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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2022
© 2022 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Tobias Goldfarb
Cover: Maximilian Meinzold
Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München
ISBN eBook 978-3-8458-4886-0
ISBN Printausgabe 978-3-8458-4410-7
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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Cover
Titel
Impressum
Willkommen im Germanien des Jahres neun nach Christus!
I
RÖMER UND GERMANEN
II
ANGRIFF DER BARBARENHORDEN
III
O OCTAVIA!
IV
ODOS BROT
V
WIR KOMMEN, UM ZU HELFEN
VI
OCTAVIA, WIR MÜSSEN REDEN
VII
VON HAAREN UND BARBAREN
VIII
DIE GÄNSE DER JUNO
IX
EINE KISTE MIT KUCHEN
X
EIN EINZIGES WORT
XI
CARPE NOCTEM
XII
HERUT, HERUT!
XIII
KIKERIKI!
XIV
IM SCHEIN DES MONDES
XV
FRÜHSTÜCK MIT ZIEGEN
XVI
SAROLF
XVII
ERNAS IDEE
XVIII
PYRAMUS UND THISBE
XIX
CASTOR UND POLLUX
XX
HICKSER UND HEXER
XXI
FORTUNA IST AUF UNSERER SEITE
XXII
CIRCUS MINIMUS
XXIII
UNTER WÖLFEN
XXIV
DER GERECHTE
XXV
AURORA
XXVI
RÖMER! RÖMER!
XXVII
ÜBER DEN ABGRUND
XXVIII
NEUE ALLIANZEN
XXIX
EIN WIEDERSEHEN
XXX
EIN GÖTTLICHES EICHHÖRNCHEN
XXXI
DAS THING
XXXII
DER KIESELSTEIN
XXXIII
HOFFNUNGSFUNKEN
XXXIV
BARBARENHORDE
XXXV
JUVENTAS SUPERBIA
XXXVI
LIBERTAS
XXXVII
ENTWEDER … ODER
XXXVIII
MINERVA, STEH MIR BEI
XXXIX
ALLES, WAS DU VERLANGST
XL
O VARUS!
XLI
STERN UND VENUS
XLII
VALE
XLIII
ABSCHIED
XLIV
KOMMT MIT
XLV
FLIEG, KLEINER VOGEL
XLVI
ALLE WEGE
WAS DIE LATEINISCHEN BEGRIFFE BEDEUTEN
Historische Figuren
Über den Autor
Die Geschichte von Octavia und ihren Gefährten ist erfunden. Aber es tauchen auch Figuren auf, die es in Wirklichkeit gegeben hat: der römische Kaiser Augustus, Statthalter Varus und Arminius, der Cherusker, der eines Tages … Aber lies selbst!
Wie diese historischen Persönlichkeiten im wirklichen Leben waren, weiß heute niemand. Vielleicht ähnelten sie denen in dieser Geschichte – vielleicht waren sie auch ganz anders.
Viele Orte, an denen diese Geschichte spielt, gibt es noch heute: Vetera Castra heißt heute Xanten, Oppidum Ubiorum wurde zu Köln, den Rhenus nennen wir jetzt den Rhein – und der Fluss, an dem Varus wahrscheinlich sein Sommerlager aufschlug, hieß bei den Römern Visurgis, heute nennen wir ihn Weser.
Hinten im Buch findest du die Übersetzungen von einigen lateinischen Begriffen, die in dieser Geschichte vorkommen. Da kannst du nachblättern, musst du aber nicht.
Also auf ins Abenteuer, beim Jupiter!
