das war noch schlimmer gewesen. Sie verfügte über zu wenig Hornhaut und bekam Kratzer und Schnitte. Wenn die sich entzündeten, würde sie tagelang gar nicht mehr laufen können.
Aderi blieb stehen und wies auf einen umgestürzten Baum.
»Wir müssen noch keine Pause machen«, sagte Maria.
Aber die alte Frau deutete auf eine Stelle hinter dem Baum. Sie waren am Ziel. Dort wuchsen Ananas, und was für prächtige! Zu ihrer Freude entdeckte Maria inmitten von Schösslingen etliche reife Früchte.
»An denen wäre ich glatt vorbeigelaufen! Machen wir uns an die Arbeit.«
Sie setzte sich, klappte ihr Notizbuch auf und begann, eine Frucht zu zeichnen. Neben ihr nahm Dorothea Platz.
»Sieh doch, Mutter, eine Raupe, dort unten auf dem Stiel.«
»Wunderbar! Halte kurz.« Maria reichte Dorothea Buch und Stift und entnahm ihrem Leinenbeutel ein Glas. »Die habe ich gleich.«
Derweil führte Dorothea die Zeichnung der Frucht fort. Keine Faser würde sie vergessen, kein Blatt des stacheligen Schopfes. Das Handwerk hatte sie von Maria gelernt, und sie ergänzte und vollendete oft die Zeichnungen ihrer Mutter.
Maria setzte sich wieder, verschloss das Glas und stellte es neben sich auf den umgestürzten Baum. Die Raupe kroch an der Wand ihres durchsichtigen Gefängnisses entlang. Wortlos riss Dorothea eine leere Seite aus dem Buch und reichte sie Maria, zusammen mit einer Unterlage aus dünnem Holz und einem weiteren Silberstift. Die Arbeitsaufteilung musste nicht besprochen werden. Maria würde sich um die Hauptsache kümmern, Dorothea um das Beiwerk.
Schweiß stand den Frauen auf der Stirn. Maria schob die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellbogen hoch. Krempeln musste sie den Stoff nicht, er blieb von selbst an ihrer Haut kleben.
»Diese Ananas duftet viel süßer als die von Frau Block«, sagte Maria.
In der Orangerie der niederländischen Züchterin hatte sie die königliche Frucht zum ersten Mal in natura gesehen.
Aber kann man sagen: in natura? Die Ananaspflanze wuchs in einem Tempel aus Fenstern.
Maria hatte den Auftrag bekommen, das wertvolle Gewächs zu zeichnen.
»Wir glaubten, eine Vorstellung von der westindischen Natur zu haben«, sagte Maria zu Dorothea. »Aber in den Orangerien zieht man exotische Pflanzen in sorgsam gerechten Beeten. Das Entscheidende fehlt: die Üppigkeit drumherum.«
Unvermittelt schlug sie sich auf ihr linkes Handgelenk. Zu spät erwischte sie den Moskito. Das Tier hatte schon gestochen. Es hinterließ einen Blutfleck.
»Auf die Plagegeister könnte ich verzichten«, seufzte Dorothea.
»Ach, die gehören nun einmal dazu.«
Maria nahm ihr Zeichnen wieder auf. Schweigend arbeiteten sie eine Weile Seite an Seite. Aderi wartete etwas abseits, in der breiten Hocke, die für Menschen, die Stühle gewohnt waren, schrecklich unbequem wirkte. Als Maria sich zu ihr umdrehte, lächelte die Indianerin, sammelte etwas von einem Stamm, steckte es sich in den Mund und kaute.
Aus Stolz über ihre züchterische Meisterleistung hatte Frau Block eine Silbermedaille schlagen lassen. Die Inschrift verkündete: »Können und Arbeit bringen hervor, was die Natur nicht vermag.«
Daran schien Dorothea zu denken, denn sie sagte: »Außerdem werden die Pflanzen hier viel größer als in jedem Gewächshaus in den Niederlanden, und sei es auch noch so gut beheizt.«
»Richtig, aber um das zu sehen, muss man erst einmal hierhergelangen.«
Es hatte Maria viel Mühe gekostet, diese Reise in die Wege zu leiten. Als sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, ihre Forschungsreise anzutreten, war ihre ältere Tochter, Johanna, bereits in Amsterdam verheiratet gewesen, und Dorothea, die jüngere, hatte ihren Traum, diesen fremden Kontinent einmal mit eigenen Augen zu sehen, schon lange aufgegeben.
