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Die Krimizimmer(ei)
Spannende Kurzgeschichten für Kinder und Jugendliche - Band 2
Martina Meier (Hrsg.)
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2013.
Lektorat: Melanie Wittmann, Raphael Milker, Sandy Penner
Titelbild: © fotokalle & © design on arrival - Fotolia.com lizenziert
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit CAT creativ - cat-creativ.at
ISBN: 978-3-86196-221-2 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-99051-069-8 - E-Book
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Der bellende Hund im Schulranzen
Geldübergabe
Bunte, streng verbotene Sterne
Neffe in Not
Logans letzter Einsatz
Kleinholz
Wer hat Oma Meier entführt?
Die verschwundene Ikone
Ausgelebt
Herr Smith
Enter
Wo sind die Fotos?
Der Fensterbohrer ist unterwegs
Zehn Euro
Gustav und das dreiste Diebestrio
Nächtliche Gespräche
Die verschwundene Speerspitze
Der Neue
Freitag, der 13.
Der Novembernachtkeks
Mein Handy und ich
Die dunkle Seite Londons
Der Dienstagsdieb
Stadt-Land-Hamstertod
Hüpfer, Lena und die rote Socke
Die gestohlene Uhr
Was ist los auf Burg Rabenstein?
Der Auftragsmörder
Die gestohlene Kette
Ranger Becht versteht etwas vom Schnee
Die gespreizte Hand
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Svenja schlug die Augen auf. „Juhu, heute ist Sonntag und mein Geburtstag!“, war ihr erster Gedanke. Sie eilte ins Schlafzimmer und landete mit einem Hechtsprung zwischen ihren Eltern. „Guten Morgen, hier ist das Geburtstagskind“, lachte sie laut.
„Oh nein, schon so spät?“, gähnte ihre Mutter. „Komm her, Svenja, lass dich drücken. Alles Gute zum zwölften Geburtstag wünsche ich dir.“ Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Aufstehen, Papa!“, rief Svenja ungeduldig und zog ihm die Decke weg.
Dann verließ sie das Ehebett, um sich anzuziehen. Sie putzte schnell ihre Zähne. Ob sie wohl alles bekommen würde, was sie sich wünschte, fragte sie sich, während sie in ihre Hose schlüpfte. Auf dem Frühstückstisch standen Kerzen und drei Geschenke schmückten ihren Sitzplatz.
„Darf ich vor dem Frühstück auspacken?“, fragte sie ungeduldig.
„Klar, sonst schmeckt dir doch dein Brötchen nicht“, grinste ihr Vater.
„Oh, wie schön Auspacken ist!“, dachte sie und ließ sich Zeit beim Öffnen der Geschenke. Zuerst wickelte sie den Füller aus, den sie sich gewünscht hatte. Dann kam ein Buch zum Vorschein. Nervös nestelte sie das bunte Papier ihres dritten Geschenks ab. Oh ja, es war das Handy, das sie unbedingt wollte. Freudig fiel sie ihren Eltern um den Hals. Es war genau das richtige. Sie zog es aus dem Karton. Silbrig glänzend lag es vor ihr.
„Ich habe den Akku schon geladen. Du kannst es also nachher gleich in Betrieb nehmen“, bemerkte ihr Vater. „Aber zuerst wird gefrühstückt!“
Nach dem Essen verschwand Svenja in ihrem Zimmer. Sie legte ihre Telefonkarte in ihr neues Handy und verbrachte den Vormittag damit, die Klingeltöne auszuprobieren, Fotos zu speichern und Telefonnummern ihrer Freunde und Eltern einzugeben. Dann rief sie Mariella an.
Nachdem ihre Freundin ihr gratuliert hatte, fragte Svenja stolz: „Was denkst du, welches Telefon ich gerade benutze?“
„Hast du wirklich das Superhandy bekommen? Bringst du es morgen mit in die Schule?“
„Ja klar“, versprach Svenja. „Also, bis morgen. Ich hole dich ab.“
Am nächsten Tag fragte ihre Mutter, als sie Svenjas Pausenbrot einpackte: „Willst du wirklich dein neues Handy mitnehmen? Du darfst es doch in der Schule sowieso nicht benutzen.“
„Ach, das kümmert doch niemanden. Außerdem muss ich ja anrufen, wenn wieder was ausfällt.“ Dann schnappte sie ihren Ranzen und ging mit Mariella zum Bus.