»Gut, Leute«, rief Rufus, wobei sein Atem in der schneidend kalten Winterluft dampfte. »Die Schlacht kann beginnen! Ich bin Kaiser Augustus. Gaius ist mein Statthalter Varus. Die anderen Jungs sind meine Legionäre. Und du, Octavia, bist das Heer der Germanen.«
Octavia schüttelte protestierend den Kopf. »Warum muss ich immer die Germanen spielen? Und dann auch noch das ganze Heer?«
Rufus seufzte wie ein alter Haudegen, der schon etliche Legionen in die Schlacht geführt hatte, und stemmte die Hände an die Hüften. »Wie oft soll ich es dir noch erklären, Octavia? Weil du ein Mädchen bist. Hast du etwa schon einmal eine Frau in einem römischen Heer gesehen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Rufus an die zehn Jungen, die auf dem steinigen Acker um ihn herumstanden und frierend von einem Bein auf das andere traten. »Legionäre! Tapfere Soldaten Roms! Habt ihr etwa schon einmal eine Frau, geschweige denn ein Mädchen, gesehen, das in einer unserer ruhmreichen Legionen gekämpft hätte?«
Die Jungen kicherten und schüttelten die Köpfe. Octavia holte tief Luft, um eine gepfefferte Antwort zu geben, doch Rufus verschränkte ganz nach Art eines Senators die Hände hinter dem Rücken und redete weiter. »Eben, beim Jupiter! Es gibt keine weiblichen Legionäre, denn wir Römer sind äußerst zivilisiert und hochgebildet. Bei den Barbaren hingegen kämpfen alle: Männer, Frauen, Hunde, wahrscheinlich sogar die Hühner aus dem Stall und irgendwelche Frettchen, die sie im Wald gefunden haben. Nicht, dass es ihnen etwas nützen würde. Die Krallen des römischen Adlers zerschmettern alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Also, Octavia, du kannst es dir aussuchen: Du bist das Heer der Germanen oder du spielst gar nicht mit.«
»Aber ich bin ganz allein«, widersprach Octavia. »Und ihr seid zu elft.«
»Ich kann nichts dafür, dass dein Papa ausgerechnet seine Tochter mit nach Germanien schleppt. Wer kommt denn auf so eine Idee? Und weil du das einzige Mädchen auf diesem schlammigen Acker bist, bist du eben das Heer der Germanen.«
Octavia zuckte mit den Schultern. »Na schön, Kaiser Augustus. Wenn du das sagst. Hortensia hat mit ihren Reden das ganze Forum Romanum zum Zittern gebracht. Heute bringe ich euch zum Zittern.«
Rufus trat einen Schritt vor und stand so nah vor Octavia, dass seine Stirn beinahe die ihre berührte, eine Taktik, die er sich von seinem Vater, einem Centurio, abgeschaut hatte.
»Hör mal zu, Octavia, Tochter des Marcus. Mein Vater kommandiert achtzig Legionäre. Dein Vater ist einer davon. Noch dazu ist mein Vater der Imaginifer, und der trägt das Bildnis des Kaisers in die Schlacht. Diese Ehre hat nur ein Mann in der ganzen Legion, und das ist mein Vater Quintus. Dein Vater ist der Optio von meinem Vater …«
»Sein Stellvertreter und seine rechte Hand«, unterbrach Octavia.
»Sein persönlicher Gehilfe!«, blaffte Rufus. »Und ich weiß genau, was mein Vater, der Centurio, davon hält, dass dein Vater, sein Gehilfe, seine Tochter ganz allein im Lager herumspazieren lässt. Das gehört sich nicht. Das kann ich als Kaiser Augustus nicht gutheißen. Also spiel das Heer der Barbaren oder geh los und besorg uns eine Stärkung, wie es sich für Frauen gehört. Ein paar gesalzene Erbsen könnte der Kaiser jetzt gut gebrauchen.«
»Dann lieber die Barbaren«, gab Octavia zurück.