Die Raupe war grob skizziert. Eine Abbildung mit allen Details würde noch Stunden erfordern, doch solche Feinarbeit konnte man hier nicht ausführen.
Maria verstaute ihre Zeichensachen sorgsam im Beutel und holte den verkorkten Schnaps und das Messer hervor.
Von der Seite blickte sie Dorothea an. Wenn sie ihr noch eines mitgeben wollte, dann die Bedeutung von Beharrlichkeit. Ihre Tochter spürte ihren Blick und hob nur die Schultern. Ihr Haar war bereits schweißdurchtränkt.
Maria stand auf. »Du bist fertig, ja?«, sagte sie laut. »Dann köpfe ich jetzt.«
Sie schnitt eine der Früchte im obersten Drittel auf. Nun mussten sie nur noch warten. Das Einzige, was einem in dieser Hitze leichtfiel. Sie teilten das Wasser mit Aderi und tranken schweigend. Ein Schmetterling torkelte heran. Auf der Oberseite schmückte seine Flügel ein Muster aus dunklen Linien, gefüllt mit einem hellen Grün, ähnlich dem des Schopfes der Ananasfrucht. Von unten waren sie gelb wie das Fruchtfleisch. Das wurde sichtbar, als das Tier sich niederließ, sie hochklappte und vom süßen Saft der Ananas naschte. Maria hätte den Bewegungen des zarten Wesens stundenlang zusehen können. Wenn es jetzt aber davonflog, konnte Maria ihm unmöglich folgen. Mit einem kurzstieligen Netz fing sie den Schmetterling ein und betäubte ihn, indem sie seinen Körper zwischen zwei Finger nahm und kurz zudrückte. Das Flattern hörte auf. Dorothea hatte das Raupenglas bereits geöffnet. Maria setzte den Schmetterling vorsichtig hinein. Einen Augenblick lang betrachtete sie das nun wieder einsetzende panische Schlagen der Flügel gegen die Innenseite des Glases. Dann goss sie vier Fingerbreit Rum hinein. Schade war es zwar schon, den Schmetterling töten zu müssen, aber nur indem Maria ihn konservierte oder präparierte, konnte sie ihren Kunden seine Schönheit nahebringen. Außerdem gab es in den Wäldern und auf den Wiesen so viele der Tierchen, dass wohl niemals Mangel an ihnen herrschen würde. Mit dem nächsten Schiff würde der Schmetterling nach Amsterdam reisen und dort hoffentlich einen guten Preis erzielen. Die letzten Objekte waren verdorben, weil der Rum in den Gläsern angeblich während der dreimonatigen Fahrt verdunstet war. Maria hatte daraus gelernt. Von nun an würde sie ihren Kisten eine Extraration Schnaps für die Mannschaft beilegen.
Maria stand auf, packte zusammen, wickelte die aufgeschnittene Ananas in ein Tuch, um sie später zu verzehren, und nickte der Indianerin zu. Auf dem Weg zurück kamen sie langsamer voran als am Morgen. Bleigewichte schienen an Händen und Füßen zu hängen, und selbst das Atmen war in der regenschwangeren Luft mühsam. Maria strauchelte und suchte Halt an einer Staude, die sich unter ihr bog. In den pfannengroßen Blättern hatte sich Wasser vom letzten Niederschlag gesammelt. Es ergoss sich auf Marias Kopf, durchnässte ihr aufgestecktes Haar und den gesamten Rücken. Was für eine Erfrischung!
Auch ihr rechter Unterarm war nass geworden, und Maria ließ die Tropfen herunterrinnen, über die Hand, zwischen die Finger, wo sie einen angenehmen Schauder verursachten, wie damals die erste Berührung von Jan. Sie schloss die Augen, und einen Moment lang war es, als könnte sie zwischen dem Kreischen und Rufen, Rauschen und Summen des dichten Urwaldes seine Stimme heraushören, die ihren Namen flüsterte.
