Das ganze Konzerthaus schwamm in Licht, Musik und Erregung. Die erste öffentliche Redoute nach langen, langen Jahren versammelt ganz Wien; unterdrückter Lebensdrang und die qualvolle Ungewißheit über die eigene Existenz, die Zukunft, die Unsicherheit der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, die sich in furchtbaren Zusammenbrüchen, in gewaltsamen Vermögensverschiebungen und seltsamen Umgruppierungen der sozialen Schichtung äußerten, trieb die Menschen zu lärmenden Vergnügungen, zu allem, was unmittelbar auf die Sinne wirkt.
Die exorbitant hohen Eintrittspreise für diese erste große Faschingsredoute hatten nicht verhindern können, daß alle Klassen an ihr teilnahmen und die Mischung barocker und krauser war, als man es jemals vor dem Jahre 1914 erlebt hatte. Die Barone, Grafen und Fürsten von ehemals, denen das Gesetz den Adel genommen, flanierten im Frackanzug und Zylinderhut neben Börsenschiebern, Kommis, verdächtigen Gestalten aus dem Ghetto, die durch jahrelangen Schleichhandel Millionen verdient hatten, hier streifte ein Herr, dessen Geschlecht den Habsburgern verwandt und ebenbürtig gewesen, einen Zuhälter, da drängte sich ein breiter Bauernklachel aus Oberhollabrunn an maskierten Frauen vorbei und dachte in diesem Augenblick vielleicht voll Sorge, ob nicht Einbrecher seine hinter dem Schweinestall vergrabenen, mit Gold- und Silbergeld gefüllten Kisten rauben könnten.
Äußerlich weniger scharf, innerlich aber um so greller kamen die sozialen Unterschiede bei den Frauen zum Ausdruck. Grisetten, Straßenmädchen, berühmte Bühnenkünstlerinnen verbargen sich hinter den Larven in kostbaren Toiletten ebenso wie die wirklich vornehme Dame oder die Frau des Kleinbürgers, die ein Monatseinkommen des Mannes aufwendet, um endlich einmal die ersehnte Redoute mitzuerleben, und die Lockerung aller überlieferten Sittlichkeitsbegriffe, das Schwinden der Autorität im eigenen Haus, der Bruch mit traditionellen Anschauungen brachten es mit sich, daß auch junge Mädchen aus guten Häusern, Studentinnen und sogar sogenannte Backfische mit oder ohne Willen und Wissen der Eltern die große Friedensredoute im Konzerthaus mitmachten.
Um alle aber, um die Vornehmen und die Parvenus, die Untergehenden und eben Emporgetauchten, die Jungen und Alten, die Frauen und Männer von Klasse und Rasse und die ohne Vergangenheit und Erziehung, schwebte eine schwüle Atmosphäre voll wilder, brutaler Erotik. Wien befand sich seit Jahr und Tag, seitdem der wirtschaftliche Niedergang offenkundig und unaufhaltsam geworden, in jenem sinnlichen Taumel, den man oft bei Lungenschwindsüchtigen, deren Lebenstage gezählt sind, beobachten kann. Aus allen Zukunfts- und Gegenwartssorgen flüchtete man zu Gott Eros, und die öffentlichen Sittenrichter, die Leitartikler, die Prediger auf der Kanzel fanden taube Ohren, erweckten nur ein Echo hysterischen Gelächters, wenn sie auf die Folgen hinwiesen, die der Ehebruch in Permanenz, die Sittenlosigkeit der Heranwachsenden, das Laster in seinen perversen Formen für Stadt und Land haben müßten.
Alles wollte leben, das Heute genießen, da man nicht wußte, welche Schrecken das Morgen bringen würde, ohne Besinnen jede Stunde und jede Möglichkeit auskosten, weil man immer darauf gefaßt sein mußte, vor neuen Umwälzungen zu stehen. Die immer toller werdende Teuerung trug das Ihrige dazu bei, alle Begriffe auf den Kopf zu stellen und das Verschwenden wirklich zur Tugend zu machen. Warum nicht heute eine Flasche Champagner zu vierhundert Kronen trinken, wenn sie morgen schon vielleicht achthundert kostet, warum nicht der Geliebten ein Blumenarrangement für tausend Kronen kaufen, da man das nächstemal das Doppelte würde zahlen müssen, warum nicht die Hälfte des Vermögens in Schmuck anlegen und so vielleicht vor dem Fiskus retten, der alles an Hab und Gut an sich zu reißen sucht, um wenigstens die Zinseszinsen der Staatsschulden zahlen zu können.
