Deichbrückenmord in Bensersiel

Ostfrieslandkrimi

Rolf Uliczka


ISBN: 978-3-96586-286-9
1. Auflage 2020, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2020 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag.

Anmerkung des Autors: Es handelt sich bei dem Ostfrieslandkrimi »Deichbrückenmord in Bensersiel« um eine frei erfundene Geschichte. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Gesellschaften, Behörden, Vereinen oder Örtlichkeiten wären rein zufälliger Natur. Lediglich einige Orte der Handlung wie zum Beispiel das Polizei¬kommissariat in Wittmund, der Fünf-Sterne-Campingplatz und die Nordseetherme in Bensersiel, aber auch die Eheleute Kerstin und Norbert Eggers-Welp sowie der Männergesangsverein Cecilia und der Sportverein Blau-Weiß Ramsloh sind real, aber im Zusammenhang mit der frei erfundenen Geschichte ausschließlich fiktiv eingebunden.

Inhalt

1. Kapitel

 

Jano Wilts war in Bensersiel an diesem sonnig herbstlichen Montagmorgen auf dem Rückweg von seiner Joggingrunde. Das letzte Stück lief er immer über die westliche Deichbrücke beim Kutter- und Yachthafen des beliebten ostfriesischen Nordsee­heilbades. Die Deichbrücken links und rechts vom Sielwerk waren inzwischen zu einem Wahrzeichen seines Heimatortes Bensersiel geworden. Von dort ging es dann noch ein Stück auf dem Deich entlang, dann runter zu dem kleinen Kreisel vor dem Parkplatz am Strandportal und links zum Fünf-Sterne-Campingplatz, auf dem seine Frau Marika in ihrem Wohnmobil mit dem Frühstück auf ihn wartete. Die Brötchen dazu hatte er unterwegs beim Bäcker eingekauft.

Wie üblich machte er auf der Deichbrücke über der Hafeneinfahrt noch seine Dehnungsübungen, bei denen ihm die Verstrebungen des Brückengeländers sehr hilfreich waren. Normalerweise genoss er dabei den Blick über die Kaianlage und den Yachthafen bis hin zur Nordseeinsel Langeoog. Im Innenhafen schaukelten noch ein paar Motorboote in der Dünung und lugten jetzt bei Hochwasser über die Hafenkante. Nach dem offiziellen Absegeln vor drei Wochen war im Außenhafen am letzten Wochenende mit dem Abbau der Steganlage für den Winter begonnen worden.

Heute war Jano aber innerlich zu angespannt, um das sonnige Wetter und den Blick aufs Meer hinaus wie sonst genießen zu können. Nach seiner Rückkehr zum Wohnmobil entging auch Marika seine Anspannung nicht. Als er von der Dusche zurückkam und sich an den gedeckten Kaffeetisch setzte, wollte sie daher wissen, was los war.

»Nichts, mein Schatz«, versuchte er abzuwiegeln. »Ich habe nur beim Bäcker einen alten Schulfreund getroffen und wir haben eine Weile über alte Zeiten gequatscht. Dabei hat mich wahrscheinlich seine Frage, was denn nun mit den Ländereien meines Vaters wird, etwas aufgeregt. Auf jeden Fall wollen wir heute Abend mal wieder einen gemeinsamen Halbmarathon starten. Das wird mir den Kopf freiblasen. Wir treffen uns um neunzehn Uhr oben an den Deichbrücken zu einem Lauf in den Sonnenuntergang. Du weißt ja, dann an Dornumersiel und Holtgast vorbei und über Esens zurück. Anschließend werden wir noch bei ihm zu Abend essen. Wäsche zum Wechseln und Duschzeug packe ich in meinen kleinen Rucksack. Es könnte also spät werden.«

Diese Antwort überraschte seine Frau nicht. Einerseits mussten nach dem kürzlichen Tod seines Vaters in der Erbschafts­angelegenheit des großen Milchwirtschaftsbetriebes einige wichtige Entscheidungen getroffen werden. Andererseits war sie gewöhnt, dass Jano auch zu Hause in den Abendstunden, zumeist einmal im Monat, eine Halbmarathonstrecke lief. Seine Fünf-bis-zehn-Kilometer-Läufe, mindestens zwei- bis dreimal die Woche, waren bei ihm ohnehin Standard. Zu Hause im Saterland hatte er da auch für jede Entfernung seine festen Strecken. Wobei sie seine Fünf-Kilometer-Strecke einmal die Woche selbst mitlief.