ERSTER TEIL
Schmetterlinge
Schloss Waltha in Wieuwerd (Niederlande), April 1691
Bis kurz vor Ostern hatte Schnee gelegen. Den Malern von Winterlandschaften mochte das zuträglich gewesen sein, aber Maria hatte die Schmelze kaum abwarten können. Sie beugte sich über einen Schmetterling, den ersten, der ihr in diesem Jahr unterkam. Sein kurzes Leben war bereits vorüber, aber seine hellgrünen Flügel hatten noch immer die Farbe junger Blätter. Um die Tarnung zu vervollständigen, waren die Ränder braun gesprenkelt. Am Vortag hatte Maria das Tier im Kräutergarten aufgelesen, äußerlich vollkommen, aber steif. Nach einer Nacht in einem mit feuchtem Sand gefüllten Tontopf hatte sich die Totenstarre gelöst. Nun fixierte Maria den Körper des Schmetterlings mit Nadeln auf einer Holzplatte und machte sich daran, die nach oben geklappten Flügel zu spreizen, eine Arbeit, die vollste Konzentration erforderte.
»Entschuldigen Sie«, sagte eine männliche Stimme aus Richtung der offenen Tür. »Ich möchte zu den van Sommelsdijks.«
»Die sind in der Andacht«, murmelte Maria ohne aufzusehen. »So wie alle anderen.«
Die Zeiten, wenn die Labadisten zusammenkamen, um zu beten oder in der Bibel zu lesen, waren ihr die liebsten. Dann ruhte die Arbeit auf den Äckern, den Ställen und in der Küche, und Maria durfte sich ihrer Leidenschaft widmen.
Sie spannte einen Bindfaden zwischen den Fingern und versuchte, damit den rechten Flügel des Schmetterlings Richtung Platte zu drücken.
»Und warum sind Sie nicht in der Andacht?«, fragte der Mann.
»Tagsüber bin ich davon befreit. Nur am Morgengebet nehme ich teil.«
Damit ich forschen kann.
Der Flügel bog sich unter dem Faden durch und richtete sich wieder auf. Verärgert biss Maria auf ihre Unterlippe. Beim Präparieren sollte man schweigen, nur dann behielt man eine ruhige Hand.
»Warten Sie doch im Garten«, sagte Maria. »Der Hahnenfuß blüht gerade sehr hübsch.«
»Aber es regnet.«
Absätze klangen auf dem Steinboden. Der Mann schien den Inhalt der Regale zu betrachten.
»In der Laube haben Sie es trocken.« Maria unternahm einen neuen Versuch, den störrischen Flügel zu bändigen.
»Was ist in den Schachteln?«, fragte der Mann. Er wartete die Antwort nicht ab. Kurz darauf entfuhr ihm ein entsetzter Laut. »Sie halten sich Ungeziefer? In Ihrem Schlafzimmer?« Er wagte einen zweiten Blick. »Lebende Würmer?«
Ganz recht, Sie Dummkopf! Tote Raupen verpuppen sich schließlich nicht mehr.
Mit dieser Entgegnung auf der Zunge sah Maria hoch und vergaß, was sie hatte sagen wollen. Dunkle Locken fielen dem Herrn bis auf die breiten Schultern. Seine Haut war gebräunt.
Er arbeitet draußen. Also gehört er nicht zur Oberschicht.
Andererseits verrieten der Hut, den er in der Hand hielt, und seine Kleidung Wohlstand. Zu einer wadenlangen Hose und Stulpenstiefeln trug der Mann ein Hemd und eine Weste aus Brokat in leuchtendem Rot, Blau und Gelb.
Farben, die einen Schmetterling zieren könnten.
Einem Herrn wie diesem tuschelten die Frauen hinterher. Maria, die seit Jahren fast nur Labadisten in grauen, unförmigen Gewändern zu Gesicht bekam, genoss die Abwechslung. Der Besucher schien den Umschwung der Stimmung zu bemerken und wandte sich ihr zu. Seine Augen hatten die Farbe von Walnussholz. Er verbeugte sich.
»Mein Name ist Jan de Jong.«
Jan der Jüngere. Ein Bauernname, der nicht zum Äußeren seines Trägers passen wollte. Jeder dritte Niederländer hieß hier so. Zur Unterscheidung würde er jetzt gleich noch den Geburtsort anfügen.
Jan de Jong aus Amersfoort? Jan de Jong aus Maastricht?
Maria wartete, aber der Besucher sprach nicht weiter. Darum ergriff sie das Wort.
»Sehr erfreut. Ich bin Maria Sibylla Merian. Aus Nürnberg.«
Kein Zeichen des Erkennens bei ihrem Gegenüber. Er hatte wohl noch nie von ihren Werken gehört.