Im Klassenzimmer angekommen nutzte sie die Zeit bis zum Schulanfang, um ihr Geburtstagsgeschenk vorzuführen.
„Wow, tolles Teil!“, sagte Ben bewundernd.
„Darf ich mal sehen, was man damit alles machen kann?“, fragte Mariella.
„Klar“, sagte Svenja und lieh ihr das Handy.
In den nächsten Tagen gab es keinen Mitschüler, der es nicht anschauen wollte. Ben wich ihr kaum noch von der Seite, wenn sie es herauszog, um damit zu spielen. Einige Tage war das Geburtstagsgeschenk das Hauptgesprächsthema im Klassenzimmer, doch dann ebbte das Interesse ab.
Eine Woche nach ihrem Geburtstag suchte Svenja ihr Handy in ihrem Schulranzen, denn sie wollte Musik hören. Sie hatten Aufsicht bei Herrn Schnepf, dem es egal war, wie sie die Schulstunde verbringen wollten. Sie legte alle Schulbücher auf den Tisch und räumte ihren Ranzen völlig leer. Ihr Handy war weg! Warum hatte sie es bloß in der Pause im Ranzen gelassen? Das war doch nicht möglich! Zur Sicherheit suchte sie sämtliche Hosen- und Jackentaschen durch.
„Mein Handy ist gestohlen worden!“, zischte sie Mariella zu, die neben ihr saß. „So ein Mist. Wer hat mein Handy geklaut?“
„Bist du sicher?“, flüsterte ihre Freundin.
Svenja nickte. Alles verschwamm hinter dem Schleier ihrer Tränen. Was sollte sie jetzt nur machen?
„Du musst es der Klassenlehrerin nachher sagen“, meinte Mariella.
„Meinst du?“, sagte Svenja und schluckte ihre Tränen hinunter. Ja, das war wohl das Beste.
In der nächsten Pause fragte sie jeden Mitschüler, ob er ihr Handy gesehen hätte. Alle verneinten.
Ben versuchte, sie zu trösten. „Vielleicht taucht es ja doch noch irgendwo auf.“ Doch dann meinte er: „Es könnte natürlich auch sein, dass ein Schüler aus der Parallelklasse in der großen Pause ins Zimmer gegangen und es genommen hat.“
Da trat Frau Kaiser ins Zimmer. Sie war ihre Klassenlehrerin. Svenja ging zu ihr und berichtete von dem Diebstahl.
„Weiß jemand etwas über den Verbleib des Handys?“, fragte Frau Kaiser. Alle schüttelten den Kopf. „Tja“, meinte die Lehrerin. „Im Moment können wir nichts machen. Du solltest es noch dem Hausmeister melden. Vielleicht wird es irgendwo gefunden!“
Svenja setzte sich wieder und Frau Kaiser begann mit ihrem Unterricht. Wie sollte sie das nur ihren Eltern beibringen, fragte sie sich. Ihre Eltern reagierten allerdings nicht so verärgert, wie sie befürchtet hatte. Mit einer neuen Handykarte benutzte sie nun wieder ihr altes Handy.
Nach einigen Wochen kam Ben mit einem neuen Handy in die Schule. Es war das gleiche Modell wie Svenjas, doch die Rückseite war nicht silberfarben, sondern schwarz. Ben spielte damit, als sie morgens das Klassenzimmer betrat.
„Cooles Handy“, sagte sie zu ihm.
„Ja, hab ich von meinem Onkel bekommen“, sagte Ben stolz.
„Wie, einfach so?“, fragte Svenja skeptisch.
„Mmh, ja“, stotterte Ben. „Er ist zu Besuch aus Berlin gekommen.
„So, aus Berlin also“, bemerkte sie.
