Der Tod ist kein Tabu – also lassen Sie uns darüber sprechen!
Für David Roth ist Bestatter-Sein der schönste Beruf der Welt. Für viele Menschen wäre das undenkbar, denn ihnen fällt es schon schwer, einfach nur über den Tod zu sprechen. David Roth ist jedoch davon überzeugt, dass es einen positiven Einfluss auf das Leben hat, wenn man sich hin und wieder mit dem Tod beschäftigt, wenn man nicht die Augen verschließt und das Unabwendbare verdrängt. Denn: Sterben müssen wir alle einmal.
Er erlebt in seiner Praxis oft Fragen, wie z. B. Stört der Tod bei der Arbeit? Wird in Trauergruppen nur geweint? Darf man auf dem Friedhof grillen? oder: Soll man mit Sterbenden über den Tod reden?
50 der erstaunlichsten Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden können, beantwortet David Roth in diesem Buch einfühlsam, lebensnah, praktisch und manchmal auch überraschend humorvoll.
»Ein neues Buch von David Roth. Da hört man hin und ist neugierig, denn wenn David Antworten gibt, dann ist er der Zeit um Jahre voraus.
David Roth ist der Revolutionär unserer Branche. Von Bergisch Gladbach aus wird er die Welt verändern. Zumindest die des Trauerns.«
Eric Wrede (lebensnah – Bestattungen – Berlin/Leipzig)
David Roth, Betriebswirt, Trauerbegleiter, Geschäftsführer des Bestattungshauses Pütz-Roth, hält Vorträge und leitet Seminare der dem Bestattungshaus angeschlossenen »Privaten Trauerakademie Pütz-Roth«.
www.puetz-roth.de
Sie finden den Podcast »Talk about Tod« auf der Website puetz-roth.de und bei Spotify – I-tunes – Podcaster – Stitcher – TuneIn.
DAVID ROTH
LET’S TALK ABOUT
TOD
50 Fragen zu Sterben, Tod und Bestattung
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81 673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © Thomas Balzer/Pütz-Roth
ISBN 978-3-641-27978-3
V001
www.gtvh.de
INHALT
Vorwort
WIR STERBEN. UND DANN?
Soll man mit Sterbenden über den Tod reden?
Was tun, wenn jemand stirbt?
Muss man vor Toten Angst haben?
Ist schon mal jemand an Leichengift gestorben?
Lebendig begraben?!
Wie fühlt sich ein Toter an?
Wie riecht der Tod?
An oder mit Corona gestorben?
Corona, HIV, Lassa … sind Viren für den Bestatter und Angehörige gefährlich?
Wer will meine Leiche?
DEN TOD SEHEN. NUR NOCH IM FILM?
Hast du Angst vor dem Tod?
Warum ist der Tod normal?
Werden uns die Toten gestohlen?
Müssen wir den Tod zurück ins Leben holen?
Stört der Tod bei der Arbeit?
Warum ist der Tod in den Medien ein Star?
Hast du schon mal jemandem den Tod gewünscht?
Darf man Tote zu Hause behalten?
AUF DEM FRIEDHOF. WOZU BRAUCHEN WIR DIESEN ORT?
Erde drauf und fertig?
Ist es am Ende egal, wo man unter die Erde kommt?
Wozu noch ein Grab?
Was kostet der Sarg?
Warum verwandeln sich Friedhöfe immer mehr in hässliche Steinwüsten?
Darf man auf dem Friedhof grillen?
Warum ist ein Friedhof ein guter Ort für einen Kindergarten?
Darf man jemanden auch am Nordpol bestatten?
Brauchen wir einen Koffer für die letzte Reise?
Warum hat das letzte Hemd keine Taschen?
Welche Farbe hat das letzte Hemd?
Soll man Kinder mit zur Beerdigung nehmen?
Dürfen Hund und Herrchen in ein Grab?
WENN WIR TRAUERN. WAS HILFT?
Dürfen Bestatter weinen?
Machen Behörden den Trauernden das Leben schwer?
Warum braucht Trauer Erlaubnis?
Warum braucht Trauer Zeit?
Warum braucht Trauer eine Heimat?
Lügen Tränen nicht?
Ist Trauer für Jugendliche härter?
Trauern Männer anders?
Was empfinden wir, wenn Promis sterben?
Wer ist der beste Trauerbegleiter?
Trauer Alaaf! – Passen Trauer und Karneval zusammen?
Wird in Trauergruppen nur geweint?
Darf man um Tiere trauern?
ERINNERN. LEBEN MIT DEM TOD
An welchen Toten kannst du dich lebhaft erinnern?
Stille Nacht, traurige Nacht?
Wie kommt man in die Zeitung?
Was gehört in eine Traueranzeige?
Am Ende umarmte sie der Tod als sanfter Freund … Wie kann man mit dem Tod umgehen?
Was hätte Fritz dazu gesagt?