»Mein Vater war Matthäus Merian der Ältere«, sagte Maria. »Er zeichnete Stadtansichten.«
»Aber Sie haben sich auf Kleines spezialisiert.« Herr de Jong wies auf den Schmetterling. »Ich will gar nicht stören. Wenn ich Sie nur still beobachten darf, bis der Regen nachlässt …«
»Bitte. Nehmen Sie sich den Schemel dort.«
»Jawohl.«
Jan de Jong setzte sich ihr gegenüber. Etwas an ihm, vielleicht die Stiefel, roch nach Bienenwachs. Maria nahm ihre Arbeit wieder auf, fasste den Faden, atmete aus und hielt die Luft an wie eine Bogenschützin beim Zielen. Die Stille im Zimmer war vollkommen. Auch Herr de Jong hatte das Atmen eingestellt. Maria glaubte, seinen Blick zu spüren. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Aus den Augenwinkeln erkannte Maria, dass Jan de Jong sich vorbeugte und seine Unterarme auf den Tisch legte. Seine Hände befühlten etwas. Maria hörte ein Rascheln und im nächsten Moment: »Oh, das wollte ich nicht.«
Herr de Jong hatte eine getrocknete Blüte auf dem Gewissen. »Die ist einfach zerbröselt.«
Maria seufzte. »Sie sind fragil, darum rahmt man sie hinter Glas. Was ich mit dieser nun nicht mehr tun werde.«
»Ich ersetze Ihnen den Schaden.«
»Sprechen wir darüber, wenn ich mit dem Schmetterling fertig bin.«
»Verstanden, ich schweige.«
Er legte die Hände auf die Beine, und Maria verlangsamte ihren Atem erneut. Unter dem sanften Druck des Fadens fügte sich der Schmetterlingsflügel allmählich. Als er flach an der Platte anlag, wollte Maria die Fadenenden befestigen, doch da bewegte sich erneut etwas am Rande ihres Blickfelds. Ein Stapel Skizzen kam ins Rutschen und begrub Platte und Schmetterling unter sich.
»Also wirklich!«, rief Maria.
»Verzeihung, ich wollte nur … Solch feine Zeichnungen habe ich noch nie gesehen, und ich komme viel herum. Ihre Striche sind zart wie Spinnweben. Sie zaubern mit dem Stift.«
Er versuchte, das Durcheinander zu ordnen und den Schmetterling frei zu graben. Das Tierchen war unbeschädigt.
»Überlassen Sie mir das«, sagte Maria.
Sie wollte seine Hand zurückschieben, aber er wich nicht. Ihre Finger glitten ineinander. In Maria entflammte etwas. Gleichzeitig spürte sie Gänsehaut auf ihren Armen.
»Sie frösteln ja.« Herr de Jong fasste ihre Hand fester. »Sind Ihnen die Holzscheite ausgegangen? Soll ich welche hacken?«
»Im Frühjahr zu heizen gilt bei uns als dekadent.«
»Eine Dame darf nicht frieren. Würde ich hier wohnen, hätten Sie Teppiche, Felle und immer heißen Tee.«
»Dann würden Sie aber nicht lange hier wohnen. Bei den Labadisten …«
Bestimmt unterbrach er sie. »Aber Sie sind Künstlerin.«
Er hatte mit Inbrunst gesprochen, so, als wäre alles andere absurd und hieße, die Sonne als Mond zu bezeichnen.
Für Maria, die in einer Gemeinschaft lebte, die sich einerseits mit dem Namen Merian schmückte, ihr andererseits aber verbot, die hauseigene Druckerpresse für ihre Werke zu benutzen, waren diese Worte wie eine Umarmung.
»Danke«, sagte sie.
Herr de Jong räusperte sich. Er schien sein Herz geöffnet zu haben und nun verlegen zu sein. Abrupt ließ er Maria los. Der Moment war vorbei.
»Und entschuldigen Sie nochmals«, sagte Herr de Jong. »Taue aufrollen kann ich, aber für feine Arbeiten habe ich kein Talent.«
»Alles eine Frage der Übung. Auch Sie könnten einen Schmetterling präparieren.«
»Vorher würde ich hundert zerstören.«
Maria lächelte verschmitzt. »Ich würde Sie nicht gleich an Tieren üben lassen. Meinen ungestümen Mädchen hat ein Spiel geholfen.«
Herr de Jong stützte die Arme auf den Tisch und blickte Maria erwartungsvoll an.