»Gut. Schnapp dir irgendeinen Knüppel, ihr Germanen habt ja keine richtigen Schwerter. Und mal dir das Gesicht an, die Germanen kämpfen mit Farbe im Gesicht.«
»O Augustus, wo soll ich denn hier mitten auf einem Acker Farbe herbekommen?«
»Siehst du das Wäldchen dort hinten? Da findest du bestimmt Matsch und etwas Moos, das du dir ins Gesicht schmieren kannst. Das macht den perfekten Germanen aus dir. Irgendeinen Ast als Knüppel findest du da auch. Los, los, meine Legionen dürsten schon nach Barbarenblut! Legionäre: An die Waffen!«
Die Jungen griffen nach ihren selbst gebastelten Holzschwertern und nahmen sich die alten Bretter, die sie von einem Stapel unten am Fluss geklaut hatten, als Schilde. Octavia stapfte zornig in das Waldstückchen, auf das Rufus gezeigt hatte. Elf Jungen mit Holzschwertern und Schilden gegen ein Mädchen mit einem morschen Ast aus dem Wald? Das klang nicht fair. Aber Octavia würde sich schon etwas überlegen. Von ihrer Mutter hatte sie schon als kleines Mädchen gelernt, sich durchzuboxen. »Wir Frauen müssen unabhängig sein!«, hatte Valeria immer gesagt. »Denk an die mutige Hortensia! Sie hat es mit den mächtigsten Männern Roms aufgenommen!« Aber nun war ihre Mutter nicht mehr da. Eines Tages war sie nicht mehr vom Tempel der Diana zurückgekommen. Spurlos verschwunden. Octavias Vater Marcus machte sich riesige Vorwürfe: Warum hatte er sie allein durch die Stadt gehen lassen? Aber Octavias Mutter hatte immer genau das getan, wozu sie Lust hatte, und je mehr Kaiser Augustus die Rechte der Frauen einschränkte, umso rebellischer wurde sie. Kurz nach ihrem Verschwinden hatte Octavias Vater seinen Beruf als Baumeister aufgegeben, sich als Legionär in Germanien verpflichtet und Octavia mitgenommen. Jetzt war sie hier. Aber warum nur? Warum musste sie so schnell aus Rom aufbrechen? War ihrer Mutter etwas zugestoßen? Octavias Vater schwieg zu jeder ihrer Fragen. Aber sie würde es schon noch herausfinden! Ihre Mutter lebte, da war sie sich ganz sicher. Und sie würde sie finden, beim Jupiter!
»Octaviaaaaaa!«, hörte sie Rufus’ Stimme. »Beeil dich, wir fangen aaaaaaan!«
»Komme!«, rief Octavia zurück. Sie schmierte sich mit etwas Schlamm eine germanische Kriegsbemalung ins Gesicht, schnappte sich eine alte Wurzel, deren Form vage an eine Axt erinnerte, und wandte sich zum Gehen. Doch plötzlich fühlte sie sich beobachtet. War da etwas? Hatte dort etwas geraschelt? Sie fuhr zusammen, als sich eine Amsel schimpfend aus einem Gebüsch erhob. Wahrscheinlich war es nur der schwarze Vogel gewesen, der Octavia erschreckt hatte. Sie packte ihre Wurzel fester und trat wieder auf den freien Acker hinaus.
Rufus hatte sich ein altes Tuch als Toga umgeworfen und ein paar Efeublätter ins Haar gesteckt, die einen Lorbeerkranz darstellen sollten. Die anderen Jungen standen mit ihren Bretterschilden und Holzschwertern in aufrechter und militärischer Haltung vor ihm. Nur Gaius, dem als Statthalter Varus eine verrostete Bratpfanne mit den Buchstaben SPQR als Brustschild vom Hals baumelte, bohrte in der Nase.
»Gut, hier bin ich«, sagte Octavia, wurde aber gleich von Rufus unterbrochen: »Psst! Kaiser Augustus muss erst eine Ansprache an seine Legionen halten. Also, aufgepasst, beim Jupiter!« Rufus räusperte sich und warf sich in Pose. »Tapfere Legionäre, euer Kaiser Augustus, pater patriae, Vater des Vaterlandes, Namensgeber des allerschönsten Monats im Jahr, spricht zu euch. Ihr seid der starke Arm Roms, der bis in die entlegensten Winkel unseres glorreichen Reiches reicht! Moment mal«, murmelte er zu sich selbst, »glorreichen Reiches reicht, das klingt nicht so gut. Egal.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Tapfere Legionäre! Mein Großonkel Caesar – er ruhe in Frieden – hat die furchtlosen Gallier unterworfen und das ganze Gebiet westlich des Flusses Rhenus erobert. Und mit westlich meine ich auf der linken Seite, bevor ihr dumm nachfragt. Doch jenseits des großen Flusses befindet sich Germania magna, ein wildes Land voller grausamer Barbarenhorden!« Rufus deutete auf Octavia, die die Barbarenhorden darstellte.