Geld, Moral, bürgerlicher Ehrbegriff – alles schritt mit Galoppsprüngen der völligen Entwertung entgegen und das einzig Bestehende, Positive und Begehrte waren Speise, Trank und Liebe, die man erraffte und kaufte, was sie auch kosten mochten.
Kolo Isbaregg lehnte an einer Säule, umbrandet von Fräcken, Zylinderhüten, Monokeln, Spazierstöcken, weißen, feuchten Schultern, üppigen Büsten, rauschenden Röcken, funkelnden Augen, aus den Spitzen- und Seidenlärvchen unheimlich herausleuchtend. Ein leises Gefühl von Enttäuschung und Überdruß durchrieselte ihn. Was war diese Redoute, der er mit einiger Spannung entgegengesehen hatte? Eigentlich nichts anderes doch als derselbe erotische Krampf, wie er sich sonst in kleinerem Format in tausend Salons, auf dem Korso, bei den Tees und in den vornehmen Restaurants abspielte. Eine Ansammlung gieriger Männer, die vergebens dem Weib ihrer Träume nachliefen und sich nach jedem Abenteuer betrogen fühlten, und hysterischer Frauen, die vergebens der großen erotischen Sensation harrten, oder kalter Hetären, die sich für Geld oder für Kleider und Schmuck kaufen lassen wollten. Und ganz unwillkürlich schloß Kolo Isbaregg die Augen und träumte Vergangenheit, sah die kanadischen endlosen Wälder vor sich, die ungeheure Fabriksstadt, in der er mit hingebungsvoller Lust und brennendem Ehrgeiz gearbeitet hatte. Wie ganz anders war seine Welt damals gewesen! Immer hatte die Frau eine gewisse Rolle in ihr gespielt, aber doch eine untergeordnete Rolle. Führer werden aus eigener Kraft. Millionär durch kühnen Erfindungsgeist, einer der Großen, der die Welt vorwärts bringt, einer der Schaffenden, dessen Name in das goldene Buch der Zeiten übergehen würde! Bis der Krieg kam, dieser furchtbare, schmutzige Krieg, mit seinen Lügen und Phrasen, der täglichen Glorifizierung aller verächtlichen Eigenschaften, dieser Krieg mit seiner sinnlosen Zerstörung alles dessen, was man als heilig und nützlich zu betrachten gelernt hatte! Wie in einem Kaleidoskop purzelten vor den geschlossenen Augen Isbareggs die Bilder durcheinander. Der Dreikäsehoch, der an dem Totenbett des Vaters dem alten Vormund den eisernen Willen eines Kindes kundtut – Primus in der Theresianischen Akademie – er mit zusammengebissenen Zähnen büffelnd, während die Kameraden sich in die Kammer schlichen, in der die Wäscherinnen, in Dampf und Feuchtigkeit kreischend, die derb-jugendlichen Liebkosungen entgegennahmen. – London, Glasgow, Edinburgh mit geschäftlichem und gesellschaftlichem Drill – die erste Nacht in den weißen Armen einer so kühl aussehenden englischen Frau, nicht einer Grisette, sondern einer Lady – Arbeit, unermüdliche Arbeit und abends lockende Abenteuer – die tolle, verwegene Fahrt nach Europa – Krieg – Mord – Blut – Auszeichnungen, das Zählen von unglücklichen, elenden Menschen, die man zu Gefangenen macht . . . Isbaregg fuhr sich über die glühende Stirne. Ein schwarzes Loch unterbrach die Kette der Bilder. Nun sprangen sie fratzenhaft wieder an ihm vorbei. Vor dem Delikatessengeschäft sah er sich stehen mit wütendem Hunger, der ihm die Eingeweide verbrannte – einer orientalisch aussehenden, üppigen Frau zog er ein Ledertäschchen aus dem goldenen Beutel – in finsterer Nacht schlich er sich an ein Bett, um einen alten Mann zu erdrosseln – dann Besuche bei teuren Schneidern, luxuriöse Junggesellendiners im eigenen Heim mit schönen Frauen und distinguierten Freunden – Tausendkronenscheine raschelten in unaufhörlicher Aufeinanderfolge aus seiner Brieftasche – die schlanke Frau des holländischen Bildhauers wurde seine Geliebte, die Tochter des ehemaligen Armeekommandanten folgte ihm in die Wohnung, kleine Mädchen betrachteten ihn als Lehrmeister in der Kunst des Liebens, für eine Nacht in den Armen einer jugendlichen, von ganz Wien umworbenen Schauspielerin hatte er ein Vermögen gegeben, Tausende von Frauen wären bereit gewesen, ihn für seine Liebe fürstlich zu belohnen – alle konnte er haben, alle ohne Ausnahme, und in der letzten Zeit war es bei ihm geradezu zur fixen Idee geworden, ein Weib zu suchen, das ihm auf die Dauer widerstanden hätte.