Mariella flüsterte, als sie sich neben sie setzte: „Hast du gesehen? Es sieht fast aus wie deins!“
„Ja, klar. Was meinst du, wie oft es das Modell überall auf der Welt gibt.“ Damit war für Svenja das Thema erledigt.
Am nächsten Morgen wollte Mariella ihrer Freundin unbedingt eine Neuigkeit erzählen. „Ich habe gestern zufällig Bens Mutter beim Metzger getroffen und nach dem Onkel gefragt. Stell dir vor, sie haben gar keinen Besuch und von einem Onkel wusste sie nichts.“
„Du meinst also, Ben lügt? Und er hat mein Handy?“, fragte Svenja ungläubig.
Mariella nickte. „Klar, warum sollte er sonst so eine Geschichte vom Onkel erzählen. Vielleicht hat er eine Folie auf die Rückseite geklebt!“
„Ja, aber wie soll ich jetzt beweisen, dass das mein Handy ist? Ich kann ihn doch nicht einfach beschuldigen“, gab Svenja zu bedenken.
„Nein, ich glaube, du musst das Handy einfach vergessen“, antwortete Mariella. Doch Svenja wollte nicht aufgeben. Als der Unterricht zu Ende war, hatte sie einen Plan.
Am nächsten Tag lieh sich Svenja das Handy ihrer Mutter. Sie gab vor, dass ihr Akku leer sei. In der Schule ließ sie sich noch einmal das Handy von Ben zeigen, der stolz damit angab.
„Lässt du es immer an?“, fragte sie neugierig.
„Ja, klar, sonst muss ich wieder den Code eingeben“, meinte er. „Warum fragst du?“
„Och, einfach so“, gab Svenja zur Auskunft.
In der ersten Stunde hatten sie Deutschunterricht bei Frau Kaiser. Es waren einige Minuten vergangen und sie besprachen gerade den Inhalt eines Gedichtes, da bellte plötzlich ein Hund.
„Hat jemand ein Tier in seinem Ranzen versteckt?“, fragte die Lehrerin witzelnd. Svenja sah zu Ben hinüber, doch dann bemerkte sie, dass das Bellen ganz in ihrer Nähe war. Frau Kaiser ging durch die Reihen und folgte dem Geräusch. Vor Mariella blieb sie stehen. „Mariella, was hast du in deinem Ranzen? Das Bellen kommt von dir!“
„Ich weiß nicht“, stotterte sie.
„Mach bitte mal auf“, bat Frau Kaiser. Dann fischte sie ein bellendes Handy aus der Tasche.
Da stand Svenja auf. „Das ist mein Handy! Man hat es mir gestohlen“, rief sie wütend. „Ich habe in mein Handy die Nummer meiner Mutter eingespeichert. Wenn sie mich anrief, konnte ich es an diesem Klingelton, dem Bellen eines Hundes, erkennen.“ Sie schwenkte das Handy ihrer Mutter. „Du hättest besser meine eingespeicherten Daten löschen sollen, Mariella!“, sagte sie zornig.
„Tja, das Handy behalte ich. Ich glaube, wir sollten nachher mal mit deinen Eltern sprechen, Mariella“, beendete Frau Kaiser den Disput.
Klaudia Gräfin von Rank, wurde 1967 geboren und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern im Frankenland. Sie hat bisher einige Kurzgeschichten und Gedichte in Anthologien veröffentlicht.
*
„Dieser Kotzbrocken Sven aus der 11 hat heute mal wieder eine seiner Shows abgezogen“, erzählt Katrin ihrem Bruder, und ihr ist immer noch der Ärger anzumerken. „In der Pause hat er großspurig mit einer Armbanduhr geprahlt, so einem hässlichen Ding mit Stoppfunktion.“
„So ein Ding nennt man Chronograf“, wirft Martin lässig ein.
„Ja, so heißt das Teil wohl.“ Katrin kann sich noch immer nicht beruhigen. „Vor ein paar Wochen hat er genau so eine Welle mit seinem iPod gemacht, davor mit seinem neuen Handy. Kein anderer macht so viel Aufhebens, nur dieser Blödmann.“ Katrins Augen funkeln angriffslustig.