»Zur Ehre Roms«, sprach Rufus weiter, »wird mein neuer Statthalter Publius Quinctilius Varus seine Legionen tief nach Germania magna führen, die Stämme, die sich nicht freiwillig mit ihm verbünden, unterwerfen und unglaubliche Mengen an Gold und Ehre anhäufen, wie es sich für einen römischen Legaten gehört. Varus?«
Gaius nahm schnell den Finger aus seinem Nasenloch und versteckte ihn hinter der Bratpfanne vor seiner Brust. »Äh, ja?«
»Varus«, sagte Rufus, »du warst ein tüchtiger Statthalter in der Provinz Syria. Man sagte: Varus kam als armer Mann in eine reiche Provinz und verließ als reicher Mann eine arme Provinz. Nun zeige mir, dass du das auch in Germania magna schaffst. Gut, Germanien ist lange nicht so kultiviert und reich wie Syrien, aber auch diese Zitrone lässt sich quetschen, bis kein Saft mehr kommt.«
»Zitrone?«, fragte Gaius. »Wieso Zitrone?«
»Vergiss es, Varus. Also: Was sagst du den barbarischen Horden?«
»Äh …«, machte Gaius und wandte sich an Octavia. »Germanische Horden! Zahlt euren Tribut und neigt euer Haupt vor unserem Kaiser Augustus! Sonst werdet ihr spüren, wie scharf ein römisches Gladius ist, so wahr ich Varus heiße.«
»Pah!«, machte Octavia und streckte Gaius die Zunge heraus. »Ich denke gar nicht dran.«
Rufus kam kopfschüttelnd herbeigelaufen. »Nein, Octavia, so geht das nicht. Du bist die germanischen Horden, und die sprechen kein Latein. Du musst barbarisch reden. Das geht so: Barbarabarbarabarara. Weil sie so reden, heißen sie schließlich Barbaren. Rede barbarisch, beim Jupiter!«
Octavia zuckte mit den Schultern und hob ihre Wurzel über den Kopf. »Barbarabarbarabarara!«, schrie sie den Legionen mutig entgegen.
Rufus nickte zufrieden.
Gaius schlug mit dem Holzschwert gegen die Bratpfanne. »Legionäre! Die Barbaren wollen nicht zahlen. Sofort Angriffsformation: Testudo!«
Octavia sah lächelnd zu, wie die zehn Jungen versuchten, mit ihren alten Brettern die berühmte Formation »Schildkröte« zu formen. Sie hatte einmal gesehen, wie die Centurie ihres Vaters in Sekundenschnelle ihre Schilde so zusammenfügten, dass sich ein kompaktes Gebilde ergab, das von allen Seiten und von oben geschützt war. Aus den Ritzen zwischen den großen, rechteckigen Schilden ragten nur noch die Speere hervor. Es war ein beeindruckendes Manöver. Das, was Gaius und seine Freunde hier veranstalteten, war weniger imposant. Sie verhakten sich, traten sich gegenseitig auf die Füße und fluchten. Selbst Rufus, der als Kaiser Augustus selbstverständlich nicht mitmachte, sondern von einem kleinen Erdhaufen aus alles beobachtete, runzelte skeptisch die Stirn. Doch irgendwann stand die Schildkröte aus Brettschilden da, schwankend zwar, aber sie stand. Natürlich war die testudo keine Angriffs-, sondern eine Verteidigungsformation, aber das schien Rufus in seiner Funktion als Kaiser Augustus wohl nicht so genau zu nehmen.