Sport hatte in der Familie Wilts einen sehr hohen Stellenwert. Die Söhne spielten seit ihrer Kindheit im Sportverein Blau-Weiß Ramsloh Fußball, und Jano war dort Jugendtrainer im Verein. Insofern hatte Marika in Bezug auf die beabsichtigte Joggingplanung ihres Mannes auch keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. So konnte sie auch nicht ahnen, dass er ihr diesmal nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte.

Im Gegensatz zu den früheren Aufenthalten am Strand und Hafen von Bensersiel waren die vergangenen Abende für Marika und Jano diesmal seit ihrer Ankunft am vergangenen Wochenende alles andere als entspannt und angenehm gewesen. Es hatte nur ein Diskussionsthema gegeben: Was wird mit dem Hof? Insofern war Marika sogar irgendwie froh, wenigstens mal wieder einen Abend ohne Diskussion in Ruhe vor dem Fernseher verbringen zu können.

 

Es war bereits nach Mitternacht, als Jano auf dem Heimweg war. Es hatte mächtig abgekühlt und leichter Ostwind trieb Wolkenfetzen über den nur von einer kleinen Mondsichel erleuchteten Nachthimmel. Er hatte die Kapuze seines Shirts über den Kopf gezogen, und aus den Ohrstöpseln seines MP3-Players beflügelte Joggingmusik seinen Laufrhythmus. Der Lichtkegel seiner kleinen Stirnband-LED-Lampe sprang im Takt seiner Laufschritte über den Weg.

So bemerkte er auch nicht den Schatten, der ihm schon seit einiger Zeit mit gleichem Schritttempo im Dunkeln gefolgt war.

Dann erreichte Jano die Rampe der westlichen Deichbrücke. Das Stretching stand heute Nacht nicht auf seinem Programm. Einerseits sehnte er sich nach seinem Bett. Andererseits bereitete ihm dieser Gedanke heute sogar ein gewisses Unbehagen, und die unangenehme Anspannung von heute Morgen war plötzlich wieder da.

Es war seine letzte bewusste Wahrnehmung. Dann traf ihn von hinten ein harter Schlag. Eine Stahlspitze bohrte sich durch seine Schädeldecke und löschte sein Leben von einer Sekunde auf die andere für immer aus.

 

***

 

Eigentlich hatte sich Marika auf einen schönen ruhigen Fernsehabend gefreut. Aber kaum waren die Nachrichten im Ersten vorbei, wurde heftig an die Tür ihres Wohnmobils geklopft. Wer konnte das sein? Sie erwartete keine Besucher und Jano war mit seinem Freund auf einer großen Joggingrunde.

»Wer ist da?«, fragte sie, ohne die Tür oder eine Jalousie zu öffnen.

»David Römer. Wir sind uns zwar noch nicht begegnet, Frau Wilts, aber ich bin der Schwager von Jano aus Zweibrücken. Mein Bruder Oliver und ich wollen mit Ihrem Mann über den morgigen Termin beim Notar sprechen. Es wäre für ihn sehr wichtig. Können wir vielleicht kurz reinkommen?«

»Nein, tut mir leid, Herr Römer. Mein Mann ist nicht da. Er hat auch noch nie Ihren Namen erwähnt, und wie Sie schon sagten, wir kennen uns nicht. Daher bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich abends so spät keine unangemeldeten und unbekannten Besucher reinlasse.«

»Wo ist Jano denn? Und wann kommt er wieder zurück?«, wollte der andere Mann wissen.

»Wo mein Mann ist, geht Sie eigentlich nichts an! Aber ich will nicht unhöflich sein, und da Sie auch von dem Notartermin wissen, gehe ich mal davon aus, dass Ihre Angaben stimmen. Deshalb sage ich Ihnen, dass Sie meinen Mann nicht vor dem Termin morgen früh werden sprechen können. Er ist jetzt mit einem Freund zu einem nächtlichen Halbmarathon unterwegs. Wann er heute Nacht nach Hause kommt, weiß ich nicht. Deswegen würde ich Sie bitten, jetzt zu gehen.«

»Verdammt, Frau Wilts, der Jano weiß doch, was morgen auf dem Spiel steht. Da kann er doch nicht in aller Ruhe bis spät in die Nacht ein beklopptes Nachtjogging machen! Können Sie uns denn wenigstens sagen, welche Strecke er läuft?«, fragte der Mann, der sich als David Römer vorgestellt hatte.