„Schau mich nicht so böse an“, lacht Martin, „ich kann doch nichts dafür, wenn sich dieser Kerl so aufspielt.“ Dann wird er ernst, zieht die Stirn in Falten und setzt sein Detektivgesicht auf.
„Was hast du? Worüber denkst du nach?“, fragt Katrin.
Martin scheint mit sich zu ringen. „Ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht“, murmelt er, „aber komisch ist es doch.“
„Was ist komisch?“ Katrin platzt beinahe vor Neugier. „Los, rück schon raus mit der Sprache“, drängt sie.
Martin druckst herum. „Na ja, es ist vielleicht nur eine merkwürdige Idee von mir.“ Er tut sich sichtlich schwer damit, auszusprechen, was ihn beschäftigt.
„Mach schon, spann mich nicht auf die Folter“, bettelt Katrin und knufft ihren Bruder in die Seite.
„Seit gestern fehlt auch Linda wieder in der Schule“, sagt er endlich. Linda ist eine Klassenkameradin von Martin. „Und als du mir damals die Sache mit dem iPod erzählt hast, hat sie ebenfalls gefehlt. Und wenn mich nicht alles täuscht, auch, als du dich über Svens Angeberei wegen seines neuen Handys aufgeregt hast.“
Katrin ist beeindruckt. „Woher weißt du das denn so genau?“, will sie wissen.
„Weil Linda eine sehr gewissenhafte Schülerin ist und eigentlich vorher nie gefehlt hat. Und jetzt drei Mal innerhalb relativ kurzer Zeit. Und jedes Mal hast du dann davon erzählt, dass sich Sven mit seinen neuen Sachen dicke getan hat. Irgendwie hat sich mir das eingeprägt.“
„Und du nimmst an, dass da ein Zusammenhang besteht?“, fragt Katrin.
„Das genau ist mir zumindest eben durch den Kopf gegangen“, antwortet Martin. „Mehr als eine vage Vermutung ist das natürlich nicht. Aber dieses zeitliche Zusammentreffen ist halt doch ein bemerkenswerter Zufall.“
„Oder gerade kein Zufall“, pflichtet Katrin ihm bei. Sie legt ihren Arm um ihn. „Mein kleiner Bruder ist ein wirklich cleveres Bürschchen.“
So viel Lob von seiner Schwester ist Martin nicht gewohnt. „Ist das dein Ernst?“, erkundigt er sich.
„Mein völliger Ernst“, erwidert Katrin. Sie hält den Daumen der linken Hand unter ihr Kinn, mit dem Zeigefinger drückt sie die Unterlippe gegen die Zähne. Das macht sie immer, wenn sie intensiv nachdenkt. „Meinst du, dass Sven Linda die Sachen abgenommen hat?“, fragt sie schließlich.
Martin wiegt leicht den Kopf hin und her. „Das glaube ich nicht“, erwidert er. „Oder hat Sven etwa mit einer Damenuhr geprahlt?“
Katrin zieht in Gedanken einen imaginären Hut vor den scharfsinnigen Schlussfolgerungen ihres Bruders. „Nein, nein“, entgegnet sie, „das war schon eine Herrenarmbanduhr, dieser Chronograf, den er stolz rumgezeigt hat.“
„Linda trägt natürlich keine Herrenuhren, meistens hat sie überhaupt keine Armbanduhr an“, führt Martin seinen Gedankengang fort. „Das bedeutet, dass ...“
„... Sven ihr nicht die Gegenstände abnimmt, sondern Geld“, vollendet Katrin den Satz, um jedoch sogleich skeptisch hinzuzufügen: „Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass Linda jeden Tag so viel Geld mit sich herumträgt.“
„Jeden Tag wahrscheinlich nicht“, merkt Martin an.