»Zeigen Sie es mir.«
Das ließ sich Maria nicht zweimal sagen. Sie schnitt eine Elle Faden ab und legte sie auf den Tisch. »Spannen Sie den Faden zwischen ihren Händen. Er soll straff sein, aber darf nicht reißen.« Sie nahm eine Ausgabe ihres ersten Raupenbuchs aus dem Regal und legte es aufgeschlagen in Herrn de Jongs Schoß, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Jede Bewegung schien mit Bedeutung aufgeladen zu sein und eine Lawine von Ereignissen auslösen zu können.
»Versuchen Sie, mit dem Faden umzublättern«, sagte Maria. »Aber immer nur eine Seite auf einmal.«
Herr de Jong mühte sich redlich. Nach mehreren Anläufen brachte er den Faden unter die nächste Seite und konnte umschlagen.
»Gut«, sagte Maria. »Und nun weiter bis zum Ende und zurück, während ich den Schmetterling versorge.«
Für eine Weile erklang nur das Wispern von Papier. Maria fixierte die Flügel des Schmetterlings und betrachtete ihr Werk zufrieden. Die Zeit würde den Rest erledigen. Wenn der Schmetterling erst wieder vollständig getrocknet war, behielt er seine Form auch ohne die Fäden.
Doch was war mit Jan de Jong geschehen? Reglos saß er über der Abbildung einer Gartenpappelrose, unter der braune Raupen lagen. Seine Miene drückte Verwunderung aus.
»Den Schmetterling, zu dem die hier werden, habe ich in natura da«, sagte Maria. »Möchten Sie ihn sehen?« Eilfertig fügte sie hinzu: »Das meiste in diesem Raum steht zum Verkauf.«
»Eigentlich mache ich mir nichts aus Bildern«, sagte Herr de Jong. »Aber Ihre sehen schön aus, obwohl sie Ungeziefer zeigen.«
»Die Raupen erfüllen eine Aufgabe«, sagte Maria. »Sie leben von den Pflanzen, aber ich bin überzeugt, die Pflanzen brauchen sie auch. Die Zusammenhänge müssten noch genauer erforscht werden, von studierten Herren. Ich beobachte ja nur.«
Herr de Jong nickte und schien einem Gedanken nachzuhängen. Maria erwartete einen Widerspruch. Doch der Besucher sah sie an und sagte: »Malen Sie mich!«
Maria glaubte, sich verhört zu haben.
»Was soll ich malen?«, fragte sie.
»Mich«, beharrte Herr de Jong.
Er setzte sich in Positur und spähte in eine unbestimmte Ferne.
Wie gern Maria ihn gezeichnet hätte! Gar nicht sattsehen konnte sie sich an ihm. Inzwischen hatte sie Gegensätzliches entdeckt. Die extravagante Weste offenbarte Sinn für Mode, aber ein Schönling war Herr de Jong nicht. Der Schatten eines Bartes verlieh ihm etwas Verwegenes, und eine Perücke zu tragen wäre ihm wohl auch nicht eingefallen. Er wirkte windzerzaust, reiste wahrscheinlich nicht per Kutsche, sondern galoppierte mit einem schnellen Pferd über die Felder. Ob er Tänze beherrschte? Für ihn würde Maria die Figuren des Menuetts lernen. Auf dem Parkett hatte man einen Vorwand, einander nahe zu kommen, und …
Du schwärmst ja wie ein junges Mädchen! Bist wohl über den bußgebeugten Brüdern mannstoll geworden.
Aber nein, schuld ist mein Blick, geschult, nach Schönheit zu suchen. Malte ich Herrn de Jong, könnte ich ihn ungeniert betrachten.
Doch du kannst ihn nicht malen. Sag ihm das!
»Zu gern würde ich den Auftrag annehmen.« Maria rieb sich nervös die Hände. »Nur sind Menschen nicht mein Gebiet. Mein Stiefvater bildete mich aus, Jacob Marrel, und der war Blumenmaler.«
»Aber finden Sie Personen nicht interessanter?«
Maria zuckte mit den Schultern. Sie war in Nürnberg geboren worden, Frauen durften dort keiner Gilde beitreten und konnten schon deshalb keine lukrativen Porträtaufträge ergattern. Außerdem gab es noch ein anderes Problem.
»Die Darstellung von Körpern übt man am Akt«, sagte Maria.