»Kann ich Ihnen leider nicht sagen. Und jetzt würde ich Sie nochmals dringend bitten zu gehen«, wurde Marika energisch.

Sie hörte dann noch, wie Janos Schwager beim Weggehen sagte: »Ich werde mal Cordula fragen, vielleicht weiß sie ja, wo der Sturkopp immer läuft.«

 

Marika hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet, als an die Tür geklopft worden war. So wie es aussah, lief jetzt nach den Nachrichten ein Tatort. Nach Krimi war ihr aber gar nicht. Die unangemeldeten Besucher hatten sie regelrecht aufgewühlt. So musste es auch Jano heute Morgen gegangen sein, als ihn sein Freund nach den Ländereien seines Vaters gefragt hatte. Es ging für sie und ihren Mann ja dabei nicht nur um Geld aus der Erbschaft. Daran hing für ihre ganze Familie auch die existenzielle Entscheidung: Bleiben wir im Saterland oder übernehmen wir den Milchwirtschaftsbetrieb in Bensersiel?

Sie zappte noch eine Weile herum. Dann machte sie den Apparat aus und setzte Teewasser auf. Sie brauchte jetzt etwas zur Beruhigung. Was hatten die beiden von Jano wirklich gewollt? Hatten sie vielleicht ernsthaft geglaubt, dass sie ihn umstimmen könnten und dass er käuflich wäre? Nachdem sie ein paar Schlucke von dem Beruhigungstee getrunken hatte, versuchte Marika etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen.

Eigentlich führte sie mit Jano eine recht harmonische Ehe. Optisch passten sie gut zusammen und konnten als groß gewachsene Friesen ihre Herkunft nicht verleugnen. Sie waren beide in ihren Wesenszügen sehr stark von der heimischen Scholle geprägt und auf den Bauernhöfen ihrer Väter aufgewachsen. Ihr Vater bewirtschaftete heute noch mit ihrem Bruder den Hof. Janos Vater war vor Kurzem gestorben.

Nachdem Jano und sie geheiratet hatten, war er zu ihr und den Saterfriesen ins etwa fünfundachtzig Kilometer entfernte Saterland gezogen. Marika konnte es kaum glauben, dass das schon über zwanzig Jahre her sein sollte. Sie sah Jano noch wie heute vor sich, den zwanzigjährigen, coolen Langstreckenjunkie.

 

***

 

Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Jano Wilts hatte mit den Helfern des Hofes die Milchkühe seines Vaters versorgt. Zeit für seine Laufrunde vom Hof seines Vaters über die Bensersieler Straße bis zum Ortsrand Esens. Von dort über die Hartwarder Straße bis Ostbense. Ab da lief der Zwanzigjährige gerne oben auf dem Deich und genoss dabei den Blick über das Wattenmeer auf Langeoog. Bei sehr guter Sicht waren im Westen schemenhaft sogar noch die Inseln Baltrum und der Ostteil von Norderney zu erkennen. Über Bensersiel zurück zum Hof waren es insgesamt etwas mehr als zehn Kilometer.

Als er heute die Deichkrone bei Ostbense erreichte, sah er etwa fünfzig Meter vor sich eine große, schlanke junge Frau laufen. Ihr langer blonder Pferdeschwanz wippte lustig im Takt ihrer ausholenden Laufschritte hin und her. Vor zwei Tagen hatte er sie um die gleiche Zeit das erste Mal hier gesehen. Gut trainiert war sie. Und hübsch auch noch, wie ihm beim Überholen aufgefallen war.

Er legte einen Zahn zu und hatte sie bald eingeholt. »Moin, hast aber einen guten Schritt drauf. Läufst wohl öfter?«

Sie musterte ihn mit einem kurzen Seitenblick. Der war ihr schon vor zwei Tagen aufgefallen. Cooler Typ und superfit, hatte sie noch bei sich gedacht, als er mit einem fröhlichen »Moin« locker an ihr vorbeigejoggt war. Dass er sie heute ansprach, beschleunigte ihren Puls von jetzt auf gleich noch zusätzlich. Sie antwortete: »Moin, da haben wir wohl was gemeinsam.«

»Machst du Urlaub hier?«

»Ja, ich bin mit meinen Eltern in Bensersiel auf dem Campingplatz. Zu Hause laufe ich dreimal die Woche etwa fünf Kilometer mit meinem Labrador. Und hier auf dem Deich vom Campingplatz bis Ostbense und zurück«, antwortete sie, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber nicht vom Laufen.