„Was willst du damit schon wieder andeuten?“ Katrin fühlt sich auf die Folter gespannt, was sie überhaupt nicht ausstehen kann. „Red endlich Klartext“, insistiert sie, „und spiel nicht das Orakel von Delphi.“
Martin genießt ein wenig die schwesterliche Ungeduld. Deshalb räuspert er sich zunächst, bevor er fortfährt: „Wenn wir beide – wohl zu Recht – davon ausgehen, dass Linda nicht jeden Tag mit sehr viel Geld durch die Gegend rennt, kann das nur heißen, dass sie an bestimmten Tagen eine größere Summe bei sich hat.“
„Und Sven kennt genau diese Tage?“, fragt Katrin arglos, schlägt sich dann aber mit der flachen Hand gegen die Stirn: „Er kennt die Tage deshalb so genau, weil er Linda dazu zwingt, an bestimmten Tagen eine größere Summe Geld bei sich zu haben. Mit anderen Worten – er erpresst sie.“
Martin nickt zustimmend: „Genau das vermute ich. Selbstverständlich immer vorausgesetzt, es besteht wirklich ein Zusammenhang zwischen Lindas Fehlen in der Schule und Svens neuen Anschaffungen, mit denen er angibt. Die zeitliche Übereinstimmung ist jedenfalls frappierend.“
Katrin sitzt jetzt mit geschlossenen Augen da und grübelt über etwas nach. „Was ich allerdings noch nicht ganz verstehe“, sagt sie nach einer Weile, „warum Linda überhaupt in der Schule fehlen sollte, nachdem Sven Geld von ihr erpresst hat – dann ist doch erst mal alles vorbei. Welchen Sinn ergibt das?“
„Vielleicht schämt sie sich, vielleicht kann sie nach einem derartigen Vorfall Sven einfach nicht mehr sehen, vielleicht ist sie voller hilfloser Wut“, zählt Martin auf.
„Herr Freud, ich bewundere Sie aufrichtig“, spöttelt Katrin, gibt aber zu, dass ihr Bruder durchaus einen richtigen Erklärungsansatz gefunden haben könnte. „Vielleicht wird sie auch tatsächlich krank, weil ein solcher Vorfall mit Sicherheit sehr belastend für sie ist“, ergänzt Katrin die möglichen Gründe. Dann schaut sie auf die Zeitanzeige des Radioweckers und springt auf. „Ich bin mit ein paar Leuten fürs Kino verabredet. Ich muss dringend los.“
„Viel Spaß!“, ruft ihr Martin nach.
Am Nachmittag des nächsten Tages unterhalten sich die Geschwister erneut über Sven und Linda. Katrin räumt ein, dass sie selbst gestern im Kino viel darüber nachgedacht habe. „Ich konnte mich gar nicht auf den Film konzentrieren.“
„Bist du denn wenigstens zu einem Ergebnis gelangt?“, fragt Martin.
Katrin zuckt mit den Schultern. „Aus meiner Sicht gibt es zwei große Probleme: Zunächst müssen wir herausfinden, ob es den von uns vermuteten Zusammenhang gibt oder ob alles nur wilde Spekulation ist. Sollte sich unser Verdacht bestätigen, stellt sich die weitere Frage: Was können wir tun, um so etwas in Zukunft zu verhindern?“
Martin setzt erneut seine nachdenkliche Miene auf. Dann sagt er bedächtig: „Meines Erachtens führt die Lösung beider von dir aufgeworfener Fragen über Linda.“
Eigentlich mag es Katrin überhaupt nicht, wenn ihr jüngerer Bruder so altklug daherredet, aber dieses Mal stört sie selbst das nicht. Gespannt blickt sie ihn an. „Erkläre dich, Brüderchen.“
Martin lehnt sich behaglich zurück, anschließend erläutert er in dozierendem Tonfall: „Falls Sven Linda tatsächlich erpresst, wissen das nur er und Linda. Sven können wir aber schlecht fragen. Er ist nicht nur älter, sondern auch stärker als wir und er würde uns allenfalls eine gehörige Tracht Prügel verabreichen. – Bleibt also nur Linda. Sie könnte uns sagen, ob unsere Vermutung zutrifft. Sie könnte uns, um zu deinem zweiten angesprochenen Problem zu kommen, ebenfalls informieren, wenn Sven das nächste Mal Geld von ihr fordert.“
„Stimmt“, pflichtet Katrin bei und zieht in Gedanken erneut den Hut vor ihrem Bruder.
