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Helmut Ortner

Der Hinrichter

Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers

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Ungekürzte Paperback-Ausgabe der gebundenen Ausgabe von 2014

Copyright © Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2022

www.nomen-verlag.de

Umschlaggestaltung: BlazekGrafik, Frankfurt am Main
Satz: Agentur für Druck und Grafik, Frankfurt am Main
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-939816-84-3

Alle Rechte vorbehalten.

INHALT

Vorwort

Die Gegenwart der Vergangenheit

Prolog

Ein Todesurteil – oder: Die zweite Karriere des Roland Freisler

Erstes Kapitel

Der Festakt

Zweites Kapitel

Der Rechtsanwalt aus Kassel

Drittes Kapitel

Ein Volk, ein Reich, ein Führer – und eine Justiz

Viertes Kapitel

Der Staatssekretär und Publizist

Fünftes Kapitel

Gegen Verräter und Volksschädlinge

Sechstes Kapitel

Der politische Soldat

Siebtes Kapitel

Im Namen des Volkes

Achtes Kapitel

Der 20. Juli

Neuntes Kapitel

Das Ende

Zehntes Kapitel

Keine Stunde null

Lebenslauf Roland Freisler

Anhang

Quellenverzeichnis und Anmerkungen

Dokumente

Abkürzungen

Literatur

Urteile des Volksgerichtshofs

Die VGH-Juristen

Namensregister

»Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher. Was wir über seine Gesinnung auszuführen haben, bezieht sich nicht auf ihn allein, sondern auf Deutschland als Ganzes.«
Raul Hilberg

»Nein, das vergangene Geschehen ist keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist.«
Alfred Grosser

Die Gegenwart der Vergangenheit

Ob es sinnvoll sei, heute noch über die nationalsozialistische Vergangenheit zu schreiben, wurde ich während der Arbeiten an diesem Buch immer wieder gefragt. Von Bekannten, die der Meinung sind, diese Vergangenheit sei nunmehr doch tatsächlich vergangen.

Von Freunden, die argumentieren, auch eine so belastende Geschichte wie die unsere dürfe einmal zu Ende sein. Ich wies darauf hin, dass die meisten Deutschen – und es handelt sich hierbei keineswegs um die ältere Generation – noch immer nicht wahrhaben wollen, was ihre Väter und Großväter zwischen 1933 und 1945 angerichtet und zugelassen haben. Und ich versuchte an Beispielen zu zeigen, welche kollektiven und individuellen Anstrengungen unternommen wurden, um der belasteten Geschichte zu entkommen. Dafür erntete ich häufig Zweifel, Unverständnis, nicht selten gar Protest. Nicht alle seien Nazis gewesen, nicht alle hätten Schuld auf sich geladen, nicht allein die Deutschen unmenschliche Gräueltaten begangen. Für mich klang das nach Rechtfertigung. Nach Schuldverdrängung.

Sicher: Am Tag Null nach Hitler gab es auch hierzulande Menschen, die Scham und Trauer empfanden über das, was in den Jahren zuvor geschehen war. Doch Tatsache ist, dass es schon damals weit mehr Menschen gab, die, gerade der Katastrophe entkommen, das Erlebte und Geschehene verdrängten, statt es im Bewusstsein der Verantwortung als eigene Geschichte anzunehmen. Ein Volk auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Damals – und heute?

Will die Nachkriegsgeneration, der ich angehöre, jene Generation also, die, um den früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl zu zitieren, mit »der Gnade der späten Geburt« gesegnet ist, nun endlich einen Schlussstrich unter eine nicht allzu lang zurückliegende belastete Vergangenheit ziehen? Ist sie, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit dem Hitler-Regime und seinem Erbe? Oder: Beginnt nicht die Verantwortung dieser Generation bei der Frage, wie sie zur Schuld ihrer Großeltern und Eltern steht? Ob sie sich erinnern will?

In diesem Buch geht es um Schuld und Sühne, um Versagen und Feigheit. Um Mut, Aufrichtigkeit und Widerstand. Um Täter und Opfer. Um Verdrängung und Verleugnung – um das Erinnern.

Im Mittelpunkt dieses Buches steht – exemplarisch – eine besonders menschenverachtende NS-Institution, die es ohne die willfährige Unterstützung und Mitwirkung von Juristen nicht gegeben hätte – der Volksgerichtshof. Zwar ist darüber in den letzten Jahren geschichtswissenschaftlich, juristisch, politisch und publizistisch umfangreich gearbeitet worden – was gleichermaßen auf den Komplex Justiz im Dritten Reich insgesamt zutrifft. So ist es heute für den interessierten Leser möglich, den fatalen Weg zu verfolgen, den die Justiz im Hitler-Deutschland vom euphorischen Anfang bis zum zerstörerischen Ende gegangen ist. Doch trotz umfangreicher Geschichtsschreibung über Entstehung, Struktur, Funktion und Alltag des Volksgerichtshofs gibt es bislang nur wenig Literatur über Leben und Wirken Roland Freislers. Mit seinem Namen war die wohl grausamste Ära des Terror-Tribunals verknüpft.

Freisler, 1942 bis 1945 VGH-Präsident, doch bereits 1934 unermüdlicher Vordenker für ein nationalsozialistisches Recht – seine Karriere, sein Einfluss, sein Tod werden in diesem Buch nachgezeichnet. Wie wird aus einem jungen Gymnasiasten aus kleinbürgerlich-konservativem Milieu ein gnadenloser Todesrichter? Wie entwickelte sich seine fanatische Gedankenwelt, woran orientierten sich seine rigorosen Rechtsauffassungen?

Freilich: Aus einer rein persönlichen Biographie ergeben sich kaum neue, überraschende Einsichten. Geschichte darf sich nicht auf Personen allein reduzieren, auf Prominenz und Privatheit. Gerade die Person Freislers wurde in der Vergangenheit zum dämonischen Unmenschen der deutschen NS-Justiz schlechthin stilisiert, häufig mit der Absicht, dadurch die Untaten von Tausenden seiner braunen Richterkollegen zu relativieren. Tatsache ist: Freisler war kein Dämon in roter Robe, nein, er war nur ein besonders konsequenter Vollstrecker nationalsozialistischer Rechtsauffassung.

Aus diesem Grunde habe ich es vorgezogen, von der Person Freislers zu den Strukturen des NS-Rechts vorzudringen beziehungsweise zu beschreiben, wie beides miteinander korrespondierte. Die Lebensgeschichte Roland Freislers wird im Kontext seiner Zeit geschildert – illustriert durch eine Vielzahl von Dokumenten –, zumal sich ja seine Rolle keineswegs nur auf die des Präsidenten des Volksgerichtshofs beschränkte. Freisler als Rechtsanwalt, Staatsbeamter, Publizist und nationalsozialistischer Richter, der, ohne jeglichen Opportunismus, das Gesetz nicht einmal beugte, sondern allenfalls im Sinne des Nazi-Regimes interpretierte und gnadenlos anwendete. Wer als Angeklagter vor ihm stand, hatte – vor allem in den letzten Kriegsjahren – den Tod zu erwarten. Dieses Buch handelt deshalb auch von den Opfern, ihren Lebensgeschichten, ihren Schicksalen. Ein umfangreiches Kapitel dokumentiert ihre Todesurteile. Urteile als stumme Zeugen einer gnadenlosen Justiz.