»Oh. Aber ich beabsichtigte doch nicht … Meine Kleider behielte ich natürlich an.«
Maria schmunzelte. »Davon gehe ich aus. Ich wollte nur sagen, dass man Mädchen keine nackten Modelle zur Übung vorsetzt, jedenfalls nicht in meiner Heimat.«
»Und wenn Sie mich nur vom Hals aufwärts malten? An Gesichtern werden Sie sich doch sicher schon versucht haben.« Fragend legte er den Kopf schief. Im Braun seiner Augen entdeckte Maria moosgrüne Sprenkel. »Oder sind Ihnen als Nonne auch Porträts verboten?«
»Ich bin doch keine Nonne!«
»Aber das hier ist ein Kloster.«
»Die Labadisten sind eine Glaubensgemeinschaft. Wir leben hier wie die ersten Christen. Darum dürfen wir natürlich – «
» – Porträts malen«, sagte Herr de Jong.
Er machte eine übertrieben ernste Miene und brachte Maria damit zum Lachen.
»Ganz recht«, antwortete Maria.
Herr de Jong nickte, setzte aber nichts hinzu. Stattdessen schien er auf einen Vorstoß Marias zu warten. Sie sagte aber nichts, sondern blickte Herrn de Jong nur an, immer noch fassungslos darüber, für eine Nonne gehalten worden zu sein. Herr de Jong sah weg und dann wieder zu ihr hin, diesmal tief in ihre Augen, fünf schnelle Herzschläge lang. Dann zwinkerte er.
Ich mache nur Spaß, schien er damit zu sagen. Oder doch nicht? Entscheiden Sie selbst.
Jedenfalls weiß er zu schäkern! Wie ich das vermisst habe.
»Was Ihren Wunsch betrifft …« Maria sortierte ihr Arbeitsmaterial um den Schmetterling herum. Die Längsseiten seiner Flügel befanden sich im rechten Winkel zu den Kanten des Bretts. Äußere Ordnung half beim Denken. »Ihr Wunsch nach einem Bild ist leicht zu erfüllen.« Sorgsam vermied Maria das Wort Porträt. »In Leyden, Den Haag oder Amsterdam finden Sie bestimmt einen Maler. Es muss ja nicht gleich Godefridus Schalcken sein. Eine ordentliche Arbeit von einem aufstrebenden Künstler bekommen Sie an jeder Ecke zu einem erschwinglichen Preis.«
»Über Zahlkraft verfüge ich.« Herr de Jong war wieder ganz ernst. Die Angelegenheit musste ihm wichtig sein. »Aber ich will kein Ölbild, wie jeder Kaufmann es hat, geschönt und austauschbar. Sie, Frau Merian, zeichnen Insekten, als wären sie Kleinode, und ich möchte wissen, wie Sie mich sehen. Wie kann ich Sie überzeugen?«
Er hob die Augenbrauen. Maria versuchte, den Ausdruck im Geiste in Linien zu übersetzen, doch es gelang ihr nicht recht. Ein Porträt wäre eine Herausforderung. Zudem würde es eine hübsche Summe einbringen. Gelegentlich verkaufte Maria präparierte Schmetterlinge an Durchreisende, die gehört hatten, man könne bei den Wieuwerder Labadisten Sammelobjekte erwerben. Der Erlös sollte der Gemeinschaft zukommen, doch Maria zweigte stets ein wenig für sich ab. Irgendwann würde das heimlich Gesparte reichen, um fortzugehen. Schloss Waltha hatte von Anfang an nur eine Zwischenstation sein sollen, ein Zufluchtsort für sie, die Mädchen und ihre Mutter, der sich anbot, weil ihr Halbruder Caspar schon dort lebte. Aber Caspar war nun seit fünf Jahren tot, die Mutter seit einigen Monaten, und Maria drängte es weiter, in eine der großen Städte, von denen die Labadisten bloß im Zusammenhang mit Laster und Gottlosigkeit sprachen. Doch gab es dort auch reiche Kaufleute, und deren Wohlstand düngte den Boden, auf dem Wissenschaft und Kunst wuchsen. Marias Talente würden endlich wieder gesehen werden.
Die Veröffentlichung meines letzten Buches ist acht Jahre her. Ich klebe meine Zeichnungen in ein Studienbuch, in dem nur meine Töchter blättern. Und was für eine Zukunft erwartet Dorothea und Johanna? Unsere Kunst wird hier bloß geduldet, nicht geschätzt.
»Über den Preis kämen wir gewiss überein«, sagte Herr de Jong.
Maria lehnte sich zurück und senkte die Lider.