»Trifft sich gut, ich mache auch dreimal die Woche meine Runde, allerdings bin ich hier auf dem Deich schon fast wieder auf dem Rückweg zu unserem Hof, der zwischen Bensersiel und Esens liegt«, antwortete Jano, und auch bei ihm meldeten sich die Hormone. Deshalb setzte er noch hinzu: »Ich bin übrigens Jano.«

»Marika«, erwiderte die junge Läuferin leicht errötend. »Milchkühe oder Mast?«, wollte sie dann wissen.

»Milchwirtschaft. Und was machst du?«

»Milchwirtschaft.«

Beide blieben abrupt stehen und mussten unwillkürlich lachen.

»Nein, das gibt’s doch nicht! Wo?«, prustete Jano raus.

»Im Saterland. Aber ich bin noch bei meinem Vater in der Ausbildung.«

»Ist ja gar nicht weit weg. Das liegt doch an der südöstlichen Grenze des Landkreises Leer an der B 72 nach Cloppenburg«, stellte Jano fest. »Macht ihr öfter hier in Bensersiel Urlaub?«

»Nee, das erste Mal. Du weißt doch, wie das in der Landwirtschaft ist. Vor allem, wenn man Tiere zu versorgen hat. Die kennen weder Sonn- noch Feiertage, und Urlaub steht bei den Kühen auch nicht im Programm.«

»Kenn ich. Und was ist jetzt anders? Ihr habt doch die Kühe nicht abgeschafft, wenn du noch deine Ausbildung machst, oder?«, fragte Jano. Die beiden waren inzwischen weitergegangen. Das Laufen schienen sie auf einmal vergessen zu haben.

»Mein Bruder ist ein paar Jahre älter als ich und hat seine Ausbildung schon abgeschlossen. Der kümmert sich jetzt um alles und meine Eltern können einmal unbesorgt Urlaub machen.«

»Ich hab auch meine Ausbildung bereits abgeschlossen. Da mein Vater aber an Multipler Sklerose leidet, werde ich wohl schon bald den Hof übernehmen müssen. Gut ist, dass wir einige Hilfskräfte auf dem Hof haben.«

»Dann habt ihr sicher einen ziemlich großen Hof«, sagte Marika. »Bei uns macht das überwiegend die Familie.«

Als die beiden Bensersiel erreichten, hatten sie bereits ihre halben Familiengeschichten ausgetauscht. Jano schaute auf seine Uhr. »Oh, jetzt wird es aber Zeit, dass ich an meine Arbeit komme. Aber das Wetter ist so schön, ich schau mal, ob ich heute Nachmittag noch ein wenig frei machen kann. Dann könnten wir uns doch am Strand treffen. Was meinst du?«

Dem Strandnachmittag folgten fast tägliche Treffen, mal beim Laufen und gelegentlich auch im Ort zum Eisessen oder auch, um gemeinsam nach Esens zum Bummeln zu fahren.

 

Sie hatten sich an diesem Nachmittag mal wieder zum Laufen verabredet. Jano wollte Marika auf seine Halbmarathonstrecke mitnehmen. Sie waren kurz vor Dornumersiel, als das Wetter umschlug und sie umkehrten. Kurz vor dem Campingplatz erwischte sie dann ein heftiger Platzregen.

Marikas Eltern waren schon am Morgen wegen eines Problems auf dem Hof nach Saterland-Ramsloh gefahren. Sie hatten Marika über Handy informiert, dass sie erst am nächsten Tag wieder zum Campingplatz kommen würden.

Als die beiden jungen Leute tratschnass das Zelt erreichten, sagte Marika: »Jano, mach dich erstmal trocken und warte, bis der Regen vorbei ist, bevor du nach Hause läufst.«

Sie holte ihr großes Badehandtuch, und während sie sich mit der einen Seite die Haare trocknete, reichte sie Jano das andere Ende. Auf einmal fanden sich die beiden in der Mitte des Handtuches wieder. Sie küssten sich nicht zum ersten Mal, aber diesmal war es anders. Wie von selbst entledigten sie sich gegenseitig ihrer nassen Sportkleidung, und ehe sie sich versahen, lagen sie, wie die Natur sie geschaffen hatte, zärtlich aneinandergeschmiegt nebeneinander unter einer dicken Wolldecke auf Marikas Luftmatratze.