Bei den Recherchen für dieses Buch habe ich mit vielen – vielleicht den letzten – Zeitzeugen gesprochen. Menschen, die vor dem Volksgerichtshof standen, zum Tode verurteilt waren und allein deshalb überlebten, weil das Kriegsende der Vollstreckung zuvorkam. Und Menschen, die als Richter Nazi-Gesetze anwendeten, erbarmungslose Urteile sprachen, nicht selten mit tödlichen Konsequenzen für die Verurteilten. Einige von ihnen – das war mein Eindruck – können mit dieser schweren Hypothek trotzdem gut leben. Sie fühlen sich als schuldlos Beladene, deren Glaube an das Vaterland »von der Politik« missbraucht wurde. Kaum einer von ihnen bekannte sich zu seiner persönlichen Verantwortung. Von Reue oder Scham keine Spur. Im Gegenteil: Sie fühlten sich nicht selten sogar selbst als Opfer einer »schicksalhaften Zeit«. In den Gesprächen, die ich mit ehemaligen NS-Richtern und Anklägern führte, wurden kaum Zweifel am eigenen Handeln erkennbar. Eine nur schwer erträgliche Selbstgefälligkeit.

Als der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger wegen seiner Todesurteile als Marine-Kriegsrichter in den Siebzigerjahren in die Schlagzeilen kam, was schließlich – freilich eher unfreiwillig und in der Nachkriegszeit nicht unbedingt typisch – zu dessen Rücktritt führte, prägte der Dramatiker Rolf Hochhuth den Begriff des furchtbaren Juristen. Diese furchtbaren Juristen beharren auch heute noch auf der Rechtmäßigkeit ihrer Urteile. Die beschämende Rechtfertigung dieser NS-Richter: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein«, hatten vor Filbinger schon viele NS-Richter gebraucht. Es ist die nach 1945 so häufig strapazierte Entschuldigung, sie seien zum Paragraphengehorsam verpflichtet gewesen. Tatsache ist: Deutsche Richter haben zwischen 1933 und 1945 mit opportunistischer – bisweilen fanatischer – Kaltblütigkeit die Weimarer Verfassung zu einem Fetzen Papier gemacht und formal geltendes Recht mit organisierter Brutalität bedenkenlos angewandt. Keiner war dazu gezwungen worden. Nein, sie handelten aus eigenem Entschluss. Sie waren die juristischen Handlanger und Vollstrecker des NS-Staates. Nur wenige von ihnen leben noch unter uns. In hohem Alter, gut versorgt mit ebenso hohen Pensionen aus der Staatskasse. Die meisten noch immer davon überzeugt, damals nur ihre Pflicht getan zu haben. Roland Freisler war keineswegs ein Dämon, der aus der Hölle aufstieg, sondern er kam aus der Mitte des deutschen Volkes. Seine Karriere war eine deutsche Karriere. Er war ein erbarmungsloser Vertreter einer erbarmungslosen Justiz. Ein konsequenter Komplize eines mörderischen Systems. Ein exemplarischer Mörder in Robe – und die Deutschen haben seine Taten, sein Wirken, seine Karriere möglich gemacht. Wenn das Buch nun – nach Übersetzungen in zahlreiche Sprachen – in einer weiteren Neuauflage vorliegt, dann zeigt dies, dass das Interesse der nachfolgenden Generation, wissen zu wollen, wie es geschah – ungebrochen ist. Dazu tragen TV-Dokumentationen wie die MDR-Produktion über Freisler unter dem Titel Hitlers williger Vollstrecker bei, die mit großer Resonanz im Programm verschiedener ARD-Anstalten gesendet wurde.

Ein Buch gegen das Vergessen soll es sein. Denn: Nicht das Vergessen, sondern die Erinnerung macht uns frei.

Frankfurt am Main, August 2014

Helmut Ortner

Prolog

Ein Todesurteil – oder: Die zweite Karriere des Roland Freisler

Freitag, 17. November 1944. Ein geschlossener Kastenwagen bringt die einundzwanzigjährige Margot von Schade gegen zehn Uhr morgens vom Berliner Untersuchungsgefängnis Moabit hinüber in die Bellevuestraße – zum Volksgerichtshof. Schweigend sitzt sie zwei Frauen gegenüber: der dreiundzwanzig Jahre alten Barbara Sensfuß und der vierzigjährigen Käthe Törber. Für alle lautet die Anklage auf »Wehrkraftzersetzung«. In nur wenigen Stunden beginnt die Gerichtsverhandlung. Was hat man mit ihnen vor? Was erwartet sie?

Am Vormittag erst hatte man ihr und den beiden anderen Frauen mitgeteilt, dass an diesem Tag der Prozess stattfinde. Jetzt, auf der Fahrt durch Berliner Straßen, die sie nur skizzenhaft über den Rücken des Fahrers hinweg durch die Frontscheibe wahrnimmt, fühlt sie sich elend. Und allein. Sie denkt an ihre Familie: die Mutter, den Stiefvater, die Schwester. Wo sind sie jetzt? Sie hat Angst.

Eine Stunde später: ein großer Saal, die Wände kalkweiß. Vor dem Richtertisch drei Stühle – die Stühle für die Angeklagten. Daneben, links und rechts aufgereiht, uniformierte Wachbeamte. Sie wirken einschüchternd: »Hier gibt es kein Entrinnen« spricht aus ihren Gesichtern. An der Stirnseite des Saales, unübersehbar – von der Decke bis zum Boden –, eine blutrote Hakenkreuzfahne. Davor, auf einem schmalen Sockel, die Bronzebüste Hitlers. Margot von Schade starrt wie hypnotisiert auf das riesige rote Tuch. Es wirkt bedrohlich auf sie. Sie blickt kurz in die Zuschauerbänke. Eine anonyme Masse. Braune und schwarze Uniformen. Sie nimmt dumpfes Stimmengemurmel wahr. Alles bleibt schemenhaft, unwirklich.