Ein Schauer lief Kolo Isbaregg über den Rücken. Wohin steuerte er eigentlich, wo war der Hafen für sein Lebensschiff? Champagner, kostbare Krawatten, Weiber – das sind Zutaten, aber kein Inhalt; wo war das Große, Feste, Wuchtige, um das sich alles gruppieren sollte? Noch hatte er Geld, noch lag in dem Schreibtisch seiner schönen Wohnung ein kleiner Teil der Banknoten, die er sich aneignete und anfangs mäßig, dann aber immer rascher abhob; noch ein paar Monate, dann...
Ein kühler Frauenarm, bis zur Achselhöhle fast von dem Handschuh umspannt, hängte sich an ihn. Eine überschlanke Gestalt in blaßblauer Seide, das Gesicht bis knapp zu den dünnen Lippen verhüllt, um den Hals eine sechsfache Perlenschnur geschlungen, stand neben ihm:
»Aber, aber, was für finstere Augen, welche Falten auf der Stirne! Du siehst aus wie das böse Gewissen unserer Zeit und bist doch ein schöner Mann, dem sicher alle Herzen zufliegen.«
»Ich bin müde, müde von so viel Liebe, wie sie hier sich erringen läßt, und suche den Sinn dieser Redoute, ohne ihn finden zu können.«
»Wer sucht, findet nie, und nur wer sich gerne anlügen läßt, zählt zu den Weisen. Und da im Wein nicht die Wahrheit, wie die Großväter behauptet haben, liegt, sondern die schönste Lüge, so ist der, der weinschwer ist, der wahre Weise. Komm, werde mit mir klug.«
Prüfend glitt Kolos Kennerauge über die Gestalt. Schmale Füße, dünne Fesseln, gute Rasse, aber doch kein schöner Körper. Schlank zwar, aber keine edle, weiche Magerkeit, sondern knochige, eckige. Lippen einer Frau, die von unerfüllter Sehnsucht zusammengepreßt werden, die grau-grünlichen Augen der Hysterikerin – aber ein kluges, interessantes Weib, sicher nicht banal und alltäglich und – Donnerwetter – die Perlen um den Hals deuten auf alten, guten Reichtum, denn solche sechs Reihen gleichgroßer Perlen konnte die Frau Kriegsgewinner mit allen ihren Millionen nicht zusammenhamstern.
Kolo saß mit seiner Dame in einer Loge und die ersten hastig geleerten Sektkelche lösten die Zungen, belebten die Laune. Prickelnd, spitz, moussierend flogen die Worte hinüber und herüber, Bosheiten, von denen ein Possenmacher zwei Jahre hätte leben können, entglitten den Lippen und dazwischengeworfene feine, kluge Bemerkungen zeigten der blaßblauen Maske, daß ihr Herr wahrhaftig nicht zu den alltäglichen gehörte, wie auch Kolo bald die Überzeugung gewann, in seiner Nachbarin auf dem Samtsofa ein Weib von Kultur und tiefer, für seinen Geschmack allzu tiefer Bildung zu haben. Während an der Brüstung der Loge die Paare vorbeipromenierten, machte die Unbekannte über diese oder jene Persönlichkeit Bemerkungen, aus denen Kolo ersah, daß sie in den ersten Gesellschaftskreisen zu Hause sein mußte. Es reizte ihn, zu wissen, wer sie sei, aber er fragte natürlich nicht, wie er sie auch nicht bat, die Maske abzulegen. Er wollte diese nette Tändelstunde ganz auskosten, ohne eine Enttäuschung zu erleben, und er kannte seine Wirkung auf Frauen genug, um überzeugt zu sein, daß sie es schließlich sein wird, die ihm die Möglichkeit einer späteren Annäherung aus eigenem Antrieb geben würde.