»Attacke!«, drang es gedämpft, aber mutig, aus der Schildkröte, als sie sich langsam in Bewegung setzte. In den Ritzen zwischen den Brettern fuchtelten die Holzschwerter herum. Das Ganze sah lächerlich aus, aber die »Germanenhorde« Octavia hatte trotzdem keine Lust, in die Nähe dieser römischen Schwerter zu kommen. Mit einem lauten, barbarischen Schlachtruf, der innerhalb der Schildkröte für einen kurzen Schockmoment sorgte, rannte sie, ihre lehmige Wurzel schwingend, direkt auf die Legionäre zu. Blitzschnell umrundete sie die Schildkröte, warf die Wurzel weg und stürzte sich auf die ungeschützten Jungen auf der Rückseite der Formation. Sie kitzelte die kleinen Legionäre mit beiden Händen unter den Achseln. Die Jungen schrien, warfen Schilde und Schwerter weg und stolperten übereinander. Octavia drehte sich nach ihrer Blitzaktion um und rannte los. Leider lief sie Rufus direkt in die Arme.
»Nun mal nicht so schnell, ihr Germanenhorden! Ihr habt nicht mit Kaiser Augustus gerechnet.«
Rufus nahm Octavia in den Schwitzkasten, bis die anderen Jungen bei ihm waren.
»Legionäre!«, befahl er. »Nehmt diese Germanenhorden gefangen. Sie sollen ihren feigen Angriff, der allen Regeln der Kriegskunst widersprach, schwer bereuen.«
Die Jungen schleppten die wild um sich tretende Octavia zu einem Baum und banden sie wie eine widerspenstige Kletterrose mit einem Seil fest.
Rufus zog die Augenbrauen hoch und schob die Hände nach kaiserlicher Art würdevoll unter sein schmutziges Togatuch.
»Nun, General Varus, mein Statthalter in Germania magna, was gedenkst du mit diesem gefangenen Barbarenstamm zu tun?«
»Äh«, machte Gaius und steckte zum besseren Nachdenken den linken Zeigefinger in ein Nasenloch. »Vielleicht … äh …«
»Gaius, denke daran«, flüsterte Rufus ihm zu, »dass der echte Varus als Statthalter in Syria zweitausend Aufständische an einem Tag hinrichten ließ.«
Gaius zeigte staunend auf Octavia. »Sind das denn zweitausend?«
»Ich bin mindestens zweitausend, du römischer Esel«, rief Octavia zornig zurück.
»Äh, ja dann sollten wir es vielleicht genauso machen«, murmelte Gaius unsicher.
»Was?«, schrie Octavia. »Ihr spinnt ja wohl! Macht mich los, aber sofort, sonst spiele ich das nächste Mal nicht mehr mit.«
»Varus!«, rief Rufus herrisch. »Wählt Eure Methode, diesen undankbaren Stamm auszulöschen!«
»Ääääääääh …«, machte Gaius. »Wir könnten sie verhungern lassen oder den Baum anzünden oder irgendwo einen wilden Bären finden, der sie auffrisst, oder sie in der Arena unbewaffnet gegen zehn Gladiatoren kämpfen lassen …«
Er war nicht die hellste Fackel im Tempel der Vesta, und genau das machte ihn unberechenbar und gefährlich. Octavia war sich nicht sicher, ob er nicht ernsthaft plante, sie in das Reich der Unterwelt zu befördern.
Doch bevor Gaius sich noch mehr Unsinn ausdenken konnte, stieß einer der Jungen einen Warnpfiff aus.
»Legionäre!«, riefen die anderen. Sie ließen ihre Bretterschilde fallen und machten sich so schnell wie möglich aus dem Staub. Sie wussten genau, dass es ihnen verboten war, außerhalb der Lagermauern zu spielen, und sie hatten nicht vor, sich erwischen zu lassen. Nur Octavia konnte nicht weg, und so überließen sie sie ihrem Schicksal. Sie wand und drehte sich, sie trat mit den Füßen in alle Richtungen, aber es half nichts. Rufus und seine Freunde hatten sie sehr gut festgebunden. Jetzt würde sie den Ärger bekommen, den die anderen verdient hatten. Na prima, beim Jupiter!