»Aufstehen!« – Der militärische Kommandoton eines der Wachbeamten durchdringt den Gerichtssaal. Schlagartig herrscht Ruhe. Die Tür an der Seite des Richtertischs geht auf. Das Gericht tritt ein. Rote Roben, rote Baretts, graue und schwarze Uniformen – die Beisitzer. Vorneweg der Vorsitzende: Roland Freisler. Sie schaut ihm direkt ins Gesicht. Ihre Blicke treffen sich für einen Augenblick. Er blickt kurz auf seine Armbanduhr. Die Verhandlung beginnt …

Margot von Schade verfolgt das Tribunal wie in Trance. Später, sie weiß nicht mehr, wie viel Zeit mittlerweile verstrichen ist, schreckt sie hoch: »Angeklagte Schade! Aufstehen!« Freislers schneidende Stimme ist unüberhörbar. Punkt für Punkt liest er die Anklagepunkte vor. Nein, er liest nicht – es erhebt sich ein einziges Gebrüll. Nach dem »gemeinen und hinterhältigen Attentat vom 20. Juli auf unseren Führer«, führt er voller Pathos und mit großem theatralischen Gestus aus, habe sich die Angeklagte öffentlich zersetzend geäußert. Nachdem die Sondermeldung über »die wundersame Errettung des Führers« über den Rundfunk verbreitet worden sei, habe die Angeklagte abfällig geäußert: »Pech gehabt …« Nicht genug. Die »verbrecherischen Offiziere, die den Anschlag ausführten«, seien, so habe die Angeklagte öffentlich behauptet, »nicht feige gewesen, sondern hätten im Gegenteil Mut gezeigt«.

Ein Raunen des Entsetzens geht durch die Zuschauerreihen. Es wächst an, als Freisler mit vor Empörung bebender Stimme ein Wort aus der Anklageschrift zitiert, das jedem strammen Nationalsozialisten geradezu als Ausbund der Verkommenheit erscheinen muss: »Scheißgefreiter« habe dieses verkommene Mädchen den Führer tituliert – »unglaublich«!

Freisler gerät außer sich. Sein fanatischer Blick ist auf Margot von Schade gerichtet. Sie blickt zu Boden. Wie soll sie gegen diesen geifernden Monolog ankommen, wie sich Gehör verschaffen? Wie verteidigen? Schafft sie es einmal, die Worttiraden Freislers zu durchbrechen, wird sie nach wenigen Sätzen barsch zurechtgewiesen. Gibt es denn hier im Saal niemanden, der ihr hilft? Wo ist denn ihre Verteidigerin? Margot von Schade fühlt sich ohnmächtig. Ausgeliefert. Allein gelassen.

Schon vorhin, beim Auftritt der beiden Mitangeklagten, die hier aber als Belastungszeuginnen gegen sie auftraten, hatte sie so viel sagen wollen. Erzählen, wie es wirklich war. Schildern, was tatsächlich geschah, damals nach dieser Rundfunkmeldung am 20. Juli. Doch Freisler hatte ihr das Wort entzogen.

Da sitzen nur wenige Schritte von ihr die beiden Frauen, die einst ihre Vertrauten waren und die nun alle Schuld auf sie abwälzen. Sie wollen ihre Haut retten, nichts sonst. Margot von Schade spürt: Bei diesem Tribunal ist jede Denunziation willkommen. Ein Lehrstück für alle Zuschauer im Saal, damit sie sehen und erleben können, wie es jemandem ergeht, der sich außerhalb der »Volksgemeinschaft« stellt. Wie im Zeitalter der Hexenverfolgung, denkt sie. Und ich bin hier die Hexe. Freigegeben zum Verbrennen …

Irgendwann, sie ist längst müde geworden und kann diesem makabren Schauspiel nicht mehr folgen, vernimmt sie die monotone Stimme ihrer Verteidigerin. Ihr Schlussplädoyer klingt routiniert, gleichgültig. Aber ist es überhaupt »ihre« Verteidigerin? Nein, ihr Vertrauen hat diese Frau nicht. Wie auch? Gerade einmal – und nur wenige Minuten lang – haben sie vor diesem Prozess miteinander in der Haftanstalt gesprochen. Diese Anwältin weiß nichts von ihr, will nichts von ihr wissen. Für sie ein »Fall« wie viele andere, eine »Aktennummer«. Sonst nichts. Als Pflichtverteidigerin ist sie vom Gericht engagiert worden. Und sie tut hier ihre Pflicht, wie man es von ihr erwartet.

Jetzt, da das kalte Tribunal dem Ende zugeht, spürt Margot von Schade, wie sehr sie in Gefahr ist. In den vergangenen Stunden musste sie erleben, wie ihre beiden Mitangeklagten vom Gericht als »verführte«, aber »im Kern« doch redliche Volksgenossinnen behandelt worden waren; wie deren Verteidiger entlastende Argumente vortrugen, ja sogar Freisler verständnisvolle Worte für das Verhalten der beiden fand.

Ganz anders bei ihr. Von Beginn an schlug ihr die gereizte Ablehnung Freislers entgegen. Warum nur? Weil sie von adeliger Herkunft ist? Ist nach dem 20. Juli jeder Mensch, der in seinem Namen ein »von« trägt, bereits ein Mitverschwörer Stauffenbergs? Trifft sie die ganze Härte Freislers, weil sie in ihren Antworten jene reumütige Einsicht vermissen lässt, die er von ihr erwartet?

Gedanken wie diese gehen ihr durch den Kopf. Hat nicht Freisler vorhin mit zynischer Attitüde gesagt: »Das ist die Familie, die Umgebung, der die Angeklagte entstammt …« Hat er nicht mit gespielter Entrüstung gegeifert: »Sage mir, mit wem du verkehrst – und ich sage dir, wer du bist …«? Alles ist belastend gegen sie verwendet worden, selbst der Brief, den ihre Schwester Gisela ihr in die Zelle geschickt hat und der selbstverständlich von den Beamten abgefangen und sogleich zum Belastungsmaterial genommen worden ist. In dem Brief hat Gisela von einer geselligen Runde berichtet – getanzt hätten sie, getrunken … Freisler sieht darin nur einmal mehr den Beweis der dekadenten familiären Herkunft. Diese junge Margot von Schade, diese aufmüpfige Göre, die sich sogar erdreistet hat, den Führer »in schamlosester Weise öffentlich zu beleidigen«, die durch ihre zersetzenden Äußerungen das Misslingen des Attentats sogar bedauerte – an dieser niederträchtigen Person muss ein abschreckendes Exempel statuiert werden.

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Ist nicht alles schon längst entschieden? Bedrückt und erregt zugleich, sitzt Margot von Schade auf ihrem Stuhl. Die Zeit scheint stehenzubleiben. Sie fühlt sich wie in einem Vakuum.

Irgendwann, Margot von Schade hat jegliches Zeitgefühl verloren, betreten Richter und Beisitzer wieder den Saal. Die Urteilsverkündung. Freislers schneidende Stimme ist unüberhörbar:

»Angeklagte Sensfuß – Aufstehen!

Freispruch!

Angeklagte Törber – Aufstehen!

