Bernd Witte

MARTIN BUBER
UND DIE DEUTSCHEN

Martin Buber, 1949

Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas.

Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen

worden ist. […]

Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.

Aus: »Antwort [an meine Kritiker]« (1963) (MBW 12. S. 471)

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © David Rubinger – gettyimages.com

ISBN 978-3-641-27343-9
V001

www.gtvh.de

DANK

Dieses Buch ist hervorgegangen aus der langjährigen Arbeit an der »Martin Buber Werkausgabe«. Zuvörderst möchte ich meinem Mitherausgeber und Freund Paul Mendes-Flohr (Jerusalem) dafür danken, dass er mich stets an seinem profunden Wissen in Sachen Martin Buber teilhaben ließ und unser gemeinsames Projekt mit Geduld und Hingabe förderte. Ohne die engagierte Arbeit der zahlreichen Mitarbeiter an der »Arbeitsstelle Martin Buber Werkausgabe« der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Heike Breitenbach, Grazyna Jurewicz, Arne Taube, Andreas Losch und Simone Poepl, wäre die Ausgabe nicht im vorgesehenen Zeitrahmen fertigzustellen gewesen. Schließlich danke ich Gerd Kaiser (Düsseldorf) und Hans-Heinrich Große-Brockhoff (Düsseldorf) dafür, dass sie mich durch ihren Zuspruch unterstützt und angeregt haben, das anspruchsvolle Projekt im Rahmen der Arbeitsstelle zu übernehmen.

Düsseldorf, im Januar 2021 Bernd Witte

INHALT

Dank

BUBERS DEUTSCHE SPRACHE?

I. KULTURZIONISMUS: DIE ENTDECKUNG UND LITERARISCHE GESTALTUNG DES CHASSIDISMUS

Selbstständigkeit als Herausgeber und Autor

Chassidismus als Märchen und Mythos

Ein jüdischer »Übermensch«: der Baalschem

»Daniel« – ein literarisches Erfolgsbuch

II. JÜDISCHE IDENTITÄT – DEUTSCHE IDENTITÄT

Buber in Prag
Die Neudefinition des Judentums

Deutschtum und Judentum im Krieg
Martin Buber, Hermann Cohen, Gustav Landauer

Das »Erlebnis der Grenze«
Auf dem Weg zu »Ich und Du«

III. LEBENDIGE SPRACHE – »EIN GEDANKENSYSTEM, FÜR DAS ICH SCHLECHTHIN UNERSETZBAR BIN«

»Ich und Du«
Mystisches Erleben und dialogische Schrift

Die Verdeutschung der Bibel

Bubers »religiöser Sozialismus«
Staat, Volk, Gemeinschaft

Das Jahr 1932
»Königtum Gottes« und »Zwiesprache«

IV. BRÜCHE UND ANSCHLÜSSE

Neuanfang in Palästina
»Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose«?

»Moses«. Die Legende

Nach der Shoa
Wiederannäherung an Deutschland

Öffentliche Ehrungen in Deutschland und in der Welt

V. MARTIN BUBER MIT UND GEGEN MARTIN HEIDEGGER

»Dialogisches Prinzip« gegen »Lichtung des Seins«

Begegnung – »Vergegnung«

»Das Wort, das gesprochen wird«

MARTIN BUBER UND DIE DEUTSCHEN HEUTE

Abkürzungen

Anmerkungen

Namenregister

»Das große Merkmal des menschlichen Miteinanderseins, die Sprache«

Martin Buber: Urdistanz und Beziehung, 1950 (MBW 10. S. 50)

BUBERS DEUTSCHE SPRACHE?

»Ich bin ja doch nicht beiläufig,

sondern faktisch ein deutscher Schriftsteller.«

Martin Buber an Hermann Gerson, 7. 9. 1934

Die deutsche Öffentlichkeit leidet bis heute unter einem kollektiven Trauma, dem einer andauernden Verdrängung der jüdischen Tradition aus dem kulturellen Gedächtnis. Den Nationalsozialisten ist es zwar nicht gelungen, alle Juden Europas zu ermorden, wie es ihr erklärtes Ziel war, wohl aber haben sie es erreicht, eines der Grundelemente eines lebendigen kulturellen Lebens in Westeuropa auszulöschen: die Teilnahme eines aufgeklärten Judentums am intellektuellen, philosophischen und literarischen Diskurs, wie sie sich seit Moses Mendelssohn in Deutschland etabliert hatte. In der allgemeinen Öffentlichkeit ist heute die Kenntnis der einstigen Vielfalt und Produktivität jüdischen Lebens und jüdischer Kultur weitgehend vergessen. Mehr noch, dieser Verlust selbst ist im öffentlichen Bewusstsein verdrängt und wird als solcher nicht mehr wahrgenommen. Der daraus resultierende Phantomschmerz ist eine der Ursachen für den untergründig weiterbestehenden und sich neuerlich wieder zu Wort meldenden Antisemitismus.