Es war bloß ein Legionär, der, ein fröhliches Liedchen pfeifend, über den Acker geschlendert kam. Octavia erkannte ihn sofort: Es war Amandus, der in derselben Abteilung wie ihr Vater diente. Er war erst fünfzehn und sehr stolz darauf, bereits ein voll ausgebildeter Legionär mit den allerbesten Karrierechancen zu sein.
Amandus blieb stehen und starrte sie mit großen Augen an.
»Octavia«, murmelte er. »Was machst du denn da? Du hast ja lauter Schlamm im Gesicht.«
Octavia zuckte mit den Schultern, soweit das in ihrer Lage möglich war. »Ich bin ein rebellischer Germanenstamm, der von Varus gefangen genommen worden ist. Und du, Amandus?«
Der junge Legionär kratzte sich am Kopf. »Ich muss manchmal raus aus dem Lager, um meinen Helm zu lüften. Sonst können mich die Schwingen der Nymphe Erato, Muse der Poesie, nicht streifen.«
»Das klingt wunderbar«, sagte Octavia. »Kannst du mich jetzt trotzdem losbinden?«
Amandus machte sich schon daran, den ersten Knoten zu lösen, als er es sich anders überlegte. »Nein, Octavia. Das letzte Mal, als ich dir ein Werk aus meiner Feder vorgetragen habe, bist du davongelaufen.« Er fuhr sich mit der Hand durch das gescheitelte Haar. »Diese Schmach wird sich nicht wiederholen. Jetzt, Octavia, wirst du hören, was ich dir zu sagen habe.«
Octavia spannte sämtliche Muskeln an bei einem weiteren Versuch, sich aus ihren Fesseln zu befreien, aber das Seil war zu fest.
Amandus griff unter die Brustplatte seiner Rüstung, die seinen sich darunter wölbenden Muskeln genau angepasst war, und zog ein zusammengerolltes Stück Papyrus hervor. Er entrollte es, hielt es nah vor seine Augen, warf sich in eine möglichst heldenhafte Positur und räusperte sich.
»O Octavia!«, begann er, wobei er die Tonlage seiner Stimme weit nach oben schraubte. »Deine Augen – wie funkelnde Saphire. Deine Wimpern – wie Schwingen eines Schwans …«
»Das muss aber ein sehr kleiner Schwan sein«, warf Octavia ein, doch Amandus ließ sich nicht beirren.
»Deine Wangen – wie Marmor aus Carrara.«
»Wenn man sich den Schlamm wegdenkt«, bemerkte Octavia.
»Dein Haar – wie das Fell einer Antilope.«
»Was? Wieso? Hast du schon mal eine Antilope gesehen?«
Amandus schüttelte schüchtern den Kopf. »Nein, aber man hat mir gesagt, dass ihr Fell wunderschön und seidig weich ist. Jetzt warte, es ist noch nicht zu Ende: Deine Seele – rein wie ein Kristall. Dein Gang – leicht wie eine Feder. Deine Nase – betörend geschwungen. Deine Stimme – deine Stimme …«
»Ja, bitte?«, fragte Octavia, doch Amandus schwieg.
»Stimmt was nicht mit meiner Stimme?«
Amandus‘ Ohren nahmen unter seinem Legionärshelm eine leicht rötliche Färbung an. »Ich bin noch nicht fertig mit meinem Werk. Es fehlen noch ein paar Teile, deshalb wollte ich ja ein wenig weiter spazieren gehen, um zu sehen, ob mich die Muse der Dichtkunst mit einem Einfall beschenkt. Aber dass ich dich getroffen habe, ist das viel größere Geschenk! Ich kann es kaum erwarten, dir auch das fertige Gedicht vorzulesen.«
»Ja«, erwiderte Octavia, »ich auch nicht. Bindest du mich jetzt los?«
»In der letzten Zeile möchte ich etwas mit Gestalt und Venus und Muschel schreiben«, murmelte Amandus, während er den Knoten endlich ganz löste.