Freispruch!«

Hoffnung keimt in ihr auf. Wenn die beiden Mitangeklagten freigesprochen werden, kann eigentlich auch ich mit einer Gefängnisstrafe davonkommen …

»Angeklagte von Schade – Aufstehen!«

Ihre Augen schauen nach vorne: Rote Robe, rote Fahne … die Büste des Führers …

»Wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung, defätistischer Äußerung und Landesverrat verurteile ich Sie … zum Tode!«

Todesurteil? Für mich? Das kann nicht sein … Ich bin keine Kriminelle, keine Mörderin … Todesurteil? Während Freisler die Begründung des Urteils verliest, bemüht sie sich, die ungeheure Tragweite des Richterspruchs in ihrem Bewusstsein zu verarbeiten. Todesstrafe? Soll es plötzlich zu Ende sein? Wegen ein paar leichtfertiger Sprüche in geselliger Runde? Die beiden anderen waren doch auch dabei, haben gelacht, Späße gemacht. Warum werden sie freigesprochen? Warum soll ich getötet werden?

Todesstrafe für so etwas – unmöglich!

Sie sucht das Gesicht ihres Stiefvaters. Sie weiß, dass er unter den Zuschauern ist. Ist es wahr? Stimmt es? Soll ich, muss ich sterben? Soll dieser 17. November wirklich mein Schicksalstag sein? Wartet nur noch das Fallbeil auf mich?

Margot von Schade, die heute Margot Diestel heißt, hat überlebt. Das vorzeitige Ende des »Tausendjährigen Reichs« hat ihr das Leben gerettet. Zur Hinrichtung war es infolge des russischen Vormarsches nicht mehr gekommen. Sie hatte die Luftangriffe in ihrer Gefängniszelle überstanden, die qualvolle Verlegung von Berlin in das Gefängnis im sächsischen Stolpen. Und hier sollte ein mutiger Wachbeamter in den letzten Kriegstagen den Befehl verweigern, die Insassen vor dem Eintreffen des herannahenden Feindes zu erschießen. Stattdessen stellte er – die russischen Truppen standen bereits unmittelbar vor der Stadt – Entlassungsscheine aus: »Margot von Schade wird mit dem heutigen Tag entlassen.« Stempel, Unterschrift, Datum. Es war der 3. Mai 1945.

Vier Tage später unterzeichnete Generaloberst Jodl in der westfranzösischen Stadt Reims die deutsche Kapitulation. Der Krieg war zu Ende.

Vierundzwanzig Jahre danach begann Margot von Schade – eine der wenigen Davongekommenen – ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Ihre Jugend, die Denunziation, die Verhaftung, das Todesurteil vor dem Volksgerichtshof, der zermürbende Leidensweg durch die Gefängnisse, die ständige Todesangst – davon wollte sie eigentlich nur ihren Enkelkindern erzählen. Sie sollten erfahren, was sich zutrug in Deutschland. Fast zufällig war daraus ein bewegendes zeitgeschichtliches Dokument geworden. Die Erinnerungen an die braunen Schreckensjahre – von ihrem Mann, Arnold Diestel, aufgezeichnet – fanden einen Verlag. Das Buch soll der nachwachsenden Generation die Augen öffnen.

Denn: »Was einmal geschah, darf nie mehr passieren.«

Margot Diestel sieht sich rückblickend nicht als Widerstandskämpferin, nein, das nicht. Aber sie hat schon in jungen Jahren erkannt, was die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und der Welt anrichtete: »Als einundzwanzigjähriges Mädchen in der noch friedlichen Stadt Demmin, manche Dinge wissend, viele ahnend, angefüllt mit Ekel gegen dieses verbrecherische System und versehen mit einem frechen Mundwerk. So als lebten wir im tiefsten Frieden, als gäbe es keine Denunziation, keine Gestapo und keine Konzentrationslager – so rieb ich jedem meine Meinung unter die Nase«, erinnert sie sich. Ihre Unbekümmertheit sollte sie beinahe das Leben kosten – im Namen des deutschen Volkes. Die Urteilsbegründung hat sie in ihrem Buch abgedruckt. Dokumente einer Terrorjustiz:

Im Namen des Deutschen Volkes!

In der Strafsache gegen

die Bereiterin Margot von Schade aus Demmin, geboren am 27. März 1923 in Burg Zievrich (Krs. Bergheim a. d. Erft),

wegen Wehrkraftzersetzung

hat der Volksgerichtshof, 1. Senat, auf die am 30. Oktober 1944 eingegangene Anklage des Herrn Oberreichsanwalts in der Hauptverhandlung vom 17. November 1944, an welcher teilgenommen haben

als Richter:

Präsident des Volksgerichtshofs

Dr. Freisler, Vorsitzender

Landgerichtsdirektor Dr. Schlemann,

SA-Brigadeführer Hauer,

NSKK-Obergruppenführer

Regierungsdirektor Offermann,

Stellvertretender Gauleiter Simon,

als Vertreter des Oberreichsanwalts:

Landgerichtsrat von Zeschau

für Recht erkannt:

Margot von Schade hat die Meuchelmörder vom 20. Juli verherrlicht, das Misslingen des Mordanschlages auf unseren Führer bedauert, unseren Führer aufs niedrigste verächtlich zu machen gesucht und in schamloser Selbsterniedrigung mit einem Russen sich »politisch« unterhalten.

Für immer ehrlos wird sie damit mit dem Tode bestraft.

Gründe:

Sie gibt zu, dass sie sich zum Attentat geäußert habe: »Pech gehabt!«,

Pech gehabt nämlich, dass der Mordanschlag nicht glückte!!!…

Das allein streicht sie aus unserer Mitte aus. Denn wir wollen nichts, gar nichts gemein haben mit jemandem, der mit den Verrätern an Volk, Führer und Reich, die uns durch ihren Verrat unmittelbar in Schande und Tod geschickt hätten, wenn sie Erfolg gehabt hätten, sich solidarisch erklärt.

Margot von Schade hat aber, und das mag als Vervollständigung des Bildes ihrer Verworfenheit festgestellt werden, diese ihre gemeinen Äußerungen auf der Grundlage einer durch und durch verräterischen, ehrlosen Grundeinstellung getan …

… Kein Wunder, dass sie, wie sie selbst zugibt, als sie und ihre Kameradinnen zum Gemeinschaftsempfang der Führeransprache gingen, das mit den Worten mitteilte: »Herr Hitler spricht!« Der Zorn und die Scham muss doch jedem darüber hochkommen, dass ein deutsches Mädchen sich im Jahre 1944 so ausdrückt …

… Wer in so schamloser Selbsterniedrigung als Deutsche derartige Gespräche mit einem Bolschewisten führt, wer derartigen gemeinsten Verrat unserer Geschichte verherrlicht, wer so unseren Führer verächtlich zu machen sucht – der beschmutzt dadurch unser ganzes Volk. Wir wollen mit jemandem, der mit der Treue seine Ehre, seine ganze Persönlichkeit derart atomisiert, für immer zerstört hat, aus Gründen der Sauberkeit nichts mehr zu tun haben. Wer so um sich Zersetzung verbreitet (§ 5 KSSVO), wer sich so zum Handlanger unserer Kriegsfeinde bei dessen Bemühungen, in unserer Mitte Zersetzungsfermente zu entdecken, macht (§ 91 b StGB), der muss aber auch mit dem Tode büßen, weil wir die Festigkeit der Haltung unserer Heimat, überhaupt unseres um sein Leben schwer ringenden Volkes unter allen Umständen schützen müssen …

Weil Margot von Schade verurteilt ist, muss sie auch die Kosten tragen.

gez: Dr. Freisler

Dr. Schlemann

Sechsundvierzig Jahre später. Steinhorst in der Nähe von Hamburg. Ich sitze der Frau gegenüber, die damals in Berlin von Freisler zum Tode verurteilt worden war.

