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© Magret Kindermann, Eisenach 2021
Covergestaltung: Magret Kindermann
Illustrationen: Magret Kindermann, Unsplash
Buchsatz: Catherine Strefford
Lektorat: Magret Kindermann
Zeichnung auf S. →: June Is
Herstellung und Verlag: BoD –Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-755789-43-7
Inhalt
Der niederländische Künstler Johannes Vermeer aus der frühen Neuzeit malte nur wenige Bilder und kaum etwas aus seinem Leben ist bekannt. Umso größer war die Aufregung, als 1979 entdeckt wurde, dass sein berühmtes Bild Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster nach seinem Tod von fremder Hand übermalt worden war und so ein wichtiges Detail im Hintergrund bisher verborgen blieb. Im Bild steht eine junge Frau am offenen Fenster und liest einen Brief. Am interessantesten finde ich dabei ihr Gesicht. Das ist Vermeers Zauber, er schafft es, dass wir den allumfassenden Fokus der jungen Frau sehen können. Und damit ergibt sich die große Frage: Worum geht es im Brief? Wir müssen es nicht wissen, um das Bild zu lieben. Unsere eigenen Leben füllen die Lücken. Der Brief bekommt die Handschrift unserer Großmutter, die uns nach Jahren endlich über die Familie aufklärt. Oder der Brief ist von unserem geliebten Bruder, der ausgezogen ist und uns mit dem Rest der furchtbaren Familie zurückgelassen hat. Rätsel in der Kunst erlauben uns, den eigenen Platz darin zu finden. Wir können uns das Bild von Vermeer zu eigen machen.
Vor der Briefleserin steht ein Tisch, der unter dicken, unordentlich aufgehäuften Stoffen verborgen ist. Sind das Teppiche? Auf dem Teppichhaufen steht schräg eine Schale mit gemischten Früchten: Pfirsiche, Äpfel, Pflaumen. Einige sind auf den Tisch gerollt, ein Pfirsich ist halbiert und man sieht den Stein. Ein grüner Vorhang verbirgt fast einen Drittel des Bildes und gibt uns das Gefühl, etwas Intimes zu beobachten. Tun wir, denn Früchte sind ein beliebtes Symbol für die Sünde. All das gibt uns schon eine Idee, in welche Richtung der Brief geht. Hinter der jungen Frau ist die Wand. Die große, hohe, leere, weiße Wand. Und was sagt uns das? Intimität und Sünde trifft auf die Leere. Zerbricht gerade die Hoffnung der Briefleserin?
Das verlorene Detail wurde durch Röntgenaufnahmen entdeckt: Die Wand ist nicht leer. Zuerst ging die Kunstwelt davon aus, dass Vermeer selbst die Änderungen vorgenommen hatte. Es ist nicht unüblich, dass Maler*innen während des Prozesses die Meinung ändern und etwas korrigieren. 2017 aber fand man heraus, dass die Farbschicht für die weiße Wand erst Jahrzehnte nach Vermeers Tod aufgetragen wurde. Also entschloss man sich, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Die Arbeit ist langwierig und mühselig, denn die obere Farbschicht muss vorsichtig mit einem Skalpell abgetragen werden, um die unteren nicht zu beschädigen. Nach Jahren ist das versteckte Detail seit 2021 wieder sichtbar. Wo vorher eine karge Wand war, hängt nun hinter der Briefleserin ein großes Bild: Amor, der Masken zertrampelt.
Es geht um die wahre Liebe, der wir uns ehrlich und ohne Masken stellen. Die Früchte allein haben nichts mit Liebe zu tun, sie sind das Verlangen, der Sex und beides kann schnell vorüber sein. Der Amor jedoch verändert alles.