Ob mir das Schäkern auch noch gelingt?
»Dieser Nachmittag wird uns nicht genügen«, sagte sie. »Sie müssten wiederkommen.«
Herr de Jong lächelte komplizenhaft. »Selbstverständlich.«
»Außerdem brauche ich Leinwand, Öl und Pigmente.«
»So viel Sie wollen.«
Maria fand Gefallen an diesem Spiel.
»Und meine Finger wären geschmeidiger, besäße ich Pulswärmer aus Kaninchenfell.«
»Lassen Sie mich Ihre Größe messen.«
Er öffnete auffordernd die Hand, und Maria streckte ihren Arm aus. Herr de Jong schob den Blusenärmel hoch, drehte ihren Unterarm mit der Innenseite nach oben und formte mit Daumen und Mittelfinger einen Reif um ihr Handgelenk. Beinahe konnte er die Finger schließen, doch er übte keinen Druck aus. Maria entspannte die vom Zeichnen strapazierten Muskeln und erlaubte ihrem Arm, schwer zu werden. Ihre Finger krümmten sich in eine lockere Haltung zurück. Sanft ließ Herr de Jong ihre Hand auf die Tischplatte gleiten und strich mit dem Daumen über ihre Handfläche. Ein Prickeln lief Marias Arm hinauf bis in die Schulter, breitete sich von dort über die Schlüsselbeine aus und rieselte tiefer.
Lärm erklang aus dem Flur. Maria zog ihren Arm zurück.
»Vergessen Sie die Pulswärmer«, sagte sie schnell. »Mit denen käme ich mir albern vor. Aber Pigmente sind unerlässlich.«
Die Andacht war vorüber, und die Gläubigen kehrten wieder, allen voran Dorothea. Maria hörte ihre jüngere Tochter kichern. Vor zwei Monaten war sie dreizehn Jahre alt geworden und gebärdete sich manchmal schon wie eine Erwachsene, nur um im nächsten Moment mit ihrer Freundin Tess zu flüstern und herumzualbern.
»Mama, wer ist das?«
Dorothea blieb im Türrahmen stehen und starrte Marias Besucher mit unverhohlener Neugierde an. Herr de Jong erwiderte den Blick. Sicher fragte er sich, ob es noch weitere Kinder gab und wo deren Vater war.
»Das ist Jan de Jong, er möchte mit Anna, Maria und Lucia sprechen.«
Als Maria dieses Ansuchen wiedergab, merkte sie, wie seltsam es war. Den drei adligen Van-Sommelsdijk-Schwestern gehörte Schloss Waltha. Lucia, die jüngste, war mit Jean de Labadie, dem Gründer der Labadisten verheiratet gewesen. Die Gemeinschaft hatte an verschiedenen Orten gelebt. Als Jean gestorben war, hatte sein langjähriger Freund Pierre Yvon dessen Nachfolge angetreten, und Lucia hatte den Frauen und Männern vorgeschlagen, sich auf das Familiengut zurückzuziehen. Während Pierre predigte, kümmerten sich Lucia und ihre Schwestern um die praktischen Angelegenheiten und packten auch selbst mit an. Durch Fleiß wollten sie Gott gefallen.
Was konnte ein weltlicher Mann wie Herr de Jong, der offenbar kaum etwas von dieser Gemeinschaft wusste, von ihren Leiterinnen wollen?
»Bist du auch eine Künstlerin?«, fragte Herr de Jong Dorothea.
»O ja. Mutter meint sogar, ich sei besser als Johanna, und die ist schon erwachsen!«
»Johanna ist meine ältere Tochter«, sagte Maria. »Wir leben zu dritt hier.«
Als Erklärung sollte das genügen. Die Abwesenheit eines Gatten ließ üblicherweise zwei Schlüsse zu. Entweder waren die Kinder unehelich, oder der Vater war gestorben.
Hätte sie es endlich in die Stadt geschafft, wollte Maria sich als Witwe ausgeben. Als solche würde sie mit Respekt behandelt und dürfte ihr Geld selbst verwalten. Sie könnte ganz offen die Rolle des Ernährers übernehmen und würde damit einige Privilegien zugestanden bekommen, die ansonsten nur Männern vorbehalten waren.
»Darf ich den Herrn zu den Schwestern führen?«, fragte Dorothea.
»Das wäre lieb«, sagte Maria.
Dorothea strahlte, stolz, sich nützlich machen zu können.