Und so war es auch. Gegen drei Uhr morgens, als sich die Promenade im Saal längst in ein bacchantisches Durcheinanderwirbeln gewandelt hatte, erhob sich die Dame in Blau und reichte ihm die Hand zum Abschiedskuß:
»Sie waren sehr nett, ich habe mich mit Ihnen gut unterhalten. Und weil Sie so gar nicht indiskret und neugierig waren, dürfen Sie mir später, wenn ich mich mit meiner Gesellschaft im Tabarin befinde, eine Rose zuwerfen. Jetzt aber muß ich gehen, sonst werden meine Vettern und Basen, Tanten und Onkel böse und in ihrer Moral gekränkt.«
Kolo lsbaregg schlenderte noch ein paarmal im Saal umher, hatte Mühe, Frauen, die ihn nicht interessierten, wieder los zu werden, mußte eine Eifersuchtsszene über sich ergehen lassen, die ein kleines, von ihm fast einen Monat lang geliebtes Ballettmädel ihm durchaus machen wollte, und ging dann zu Fuß durch die frostklirrende Winternacht nach dem Tabarin.
Die Frau, mit der er eine Stunde in der Loge zugebracht, hatte ihn nicht sonderlich erwärmt, es war nicht die Gier nach einem erotischen Abenteuer, die ihn voll Erwartung den kleinen Saal des »Tabarin« genannten, vornehmen und sündhaft teueren Nachtlokales betreten ließ, es war eine eigenartige Spannung, die instinktive Witterung, daß dieses kleine, an sich so unbedeutende Abenteuer irgendwie von einschneidender Wichtigkeit und Entscheidung werden würde.
Die Geigen jauchzten, auf dem Podium hüpfte in gewagtester Kostümlosigkeit eine Französin aus Debreczin, das Publikum sang mit und von Loge zu Loge, von Tisch zu Tisch flogen die Rosenbündel, die ein gnomartiger Mann korbweise verkaufte. Als im Saal die große, schlanke Gestalt Kolos auftauchte, wurde sie von allen Seiten zum Ziel genommen. Begehrende Frauenblicke flogen ihm zu, und mit einem Gemisch von Behagen und leiser, mitleidiger Verachtung stellte Kolo fest, daß er nur zu wählen hatte, um die schönen Frauen mit den entblößten Schultern an sich zu reißen, gleichgültig, ob es Grisetten, große Amoureusen oder vornehme Damen waren. Kühl lächelnd blieb Isbaregg stehen, ließ die ihm zugeschleuderten Rosen achtlos zur Erde gleiten und suchte Tisch auf Tisch mit den Augen ab, bis er sie gefunden. Obwohl sie die Larve nicht mehr trug und das blaßblaue Kleid unter den Rosenbüscheln fast verschwand, hatte er sie doch sofort erkannt. Schön? Nein, schön war sie nicht! Die Stirne für eine Frau zu hoch, die Wangen nicht weich und zart, sondern eckig, der Mund zu dünn, die Augen zu unbestimmt in der Farbe und die Augenbrauen nur ein dünner Strich. Eine seltsame kluge Herbheit, gemischt mit fast brutaler, nervöser Sinnlichkeit, zitterte und vibrierte über dieser ganzen Erscheinung. Sie saß in großer Gesellschaft und mehrere der Damen und Herren kannte Kolo. Da war die alte, häßliche, aber geistreiche Erdödy, die junonisch-schöne, aber blitzdumme Dunkelstein, die dreimal geschiedene Szapary, der berühmte Herrenreiter Dumblinsky, der Agrarier Schwarzenstein – alles Leute, die vor kurzem noch als Grafen und Fürsten zum Hof gehört hatten, heute sozial in der Luft hingen, nicht Bürger und nicht Aristokraten, mitten im finanziellen Ruin waren oder ihn schon überstanden hatten, wenn sie nicht rechtzeitig ihren Reichtum, zum Teil wenigstens, im Ausland hatten bergen können. Und richtig, der kleine, dicke Herr mit der violetten Seidenweste war der Baron Kutschera, ja, der Baron, denn er hatte feierlich erklärt, jedem, der ihn per Herr Kutschera anreden würde, ins Gesicht zu schlagen. »Ich bin der Baron Kutschera und nicht der Herr Kutschera, damit basta! Man kann mir mein Geld nehmen und meine Güter enteignen, aber nicht meinen Namen – der ist gottlob nicht greifbar!« Das war sein Standpunkt, der auch allseitig respektiert wurde. Diesen Baron Kutschera, der übrigens nach unverbürgten Gerüchten früher in der Monarchie von Ordensvermittlungen gelebt hatte und jetzt von Gutsverkäufen und Ehearrangements, kannte Kolo sehr gut, er gehörte sogar zu seinem näheren Umgang, und so schritt er ruhig auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Da Kutschera fühlte, daß sämtliche Damen in seiner Loge Isbaregg mit sehr wohlwollenden Augen betrachteten, stellte er sich vor und forderte Kolo auf, bei ihnen Platz zu nehmen. Und so erfuhr Isbaregg, daß die Dame in Blaßblau Dagmar Tökely heiße. Während Kolo sich stumm und förmlich verbeugte, sagte Frau Tökely mit ein wenig forciertem Lachen, das ihre Erregung verdecken sollte:
»Die Welt ist klein, Herr Isbaregg, vor wenig mehr als einer Stunde bin ich mit Ihnen im Konzerthaus promeniert und nun lernen wir einander ganz förmlich kennen.« Und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich neben sie zu setzen.
Von der Stunde in der Loge hatte sie keine Erwähnung getan und damit eine leichte Intimität zwischen ihm und ihr erzeugt.
Zu einer einheitlichen Unterhaltung kam es nicht, der Lärm war zu groß, der Champagner hatte auch schon die Sinne zu sehr umnebelt und das Werfen und Auffangen der Rosen nahm alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Der scharfen Beobachtung Kolos entging es aber nicht, daß Frau Dagmar – er wußte noch immer nicht, ob sie Witwe oder geschieden war – den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete und zwei Herren, ihre Vettern, ihr eindringlich den Hof zu machen versuchten. Beide sahen ihn mißtrauisch und ein wenig gereizt an, und eine ältere Dame, Frau Thea Rasumoffsky, die von Frau Dagmar Tante genannt wurde und ihrerseits auch die Tante der beiden Herren zu sein schien, war ebenfalls über Kolo, dem alle Frauen die Köpfe und Augen zuwandten, nicht erbaut.
Es war früher Morgen, als der allgemeine Aufbruch erfolgte und die Diener mit Pelzen und Hüllen kamen, um ihre Herrschaften in die Automobile zu geleiten. Kolo beugte sich über die schöne, schlanke Hand der Frau Dagmar Tökely um sie zu küssen, und nicht ohne Befriedigung fühlte er, wie sie den Druck seiner Finger erwiderte, stärker, als es die Höflichkeit erfordert hätte. Und als sie schon im Begriff war, im Automobil zu verschwinden, wendete sie sich nochmals zu ihm um und sagte:
»Herr Isbaregg, Mittwoch nachmittags bin ich für meine Bekannten, Freitag für meine Freunde zu Hause. Sie können den Tag wählen.«
Kolo schlenderte mit Baron Kutschera noch nach einem Kaffeehaus, und der geschwätzige kleine Mann, der alles und alle kannte und die lebendige Chronique scandaleuse von ganz Deutschösterreich bildete, erzählte ihm unaufgefordert von Frau Dagmar Tökely.
Frau Dagmar war das einzige Kind des vor zwei Jahren verstorbenen dänischen Baron Aarhuis, der im Krieg sein ohnedies enormes Vermögen durch Lieferungen für England verzehnfachen konnte. Seine Tochter hatte nach seinem Tode ungefähr zwanzig Millionen Kronen geerbt, aber nicht wertlose österreichische, sondern dänische Kronen. Die Frau des Baron Aarhuis war eine Wienerin gewesen, eine Gräfin Wallwitz, die aber schon lange tot war. Die Tochter Dagmar pflegte nun in Wien bei ihren Verwandten immer einen Teil des Jahres zu verbringen und bei dieser Gelegenheit habe sie auch kurz nach Beginn des Weltkrieges den Baron Imre Tökely, einen schneidigen ungarischen Offizier, kennen gelernt, dessen Finanzen allerdings recht sehr in Unordnung geraten waren. Nun, der alte Aarhuis war einverstanden und so wurde denn Hochzeit gemacht.
Das Eheglück dauerte aber nicht lange, es müsse sich irgend etwas ereignet haben, was natürlich nicht in die Öffentlichkeit gedrungen sei, jedenfalls habe sich Baron Tökely, der in Wien im Generalstab war, plötzlich, nach kaum vierzehntägiger Ehe, freiwillig an die Front gemeldet, wo er denn auch beim Durchbruch in den Karpathen an der Spitze seiner Eskadron gefallen sei. Die Leiche wurde nach Wien gebracht, aber Frau Dagmar habe das gar nicht abgewartet, sondern sei rasch zu ihrem Vater nach Kopenhagen gefahren, um dort in voller Zurückgezogenheit zu leben. Erst vor einem Jahr sei sie nach Wien übersiedelt, habe hier ein wunderbares Palais in der Prinz-Eugen-Gasse gekauft und königlich eingerichtet und lebe dort allein, ihres Geldes wegen viel umworben, von Tanten und Basen beneidet und bemuttert, aber ersichtlich verbittert. Überhaupt – sie sei eine sehr geistvolle, aber reichlich boshafte Person, die einem mit größter Gemütsruhe Unannehmlichkeiten sagen könne und scheinbar nicht die geringste Absicht habe, nochmals das Glück der Ehe zu versuchen.
Kolo ließ den kleinen, dicken Kutschera reden und hielt sich an das Tatsächliche, das dieser geschwätzige Herr erzählte, ohne seinen psychologischen Schlußfolgerungen viel Beachtung zu schenken. Und der Gedanke an Dagmar Tökely, die ihn reizte, ohne ihm zu gefallen, folgte ihm in den Schlaf, den er erst fand, als die Stadt längst zum Leben und zur Arbeit erwacht war.
Frau Dagmar war allein, als Kolo Isbaregg am nächsten Freitag seinen Besuch machte. Konventionelle Begrüßung, leichte weltmännische Unterhaltung, an die Ballnacht anknüpfend, und es dauerte eine geraume Weile, bevor beide die Maske fallen und erkennen ließen, daß sie einander suchten, prüften, in die geheimen Winkel der Seele eindringen wollten. Dagmar ließ in reichlich mokanter Weise ihre gräflichen und freiherrlichen Verwandten und Bekannten Revue passieren, und mehr als einmal fühlte sich Kolo durch die rücksichtslose Härte ihres Urteils unangenehm berührt. Er kleidete das schließlich in Worte: »Ich sehe also, daß Sie einen großen Bekanntenkreis, aber keine Freunde haben, geistig turmhoch über all den Leuten stehen, mit denen Sie verkehren, also eigentlich inmitten des ganzen gesellschaftlichen Trubels einsam sind. Sie sind, wie Sie selbst mir sagen, musikalisch, ohne sich aber der Musik ganz ergeben zu können, Sie reisen gerne, aber eine innere Unrast läßt Sie nie lange an einem Ort verweilen. Sie sind zu klug, um bei dem Wohltätigkeitsschwindel, dem Ihre Kreise noch immer ganz gerne huldigen, mitzumachen, und zu kritisch, zu wenig naiv, um sich an Basarveranstaltungen und Hausfesten zu beteiligen. Sicher haben Sie als Dame der großen Welt, die ein ganzes Palais bewohnt und ein kleines Heer von Bedienten besoldet, viel zu tun, aber doch nur in rein äußerlicher Weise. Was nun bildet den Inhalt Ihres Lebens? Was füllt Sie aus, worauf freuen Sie sich?«
Dagmar schwieg eine ganze Weile, bevor sie erwiderte:
»Sie stellen Fragen, die kein anderer nach so kurzer Bekanntschaft stellen dürfte. Aber Sie gehören, scheint es, zu den Männern, denen man gleich vertraut, die den Typus des verständnisvollen und sympathischen Beichtvaters bilden. Und so will ich Ihnen auch gerne antworten: Nichts füllt mich aus, mein Leben hat keinen Inhalt – ich warte! Ich warte auf das große Wunder und Abenteuer, ich warte, daß ein Mensch oder ein Ding kommt oder eine Idee oder irgend etwas, was mich ganz ergreift, meine Kritik und Selbstbeobachtung, mein ‚Über-den-Dingen-stehen vernichtet und mich untertauchen läßt, so daß von mir nichts übrig bleibt, als ein dummes Weibchen, wie es alle anderen sind!«