Martin Buber war seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einer der sichtbarsten und wirkmächtigsten Fürsprecher eines deutsch-jüdischen Dialogs in Mitteleuropa. Schon 1913 hat ihn sein Freund Gustav Landauer in einem Essay »Apostel des Judentums vor der Menschheit« genannt und ihn in Parallele gestellt zu Fichte, dem Verkünder des Deutschtums vor den Nationen. Zugleich aber hat Landauer die »vollkommene Sachlichkeit« seiner deutschen Prosa neben die Prosa Kleists gerückt.1 Das besagt zweierlei: Martin Buber war von Anfang an und insbesondere seit seinen Drei Reden über das Judentum von 1910/11 jemand, der sein Bild von der Gesellschaft, auch der nicht-jüdischen, von einem tiefgreifenden und neuartigen Verständnis des Judentums her formte und verkündete. Zugleich aber erwuchs ihm diese seine produktive Auffassung der eigenen Kultur auf der Grundlage der deutschen Sprache und der deutschen kulturellen Tradition. Nicht von ungefähr nennt Buber in seinen autobiographischen Fragmenten mit dem Titel Begegnung von 1960 Kant und Nietzsche als die beiden Philosophen, die sein Welt- und Menschenbild geformt haben.2

In diesem doppelten Richtungssinn hat es Buber demnach vermocht, sein eigenes Judentum zu erneuern und es gleichzeitig den Deutschen nahezubringen. Er hat ihnen gezeigt, dass ihre kulturelle Tradition spätestens seit der Aufklärung auch auf der jüdischen basiert. Das gilt es wieder in Erinnerung zu rufen und damit das Trauma aufzulösen, das die mörderische deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 verursacht hat. Dieser unendlichen Aufgabe soll auch die Edition von Bubers Gesamtwerk dienen, durch die erstmals im deutschen Sprachraum die Weite und Radikalität seines Denkens und politischen Wirkens sichtbar wird. Aber welch ein Paradox, ja geradezu welche Provokation stellt die jetzt vorliegende Ausgabe dar: einundzwanzig Bände in deutscher Sprache, das Gesamtwerk eines Autors, der sich stets als ein Erneuerer des Judentums, wenn nicht gar als dessen »Künder«, wie er das hebräische Wort für »Prophet« übersetzte, verstanden hat und der seit 1938 Professor an der von ihm selbst mitbegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem war. Und diese Bindung an die deutsche Sprache geschah nicht nur oberflächlich, sondern Buber übernahm mit der Sprache auch die Denkformen, die Lebensformen und die kulturellen Traditionen der Deutschen, das Jüdische vom Deutschen her bedenkend und das Deutsche vom Jüdischen her.

Warum konnte diese Gesamtausgabe der Werke eines Autors, der in den letzten beinahe dreißig Jahren seines Lebens im hebräischen Sprachraum wirkte und seit der Gründung des Staates Israel 1948 dessen Staatsbürger war, nur in deutscher Sprache erscheinen? Weil Buber selbst, wie sich anhand der Manuskripte im Martin Buber Archiv der Israelischen Nationalbibliothek belegen lässt und wie es die neue Werkausgabe dokumentiert, alle seine Werke zunächst in deutscher Sprache verfasst hat, auch die späten, die er während seines letzten Lebensabschnitts in Jerusalem geschrieben hat und die zunächst aufgrund der historischen Umstände auf Hebräisch oder Englisch erscheinen mussten. Seinem Schüler Nahum Norbert Glatzer, der ihm geschrieben hatte, dass sein chassidischer Roman Gog und Magog, 1943 auf Hebräisch und 1949 auf Deutsch erschienen, ihn erst »angesprochen« habe, als er das Werk auf Deutsch gelesen habe, bekennt der Autor in einem Brief vom Dezember 1949: »Eine Liebschaft wie die meine mit der deutschen Sprache ist eben ein objektives Faktum.« (B 3. S. 223)