Wie sind heute ihre Gefühle beim Lesen ihres eigenen Todesurteils? Spürt sie Wut, hat sie Rachegefühle? »Nein«, antwortet sie kopfschüttelnd, »nur Lähmung und Enttäuschung. Fast alle Richter des Volksgerichtshofs kamen ja nach dem Krieg wieder in Amt und Würden. Keiner wurde zur Verantwortung gezogen oder verurteilt, und das ist deprimierend.«

Das Schicksal hat es gut gemeint mit diesem lebenslustigen Mädchen von einst und der aufrechten Frau von heute. Sie hat später, aber nicht zu spät, wenigstens auf ganz private Weise Wiedergutmachung erfahren. Mit staatlicher Wiedergutmachung hat sie in diesem Land nicht rechnen können. Sie war Opfer, nicht Täter. Und staatliche Fürsorglichkeit wurde hierzulande mehr den letzteren zuteil.

Monate zuvor. Schon einmal »Spurensuche«. Ein sehr ruhiges, vornehmes Wohnviertel in München, dicht am Nymphenburger Kanal. Ein moderner Wohnblock, elf Wohnungen. Im Erdgeschoss links an der Wohnungstür ein schlichtes Pappschild: Russegger. Niemand der Nachbarn weiß, dass die alte Dame Marion Freisler ist, die Witwe des ehemaligen Volksgerichtshofs-Präsidenten Roland Freisler. »Eine sehr zurückgezogen lebende Frau: Sie spricht kaum mit jemandem«, gibt mir eine Hausbewohnerin Auskunft. Auch mit mir spricht Frau Russegger nicht. In einem Brief hatte ich sie Wochen zuvor um ein Gespräch gebeten; wie denkt sie heute über das erbarmungslose Wirken ihres Mannes, wie hat sie ihren beiden Söhnen den Vater erklärt? Das wollte ich sie fragen – und vieles mehr. Mein Brief blieb unbeantwortet. Ich entschloss mich, nach München zu fahren. Ein letzter, freilich erfolgloser Versuch.

Bei meinen Recherchen war ich auf Presseberichte aus dem Jahr 1958 gestoßen. Eine Berliner Spruchkammer – die letzte in Deutschland – hatte damals eine Sühnegeldstrafe von 100 000 Mark über den Nachlass Freislers verhängt. Diese Summe entsprach dem Wert zweier Grundstücke in Berlin, die seit Kriegsende unter Treuhandverwaltung standen und die Freislers Witwe als ihr Eigentum beanspruchte. Jahrelang hatte sie um die Rückgabe der Häuser mit der Begründung gekämpft, sie seien von ihrer Mitgift gekauft worden. Die Berliner Spruchkammer kam dagegen zu dem Schluss, dass es sich um Erwerbungen aus Freislers Einkünften zugunsten seiner Frau gehandelt habe. Die Kammer stützte sich dabei auf die Tatsache, dass sich die über Jahre erstreckenden Ratenzahlungen für die Grundstücke mit den Terminen der Gehaltszahlungen für Freisler und den Etappen seiner Karriere zusammenfielen. Nachforschungen hatten überdies ergeben, dass Frau Freisler von Hause aus mittellos war.

Nach viereinhalbstündiger Verhandlung, zu der Freislers Witwe mit der Begründung, »sie könne keine Anstrengungen vertragen«, nicht erschienen war, wies die Kammer die Berufung der damals in Frankfurt lebenden Witwe Freislers, alias Frau Russegger, ab. Die Geldstrafe, die in gleicher Höhe bereits am 29. Januar 1958 von der Berliner Kammer verhängt worden war, entsprach den Werten der zwei Grundstücke, und so wurden diese nun statt des verhängten Sühnegelds eingezogen.

Fast dreißig Jahre später, im Februar 1985, kam die Witwe, genauer ihr »Rentenfall«, erneut in die Schlagzeilen. Diesmal ohne eigenes Zutun. Damals hatte der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Günther Wirth publik gemacht, dass Frau Russegger nach dem Kriege nicht nur die übliche Witwengrundrente aus dem Dienstverhältnis ihres kurz vor Kriegsende bei einem Bombenangriff in Berlin umgekommenen Ehemannes bezog, sondern darüber hinaus – seit 1974 – eine sogenannte Schadensausgleichsrente, gewährt vom Versorgungsamt in München mit der Begründung, es müsse unterstellt werden, dass Freisler – hätte er den Krieg überlebt – »als Rechtsanwalt oder Beamter des höheren Dienstes tätig geworden wäre«.

Aufsehen erregte damals vor allem die aberwitzige Argumentation. Die bayerischen Sozialbeamten konnten – »aus rechtsstaatlichen Gründen« – nicht die Auffassung vertreten, dass Freisler im Überlebensfall »zum Tode oder zumindest zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt worden wäre«. Vielmehr erschien ihnen »ebenso wahrscheinlich«, dass der höchste Nazi-Richter »in seinem erlernten oder einem anderen Beruf weitergearbeitet hätte, zumal eine Amnestie oder ein zeitlich begrenztes Berufsverbot ebenso in Betracht zu ziehen« gewesen wären.

Wer einen solchen Bescheid »erfinden, ausformulieren und absegnen« könne, so kommentierte damals die Süddeutsche Zeitung, der müsse »das Gemüt eines Metzgerhundes haben«. In beinahe allen großen deutschen Zeitungen löste der »Münchner Rentenfall« heftige Reaktionen aus. »Wie kann überhaupt jemand Kriegsopfer sein, der den Krieg gewollt, gefördert und verlängert hat?« fragte erzürnt Franz-Josef Müller, ein Münchner Sozialdemokrat, der 1943 im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« selbst vor Freisler stand und von ihm zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war.

Vierzig Jahre, nachdem Freisler mit dem Dritten Reich zugrunde ging, polarisierte der Fall um die Freislersche Rentenzahlung exemplarisch die Meinungen über den Umgang mit der NS-Vergangenheit. In einem Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung hieß es, es sei beschämend, »dass es Leute gibt, die nichts anderes zu tun haben, als vierzig Jahre nach Kriegsende in alten Rentenbescheiden zu wühlen«. Mit seiner Meinung stand der Mann keinesfalls allein.