VORWORT
Liebe Leser*innen,
der Tod begegnet mir jeden Tag und er macht mir keine Angst. Das liegt nicht etwa daran, dass ich besonders mutig, übermütig oder ignorant wäre. Im Lauf der Jahre, die unsere Familie das Bestattungshaus Pütz-Roth in Bergisch Gladbach nun führt, haben wir viel über den Umgang mit Sterben, Tod, Trauer und Bestattung gelernt. Dieses Wissen möchten wir mit Ihnen teilen.
Durch die Digitalisierung stehen uns unerschöpfliche Informationsquellen zur Verfügung und trotzdem wissen die meisten Menschen immer weniger über den Tod Bescheid. Was passiert, wenn wir unseren letzten Atemzug getan haben? Darf man einen Toten zu Hause aufbahren? Soll man ihn noch einmal anschauen? Wie gefährlich ist Leichengift? Und was kostet ein Sarg? Im Trauerfall sind zunächst mal viele organisatorische Dinge zu klären. Nicht alles sollte man an den Bestatter delegieren. Warum es helfen kann, den Toten selbst anzuziehen und am offenen Sarg zu sitzen, darüber können Sie in diesem Buch eine Menge erfahren. Dass Trauer nicht nur Traurigkeit und Lähmung bedeutet, sondern eine Zeit sein kann, aus der man viel für sein weiteres Leben mitnehmen kann, auch darum geht es auf den nächsten Seiten. Trauer ist Liebe, denn die Liebe hört nicht mit dem Tod einfach auf. Trauer braucht Gemeinschaft. Dabei ist die persönliche Begegnung viel wertvoller als nur virtuelle Anteilnahme. Facebook wird zwar in ein paar Jahren die größte Nekropole der Welt sein, kann aber niemals einen mitfühlenden Blick oder ein gutes Gespräch ersetzen. Trauer braucht eine Heimat; in den meisten Fällen wird das ein Ort sein, eine Grabstelle, an der ich mich verbunden fühlen kann. Deshalb ist es wichtig, sich über die Gestalten unserer Friedhöfe Gedanken zu machen.
Immer häufiger begegnen mir Menschen, die noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen haben. Viele wissen nichts über den Tod, außer das, was sie durch die Medien erfahren haben. Der inszenierte mediale Tod hat mit der Realität nichts zu tun.
In meinem Podcast Talk about Tod* reden der Journalist und Autor Klaus Reichert und ich seit vielen Jahren über alle Facetten dieses für uns alle so wichtigen Themas. Wir räumen auf mit Klischees, wir geben Tipps, wie man sich auf einen Trauerfall vorbereiten kann. Wir erklären, warum es wichtig ist, sich mitten im Leben mit dem Tod zu beschäftigen, gerade dann, wenn es einem gut geht, wenn man glücklich ist und man keinen Grund hat, an den Tod zu denken.
Diese Gespräche sind weder schwermütig, noch gruselig und schon gar nicht langweilig. Im Lauf der Jahre hat sich ein munteres Frage- und Antwortspiel entwickelt, getreu dem Titelsong einer TV-Serie, die wir als Kinder immer angeschaut haben: »Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm!«
Aus diesem Frage- und Antwortspiel ist dieses Buch entstanden. Es ist ein Ratgeber-Buch, ohne belehrend sein zu wollen. Es ist ein Lesebuch, mit dem wir Sie zum Nachdenken bringen wollen, damit Sie für den Fall der Fälle vorbereitet sind. Denn der wird kommen.
Dieses Buch ist kein trauriges Buch. Im Gegenteil, es ist ein quicklebendiges, unterhaltsames und hilfreiches Buch, und ich bin fest davon überzeugt, dass Ihnen das Lesen viele neue Erkenntnisse bringen und auch Spaß machen wird.
Der Tod gehört zum Leben! Diese Tatsache nicht zu verdrängen wird ihr Leben bereichern.
Herzlichst,
Ihr
David Roth
* Sie finden den Podcast »Talk about Tod« auf der Website puetz-roth.de und bei Spotify – I-tunes – Podcaster – Stitcher – TuneIn.
WIR STERBEN.
UND DANN?
SOLL MAN MIT STERBENDEN ÜBER DEN TOD REDEN?
Auf diese Frage kann es nur eine persönliche Antwort geben. Mein Gesprächspartner Klaus Reichert und ich möchten mit Ihnen unsere Erinnerungen an die letzten Gespräche, das Sterben und den Tod unserer Väter teilen.
David, darf man schwerstkranken Menschen sagen, dass sie bald sterben werden?
Ja. Es ist hart, aber ich glaube, das ist auch ganz wichtig. Sich der Tatsache zu stellen, dass es nicht immer gut gehen wird, dass Menschen einfach sterben.
Vielleicht reden wir über unsere eigenen Erfahrungen. Mein Vater war zum Beispiel nicht bereit, sich in irgendeiner Form mit uns über dieses Thema zu unterhalten, bis er dann eines Tages tot in seinem Badezimmer lag. Er war schwerer Alkoholiker und ihm war anzusehen, dass das nicht mehr allzu lange gehen wird. Sein Zustand wurde immer schlechter. Wann auch immer wir auf das Thema zu sprechen kamen, wehrte er ab: Nein, ich habe nur eine Grippe, nur eine Erkältung. Er hatte dann Ausfallserscheinungen an den Füßen, konnte nicht mehr richtig laufen, mit den Händen konnte er nicht mehr richtig greifen. Er hat dieses Thema völlig verdrängt. Als er tot im Badezimmer lag und ich ihm ins Gesicht gesehen habe, hatte ich das Gefühl: Er war überrascht, dass er sterben musste.
Bei meinem Vater war es etwas anders. Er war ein kleiner Hypochonder wie ich und hat trotz all seiner Energie sehr genau gesehen, dass sich etwas verändert hat. Er ist zu den Ärzten gegangen, weil eine Erkältung nicht mehr aufhören wollte, und hat dadurch relativ früh erfahren, dass er Krebs hatte. Dann kam eine sehr bewusste Auseinandersetzung. Das gipfelte darin, dass er in der Sendung »Kölner Treff« bei Bettina Böttinger offen gesagt hat, dass er todkrank sei. Zu der Zeit wusste er von einem Freund mit der Diagnose Krebs, allerdings ein Krebs, der sich nicht so schnell entwickelte wie in seinem Fall. Wir waren damals in einer Phase, in der wir ohnehin viel miteinander gesprochen haben, weil es um Nachfolge ging. Das haben wir eigentlich zehn Jahre lang gemacht. Aber am liebsten sprach er darüber, was er noch alles tun möchte. Er hat uns immer damit gedroht, dass er bis 95 im Büro bleibt. Ab und zu hatte er dann Phasen, in denen er sagte: Jetzt ist auch mal genug, im nächsten Jahr werde ich ein Jahr lang reisen und so etwas. Das hat er dann doch nicht gemacht. Für uns war es die reinste Achterbahnfahrt, die geprägt war von Miteinander-Sprechen, aber auch einem gewissen Unglauben, ob das wirklich geschehen würde. Später kamen dann immer heftigere Behandlungen, die er vorher vielleicht abgelehnt hätte und die dann so schleichend auf ihn zukamen. Zum Beispiel eine Art Dialyse, die für seine Leber und Nieren gemacht wurde. Irgendwann ist es mir schon so gegangen, dass ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe, wenn er über tausend triviale Sachen gesprochen hat und gar nicht absehbar war, was passieren wird und wie es mit ihm weitergeht. Für mich war klar: Das wird so nicht mehr weitergehen und es geht leider in eine klare Richtung. Nachdem ich dann mit einem der Ärzte geredet hatte, habe ich ihn darauf angesprochen, wie er das eigentlich sieht? Mir war klar: Wenn ich jetzt nicht mit ihm über dieses Thema spreche, kann ich das in zwei Monaten garantiert nicht mehr tun. Das war für mich sehr hart, weil ich diese fortschreitende Entwicklung miterlebt habe. Es wurde immer schwieriger, er wurde immer schwächer, die Behandlungen wurden immer weniger aussichtsreich. Dann kam dieser Punkt, wo man immer hört: »Du musst jetzt kämpfen!« Und wo ich das Gefühl hatte nach dem Gespräch mit ihm, dass er es auch akzeptiert hatte und die Entwicklung dann immer schneller ging.
Wie hast du diese Situation erlebt, dass jemand tatsächlich begreift: Mir ist nicht mehr zu helfen? Fritz, dein Vater, hatte Leberkrebs. Das ist eine Diagnose, mit der schlagartig der endende Horizont sichtbar wird, weil es kaum Heilungschancen gibt. Nur die Möglichkeit, das Leben noch ein bisschen zu verlängern. Aber wenn ich mich richtig erinnere, ist vom Moment der Diagnose bis zu seinem Tod nicht einmal ein Jahr vergangen.
Ja, so war es. Es gibt viele Geschichten, in denen es trotz allem gut ausgehen kann. Es ist vielleicht nicht so ein krasses Todesurteil wie Bauchspeicheldrüsenkrebs zum Beispiel. Es gibt Statistiken für alles und jenes und auch neue, innovative, hochgefährliche Behandlungsmethoden. Die Crux an dem Ganzen ist, dass er gar nicht so krasse Einschränkungen hatte wie andere in der Zeit. Das war für ihn sicher ein Riesenglück. Er hatte nicht diese unerträglichen Tumorschmerzen, wurde zwar ein bisschen schläfriger, aber er hatte einfach immer viel Energie. Von außen sah es weiter so aus, dass er mit ganz großer Energie alle seine Ziele und Themen weiterverfolgt. Wenn die Leute wegguckten, musste er sich dann aber auch mal einen Moment hinlegen.
Ich erinnere mich noch daran, dass er zwei oder drei Wochen vor seinem Tod bei Günther Jauch in der Talkshow saß. Man sah ihm an, dass er nicht gesund war, dass da ein schwerkranker Mann sitzt. Aber dass es dann so schnell gehen würde, damit hat gar keiner gerechnet, oder?
Das konnte keiner fassen, viele waren fassungslos, als sie das gehört haben. Direkt nach dieser Sendung ist er am nächsten Morgen das letzte Mal ins Krankenhaus gegangen, und hat es bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen. Er hat per SMS oder Telefon noch Leute zu sich bestellt, auf einen Kaffee oder dieses und jenes. Das erlebe ich auch im Alltag, wenn ich mit Angehörigen spreche, dass Leute, die auf einmal bettlägerig werden, dies für eine Episode halten.
Woran kann man erkennen, ob jemand bereit ist für ein Gespräch über den nahenden Tod? Ich konnte mit meinem Vater nie ein solches Gespräch führen. Wann immer ich versucht habe, in irgendeiner Form mit ihm darüber zu sprechen, hat er das total abgeblockt.
Ich denke, wir sehen eine Art Signale. Ich hatte eher das Gefühl, dass da ein Widerstand auf der anderen Seite ist. Es ist ein Finden des stimmigen Moments, so ähnlich, wie wenn man einem Menschen sagt, dass man ihn liebt. Da kommen tausend Faktoren. Das Schwierige ist, dass es immer die unausgesprochenen Gedanken auf beiden Seiten gibt, die man dem anderen nicht zumuten mag, diese verborgenen Welten. Ich glaube, irgendwann braucht es ein Bekenntnis.
Soll man jemanden auffordern, darüber zu reden, oder lieber warten, bis jemand damit kommt? Wie war es bei dir? Hat dein Vater das Gespräch mit dir gesucht oder bist du auf ihn zugegangen?
Ich bin auf ihn zugegangen. Ich glaube, es gibt dafür kein richtig und falsch. Man sollte sich der Situation und der Gefühle sicher sein, dann kann man es nur versuchen. Das Leben ist nichts für Angsthasen. Ich muss auch realistisch und ehrlich damit umgehen und ich kann keinen Menschen dazu zwingen. Bei meinem Opa war es ganz ähnlich wie bei deinem Vater. Er hat kurz mitbekommen, dass er den ganzen Körper voller Metastasen hatte, und genau einmal gesagt: Oh, dann habe ich wohl Krebs. Danach war das Thema für ihn gegessen. Er wollte in die Kneipe gehen, zu seinen Freunden, solange es nur irgendwie geht. Er wollte leben. Das sehe ich auch nicht als verkehrt an. Die gesamte Familie wusste über drei Jahre hinweg, in welche Richtung das geht.
Wann hattest du bei deinem Vater das Gefühl: Er weiß, dass die Situation sich nicht mehr ändern wird? Wann war er sich wirklich bewusst: Jetzt sterbe ich?
Ganz spät, erst zwei Tage vor seinem Tod. Es gab indirekte Zeichen, zum Beispiel hat er uns nicht mehr in irgendwelche Restaurants geschickt, um ihm was zu essen zu holen. Das ließ sogar schon ein paar Wochen vorher nach. Dann ließen auch seine Aktivitäten nach, er verließ kaum noch das Zimmer und hatte kaum noch Lust, mal eine Runde über die Station zu gehen oder das Gebäude zu verlassen, daran war schon gar nicht mehr zu denken. Irgendwann hat er dann die Offensive gesucht und uns alle um fünf Uhr morgens angerufen und zu sich bestellt. Seine Geschwister, meine Schwester und ihren Mann, mich und meine Lebensgefährtin und die Kinder. Dann wurde es so richtig typisch für ihn: Ganz melodramatisch hat er aus seinem Bett heraus jedem einzelnen gute Worte mitgegeben, so etwas wie Privataudienz gehalten. Nachdem das geschehen war, war es für ihn auch gut, dann wäre er gerne gestorben, wie auf dem Bild von Carl Spitzweg mit dem Künstler, der in der Mansarde liegt. Das hatte durchaus komische Züge. Wir durften dann alle wieder zu ihm kommen, haben noch einmal mit Getränken und Keksen angestoßen und versucht, das Schönste aus diesem Moment zu machen. Der Moment wurde dann lang: Der Tag ging langsam zu Ende und die Kinder, die wir mitgebracht hatten, mussten wieder nach Hause und ins Bett. Man stirbt nicht, wenn man das will, sondern wenn es so weit ist. Jedenfalls kam nicht dieser sanfte Übergang.
Und wie seid ihr damit umgegangen? Habt ihr in der Familie darüber gesprochen, oder hast du dir jemanden gesucht, einen Trauerbegleiter, der dir quasi professionelle Hilfe geben konnte?
Ich habe keine Trauerbegleitung für mich in Anspruch genommen, weil ich das mit meinem Umfeld machen konnte, mit meiner Lebensgefährtin, mit meiner Mutter, mit meinen Kindern, meinen Tanten, meiner Schwester, ihrem Mann. Es gab immer wieder Momente, wo wir darüber gesprochen haben. Und es gab in meinem Gefühl die Zwiesprache mit ihm, mit der Situation, mit dem, was ich da erlebt hatte, als ich ihn fast dazu gezwungen habe, mit mir darüber zu sprechen. Was ist, wenn du stirbst? Und er konnte dem nicht wirklich ausweichen, ich saß da, er lag da. Er hätte mich nur aus dem Zimmer werfen können.
Es passierte ganz viel in dieser Zeit, was ich richtig schön fand. Aber nach wie vor erlebe ich auch, dass ich fast weinen muss, wenn ich daran denke. Das ist ein Prozess, bei dem man jeden Tag ein Stückchen weiterkommt. Jetzt sind es schon zehn Jahre, die er tot ist. Die Zeit rast. Und ich merke, zum Beispiel in so einem Gespräch, dass da noch ganz viele Aspekte sind, die mich ein bisschen lächeln lassen darüber, wenn ich mich erinnere, was ich alles mit ihm erlebt habe. Ein großes Foto von ihm steht bei uns in der Eingangshalle. Für mich ist es wie ein Spiegel dessen, wie ich mich gerade fühle, was ich gerade denke.
WAS TUN, WENN JEMAND STIRBT?
Niemand weiß, wann der Tag kommt: Ein Angehöriger stirbt. Auf einmal stellen sich viele Fragen. Zu Gefühlen von Trauer und Bestürzung kommen Rat- und Hilflosigkeit. Auf den Fall der Fälle kann sich jeder vorbereiten – und sollte es tun.
Wenn jemand gestorben ist, ruft man den Bestatter an. Er kommt dann, holt den Toten ab und regelt den Papierkram. Das klingt nach einem Rundum-sorglos-Paket?
Das kommt auf das Selbstverständnis des Bestatters an und was er wirklich leisten kann. Bei vielen Bestattern sucht man sich hauptsächlich einen Sarg aus, bekommt einen Termin zugewiesen, wählt aus fünf Sprüchen den passenden aus. Damit ist die Sache durch. Aber man kann natürlich viel mehr von einem Bestatter bekommen. Bei uns ist es zum Beispiel Usus, dass wir uns um allen Schriftverkehr kümmern, weil das viele Menschen überfordert. Das heißt: Wir kümmern uns um alle Formalitäten bei den Behörden. Mit den Urkunden, die wir dort bekommen, können wir uns dann auch um die Rente kümmern, die Abmeldung bei der Krankenkasse, bis hin zum Handyvertrag. Es gibt praktisch nichts, was wir als Bestattungsinstitut nicht schon gemacht haben.
Nun hat man früher viele Rituale gepflegt. Die Leute sind zu Hause gestorben, dort sind sie erst einmal geblieben, und man hat nicht den Bestatter gerufen. Der Beruf ist noch gar nicht so alt. Noch vor 100 oder 150 Jahren gab es gar keine Bestatter, oder?
Es gab so etwas wie erste Spezialisten, das geht sogar bis auf die Römer zurück, etwa auch im alten Ägypten. Aber im Grunde war es etwas, was man als Liebesdienst für die Gemeinschaft getan hat, wie auch immer diese Gemeinschaft aussah.
Liebesdienst bedeutet, dass der Tote von den Angehörigen oder von Nachbarn oder von Freunden versorgt worden ist?
Genau. Ganz viel wurde selbst gemacht und jeder wusste auch, dass man das selbst tun und dabei nichts falsch machen konnte. Zum Beispiel das Einkleiden. Das Thema war noch vertraut und lebensnah.
Welche Rituale waren früher üblich, die wir heute gar nicht mehr kennen oder nicht mehr pflegen?
Es gab zum Beispiel dieses letzte Hemd, das man schon als Aussteuer mitbekam und als Schutz über die restliche Kleidung legte.
Wieso als Schutz?
Als Staubabdeckung. Es lag immer oben auf den anderen Kleidungsstücken.
Das ist ja ein netter Zweck, den das letzte Hemd erfüllte …
Ja. Vielleicht reime ich mir das auch nur so zusammen. Es lag auf den anderen Sachen und man hatte es jeden Tag in der Hand. Auch als Erinnerung daran, dass man sterblich ist. Früher hatte man auch so etwas wie Reliquien von seinen Vorfahren dabei. Das waren Knöchelchen, Haare, Nägel oder anderer Schmuck. Es gab früher diese große Reliquienverehrung, die ganz alltäglich war. Gerade hier in Köln mit den Heiligen Drei Königen.
Ich dachte, da wären vor allem Reliquien von Jesus Christus gesammelt und verehrt worden?
Jemand hat einmal gesagt, aus den Splittern des Kreuzes, die es überall gibt, könnte man ganze Städte bauen. Es war ein natürlicher Teil des Ganzen, wodurch der Tod immer präsent war. Es gab in der Gemeinschaft Vorstellungen darüber, was geschieht, wenn jemand verstirbt, und was da zu tun sei. Manches geht natürlich ein bisschen in Richtung Aberglauben. Zum Beispiel, dass Spiegel verhangen, Wäscheleinen abgehangen wurden, damit sich der Geist des Toten nicht verhedderte. Oder Rituale wie: zum Verstorbenen zu gehen, der zu Hause in der guten Stube blieb, wo ein kleines Behältnis mit Weihwasser stand, vielleicht mit einem Palmzweig darin, und ihn damit zu segnen. Um ihm den Weg ins Paradies leichter zu machen. Dann wurde gesegnet und gesegnet, dass das Wasser in Strömen lief. In Amerika war es üblich, dass man sogar Streiche mit dem Körper gemacht hat, um ihn quasi aus der Reserve zu locken und sicherzugehen, ob er auch wirklich tot ist. Es gab eine große Angst, dass jemand lebendig begraben wird. Früher wusste man über das Mysterium Tod nicht so viel.
Es wurde wirklich getestet, ob jemand tot ist? Was genau haben die Menschen da an Streichen veranstaltet? Mit Nadeln mal zugestochen?
Vielleicht. Oder den Verstorbenen in den Arm genommen, ihm eine Kappe aufgesetzt wie so eine Eselskappe damals in der Schule. Und man hat natürlich das Haus belagert. All diesen Ritualen war gemeinsam, dass man sie in Gemeinschaft erlebt hat. Anders als heute war man nicht alleine, wenn jemand starb, sondern das Haus war voller Gäste. Da ging es dann auch hoch her: Es wurde geweint, getrauert und auf den Verstorbenen angestoßen, man hat miteinander gelacht, gescherzt, sich erinnert, und all das gleichzeitig.
Früher gab es Leute, die verkündet haben, dass jemand gestorben ist. Heute ist es so, dass eine Anzeige in der Zeitung geschaltet wird oder in den Amtlichen Bekanntmachungen. In kleineren Orten gibt es Aushänge. Früher sind Menschen von Tür zu Tür gegangen und haben erzählt, dass jemand gestorben ist?
Genau. Sie haben dazu eingeladen, die Familie zu besuchen, den Verstorbenen noch einmal zu sehen. Wenn man hier zu uns auf den Berg kommt, auf den unser Bestattungshaus steht, sieht man auch noch diese Seelenbretter. Die wurden ähnlich genutzt. Zuerst lag der Verstorbene darauf, bis der Schreiner einen Sarg fertig gezimmert hatte. Bis dahin lagen sie auf dem Brett. Wenn dann der Sarg fertig war, wurde dieses Brett gestaltet, bemalt und vor die Haustür gestellt, um Menschen einzuladen. Es gibt in manchen Kulturen heute noch eine ähnliche Tradition, zum Beispiel in manchen Gegenden Spaniens, da fahren dann Lautsprecherwagen durch die Straßen und verkünden das, so dass jeder davon erfährt. So war das früher auf dem Dorf auch.
Viele Menschen sehen heute überhaupt keine echten Toten mehr. Wenn jemand stirbt, bekommt man das mitgeteilt, vielleicht von einem Arzt. Und bekommt dann zu hören: Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie er gelebt hat. Das hört man auch von Bestattern relativ oft. Deiner Meinung nach ist das Gegenteil richtig?
Ja. Die Orte, an denen Verstorbene aufbewahrt werden, sind oft verborgene, dunkle und kalte Orte. In anderen Ländern sind die Toten zunächst zu Hause; und da ist es durchaus üblich, den Verstorbenen noch einmal in den Arm zu nehmen oder zu küssen. Das ist für uns eine schwierige Vorstellung. Wir sind es nicht so gewöhnt, Emotionen und Nähe in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es kommt zunächst einmal niemand auf die Idee, den Toten noch einmal anzufassen, gar zu küssen.
Meistens ist es so: Wenn Leute im Krankenhaus oder einem Pflegeheim sterben, werden sie sofort weggeschafft, in die Pathologie oder in den Leichenkeller. Auch sonst sind Orte, wo Tote sind, z. B. in den Leichenhallen auf den Friedhöfen, nicht wirklich einladend, geschweige denn so, dass ich da eine Zeitlang einfach mit dem Toten zusammen sein will.
Das ist schade. Es gibt solche ästhetischen Bilder wie aus Indien, dass jemand in weißes Leinen gekleidet auf einem erhöhten Podest bequem liegt und das Ganze einen ganz harmonischen Eindruck ausstrahlt. Das ist gar nicht das, was wir hier favorisieren. Aber dass man den Ort vielleicht selbst ein bisschen schön macht, das wäre möglich.
Bei euch, im »Haus der menschlichen Begleitung«, gibt es extra Räume, die ganz wohnlich eingerichtet sind …
Bei uns kann man die Verstorbenen so oft und so lange besuchen, wie man möchte. Und zwar in einer leichten Atmosphäre, in einer Art Wohnzimmer. Es gibt eine Küche zum Kaffeekochen, es gibt Gebäck und einen großen Garten, in dem man sich aufhalten und trauern kann.
Es ist hier im Haus sogar möglich, dass die Angehörigen dabei sind oder mithelfen, wenn der Tote gewaschen, wenn er angezogen wird.
Ja, das ist hier gang und gäbe. Das macht natürlich nicht jeder, und nicht jedem ist das wichtig. Aber es kann jeder hier mitmachen, wenn er das möchte. So erlebt man, dass alles behutsam, liebevoll, anständig geschieht.
Ich erinnere mich, dass Kardinal Karl Lehmann im Mainzer Dom mehrere Tage lang aufgebahrt war und man ihn sehen konnte. Bei normalen Beerdigungen ist es doch ganz selten, dass tatsächlich am offenen Sarg Abschied genommen wird, oder?
Das ist schon selten. Es ist meistens eine eher kulturelle Frage. Zum Beispiel bei Menschen mit einem russisch-orthodoxen oder griechisch-orthodoxen Glauben ist das gang und gäbe. In anderen Religionen, wie im Islam, ist es üblich, dass die ganze Gemeinschaft kommt, um den Verstorbenen zu waschen.
Bei uns im Bestattungsinstitut kann das jeder machen, wie er mag. Wir haben natürlich eine Verantwortung unseren Gästen gegenüber, gerade weil das so unvertraut ist. Wir führen die Leute behutsam an die Situation heran.
Darf man einen Toten auch zu Hause aufbahren?
Klar. Das haben wir ja auch mit unserem Vater gemacht und bei unserer Oma; das machen wir auch beruflich für viele Menschen. Ich habe kürzlich eine Familie begleitet, die einen Sohn hatte. Er ist 24 Jahre alt geworden. Den Eltern war es ganz wichtig, dass er bis zum Tag der Trauerfeier zu Hause bleiben konnte. Das war fast eine ganze Woche (was auch deshalb möglich war, weil er im Dezember gestorben ist). Sie konnten ihn bei sich, in seinem Bett, in seinen Sachen und als Familie dort geborgen wissen. Wir sind dann am Morgen hingefahren, haben ihn mit der Familie gemeinsam in den Sarg gelegt mit allen Sachen, die ihm wichtig waren, es war wie ein Nest. Dann sind wir gemeinsam zur Kirche gefahren.
Für den einen oder anderen ist die Vorstellung, dass ein Toter zu Hause sein könnte, sicher merkwürdig, befremdlich, gruselig. Das macht zunächst Angst …
Das ist ein Problem unserer emotionalen Vorstellungskraft. Wer einen Toten zu Hause aufbahrt, wird sehr schnell feststellen, dass die Realität gar nicht so aufregend, sondern ganz entspannt ist. Abgesehen davon, habe ich in der Situation immer die Möglichkeit, mich jederzeit anders zu entscheiden. Ich muss nicht stur dem Ziel folgen, »da muss ich jetzt durch!« Wenn ich das Gefühl habe, es reicht, dann mache ich den Sarg zu und bitte den Bestatter, zu kommen und den Toten abzuholen.
MUSS MAN VOR TOTEN ANGST HABEN?
Die meisten Menschen haben noch nie einen echten Toten gesehen. Sie kennen Tote nur aus dem Kino oder dem Fernsehen. Was man nicht kennt, davor hat man natürlich Angst. Es gibt Gründe, warum wir hinschauen sollten.
Der Tod macht Menschen Angst. Und Tote natürlich auch. Warum?
Ich denke, weil in unserer Gesellschaft ganz viele Vorurteile bestehen. Wir sehen in den Medien viele schreckliche Bilder. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Menschen bis zum letzten Moment jemandem im Krankenhaus die Hand halten. Aber ab dem Moment, wo sie begreifen, er ist verstorben, weichen sie auf einmal vor Angst zurück.
Heißt das, die Menschen haben Angst, sich mit irgendwas anzustecken?
Genau das. Oder davor, wie nahe es ihnen kommt, wie fragil eigentlich dieses Leben ist. Diese Angst entsteht durch den Kontakt, den wir nicht haben. Ähnlich wie es mit den Ängsten vor Überfremdung in unserer Gesellschaft ist: Sie sind nicht dort am größten, wo die meisten Fremden sind, sondern dort, wo sie als exotisch angesehen werden.
Haben Menschen auch Angst davor, der Situation nicht gewachsen zu sein? Jemanden tot vor sich zu sehen, damit umgehen zu sollen, müssen?
Ja, ich denke schon. Denn das kann ich heute gar nicht mehr lernen, weil wir nicht mehr in Generationen zusammenleben. Wir sehen in der Natur das Werden und Vergehen nicht mehr. Wir bekommen von Kindheit an beigebracht, wenn da ein totes kleines Vögelchen liegt: Fass das bloß nicht an! Geh da weg! Wir wissen einfach nicht mehr, was normal ist im Umgang mit Tod.
Früher, als die Menschen noch als Familie mit mehreren Generationen unter einem Dach gelebt haben, war es unvermeidbar, irgendwann dem Tod zu begegnen. Die Älteren sind gestorben, meistens auch zu Hause. Heute gehen wir mit 18 aus dem Haus, die Großeltern leben schon lange nicht mehr bei den Eltern. Das heißt, wir sind vom Tod relativ weit weg?
Genau. Die Großeltern werden heute auch viel älter, so dass ich das oft erst in einer späteren Zeit erfahre. Bei mir war es noch normal, dass ich als Kind mit zu einer Beerdigung genommen wurde und im weiteren Familienkreis auch einmal in Kontakt mit Verstorbenen kam. Mein Vater erzählte uns davon, wie er es erlebte, als seine Oma starb. Er war in der Familie der kleine Prinz, denn er hatte vier ältere Schwestern. Zu uns hat er immer gesagt: Wenn man in dieser Situation eine Oma hat, dann ist das wie ein Sechser im Lotto! Die Oma hat ihn total verhätschelt – sehr zum Ärger seiner Schwestern übrigens. Aber als er dann mit fünf, sechs Jahren erlebte, wie seine Oma starb, wie sie zu Hause blieb, dass ihn die Hand der Oma nie wieder streicheln wird, konnte er begreifen, dass da etwas geschehen war, etwas Endgültiges.