Gleichzeitig erlaubt er sich in seinem Nachwort zur deutschsprachigen Erstausgabe des Romans die provokante Geste, von sich selbst zu behaupten: »Ich bin ein polnischer Jude«, (MBW 19. S. 274) womit er darauf anspielt, dass er seine höhere Bildung dem »Franz-Josephs-Gymnasium« in Lemberg verdankte, dessen »Unterrichts- und Umgangssprache […] das Polnische« war. (MBW 7. S. 279) In dieser Hauptstadt der K. u. K. Österreichisch-Ungarischen Provinz Galizien im Haus seiner Großeltern väterlicherseits ist er aufgewachsen. Dort war seine alltägliche Umgangssprache mit seinen Verwandten das Jiddische, das er in seinen Briefen an den Großvater bis an dessen Lebensende beibehielt.3 Gleichzeitig unterwies dieser, der ein großer Talmudgelehrter und Midrasch-Herausgeber war, seinen Enkel im biblischen Hebräisch. Maßgeblichen Einfluss auf seine Sprachbildung aber hatte die Großmutter Adele Buber, die als junges Mädchen sich mit Hilfe der Lektüre Schillers, Jean Pauls und anderer deutschsprachiger Klassiker das Deutsche autodidaktisch beigebracht hatte und es an den Enkel weitergab. Noch im Alter korrespondierte sie mit ihm in einer in hebräischen Lettern geschriebenen Kunstsprache,4 die aber eben deshalb als von höchster Intensität auf den jungen Studenten gewirkt haben muss. Erst als Buber im Alter von achtzehn Jahren sein Studium in Wien begann und in einer deutschsprachigen Alltagsumgebung lebte, wurde das Deutsche für ihn zu einer produktiven Sprache, in der sich fortan sein Denken, Schreiben und Handeln vollzog.

In einem seiner wichtigsten Texte der Spätzeit mit dem Titel »Hebräischer Humanismus« hat Buber betont, dass es die Sprache sei, die »einen unmittelbaren Zugang zu jenem vorbildlichen Menschentum« gewähre, um das es ihm zu tun sei: »Ja, die Sprache selber, die Besonderheit von Wortbildung, Satzgefüge, rhythmischem Fluß der Laute wird von jenem Menschenbild [des großen Menschen] geprägt. Durch die Sprache dringt der Humanismus zu jenem Menschenbild vor, und er faßt es als Vorbild.« (MBW 20. S. 149) Das Paradoxale dieser Sätze wird einem erst dann bewusst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Buber sie im Jahr 1941 in Jerusalem in deutscher Sprache vor einer Versammlung von Menschen sprach, die eben unter Lebensgefahr aus dem deutschen Sprachbereich geflohen waren. In dem hier von ihm hervorgehobenen Sinne ist Bubers Werk maßgeblich von dem in der deutschen Sprache enthaltenen »Menschenbild« geprägt, auch und gerade da, wo er der »Renaissance des Judentums« das Wort redet. Allerdings war diese »deutsche Sprache« eher die der Weimarer Klassik und die Kunstsprache des deutschsprachigen Theaters als die Alltagssprache der Menschen. Was sich in Bubers Werk dahingehend ausgewirkt hat, dass es von altertümlichen Wendungen, ungewöhnlichen Worten und Neologismen durchsetzt ist.

Diese seine Liebe zur deutschen Sprache ist Buber in den Jahren nach 1938 bei seiner Akkulturation im jüdisch besiedelten, hebräischsprachigen Palästina durchaus hinderlich gewesen. In einem langen Brief vom 4. Februar 1938 an den »liebe[n] und verehrte[n] Herrn Buber« schreibt Hugo Bergmann, einer seiner ersten und treuesten Schüler und Anhänger, kurz vor Bubers Ankunft in Jerusalem zu dessen sechzigstem Geburtstag: »Mir scheint, daß Ihr eigentliches Werk noch vor Ihnen liegt. Es müßte damit beginnen, daß Sie der deutschen Sprache endgültig absagen.« An diesen gut gemeinten Rat schließt Bergmann eine ernüchternde Einschätzung von Bubers Einfluss auf die Geschichte der Judenheit in den vergangenen Jahrzehnten an, die zugleich ein hellsichtiger Vorverweis auf die Schwierigkeiten ist, denen Buber sich in der Folgezeit, insbesondere nach der Gründung des Staates Israel 1948, gegenübersah: »Ohnehin hat der Reichtum Ihres Deutschen Sie oft verführt, wenn ich so sagen darf, und Ihrer Wirkung, zumal in dieser harten Zeit, ungeheuer geschadet.« (B 2. S. 654) Dennoch hat Buber bis an sein Lebensende in deutscher Sprache gedacht und geschrieben.

Die Geschichten des Rabbi Nachman. Ihm nacherzählt von Martin Buber, gedruckt in einer Auflage von 2000 Exemplaren von Oscar Brandstetter in Leipzig. Druckanordnung, Schmuck und Einband von E. R. Weiss, 1906