Robert M. W. Kempner, nach dem Krieg amerikanischer Anklagevertreter in den Nürnberger Prozessen, meldete sich in derselben Zeitung ebenfalls zu Wort: »Die Witwe erhält außer der Kriegsopferversorgung und der Schadensausgleichsrente noch eine Witwenrente aus der Sozialversicherung«, schrieb er und brachte in seinem ausführlichen Leserbrief weitere brisante Details an die Öffentlichkeit: »Freisler«, so fuhr er fort, »hat jedoch niemals Sozialversicherungsbeiträge gezahlt, denn er erhielt ja sein hohes Richtergehalt. Eine Witwenpension konnte sie offensichtlich nicht erhalten, da eine solche nicht gewährt wird, wenn ein Beamter sich unmenschlich verhalten hat. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen über Artikel 131 des Grundgesetzes. In solchen Fällen aber wird eine Versorgung nur dann gewährt, wenn der Arbeitgeber, also der Staat, für den Betroffenen nachzahlt. Für Freisler müssen, da die Witwe Sozialversicherung erhält, also erhebliche Summen vom Staat nachgezahlt worden sein.« Am Ende seines Leserbriefes kritisierte Kempner die Tatsache, dass Freisler in der Rentenfrage seiner Witwe als Gerichtspräsident eingestuft wurde, und schrieb, seiner Meinung nach hätte dieser »nur als Totengräber der deutschen Justiz, also mit dem normalen Gehalt eines auf Friedhöfen beschäftigten Totengräbers eingestuft werden müssen«.

Durch die heftigen öffentlichen Reaktionen aufgeschreckt, wies der damalige bayerische Arbeits- und Sozialminister Franz Neubauer (CSU) seine Beamten an, die Rentenentscheidung zu korrigieren. Eine Rücknahme des zweifelhaften Bescheids sei jedoch »aus rechtlichen Gründen nicht mehr möglich«, teilte er später auf einer Pressekonferenz mit. Dafür, so ordnete der Minister an, solle die Kriegsopferrente so lange von Erhöhungen ausgeschlossen werden, bis der umstrittene Schadensausgleich aufgezehrt sei.

Trotz Schlagzeilen, Leserbriefen und heftiger Debatten – so ungewöhnlich war die Affäre um die Rentenzahlungen an die Witwe Freislers keineswegs.

Dass sich Hinterbliebene von NS-Größen nach dem Krieg Versorgungsansprüche und Entschädigungen beschafften, mochte vielen grotesk, ja geradezu zynisch vorkommen, doch die Regularien des Bundesversorgungsgesetzes hatten auch für diese Angehörigen eine bürokratische Nische. Davon profitierten schon in den Fünfzigerjahren Lina Heydrich, die Witwe des SS-Obergruppenführers und »Endlösungs«-Strategen Reinhard Heydrich, die Töchter von Hermann Göring und Heinrich Himmler und die Witwe des Franken-Gauleiters Julius Streicher, die ihren Mann für dessen frühere selbständige Tätigkeit als Herausgeber des NS-Hetzblattes Der Stürmer rentennachversichern ließ – und 46 000 DM herausholte. Dr. Ernst Lautz, Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof und verantwortlich für unzählige Todesurteile, erhielt nach dem Krieg zu seiner Pension eine Nachzahlung von 125 000 DM, dem Staatssekretär in Hitlers Justizministerium, Dr. Curt Rothenberger, in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt, wurden neben seiner ansehnlichen Pension von monatlich über 2 000 DM gar 190 726 DM nachgezahlt.

Neuartig am Fall Freisler aber war, dass dabei nicht nur die grundsätzlichen Kriegsopferrechte und früheren »Verdienste« geltend gemacht wurden, sondern ein bis zum Rentenalter künstlich verlängertes Berufsleben eines Nazi-Verbrechers. Die Argumentation mochte absurd sein – und dennoch: Vieles, beinahe alles sprach für die Richtigkeit der Auffassung der Münchner Beamten. Zwar gehörte Freisler unzweifelhaft zu den herausragenden Massenmördern des NS-Systems. In der Zeit seiner Präsidentschaft – von 1942 bis 1945 – und zum Teil unter seinem persönlichen Vorsitz verkündete der Volksgerichtshof durchschnittlich zehn Todesurteile pro Tag. Freilich: Nur wenn Freisler nach Kriegsende den Alliierten in die Hände gefallen und unter die Hauptverbrecher in Nürnberg geraten wäre, hätte die Chance für ein gerechtes Urteil über ihn bestanden.

Doch selbst im Nürnberger Juristenprozess wurden die Angeklagten lediglich zu überschaubaren Freiheitsstrafen verurteilt, die dank einer großzügigen Begnadigungspraxis keiner der Verurteilten voll absitzen musste. Von der bundesdeutschen Justiz war sühnende Gerechtigkeit gegenüber den früheren Richterkollegen ohnehin nicht zu erhoffen. Bereits in den Fünfzigerjahren hatte der Bundesgerichtshof mit einer zweifelhaften Rechtsprechung einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen, indem er allen NS-Richtern ein doppeltes »Rechtsbeugungs-Privileg« zuerkannte: Ein Richter darf danach wegen Mordes oder anderer schwerer Verbrechen nur verurteilt werden, wenn er zugleich der Rechtsbeugung für schuldig befunden wird. Dafür war bei den NS-Juristen der Nachweis des »direkten Vorsatzes« erforderlich – und dieser war kaum zu erbringen. Der Täter musste bewusst oder gewollt gegen die damals geltende Rechtsordnung verstoßen haben. Eine absurde Begründung. Fast alle Richter im Dritten Reich, besonders aber die Roben-Mörder des Volksgerichtshofs, befanden sich in völliger Übereinstimmung mit den Terror-Gesetzen des NS-Staates. Im Falle Freislers wäre der Nachweis solcher Rechtsbeugungsabsicht noch viel schwieriger gewesen als bei irgendeinem seiner braunen Richterkollegen, die das Kriegsende überlebt und in aller Regel im Adenauer-Staat ihre Justizkarriere fortgesetzt hatten.

Eine Statistik der Berliner Justizbehörde über noch lebende Mitglieder des Volksgerichtshofs spricht eine deutliche Sprache. Unter den bei der Erhebung im Jahre 1984 noch lebenden Juristen waren nach dem Krieg: zwei Amtsrichter, ein Amtsgerichtsdirektor, zwei Landgerichtsräte, vier Landgerichtsdirektoren, vier Oberlandesgerichtsräte, sechs Staatsanwälte, drei Oberstaatsanwälte und sogar zwei Senatspräsidenten. Die Ausnahme blieb es, dass einer der VGH-Juristen nach dem Krieg nicht in den Staatsdienst übernommen wurde. Warum also sollte nicht auch Freisler vor der Strafverfolgung sicher gewesen sein und eine zweite Karriere gemacht haben können? Insofern entbehrte die Argumentation der Münchner Sozialbürokraten nicht einer bestimmten Logik. Freisler – eine deutsche Karriere.