Der Regen schien nicht aufhören zu wollen. Inzwischen hatte Marika etwas für ein gemeinsames Abendessen hergerichtet. Jano rief mit Marikas Handy zu Hause an, um mitzuteilen, dass er wegen des Regens bei einem Freund übernachten und morgen früh erst nach Hause kommen würde.

 

Der Alltag hatte auch für Marika auf dem elterlichen Hof im Saterland wieder Einzug gehalten. Aus den täglichen Treffen mit Jano war inzwischen alle paar Tage ein kurzes Date geworden. Marika hatte ihren Freund aber schon ihren Eltern vorgestellt. Beide waren von dem jungen Landwirt sehr angetan. »Ein sympathischer Junge«, hatte ihre Mutter später zu ihr gesagt. »Und ich glaube, dass deinem Vater vor allem gefällt, dass er Landwirt ist und sogar von Milchwirtschaft Ahnung hat.«

Zwei Wochen waren seit dem Urlaub in Bensersiel vergangen, als Marika ihren achtzehnten Geburtstag feiern wollte. Da erlaubte ihr Vater sogar, dass Jano bei ihnen auf dem Hof im Gästezimmer übernachten durfte. Einen Wachhund hatte er nicht vor Marikas Zimmer postiert, und so fanden sich die beiden Verliebten für die Nacht unter einer gemeinsamen Decke in Marikas Zimmer wieder.

Marika hätte eigentlich bereits an ihrem Geburtstag ihre Periode haben müssen und hatte sich in der Nacht noch darüber gefreut, dass sie sich wohl verrechnet hatte. Als sich aber auch in der darauffolgenden Woche nichts tat, wurde sie doch etwas nervös und besorgte sich einen Test in der Apotheke.

Positiv! Die Regennacht in Bensersiel war nicht ohne Folgen geblieben. Als sie es ihren Eltern beichtete, waren diese zwar einerseits besorgt, aber andererseits – vor allem bei ihrer Mutter – überwog die Freude, in absehbarer Zeit schon Oma und Opa zu werden.

Am nächsten Tag waren Marika und Jano im Saterland verabredet. Als sie ihm die freudige Botschaft mitteilte, nahm er sie zärtlich in den Arm. »Marika, ich glaube, es hat so sollen sein. Erst unsere Begegnung auf dem Deich, dann deine Eltern eine einzige Nacht nicht in Bensersiel und schließlich der Regen … Willst du meine Frau werden?«

»Jano, auch wenn ich vor dem Urlaub im Traum noch nicht ans Heiraten und Kinderkriegen gedacht hätte, ja! Komm, wir sagen es gleich meinen Eltern. Das mit dem Kind wissen sie schon und freuen sich.«

An diesem Abend blieb Jano in Saterland-Ramsloh bei seiner Marika. Seinen Vater informierte er nur, dass er erst am nächsten Tag gegen Mittag zurück sein und eine Überraschung mitbringen würde. Obwohl das für Marikas Eltern alles völlig überraschend gekommen war, freuten sie sich für ihre Tochter und auf ihr Enkelchen. Kleiner Wermutstropfen war, dass Marika nach der Hochzeit auf Janos Hof nach Bensersiel ziehen würde.

Aber es sollte anders kommen.

 

Auf der Fahrt nach Bensersiel sagte Jano zu Marika: »Ich bin sicher, dass mein Vater sich genauso wie deine Eltern freuen wird. Nur bei meiner Stiefmutter bin ich mir nicht sicher. Mal kann sie unheimlich freundlich und liebevoll sein und manchmal das gerade Gegenteil. Ich hoffe, dass sie sich genauso wie deine Mutter darauf freut, dass bald ein Enkelchen Leben ins Haus bringt.«

Marika war bisher noch nicht auf dem Wilts-Hof in Bensersiel gewesen und sehr gespannt darauf, wie sie dort als künftige Schwiegertochter aufgenommen werden würde. Trotz Janos Bemerkung machte sie sich aber keine großen Sorgen. Schließlich kam auch sie von einem Bauernhof und machte sogar eine Landwirtschaftslehre. Für ihre Schwiegermutter käme also eine fachlich versierte Unterstützung ins Haus. Was also sollte sie dagegen haben?

Dann stand sie mit Jano etwas verschüchtert seinen Eltern und seiner Schwester in der Küche des großen Gulfhauses gegenüber.

»Ah, Jano. Ich seh schon deine Überraschung«, sagte Frithjof Wilts. »Du willst uns deine Freundin vorstellen. Wir haben uns schon seit einiger Zeit so etwas gedacht. Auf einmal deine vielen Termine.«

»Vader, ich will nicht drum herumreden. Das allein ist nicht die Überraschung. Marika und ich wollen heiraten und wir werden Eltern«, platzte Jano mit der Wahrheit heraus. »Ich denke, Platz haben wir hier im großen Haus genug für uns alle, und ihr dürft euch auf ein kleines Enkelchen freuen. Marikas Eltern haben im Saterland auch einen Milchwirtschaftsbetrieb und sie lernt Landwirtschaft. Da könnte sie auch bei dir die Lehre zu Ende machen. Außerdem hätte Moder noch eine zusätzliche Unterstützung im Haus.«

Über Frithjofs Gesicht huschte ein Lächeln. Aber bevor er antworten konnte, schimpfte seine Frau mit sich überschlagender Stimme los: »Frithjof, das wirst du doch wohl nicht zulassen, dass hier so ein Flittchen bei uns auf den Hof zieht. Die will sich doch mit der Schwangerschaft nur einen Anspruch auf einen der größten Höfe hier für ihre Bälger angeln. Die hat es doch nur auf unser Vermögen abgesehen. Sowas kennt man doch. Und dein dummer Bengel Jano fällt natürlich auf sowas rein.«

Trotz aller Einwände und Bemühungen von Jano, seine Eltern umzustimmen, blieb sein Vater dabei und sagte abschließend: »Du hast gehört, was die Mutter gesagt hat. Wenn dir das nicht passt, kannst du ja gehen und den Hof im Saterland übernehmen. Ich habe gehört, dass Ulfert Gerdes eine Anstellung in der Landwirtschaft sucht, nachdem sein Bruder den elterlichen Hof übernommen hat. Der kann hier sofort deine Arbeit übernehmen.«

Kurz darauf war Jano mit seinem Wagen und Marika auf dem Weg nach Saterland-Ramsloh. Marika hatte über ihr Handy mit ihren Eltern telefoniert und sie informiert. Ihr Vater hatte angeboten, dass Jano bei ihnen vorübergehend auf dem Hof wohnen könnte, und er hätte auch schon eine Idee.

Dann saß in Ramsloh der Familienrat zusammen. Marikas Vater hatte das Wort: »Jano, noch einmal ganz offiziell. Du bist uns als Schwiegersohn und Vater unseres Enkelkindes herzlich willkommen! Und wir unterstützen euch, wo wir können. Eine Bleibe hat Marika für euch beide. Da müssten nur ein paar Schönheitsreparaturen durchgeführt werden und dann könntet ihr sofort dort einziehen.«

»Papa, ich hab Jano auf dem Weg hierher schon erzählt, dass ich das Haus meiner lieben Patentante geerbt habe. Und von einer Freundin weiß ich, dass ihr Vater schon seit Längerem einen Heizungsmonteur sucht. Vielleicht kann Jano ja eine Umschulung machen. Als Landwirt hat er doch handwerklich viel selbst gemacht. Finanziell kommen wir auch über die Runden. Jano hat einige Rücklagen noch aus einem Vermächtnis seiner leiblichen Mutter.«

 

***

 

Wo ist nur die Zeit geblieben?, fragte Marika sich. Ulfert Gerdes war heute Verwalter auf dem Wilts-Hof und hielt nach Frithjofs Tod für Janos Stiefmutter den Landwirtschaftsbetrieb mit Milchwirtschaft aufrecht, obwohl diese den ganzen Betrieb wohl am liebsten sofort eingestellt hätte und zu ihrer Tochter nach Zweibrücken gezogen wäre.

Dass Jano als Hoferbe nicht auf dem Hof verblieben war, war für Ostfriesland eigentlich eine völlig untypische Konstellation, zumal Jano selbst gelernter Landwirt war. Inzwischen wusste Marika, wie alles entstanden war und seinen Lauf genommen hatte.

Schon sehr früh in seiner Kindheit verlor Jano seine Mutter. Sein Vater hatte eine ebenfalls früh verwitwete Urlauberin aus Rheinland-Pfalz kennengelernt, mit ihrer Tochter bei sich aufgenommen und geheiratet. Janos Stiefschwester Petra war zwei Jahre jünger als er. Als Kinder waren sie gut miteinander ausgekommen und sein Vater hatte Petra kurz nach seiner Eheschließung mit Cordula sogar adoptiert.

Seit Janos Pubertät hatte sich das Verhältnis zu seiner Stiefmutter allerdings zunehmend verschlechtert. Sie war eine sehr dominante Frau und alles und jeder im Haus hatte sich ihrem Willen unterzuordnen. Solange er als Kind artig immer ihren Anweisungen und Vorstellungen ohne Widerspruch gefolgt war, lief alles gut. Als er aber anfing, eigene Ideen zu entwickeln, hatte sich das schnell geändert. Wobei der Vater, wenn es hart auf hart kam, immer zu seiner neuen Frau hielt.

Janos Stiefschwester hatte vor einigen Jahren bei einem Verwandtenbesuch in Rheinland-Pfalz einen Mann kennen­gelernt und war nach der Heirat zu diesem gezogen. Er war Rosenzüchter in der Rosenstadt Zweibrücken und somit dort ortsgebunden.

Jano hatte immer noch darauf gehofft, dass sein Vater angesichts seines zunehmend schlechter werdenden Gesundheitszustandes ihm doch noch den Hof zu Lebzeiten übertragen würde. Dann hätte seine Stiefmutter mit seinem Vater auf das Altenteil des großen Hofes ziehen können. Aber bei der Bewirtschaftung des Hofes hätte sie kein Mitspracherecht mehr gehabt. Damit wäre Marika absolut einverstanden gewesen, zumal den eigenen elterlichen Hof im Saterland schon ihr älterer Bruder übernommen hatte. Janos Hoffnung hatte sich jedoch nicht erfüllt, und nun hoffte er darauf, dass seine Stiefmutter nach dem Tod seines Vaters möglichst bald zu ihrer Tochter ziehen würde, wozu diese durchaus bereit war.

Theoretisch hätte Jano sogar sofort nach dem Tod seines Vaters auf dem Hof einziehen können und auch wollen. Allerdings bestanden seine Stiefmutter und deren Tochter darauf, dass die Ländereien, wie in einem Vorvertrag des Vaters mit einer Windparkbetreibergesellschaft vorgesehen, an diese verkauft würden. Eine Fortführung des landwirtschaftlichen Betriebes wäre damit aber ausgeschlossen gewesen. Für Jano daher absolut keine Option.

Er hatte darauf bestanden, dass der vom Vater eingestellte Ulfert Gerdes, der mit seiner Frau und zwei Kindern in einem kleinen Häuschen auf dem Hof wohnte, weiterbeschäftigt wurde und vor allem das Vieh weiterversorgte. Das hatte seine Stiefmutter zu verhindern versucht, indem sie ihm und seinen landwirtschaftlichen Gehilfen fristlos kündigte, weil sie den Betrieb des Hofes sofort nach dem Tod ihres Mannes einstellen wollte. Der Verwalter hatte mit gewerkschaftlicher Unterstützung allerdings gerichtlich eine einstweilige Verfügung gegen die Kündigung erwirkt. Auch von Jano war er dabei unterstützt worden.

Unabhängig davon gab es aber bereits eine Zusage der Stadt Esens für den Betrieb eines Windparks auf den Ländereien des Hofes. Das Prüfverfahren hatte sich allerdings länger hingezogen. Durch den Tod von Janos Vater war es nicht mehr zu einer Auflösung des landwirtschaftlichen Betriebes und einem notariellen und grundbuchlichen Verkaufsabschluss über die Ländereien gekommen.

In der Hoffnung darauf, dass der Verkauf der Ländereien noch zu seinen Lebzeiten zum Abschluss kommen würde, hatte Janos Vater kurz vor seinem Tod auf Betreiben seiner Ehefrau und ihres Anwalts testamentarisch bereits Vorsorge getroffen. Seine Frau, deren Tochter und Jano sollten je zu einem Drittel als Erbengemeinschaft für das dann nicht mehr landwirtschaftlich genutzte Anwesen anspruchsberechtigt sein.