Die Geschwister sind sich darüber im Klaren, sehr behutsam vorgehen zu müssen. Zwar wissen sie, dass Linda – wie die meisten anderen Schüler ihrer Schule – den großspurigen Sven nicht ausstehen kann, doch ob sie ihnen ein solch dunkles Geheimnis offenbaren würde ...
Und wie würde Linda reagieren, wenn ihr Verdacht gar nicht stimmte und sie beide sich lediglich in etwas verrannt hätten ...
Einige Zeit später, Linda ist seit Längerem wieder in der Schule, fassen sich die Geschwister ein Herz. Sie sprechen Linda auf die Gleichzeitigkeit zwischen ihrem Fehlen in der Schule und Svens Prahlereien mit neuen, teuren Dingen an und fragen sie rundheraus, ob es da vielleicht mehr als nur einen zufälligen zeitlichen Zusammenhang gibt.
Linda, ein eher scheues und zurückhaltendes Mädchen, sieht die Geschwister zunächst mit großen Augen verblüfft an. „Wie kommt ihr denn auf so etwas?“, fragt sie und will weitergehen. Dann dreht sie sich plötzlich zur Seite und fängt an zu schluchzen. Tränen kullern über ihre Wangen. Katrin nimmt sie in ihre Arme. Nun bricht es aus Linda heraus und sie bestätigt den Verdacht der Geschwister.
Im Abstand von jeweils etwa fünf, sechs Wochen habe Sven sie bereits drei Mal auf dem Weg zur Bushaltestelle abgepasst und ihr gedroht, wenn sie nicht in spätestens drei Tagen 200 Euro für ihn habe, passiere etwas Fürchterliches. Dann habe er furchtbare Dinge gesagt und sie mit wüsten Beschimpfungen eingeschüchtert.
„Und wie bist du an das Geld gekommen?“, fragt Katrin.
Linda schluckt, das Sprechen fällt ihr sichtlich schwer. Erneut bricht sie in Tränen aus. Kaum hörbar flüstert sie, dass sie das Geld zum Teil von ihrem Sparbuch abgehoben habe, zum Teil habe sie es auch von ihren Großeltern unter einem Vorwand erbettelt und einmal den Rest heimlich aus dem Portemonnaie ihrer Mutter genommen. „Aber sagt bitte, bitte niemandem etwas“, beschwört sie die Geschwister inständig. Dann läuft sie davon.
Die Geschwister sind erschüttert.
„Hoffentlich fehlt sie morgen nicht wieder in der Schule, weil unser Gespräch sie aus der Bahn geworfen hat“, sagt Katrin zerknirscht. Doch am nächsten Tag fehlt Linda nicht und ein paar Tage später kommt sie von sich aus auf das Thema zurück. Sie unterhält sich ausführlich mit den Geschwistern, vertraut sich ihnen rückhaltlos an.
Katrin strahlt: „So ist es richtig, Linda. Dies ist der einzige Weg, Svens Treiben ein Ende zu bereiten.“
Längst haben Katrin und Martin einen Plan entworfen, dessen Gelingen allerdings entscheidend von Lindas Mitwirken abhängt. Die Geschwister sind erleichtert, dass Linda einverstanden ist.
Etwa fünf Wochen vergehen. Da kommt Linda eines Tages aufgeregt auf Martin zu: „Es ist so weit. Sven hat mich gestern wieder unter massiven Drohungen angehalten, ihm spätestens übermorgen 200 Euro zu geben.“
Bei diesen Worten zittert sie am ganzen Körper und Martin hat Angst, sie könne vor der ganzen Klasse in Tränen ausbrechen, deshalb sagt er rasch: „Heute Nachmittag sprechen wir noch einmal alles mit Katrin durch.“
Es ist ein trüber, regnerischer Tag, als sich Linda auf den Weg zum Wäldchen macht. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals, ihre Knie sind butterweich. „Durchhalten, du musst durchhalten, noch dieses eine Mal“, spricht sie sich selbst Mut zu. Dann hat sie die kleine Lichtung erreicht, schaut sich suchend um. „Wo bleibt er nur?“, fragt sie sich ängstlich. Bisher war Sven immer sehr pünktlich bei der Geldübergabe. Ein leises Knacken von Zweigen, und er steht plötzlich vor ihr. Breit grinsend streckt er seine fleischige Hand aus.