Margot Diestel, eines seiner wenigen überlebenden Opfer, hat für ihr erlittenes Martyrium 920 DM erhalten – als einmaliges Schmerzensgeld. Der Witwe ihres Todesrichters aber gewährte der Staat eine ordentlich dotierte Rente. Nicht die Tatsache der Gewährung ist skandalös, sondern die Begründung. Noch bedrückender: Freisler hätte, wie unzählige seiner braunen Richterkollegen auch, der neuen Republik als Staatsbeamter gedient, hätte weiterhin als »Rechtswahrer« Karriere gemacht.

Zur zweiten Karriere ist es nicht gekommen. Wie aber verlief die erste? Wie wurde aus dem ehrgeizigen Gymnasiasten und jungen Fahnenjunker Roland Freisler der nationalsozialistische Jurist und fanatische Blutrichter Freisler? Wie kam er an die Spitze einer der am meisten gefürchteten Terror-Institutionen der Nationalsozialisten – des Volksgerichtshofs?

Wer war dieser Roland Freisler …?

Erstes Kapitel

Der Festakt

Am Vormittag des 14. Juli 1934 versammelte sich in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 5 eine auserwählte Gesellschaft von Justiz- und Naziprominenz. Dort, im Gebäude des inzwischen aufgelösten preußischen Landtages, war für die effektvolle Inszenierung des ersten Auftritts des gerade geschaffenen Volksgerichtshofs alles bestens vorbereitet worden. An der Stirnseite des Saales fielen zwei riesige Hakenkreuzfahnen von der Empore bis zum Boden hinab. Dazwischen reihten sich NS-Standartenträger in glänzenden Stiefeln und mit ernsten Gesichtern nebeneinander. Vor dem Rednerpult hatte man Bäumchen und Blumenkästen drapiert. Sie verliehen der Kulisse eine strenge Frische.

Die Stuhlreihen davor füllten den ganzen Saal. Dort saßen die prominenten Gäste in Anzug und Uniform. Auf den Ehrenplätzen Reichsführer SS Heinrich Himmler, neben ihm der seit zwei Jahren amtierende Reichsjustizminister Franz Gürtner sowie Reichsjustizkommissar Hans Frank. Aus Leipzig, dem Amtssitz des Reichsgerichts, waren dessen Präsident Erwin Bumke und Oberreichsanwalt Karl Werner angereist. Dahinter die Repräsentanten der SA und der SS, von Wehrmacht und Justizverwaltungen. In den letzten Reihen schließlich saßen 32 Richter und nebenamtliche Beisitzer des neuen Volksgerichtshofs, die darauf warteten, an ihrem neuen Arbeitsplatz öffentlich ihren Diensteid zu leisten.

Eigentlich hatte der Festakt bereits zwölf Tage früher stattfinden sollen, doch da waren die Nazi-Führer unabkömmlich gewesen. Sie dirigierten gerade die Mordaktionen gegen die »Verschwörer« des Röhm-Putsches. SA-Stabschef Ernst Röhm hatte bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung von 1933 selbstbewusst den Anspruch auf Kontrolle der innenpolitischen Entwicklung im Lande erhoben. Eine von ihm angestrebte »zweite Revolution« sollte dem Millionenheer der SA-Braunhemden durch Eindringen in staatliche Bereiche mehr Macht und Einfluss verschaffen. Hitler sah darin eine Gefährdung der inneren Homogenität der NS-Organisationen und nannte Röhm einen »entwurzelten Revolutionär«. Er und die NSDAP-Spitze entschieden sich für die Liquidierung Röhms und seiner Gefolgsleute. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden Röhm sowie eine Reihe weiterer hoher SA-Führer, darunter Gregor Strasser, ermordet. Selbst Politiker und Militärs, die in keinem unmittelbaren Kontakt zu Röhm standen, fielen den rigorosen Säuberungsaktionen zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli zum Opfer. Ohne jegliches Verfahren, häufig sogar ohne Vernehmung, waren die SA-Mitglieder und SA-Sympathisanten von Hitlers Mordtruppen umgebracht worden. So auch sein Vorgänger als Reichskanzler, General Kurt von Schleicher, und dessen Ehefrau. Das Blutbad gegen Mitkämpfer von einst, derer man sich mit dieser kühl geplanten Aktion entledigte, hatte mehr als zweihundert Tote gefordert. Für eine Eröffnung des Volksgerichtshofs war da keine Zeit geblieben. Erst jetzt, nach Abschluss des Massakers, fand man Gelegenheit zum Feiern.

Reichsjustizminister Gürtner kam, bevor die Mitglieder des neuen Volksgerichtshofs ihren Eid ablegten, in seiner Eröffnungsrede noch einmal auf die Vorgänge des 30. Juni zu sprechen. Der »Putsch« galt ihm als eindringliches Beispiel dafür, wie bedrohlich die Gefahr der »Gewalt« gegen das Reich und wie notwendig deshalb ein wirksames Gesetz sei. Gürtner sprach mit theatralischem Gestus und salbungsvollen Worten. Wer im Saal vor lauter Ergriffenheit nicht mehr fähig war, der Rede des Justizministers zu folgen, konnte einen Tag später im Parteiblatt Völkischer Beobachter seine Ausführungen im Wortlaut nachlesen:

»In dieser feierlichen Sitzung, zu der ich Sie hierher geladen habe, tritt der Volksgerichtshof für das Deutsche Reich zusammen. Durch das Vertrauen des Reichskanzlers sind Sie, meine Herren, zu Richtern des Volksgerichtshofs berufen worden. Sie sollen heute als erste Handlung das eidliche Gelöbnis der treuen Erfüllung Ihrer Pflichten ablegen. Kein Volk, wie gesund es auch sei, kein Staat, wie fest er auch sei, darf einen Augenblick die Wachsamkeit außer Acht lassen, um nicht einem Angriff wie am 30. Juni zum Opfer zu fallen. Nicht immer erfolgt der Angriff durch augenblicklich drohende Gewalt, die nur mit unmittelbarer Gewalt niedergeschlagen werden kann. Sehr häufig geschieht der Hoch- und Landesverrat mit lang ausholenden, weit verzweigten Vorbereitungen, die vielfach nicht leicht zu erkennen sind und viele Menschen – schuldige, ja auch völlig schuldlose – in ihren Bereich ziehen.

Das Schwert des Gesetzes und die Waage der Gerechtigkeit ist in Ihre Hand gegeben. Beides zusammen ist der Inbegriff des Richteramtes, dessen Größe und Verantwortung gerade im deutschen Volk von jeher ehrfurchtsvoll empfunden und mit der Gewissensverpflichtung der Unabhängigkeit bekleidet worden ist.