Da der Betrieb aber zum Todeszeitpunkt von Janos Vater noch landwirtschaftlich genutzt wurde, galt immer noch die niedersächsische Höfeordnung, die eine testamentarische Verfügung wie zum Beispiel die einer Erbengemeinschaft, wie sie hier vorgesehen war, ausschloss. Aus diesem Grund war auch die einstweilige Verfügung gegen Janos Stiefmutter ergangen.

Jano konnte durchaus ein gewisses Verständnis für die Windparkbetreibergesellschaft aufbringen. Immerhin hatten die schon einiges an Zeit und Geld investiert, um eine Genehmigung der Stadt Esens zu erwirken. Dafür aber, dass seine Stiefmutter und ihr Anhang mithilfe ihres Anwaltes versucht hatten, den landwirtschaftlichen Weiterbetrieb zu verhindern, konnte er kein Verständnis aufbringen. Und nichts anderes wäre es gewesen, wenn kein Personal mehr für die Bewirtschaftung und Betreuung der Tiere auf dem Hof da gewesen wäre. Für den gesamten Tierbestand hätte das quasi über Nacht Verkauf oder Endstation Schlachthof bedeutet.

Und diese Typen hatten es gewagt, heute Abend unangemeldet plötzlich vor der Tür ihres Wohnmobils zu stehen. Marika sah das schon als eine gewisse Dreistigkeit und Unverfrorenheit an. Aber es passte zu dem ganzen Gebaren, das von diesen Leuten bisher an den Tag gelegt wurde.

Es gehörte schon etwas dazu, angesichts des sich bereits abzeichnenden Lebensendes seines Vaters noch schnell zu versuchen, in Form eines Vorvertrages und eines Testamentes juristische Weichen für eigene Vorteile zu stellen. Das allein war für Jano schon moralisch völlig inakzeptabel. Marika und er wussten, dass der Bruder von Petras Mann Ingenieur und Projektentwickler für die Gesellschaft war, die die Windparkanlagen betrieb. Er war der eigentlich treibende Motor im Hintergrund für diese ganzen Aktivitäten gewesen. Wahrscheinlich verdiente er kräftig daran mit.

Marika war sich sicher: Schon allein aus diesen Gründen war Jano absolut nicht bereit, selbst auf ein noch so großzügiges Kaufpreisangebot der Windkraftbetreibergesellschaft einzu­gehen. »Bei diesen Leuten! Für kein Geld der Welt! Nur über meine Leiche!«, hatte Jano in diesem Zusammenhang gestern noch zu ihr gesagt. Und das sollte auch seine Marschrichtung für einen anberaumten »Abstimmungstermin« beim Notar in Esens sein.

Hinzu kam noch ein ganz gewichtiges Argument für ihn: seine Bindung an die heimische Scholle und der Fortbestand des seit Generationen im Familienbesitz befindlichen väterlichen Hofes. Das war Jano wichtiger als ein noch so verlockender Verkaufspreis. Marika sah das ganz genauso. Wenn es um die heimische Scholle ging, unterschieden sich Saterfriesen und Ostfriesen nicht.

Schon bei den Vorgesprächen mit dem Anwalt seiner Stiefmutter hatte Jano aus seiner Meinung und Einstellung keinen Hehl gemacht. Er hatte auch nicht damit hinterm Berg gehalten, dass er den Verwalter seines Vaters bei der Beantragung der einstweiligen Verfügung wegen dessen Kündigung und der seiner landwirtschaftlichen Helfer unterstützt hatte. Damit war auch seine Zusage verbunden gewesen, den Verwalter und seine Gehilfen später weiterbeschäftigen zu wollen.

Spätestens seitdem mussten doch seine Kontrahenten eigentlich begriffen haben, dass mit ihm diesbezüglich nicht zu verhandeln war, ging es Marika durch den Kopf. Sie wunderte sich nur, warum er trotzdem diesem »Abstimmungstermin« überhaupt zugestimmt hatte. Aber so war ihr Jano eben manchmal. Da wusste auch sie nicht, was in seinem Kopf vorging. Manche würden sagen, ein typisch ostfriesischer Wesenszug.