„Wo ist die Knete?“, fragt er.
„Welche Knete meinst du?“, entgegnet Linda.
„Hör ich recht?“ Sven stiert sie glotzäugig an. „Sag bloß, du hast das Geld nicht dabei.“
Als er Anstalten macht, sie zu packen, geht Linda zwei Schritte zurück und zieht ihre Geldbörse aus der Jackentasche.
„Na, wer sagtʼs denn?“, frohlockt Sven. „Da ist ja die Kohle.“
„Aber das Geld steht dir nicht zu“, sagt Linda, obwohl ihr Hals völlig ausgetrocknet ist und sie einen Hustenreiz unterdrücken muss.
Sven holt tief Luft. Einen Augenblick hat es ihm vor Verblüffung die Sprache verschlagen. Seine Kiefer mahlen aufeinander. „Nun gehtʼs aber los“, höhnt er dann. „Seit wann wagst du denn, mir so dumm zu kommen? Und seit wann quatschst du so viel bei unseren Dates? Also her mit den Mäusen.“
Linda merkt, dass er kurz vorm Explodieren ist. Sie spürt ihr Blut in den Ohren rauschen, zwingt sich aber tapfer, noch einmal mit Nachdruck zu sagen: „Das Geld steht dir nicht zu, du bist ein fieser Erpresser.“
Sven ist nun außer sich vor Wut, stürzt auf Linda zu und will ihr die Geldbörse entreißen.
„Halt, junger Mann, immer schön langsam“, ertönt in diesem Moment eine tiefe Stimme. Sven hält in der Bewegung inne, steht wie zur Salzsäule erstarrt und blickt die beiden Männer an, die mit raschen Schritten auf ihn zueilen. „Kriminalpolizei“, sagt der Beamte mit der tiefen Stimme. „Dürfen wir mal Ihre Ausweispapiere sehen?“
Der zweite Beamte geht zu Linda und nimmt einen kleinen Sender in Empfang. „Wir haben alles gut mithören können“, sagt er lächelnd zu ihr. „Das hast du wirklich prima gemacht.“
„Komm, es wird Zeit“, mahnt Katrin zur Eile. „In einer Viertelstunde sollen wir schon bei Lindas Eltern zum Grillen sein. Sie wollen sich doch bei uns für unsere Hilfe bedanken.“
Martin stellt den CD-Player aus. „Ich weiß“, entgegnet er, „meinst du, das hätte ich vergessen? Und im Übrigen wollen sie sich nicht für unsere Hilfe bedanken, sondern für unser vorbildliches Verhalten.“
„Klugscheißer“, erwidert Katrin lachend.
„Wer als Erster draußen ist, darf die meisten Würstchen essen“, ruft Martin und ist bereits auf dem Treppenabsatz.
„Wollen doch mal sehen, wer von uns beiden das ist“, ruft Katrin und spurtet hinter ihrem Bruder her. Ausgelassen poltern sie die Treppe hinunter und stürzen zur Haustür hinaus.
Norbert J. Wiegelmann, geboren 1956 in Bochum, wohnhaft in Arnsberg, verheiratet, Vater zweier Töchter. Der Verwaltungsjurist hat schon in gut dreißig Anthologien Lyrik und Kurzprosa veröffentlicht sowie Reiseberichte in Zeitungen und Glossen wie Buchrezensionen in juristischen Fachzeitschriften. Außerdem ein Beitrag in dem Buch: „anne Castroper. Ein Jahrhundert Fußball mitten in Bochum.“
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