Herr de Jong stand auf. »Sprechen wir später noch einmal, Frau Merian.«
»Wegen des Auftrags, ja.« Maria versuchte, förmlich zu klingen, tauchte eine Schreibfeder in Tinte und kritzelte eine Reihe sinnloser Kürzel auf ein Stück Papier.
Ihr Herz sang wie ein Vogel im Frühling.
Maria harrte in ihrer Kammer aus, bis Herr de Jong von den Van-Sommelsdijk-Schwestern zurückgekehrt war. Lange musste sie nicht warten. Sie legte einen Silberstift und Papier für die Vorskizze zu dem Porträt zurecht, und schon war der Besucher wieder da. Er wirkte unzufrieden und blieb auf der Schwelle zu der Kammer stehen. Sein Blick hatte etwas Rastloses.
»Wie verlief Ihre Unterredung?«, fragte Maria.
»Ich hatte mir mehr versprochen. Es scheint, als wäre ich umsonst hergekommen. Hier werde ich keine Geschäfte machen.«
Maria verspürte einen Stich.
Umsonst hergekommen?
Das klang nach einem weiten Weg. Herr de Jong hatte Taue erwähnt. Woher kam er? Wohin wollte er? Immerhin war da noch der Porträtauftrag. Dafür würde Maria mehrere Stunden mit Herrn de Jong verbringen. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit erwarten konnte, würde den Abschied versüßen und ihr einen Neuanfang ermöglichen.
Maria zückte den Stift. »Setzen Sie sich vor das Fenster, dort ist das Licht gut.«
»Leider muss ich gehen.« Er blickte über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, ob ihm jemand gefolgt war. »Ich soll das Schloss unverzüglich verlassen.«
»Aber … Ihr Bild!«
Er straffte die Schultern. »Glauben Sie mir, auch mir tut es leid.«
Schwere Schritte erklangen auf dem Flur. Sie konnten nur Jost Brönkel gehören, einem Bären von einem Kerl, der in der Kapelle zwei Plätze belegte.
»Dann ein andermal?«, fragte Maria.
»Man verbot mir wiederzukommen.« Herr de Jong machte zwei rasche Schritte in die Kammer hinein. Maria lief ihm entgegen. Voreinander blieben sie stehen, unschlüssig, wie sie sich verabschieden sollten, zwei Fremde immer noch.
Jost stampfte herbei und nahm im Flur Aufstellung, die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt.
»Ich bin im Wirtshaus in Winsum abgestiegen«, flüsterte Herr de Jong. »Kommen Sie morgen dorthin.«
Mit einem kaum merklichen Nicken gab Maria ihr Einverständnis, obwohl sie keineswegs sicher war, wie sie diesen Besuch wagen sollte. Zwar unternahm sie oft ausgedehnte Wanderungen, um Raupen zu suchen, und konnte sich unter diesem Vorwand davonstehlen, aber in Winsum würde sie gesehen werden. Die Leute tratschten. Zwar lebten die Labadisten abgeschieden, aber gelegentlich kam doch jemand vorbei, der Hufschmied etwa und das Mütterchen, das Annas Rheumasalbe brachte. Die van Sommelsdijks würden erfahren, wessen Gesellschaft Maria gesucht hatte. Warum sie wohl so zornig auf Herrn de Jong waren? Was konnte er falsch gemacht haben? Wie Maria sie kannte, würde das nicht zur Sprache kommen.
Jost schnalzte. »He«, rief er. »Raus jetzt!«
»Bis bald.« Entschlossen, als müsste er sich losreißen, wandte Jan de Jong sich um und folgte Jost hinaus.
Am Fenster stehend, sah Maria ihn den Schlosshof überqueren. Er blickte nicht zurück, doch auf halbem Wege bückte er sich, sammelte etwas Kleines auf und legte es auf die Bank. Jost überholte Herrn de Jong und trieb ihn mit energischen Armbewegungen zur Eile.
Maria nahm ihr Schultertuch vom Haken und ging nach draußen. Auf der Bank fand sie einen Marienkäfer. Reglos lag er auf dem Rücken. Wahrscheinlich war er zu früh geschlüpft und dem Nachtfrost zum Opfer gefallen. Maria hauchte ihn an. Sieh da, ein Zittern durchlief die Flügel! Das Tierchen bewegte die Beine, krabbelte Marias Ringfinger hinauf und flog von dort in den weiten Himmel.