»Danke, Amandus«, sagte Octavia und knuffte ihn auf den Arm. »Wir sollten zusehen, dass wir zurück ins Lager kommen.«
»Du, Octavia«, brummte Amandus, während die beiden auf das Lager zuschlenderten, dessen hölzerne Palisadenwand sich in einiger Entfernung erhob, »meinst du, dein Vater wird Ja sagen?«
»Ja sagen? Wozu?«
»Zu unserer Heirat.«
»Heiraten? Amandus, ich bin erst elf!«
»Gerade deshalb solltest du anfangen, darüber nachzudenken. Du bist hier nicht in Rom, wo du ewig auf den Richtigen warten kannst. Du weißt ja, was man über römische Frauen in den Provinzen sagt: Liegt sie mit zwölfe nicht in Concordias Armen, wird keiner mehr sich ihrer erbarmen. Concordia ist die Schutzgöttin der Ehe, weißt du?«
»Ich weiß, Amandus. Aber du weißt auch, dass Kaiser Augustus Legionären verboten hat zu heiraten. Und was bist du? Legionär.«
»Noch bin ich Legionär, meine Liebe«, sagte Amandus sanft. »Aber das hier ist mein letzter Feldzug. Nach dem Sommer kehre ich nach Rom zurück, verlasse die Armee und starte eine glänzende Karriere als Politiker, Anwalt, Philosoph und Dichter.«
»Beim Jupiter!«, erwiderte Octavia, »gleich vier Karrieren auf einmal.«
»Ja, so wie Caesar.«
»Du meinst wohl Cicero.«
»Pssst! Erwähne ihn niemals, Kaiser Augustus konnte ihn nicht leiden.«
»Ach, ich dachte, der Erzfeind unseres Kaisers wäre Antonius, der Geliebte der schönen Kleopatra.« Octavia klimperte mit den Augenlidern.
»Psst!« Amandus blickte sich erschrocken um, aber niemand war in der Nähe. »Die Erinnerung an diesen Verräter ist ausgelöscht! Der Kaiser hat die damnatio memoriae verhängt. Dieser Name darf nicht einmal ausgesprochen werden.«
»Welcher Name?«, fragte Octavia unschuldig.
»Na, Antonius«, antwortete Amandus, biss sich aber sofort auf die Lippe. »Sei lieber vorsichtig, Octavia. Also, hier ist mein Plan: Ich gehe nach der Expedition in Germania magna zurück nach Rom und nehme dich mit, und dann können wir heiraten, pünktlich zu deinem zwölften Geburtstag.«
»Wen du heiratest, entscheidet immer noch dein Vater. Und wen ich heirate, entscheidet mein Vater. Das Wort des pater familias ist Gesetz, das weißt du ganz genau.«
Amandus ging gar nicht darauf ein. »Auf jeden Fall könntest du jetzt schon mal überlegen, was du bei der Feier anziehen möchtest. Und ich fertige eine Rede an, auf die sogar Apollo stolz wäre. Soll ich dazu vielleicht die Leier spielen? Ich könnte mein Gedicht noch perfektionieren und vertonen: O-o-o-o-octavia! Deine Auuuuuuugen …«
Octavia drehte ihre Augen, die Amandus gerade ziemlich schief besang, in Richtung des kalten, grauen, von Regenwolken durchzogenen germanischen Himmels.
Unbemerkt von den beiden trat ein Junge in Octavias Alter aus dem Waldstück. Er trug schlichte Hosen und ein einfaches Hemd, wie es bei den Bauern der Umgebung üblich war. Er lächelte beim Gedanken an die merkwürdigen Spiele, die diese römischen Jungen gespielt hatten. Er lächelte noch mehr, als er an das mutige römische Mädchen dachte, das den Jungen in der Überzahl die Stirn geboten hatte. Während er das »Schlachtfeld« und die liegen gebliebenen Bretterschilde untersuchte, sah er etwas im Gras aufblitzen: eine kleine, wunderschöne Brosche aus Bronze, die einen Vogel darstellte. Er steckte sie ein und ahnte, dass sie ihm eines Tages einen guten Dienst erweisen würde. Er wusste nur noch nicht, wie nah dieser Tag war.