Ich weiß, meine Herren, dass Sie alle von dem heiligen Ernst dieses hohen Amtes durchdrungen sind. Walten Sie Ihres Amtes als unabhängige Richter, verpflichtet allein dem Gesetz, verantwortlich vor Gott und Ihrem Gewissen.

In dieser Erwartung bitte ich Sie jetzt, die treue Erfüllung Ihrer Pflichten durch einen feierlichen Schwur zu geloben:

Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!

Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie Volk und Vaterland Treue halten, Verfassung und Gesetze beachten und Ihre Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, und dass Sie Ihre Pflichten eines Richters des Volksgerichtshofs getreulich erfüllen und Ihre Stimme nach bestem Wissen und Gewissen abgeben werden.«

Eine Rede voller Pathos, die von den Zuhörern im Saal mit lang anhaltendem Beifall quittiert wurde. Auch sie waren vom »heiligen Ernst« der Stunde ergriffen, auf ihren Gesichtern lag Stolz. Waren sie nicht gerade Zeugen der Geburtsstunde eines neuen, einzigartigen Gerichtshofs geworden? Ein Gericht, dem per Gesetz vom 24. April alle Straftaten übertragen worden waren, für die zuvor allein das Reichsgericht zuständig gewesen war: Hochverrat, Landesverrat, Angriffe auf den Reichspräsidenten, besonders schwere Wehrmittelbeschädigung sowie Mord oder Mordversuch an Mitgliedern der Reichsregierung oder einer Landesregierung. Ein Gericht wie dieses – darin waren sich die Festgäste einig – war ein Gebot der Stunde. Gerade jetzt, in Zeiten des nationalen Aufbruchs, mochte die ausländische Presse, die behauptete, hier solle ein Standgericht geschaffen werden, noch so geifern und hetzen. Für Reichsjustizminister Gürtner entstammten die empörten Stellungnahmen aus dem Ausland »entweder einer bedauernswerten Unkenntnis der für den Volksgerichtshof geltenden Verfahrensbestimmungen und einem Mangel an Verständnis für deutsches Rechtsempfinden oder aber der böswilligen Absicht, jede Regung des neuen Deutschland in ihr Gegenteil zu verkehren«.

Tatsache war – und auch Gürtner wusste dies: Der neue Volksgerichtshof galt rechtlich als Sondergericht. Als vorläufigen Präsidenten führte Gürtner während der Feierstunde den Dienstältesten der drei Senatspräsidenten, Dr. Fritz Rehn, in sein Amt ein. Rehn empfahl sich besonders für den Präsidentenstuhl. Er war ein Mann der ersten Stunde. Als Leiter des Berliner Sondergerichts hatte er bereits hinreichend Erfahrung mit der NS-Justizpraxis sammeln können und dabei bewiesen, dass sich die Nationalsozialisten auf ihn verlassen konnten. Bereits am 21. März 1933 waren von den neuen Machthabern die ersten Ausnahmegerichte geschaffen worden, wo sich Angeklagte nicht vor örtlich und sachlich zuständigen Richtern, sondern vor ausgewählten NS-Rechtswahrern zu verantworten hatten. Die »Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten« machte mit den Angeklagten kurzen Prozess: Die Ladungsfrist betrug drei Tage und konnte auf vierundzwanzig Stunden herabgesetzt werden. Auch andere Säulen eines rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens und Prozesses setzte die Verordnung außer Kraft: »Eine mündliche Verhandlung über den Haftbefehl findet nicht statt«, hieß es eindeutig. Justizwillkür, Fehlurteilen, übertriebenen und grausamen Strafen, ja selbst Justizmorden waren damit Tür und Tor geöffnet. Rehn hatte seine Aufgabe zur vollen Zufriedenheit der neuen Machthaber erledigt. Jetzt wurde er – aus statusrechtlichen Gründen allerdings nur kommissarisch – mit dem Präsidentenstuhl des obersten Ausnahmegerichts belohnt. Für den diensteifrigen Juristen ein enormer Aufstieg.

Rehn zur Seite standen die aus München und Düsseldorf nach Berlin gewechselten Senatsvorsitzenden Wilhelm Bruner – der schon wenige Monate später, nach Rehns frühem Tod am 18. September 1934, als geschäftsführender VGH-Präsident bis 1936 amtieren sollte – und Eduard Springmann. Neun weitere Berufsrichter kamen hinzu. Vier der »ehrenamtlichen« Beisitzer, zu denen sich noch fünf hohe Militärs gesellten, waren aus dem Reichswehrministerium. Die restlichen elf Mitglieder repräsentierten die verschiedenen NS-Organisationen. Keiner sollte und keiner wollte beim Beginn des neuen Gerichts abseits stehen.

Die Deutsche Allgemeine Zeitung hatte ihre Leser schon am Tag vor dem Festakt über die Auswahl der Richter und deren Anforderungen informiert. Lobend war vom Autor resümiert worden:

»Bei der Auswahl der richterlichen Mitglieder ist besonders darauf Bedacht genommen worden, dass diese Persönlichkeiten mit großem Wissen und Können auf strafrechtlichem Gebiet, mit politischem Weitblick und großer Lebenserfahrung begabt sind.«

Insgesamt umfasste die personelle Erstbesetzung achtzig Mitarbeiter. Damit stand der Volksgerichtshof freilich noch immer deutlich unter dem Reichsgericht. Auch die Organisation war keineswegs so, wie es sich die VGH-Verfechter gewünscht hatten. Zwar war das neue Gericht vom Reichsgericht getrennt, doch die Anklagevertretung übernahm zunächst weiterhin eine Außenstelle der in Leipzig ansässigen Reichsanwaltschaft. Der dortige Leiter war Reichsanwalt Paul Jorns, ein Jurist, der schon in der Weimarer Republik Landesverratsdelikte bearbeitet und als Untersuchungsführer im Fall um den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bereits 1919 eine für die Justiz zufriedenstellende Arbeit geleistet hatte. Ihm assistierten die Oberstaatsanwälte Wilhelm Eichler und Heinrich Parrisius, der Mann, der ein Jahr zuvor gemeinsam mit Oberreichsanwalt Karl Werner die Voruntersuchungen gegen die Reichstagsbrandstifter durchgeführt und auch die Anklage im Reichstagsbrandprozess mit vertreten hatte.

Sie alle waren gestandene Juristen, die sich der »deutschen Sache« verpflichtet fühlten. Die NS-Machthaber erwarteten eine konsequente und harte Rechtsprechung. Und diese Männer waren der Garant dafür. Was unter der »neuen deutschen Rechtspflege« und vom Volksgerichtshof zu erwarten war, verriet der Völkische Beobachter in seiner Ausgabe vom 15. Juli 1934. Ein Kommentator beschwor mit markigen Worten das Ende des »Strafrechtsliberalismus« und klärte seine Leser auf: