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Emöke Pöstenyi

Das Fernsehballett

Mein Leben mit dem Tanz

Bild und Heimat

Kein Nüchterner tanzt.
Cicero, 10643 v. u. Z.

Das Schwierige am Tanzen

ist dieses ständige

Über-deinen-Schatten-Springen.

Man hat nicht immer Lust,

bis an die Grenze

der Leistungsfähigkeit zu gehen.

Das Schöne am Tanzen ist,

dass es Spaß macht,

diese Quälerei, dieses Schwitzen.

Wenn du dann über der Technik stehst,

mit deinem Körper

ausdrücken kannst, was du willst –

das ist ein großer Spaß.

Emöke Pöstenyi

Die sinnlichste Kunst der Welt

Da sitzt eine, die sich den Beifall eines Millionenpublikums geholt hat, auf ihrem Kanapee und denkt über den Satz nach: Kein Nüchterner tanzt. Könnte der zweitausend Jahre alte Spruch Ciceros nicht auch auf ihren Lebens­bericht passen?

Sie wechselt in ihre mit Wandtellern geschmückte Landhausküche, füllt die Futternäpfe für drei Katzen nach, kommt zurück mit einem Kaffee und legt die DVD ein, die sie zeigen will. Sie bewegt sich leicht, als ob sie mit dem Tanzen nie aufgehört hätte. Auf dem Bildschirm erscheint sie mit ihrem Ensemble bei der Einübung einer Choreographie.

Tanz, sagt sie, ist die sinnlichste Kunst der Welt.

Worauf achten Sie zuerst bei einer Frau?

Auf die Figur.

Und bei einem Mann?

Auf die Hände. Damit fasst er mich an.

Hören Sie Musik am Abend?

Nein.

Und am Morgen?

Wer den ganzen Tag mit Musik zu tun hat, genießt auch die Stille.

Was ließ Ihr Herz klopfen?

Das Warten auf den Applaus.

Wer oder was hätten Sie gern sein wollen?

Ich.

Ein Werber tritt auf

Emöke Pöstenyi war neun, als das Kinderleben ihr den Berufsweg wies. Eher zufällig. Die Familie wohnte in einem Villenviertel Budapests, rechts der Donau, in Buda, auf dem Hochufer, von wo aus man einen weiten Blick auf die Burg hat. In den Vorgärten Rosensträucher, in den Häusern Bürgerlichkeit.

Der Vater leitete eine Textilfabrik, die Leinen verarbeitete, das war seine Spezialität. In seiner Jugend hatte er Fußball gespielt, Linksaußen, als Profi. Die Mutter wäre gern Schauspielerin geworden.

Ich galt als hochgewachsen und ein bisschen schulterlahm. Meiner Mutter gefiel nicht die nachlässige Art, wie ich mich über die Straße bewegte. Immer einen Fuß nach innen gewinkelt – über den Onkel, wie man auf Deutsch sagt.

Emöke mit der vier Jahre jüngeren Schwester Ildiko

Die Schwestern Emöke und Ildiko durften sich austoben – drinnen wie draußen. Von der Decke des Kinderzimmers hingen Turnringe herab, an denen sie sich durchbogen wie Schlangenmenschen unter der Zirkuskuppel. Im Swimmingpool, wenn zur Herbstzeit das Wasser abgelassen worden war, fuhren sie Rollschuh. Im Winter gingen sie Schlittschuh laufen. Doch die latschige Gangart Emökes blieb von solchen Betätigungen unberührt.

Eines Tages teilte meine Mutter mit, sie habe mich auf der Ballettschule an­ge­meldet. Bei Frau Edit Jarmay und Frau Magda Szabo, Leninkörut 64. Für Training zweimal in der Woche. Und meine vier Jahre jüngere Schwester Ildiko gleich mit.

Erklären musste die Mutter ihren Töchtern weiter nichts. Ballett – das finden Mädchen dieses Alters schick. Eigentlich hatte die Neunjährige anderes im Sinn. Sie malte gern Trickfilmfiguren. Donald Duck zum Beispiel reizte sie zum Nachahmen. Postkarten zeichnete sie ab. Später bemalte sie alle vier Wände des Kinderzimmers mit bunter Kreide.

Verständnis für diese Neigung fand sie bei Onkel Jenö. Der war selbst Maler und restaurierte Fresken in Kirchen und Museen. Überall in Ungarn. Manchmal nahm er Emöke mit zu seiner Arbeit. Noch mit dreizehn, als sie schon seit vier Jahren tanzte, meldete sie sich in Budapest bei einem Malzirkel an.

Auch mit der Tierliebe hatte es die Tanzelevin.

Haus und Garten waren ein kleiner Zoo. Vogelkrächzen, Katzenschnurren und Hundegekläff gehören zu meinen Kindheitserinnerungen. Wir streichelten Meerschweinchen, spielten mit weißen Mäusen und pflegten ein Aquarium. Ein Papagei klärte die Besucher auf über seinen Intelligenzquotienten: Okos madárka vagyok nem buta veréb – Bin ein kluger Vogel, kein dummer Spatz.

Das Elternhaus in Buda

Die Zehnjährige

Kinderzeit in Budapest mit Schwester Ildiko

Emöke mit drei Jahren

Emökes Großeltern waren Bauern. Das Dorf war ihre Ferienwelt. Sie mochte den Stallgeruch. Sie war gern bei den Pferden, Kühen und Kaninchen und sah den Schwalben zu.

Mein Begleiter auf dem Dorf war ein Igel aus der Stadt. Den hatte ich zu Hause im Garten entdeckt, als er den Katzen das Futter wegnahm. Von mir bekam er Junikäfer und andere Leckereien, bis er handzahm war und sich hochnehmen ließ. Wie ein Kuscheltier. Im Dorf schleppte ich ihn in einem Karton herum. Abends suchte er sich ein besseres Schlafquartier. Meine Oma schrie, als sie morgens in ihren Schuh fuhr. Das muss auch den Igel erschreckt haben. Nach diesem Zwischenfall hat er mich verlassen.

In der Tanzschule von Frau Edit Jarmay und Frau Magda Szabo dominierte der klassische Stil. Am Anfang der Stress an der Stange: Füße nach außen winkeln, bis auf 180 Grad, und nach Kommando langsam, langsam – eins, zwei, drei, vier – in die Kniebeuge. Bis es schmerzt.

In der Ballettschule mit Irene

An das Tanztraining erinnere ich mich wie an eine Art Sport. Ich fügte mich der Disziplin. Konzentration war das Wichtigste. Muskelkater bekam ich nicht. Ich brachte ja nicht nur die Schlangenübungen aus dem Kinderzimmer mit, sondern hatte auch leichtathletische Talente. Beim Hochsprung schaffte ich einen Meter und vierzig – ein Rekord am Budapester Szilágyi-Erzsébet-Gymnasium. Und nach dem Schulunterricht lief ich zum Schwimmklub auf der Margareteninsel, bevor ich mich zum Training in der Tanzschule einfand.

Die Pöstenyi-Eltern hielten ihre Kinder von den schmerzlichen Sorgen dieser Zeit fern. Von der ungarischen Rebellion im Oktober 1956 und den sowjetischen Panzern in den Straßen von Budapest bekamen die Mädchen oben in Buda kaum etwas mit. Nur, dass die Eltern in der Kellerwohnung des Hausmeisters jeden Tag den Sender Freies Europa hörten.

Es kam der Tag, als meine Mutter mich wieder zur Tanzschule gehen ließ. ­Irgendwo auf dem Weg war ein Militärposten stationiert. Sie riet mir zu ­schielen, wenn ich dort vorbeikomme. Das begriff ich nicht. Denn vor Russen hatte ich nicht diese panische Angst wie andere Leute. Ich kannte Russen aus der Zeit nach Kriegsende, als ich noch klein gewesen war. In unserem Haus hatten sie ein Lazarett eingerichtet. Manchmal feierten sie im Garten. Mir gefiel die Akkordeonmusik. Eine Ärztin schenkte mir eine Puppe, die ich Nina nannte und die mich lange begleitet hat.

Warum also Grimassen schneiden vor ­ihnen? An der Straßensperre konnte ich nicht einmal unterscheiden, ob das ungarische oder russische Uniformen waren.
Ich schlenderte einfach vorbei.

Abiturfeier

Es kam die Zeit, als die amerikanische Musik die Budapester Schülerfeten eroberte: Boogie-Woogie und Rock ’n’ Roll. Bill Haley mit der Schmachtlocke und Elvis Presley mit dem Hüftschwung der großen weiten Welt – so hießen die neuen Helden.

Rock ’n’ Roll hatte ich sofort drauf. Ich genoss die Blicke der Jungen und eine Freiheit, die es in der Tanzschule nicht gab: jeder Schritt, jede Bewegung meine eigene Erfindung.

Und dann würfelte der liebe Gott. In der Tanzschule erschien ein freundlicher Herr, der kein Wort Ungarisch sprach, aber interessiert das Training beobachtete. Der Mann hieß Günter Jätzlau, er kam aus Weimar und leitete dort das Ballett des Nationaltheaters. Er suchte Tänzernachwuchs für die Bühnen in der DDR. In Ungarn befand er sich auf Werbetour. Die staatliche Ballettschu­­le in Budapest hatte ihn abgewiesen. Man schaffte es kaum, genügend Nachwuchs für die eigenen Opernhäuser auszubilden. Also wandte er sich an Privatschulen.

Ich fühlte mich wie bei einer Prüfung und gab mir besondere Mühe. Von Frau Jarmay erfuhr ich danach, dass der Besucher sechs Namen notiert hatte. Darunter meinen.

Budapest, 1959

Zwei der Mädchen bekamen schließlich ein Angebot: Emöke Pöstenyi und Irene Nagy. Für ein Jahr am Theater in Meiningen.

Meiningen? Nie gehört! Der Name sagte meiner Mutter nichts. Sie blätterte im Brockhaus-Lexikon, unserem schon etwas abgegriffenen Auskunftgeber für unbekannte Namen und Orte, und las daraus vor. Mag sein, dass das auf meine Mutter überzeugend wirkte. Jedenfalls beschloss sie, dass ich die Chance wahrnehmen sollte.

Mit Abiturzeugnis und Tanzdiplom ausgestattet, packte die Achtzehnjährige im Frühsommer 1960 den Koffer. Wie für eine längere Touristenreise. Bei sich führte sie nur das Nötigste: Zahnbürste, Schminktäschchen, Ballettschuhe, Wörterbuch, Kochbuch und Wäsche zum Wechseln.

Den Abschied auf dem Budapester Westbahnhof bewältigten wir ohne Traurigkeit. Meine Schwester, die nun ohne mich zum Training gehen musste, war stolz auf mich, nicht neidisch. Sie war vielseitiger begabt als ich, besser in der Schule und wollte Schauspielerin werden. Sie folgte mir später ins Ausland, in ein zweites Deutschland, und in ein anderes Leben. In München arbeitete sie für ein Trickfilmstudio, lernte ihren Mann kennen und gründete mit ihm eine Werbeagentur.

Emöke (r.) und Ildiko

Wie der Vater zu der Frage stand, seine Toch­ter unvorbereitet zu den Deutschen zu entlassen, nur in Begleitung eines anderen ungarischen Mädchens, daran hat Emöke keine Erinnerung. Ungarns Fußballer hatten 1954 gegen Deutschland die Weltmeisterschaft nur knapp verpasst, bei dem berühmten 3 : 2-Spiel in Bern. Aus der Fußballperspektive mag es dem Vater gefallen haben, wohin seine sportliche Tochter sich orientierte. Dorthin, wo die Weltmeister wohnten.

Meine Mutter nahm es von der praktischen Seite. Wichtig war ihr, dass ich Deutsch lernte. Diesen Wunsch nahm ich mit auf die Reise. Meine Reisege­fährtin Irene konnte die Sprache schon ein bisschen. Am Zugfenster vorbei glitten Bratislava, Prag, Dresden. Ich verließ leichten Herzens die Welt, in der ich groß geworden war. Es sollte ja nur ein Lernjahr werden, nicht mehr. ­Fernweh trieb mich nicht und Heimweh plagte mich nicht. Ich war neugierig.­