Octavia klimperte mit den Münzen in ihrem Beutel. Es waren ein paar Asse und sogar ein Dupondius, davon konnte sie sich schon etwas Kleines kaufen. Sie hatte das Geld verdient, indem sie als Junge verkleidet ein paar Botengänge für die Legionäre im Lager gemacht hatte. Außerdem hatte sie einige Briefe, die ihr diktiert worden waren, in Wachstäfelchen geritzt, die mit dem nächsten Transport in die Heimat der Legionäre gehen würden. Für ein Mädchen wäre es ungehörig gewesen, sich selbst ein paar Münzen zu verdienen, aber für einen Jungen war das ganz normal.
Sie trug eine Lederkappe, die ihr Haar verbarg, ein einfaches, weit geschnittenes Hemd und eine Hose, während sie über den Markt schlenderte, der sich gleich hinter dem Haupttor im Inneren des Lagers befand. Es waren vor allem die Händler und Bauern aus den Dörfern der Umgebung, die hier ihre Waren feilboten: Hühner, gerupft oder lebendig, Schinken und Würste, Kräuter und Tees, Tassen und Teller aus Ton, dazu Waren, die aus den römischen Provinzen südlich der Alpen hergeschafft worden waren und zu unverschämten Preisen angeboten wurden, nämlich Olivenöl, Parfüms und Garum, die Fischsoße, für die das Römische Reich fast noch berühmter war als für seine Legionen.
Octavia kam an einem Stand vorbei, an dem keltische Schmuckstücke aus Bronze angeboten wurden. Sie mochte die verschlungenen Formen der Ornamente, aber ein Schmuckstück konnte sie sich noch lange nicht leisten. Außerdem machte ihr der Anblick der Haarnadeln, Ringe und Ketten schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihre Vogelbrosche vermisste. Sie hatte die Brosche von ihrer Mutter zu ihrem achten Geburtstag geschenkt bekommen und sie immer bei sich getragen, doch seit dem dämlichen Spiel mit Rufus und seinen Freunden konnte sie sie nicht mehr finden. Sie war sogar mehrmals auf den Acker und in das Waldstückchen zurückgegangen, aber sie hatte kein Glück gehabt. Seit die Brosche weg war, war es so, als wäre ein weiterer Teil ihrer Mutter spurlos verschwunden.
Da der Anblick der Schmuckstücke sie traurig machte, ging sie mit schnellen Schritten weiter, bis ihr plötzlich ein köstlicher Duft in die Nase wehte. Frisches Brot! Das erinnerte sie an zu Hause. Sie hatten in Rom nicht weit entfernt von einer Backstube gewohnt. Doch anders als von der Erinnerung an die verlorene Brosche wurde ihr vom Duft der Brote leichter ums Herz. Für ein Brot würden ihre Münzen wohl reichen.
Am Stand bot ein Junge in ihrem Alter die Waren an. Er sah nett und ein wenig spitzbübisch aus.
»Was sind das für Brote?«, fragte sie freundlich.
»Gallische Brote, die allerbesten«, antwortete er mit einem ganz leichten Akzent in seinem Latein.
»Das ist klar, aber woraus sind sie gemacht?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Getreide.«
Octavia grinste. »Aber welches Getreide? Gerste? Weizen? Dinkel? Alles gemischt?«
Der Junge hob die Hände. »Keine Ahnung. Ich bin ja nicht der Bäcker. Ich gehe morgens in die Dörfer, kaufe verschiedene Brote und verkaufe sie hier wieder.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Hier, probier mal dieses lange, dünne, das ist bei diesen Galliern besonders beliebt.«