Die Literatur wird selten als Kunst bezeichnet, als wäre sie etwas Eigenes, Unabhängiges. Dabei bedient sich das Schreiben derselben Kniffe wie die Malerei. Wir kreieren ein aufregendes Bild, das uns in den Bann zieht und uns unterhält. Jedoch erst, wenn wir die Details beachten, erkennen wir die ganze Bedeutung. Manchmal können diese Details alles verändern. Aber warum verstecken wir den Kern der Geschichte? Zugegeben, nicht immer ist er so gut verborgen wie bei Vermeers Briefleserin, aber warum gibt es viele Geschichten mit mehreren Ebenen? Weil unsere Wunden nur auf diese Weise ertragen werden können. Egal wie wüst und brutal die oberste Ebene ist, die darunter sind echt und roh und verletzlich. Dazu hat der Mensch die Angewohnheit, Dinge erst zu glauben, wenn er sie selbst erfährt. Nichts kommt der eigenen Erfahrung näher, als wenn man in einer Geschichte eine Farbschicht entdeckt und das Verborgene freilegt. So offenbart man nicht nur die wahren Bedeutungen, sondern auch womöglich einen Teil von sich selbst.
In dieser Anthologie sind sieben Geschichten vereint, die etwas hinter dicken Farbschichten zu verbergen haben. Nimm dir ein Skalpell und schau dahinter.
Magret Kindermann
Eisenach, Oktober 2021
Von außen sahen sie aus wie ein Gemälde von Edward Hopper: ein leeres Restaurant zu später Stunde, Glasfassade, billig, aber peinlich genau darauf bedacht, zumindest sauber und ordentlich auszusehen. Zwei Menschen saßen sich gegenüber, saßen an einem Tisch, und doch war jeder für sich allein. Die Frau war zu früh da gewesen und hatte sich vor dem Regen in das Café geflüchtet.
Du willst mich nicht mehr, sagte die Frau leise. Ist es nicht so?
Der Mann schwieg und starrte seinen Teller an. Dann nahm er einen Bissen und kaute langsam.
Die Frau schluckte. Sie schob die Essensreste von sich. Der Teller scharrte über die Tischplatte aus falschem Marmor. Die Krümel auf dem Porzellan, der Kunststoff-Überzug des Tisches: Alles wirkte vergänglich. In vergänglich steckte das Wort gehen.
Die Frau stand auf und zog sich an. Zögerlich lief sie los, bis sie vor der gläsernen Tür stehen blieb.
Draußen regnete es. Das bedeutete, sie konnte jetzt nicht gehen. Sie hatte Angst vor dem Regen. Angst davor, von den Tropfen gefressen zu werden. Die Tropfen stellte sie sich wie Tausende kleine Piranhas vor, die in einem mit Luft gefüllten Becken schwammen. Regen war gefährlich heutzutage.
Was sollte sie tun? Hierbleiben wollte sie nicht. Ihr Blick blieb am abgewetzten Plastiktürgriff hängen. Holzimitat. Sie wandte den Kopf und sah zur Theke hinüber. Kunststoff. Dahinter spülte die Kellnerin Gläser. Sie warf ihrer Kundin einen Blick zu, der suggerierte, dass sie bei ihrer Tätigkeit lieber nicht unterbrochen werden wollte. Die Frau, die hier Gast war, studierte das schwarzweiße Schachbrettmuster des Bodens.
Aus dem Augenwinkel lugte sie zum Mann hinüber. Er hatte inzwischen aufgegessen. Nun starrte er ins Leere, mit Weißgottwas beschäftigt. Die Frau fragte die Kellnerin: Entschuldigung, darf ich hier sitzen bleiben? Draußen regnet es.
Die Kellnerin zog eine Augenbraue hoch, zuckte mit den Schultern und scheuerte mit einem Lappen die Theke. Mir egal, sagte sie.
Die Frau sah sich um. Der Mann saß nach wie vor wie eine bewegungslose Puppe an seinem Tisch, als sei er selbst ein Möbelstück geworden. Die Möbel: Senfgelbe Plastikstühle, nichts als Hartschalen auf einem Metallgestell, erinnerten sie entfernt an das Design aus den 50ern. Schwarzweiße Tischplatten in Marmor-Optik, deren dünne Folie sich abzupellen begann wie Haut, die sich schuppte. An den Wänden überbelichtete Fotos, deren grelle Hintergrundfarben die Körper der weiblichen Models noch geisterhafter erscheinen ließen, wie Skelette.