»Das heißt, Sie warten auf den Mann, nicht auf einen Mann, sondern auf den Mann, der Ihnen bestimmt ist und irgendwo wartet, bis er Sie erlösen kann!«
Dagmar hatte sich verfärbt, ihre Augen irisierten, sie schaute schief und scheu vor sich hin und sagte tonlos:
»Sie haben es erraten, Sie kluger Mann, Sie! Ich tue das, was alle anderen Frauen, die ihn noch nicht gefunden haben, tun. Ich warte auf den Herrn, der mir Gott und Gebieter sein kann, so daß ich in Selbstvergessenheit versinke und zu seiner demütigen Magd werde.«
Und weil damit das Gespräch zu einem Punkt gediehen war, der überwunden werden mußte, lachte Frau Dagmar schrill und nervös auf:
»Das nenn ich eine nette Fortsetzung unserer Redoutenunterhaltung! Pfui, wie dumm, klug sein zu wollen! Sprechen wir lieber über die neueste Skandalgeschichte im Hause Niederlohe, in dem es, seitdem man durch Volkswillen nicht mehr fürstlich ist, so plebejisch zugeht, daß man wirklich an dem Märchen vom blauen Blut verzweifeln könnte.«
Und Frau Dagmar erzählte, wie Frau Irene Niederlohe ihren Gatten in ihrem Boudoir in zärtlicher Umarmung mit der Zofe angetroffen habe, als sie unerwartet früh von einem Spazierritt heimgekehrt war. Die ebenso temperamentvolle, als schöne junge Frau habe zum Schlag mit der Reitgerte ausgeholt, aber die Zofe sei ihr drohend entgegengetreten und habe die Worte gezischt: »Wenn gnädige Frau sich nicht schämen, mir meinen Peter abspenstig zu machen, so werde ich mich doch wohl an Ihrem Herrn Gemahl schadlos halten dürfen!« Worauf sich Herr und Frau Niederlohe derart in die Haare gerieten, daß die Zofe sie mit Hilfe des Kammerdieners Peter trennen mußte. Das Ende dieser kleinen Affäre war – das Ehepaar versöhnte sich und Peter konnte mit Hilfe einer ansehnlichen Mitgift, die er von dem gnädigen Herrn und der gnädigen Frau erhielt, seine Fanni heiraten.
So war man aus dem schweren, trüben Strom der Gedanken in das seichte, aber amüsante Geplätscher kleiner Frivolitäten gekommen, als die Glocke des Tischtelephons erklang.
»Doktor Löwenwald? Natürlich, Sie sind willkommen, wie immer. Ich erwarte Sie!«
Frau Dagmar erklärte: »Sie hatten unrecht, als Sie vorhin meinten, ich hätte keine Freunde. Einen wenigstens habe ich und den werden Sie sofort sehen. Ein seltsames Menschenkind, das ich noch als Mädchen vor Jahren an der Ostsee kennengelernt habe. Doktor Ludwig Löwenwald, ein Rechtsanwalt, aber wahrhaftig kein Rechtsverdreher, sondern der lauterste, feinste und gütigste Mensch, den es nur geben kann. Ein Jude, aber einer von jenen Juden, die nicht an Judas, sondern an Christus erinnern.«
Und da sie einen verdrossenen Zug über Kolos schönes Gesicht gleiten sah: »Nun, sind Sie ärgerlich. Sehr schmeichelhaft für mich, weil das beweist, daß Sie lieber mit mir allein bleiben wollten.«
Isbaregg lächelte: »Nicht nur das hat meine Laune getrübt, sondern Ihre einleitende Bemerkung, daß dieser Herr Ihr einziger Freund sei. Ich war anmaßend genug, mich selbst als Ihr Freund zu fühlen, obwohl ich Sie heute erst zum zweitenmal sehe.«