Skelette. Piranhas. Die Frau richtete den Blick nach draußen. Hinter beschlagenen Scheiben klopfte der Regen sanft gegen die Fensterscheiben. Die Szene hatte etwas Übernatürliches, so wie Sonnenaufgänge am See. Doch die Welt hinter diesen Scheiben hatte nichts von einer Naturidylle. Der Regen zerfraß die Konturen, verwischte Spuren, die Menschen zuvor hinterlassen hatten. Weit und breit war niemand zu sehen: Keine grimmigen Gesichter unter Regenschirmen, keine Kinderfüße, die in Gummistiefeln steckten und durch Pfützen wateten, keine Fahrradreifen, die über Bordsteinkanten glitten. Nur der Regen umzingelte das Café.
Mit einem Mal fühlte sich die Frau müde. Sie setzte sich auf einen der Stühle, damit sich zumindest dieser mit etwas Leben füllte.
Die Theke neben ihr nahm die komplette Wandseite ein, bis auf einen schmalen Durchgang mit einer Tür, die vermutlich ins Lager oder die Küche führte. Leere Essensauslagen glänzten im kalten Neonlicht wie frisch desinfizierte Wunden.
Die Frau stellte sich vor, wie das Café bei Tag aussehen könnte: Die senfgelben Stühle leuchteten im Licht der Nachmittagssonne. In den Fensterscheiben spiegelte sich der Trubel auf der Straße, vorbeitanzende Formen auf Glas. Menschen aßen hastig, Krümel und Soßenkleckser fielen auf die falschen Marmortischplatten. Schmutzspuren zogen sich über die einzelnen Bodenkacheln, Schwarzgrau auf Weiß und Beige-Grau auf Schwarz. Zwei Kellnerinnen anstatt einer standen hinter der Theke, eine kassierte, eine gab Essen und Getränke aus. Eine dritte tauchte in der Vorstellung der Frau auf, trug ein Haarnetz überm Dutt und beugte sich keuchend über einen Eimer, den Wischmopp in den Händen. Chemie gegen Keime, ein aussichtsloser Kampf. Im Café war es laut, die Stimmung eine Mischung aus Fröhlichkeit und Hektik. Hinter den schnell mahlenden Kiefern und wild gestikulierenden Händen schimmerte etwas durch, das mit den tanzenden Formen auf dem Fensterglas verbunden war.
Zurück im nächtlichen, leeren Café, traf die Frau eine Entscheidung. Sie sah nochmals zum Mann hinüber. Zögerlich lösten sich seine Augen vom leeren Teller und wanderten zu der Frau. Ihre Blicke kreuzten sich. Etwas an seiner Miene bedeutete ihr, sitzen zu bleiben und Distanz zu bewahren.
Also begann sie ein Spiel: Sie stellte ihm Fragen, aber nur im Kopf, und er antwortete darauf, ohne den Mund zu öffnen. Es war ihr egal, ob es wirklich war oder nicht. Denn in ihrem Kopf war es real.
Die Verbindung zwischen den beiden war schwach wie ein halb durchgetrenntes Glasfaserkabel. Die Frau begann, dem Mann Fragen zu stellen.
- Stimmt es, dass du mich nicht mehr willst?
- Ich weiß es nicht.
- Spürst du es denn nicht?
- Nein.
- Wieso bin ich dir nicht mehr gut genug?
- Das habe ich niemals gesagt.
- Stimmt. Warum hast du nichts gesagt?
- Was hätte ich denn sagen sollen?
- Dass du mich nicht mehr willst.
- Hast du das nicht bemerkt?
- Ich habe bemerkt, dass du abweisend bist. Aber woher soll ich wissen, was in dir vorgeht, wenn du nicht mit mir redest?
- Ich möchte es dir nicht sagen.
- Warum nicht?
- Weil es meine Sache ist.
- Ist es nicht. Wir waren über ein Jahr zusammen. Sag mir, was habe ich falsch gemacht?
- Du hast nichts falsch gemacht.
- Aber was ist dann der Grund?
- Es gibt keinen.
- Es muss einen geben. Warum sagst du ihn mir nicht?
- Also gut. Du interessierst mich nicht mehr. Bist du jetzt zufrieden?
- Nein. Du hast nur die Worte nachgeplappert, die ich dir in den Mund gelegt habe.
In diesem Moment löste der Mann seinen Blick von der Glasfassade und sah der Frau endlich in die Augen. Er atmete schwer.
Sie flehte innerlich: Bitte sag es mir. Sag es mir und ich gehe. Hinaus in den feindlichen Regen.