Würdest du dazu raten, Kinder mit zu einer Beerdigung zu nehmen? Vielleicht sogar zu einem offenen Sarg?
Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Ich denke, ich muss die Kinder fragen, was sie möchten. Auch Pädagogen sagen, das kann man ihnen so oder so zumuten. Ich kann ihnen Möglichkeiten geben, das auszugestalten. Aus meiner Sicht sollten sie in jedem Fall mitkommen. Meine Dreijährige fragt mich jetzt seit Wochen: Ist dein Papa tot? Das fragt sie jeden Tag ein paar Mal. Sie hat ihn nie wirklich kennengelernt, aber sie versucht durch Fragen, das in irgendeiner Form zu fassen. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, mit Kindern, die ich im Bestattungsinstitut habe genauso wie mit meinen eigenen Kindern, mit denen ich zum Abschiednehmen gegangen bin: Sie kriegen so oder so mit, was um sie herum geschieht. Sie spüren, dass die Stimmung sich verändert, dass etwas geschehen ist. Ich finde es wichtig, dass sie das verstehen können und nicht auf sich beziehen. Vor allem kleinere Kinder brauchen eine Erklärung, dass ein Verstorbener nicht tief schläft, damit sie selber keine Angst vor dem Schlafengehen bekommen. Manchmal ist es hilfreich, dass man sie zumindest bis zum Vorraum mitnimmt, die Tür einen Spalt breit offenlässt, damit sie merken: Da drinnen geht nicht irgendetwas Grausiges, Dunkles vor sich. Ihre Neugier zieht sie dann in diesen Raum und sie fangen an, sich damit zu befassen und Fragen zu stellen.
Viele Menschen kennen den Tod nur aus dem Fernsehen, als fiktionalen Tod, inszenierten Tod.
Ja. Der Tod wird zum Teil sehr drastisch, sehr schnell, mit schnellen Schnitten gezeigt, zum Teil angedeutet. Ich kenne Szenen, in denen man in der einen Sekunde das Gesicht sieht, und dann nur noch Blutspritzer auf der Wand dahinter. Mein Vater hat immer gesagt, dass heute ein Jugendlicher durch Computerspiele perfekt wüsste, wie er einen Menschen mit der Kettensäge filetiert, der reale Tod im Leben aber keinen Platz mehr hat.
Einerseits gucken wir uns sehr viele inszenierte Tote und auch inszenierte Tode im Fernsehen an. Aber im richtigen Leben habe ich mittlerweile das Gefühl, dass der Tod verschwindet. Viele Bestatter beschriften ihre Autos gar nicht mehr oder nutzen normale Lieferwagen, so dass man nicht mehr sieht, dass da ein Toter transportiert wird …
Es ist auch so, dass wir oft als Bestatter vor 8 Uhr morgens oder nach 20 Uhr abends in ein Seniorenheim gerufen werden – damit bloß niemand der Bewohner darüber nachdenkt, dass das wahrscheinlich sein letzter Wohnort ist, den er lebendig nicht mehr verlassen wird.
Warum haben wir den Tod aus dem Leben verdrängt?
In der heutigen Zeit geht es sehr viel um Arbeit, um Effizienz und Ähnliches. Da ist der Tod so etwas wie ein »Störfall«. Ich glaube, dass wir auch Angst vor der Emotion des anderen haben und vor den Ängsten der anderen.
Ich habe manchmal das Gefühl, wir schauen zu sehr auf die jungen Leute. Alle wollen möglichst lange jung und schön bleiben. Es kommt mir vor, als ob wir rückwärts durchs Leben laufen würden: Wir schauen nicht in die Richtung, in der irgendwann der finale Horizont sichtbar wird und der Tod wartet.
Wir befassen uns im Bestattungsinstitut nicht so intensiv mit der »werberelevanten Gruppe« der 16- bis 49-Jährigen. Wir öffnen es aber gerne für Besucher, auch immer mehr für interessierte Schulklassen.
Schulklassen werden hier durchs Haus geführt?
Ja, das kommt immer häufiger vor. Aber selbst wenn wir auf einer Seniorenmesse sind, wo es um das Thema Vorsorge geht, staunen viele Menschen darüber, dass da auch ein Bestatter ist und sagen sich: Das ist ein Thema, um dass wir uns kümmern, wenn es ansteht, wenn wir alt sind. In der heutigen Vorstellung ist es sogar so, dass wir die Unendlichkeit entdecken und vielleicht 150 Jahre alt werden könnten. Wir bekommen natürlich immer das Bild der »Best Ager« vorgegaukelt, die noch bis ins hohe Alter fit sind. Sie machen Nordic Walking, bauen Häuser, konsumieren oder beweisen ihre Nützlichkeit, indem sie ihren Kindern mit deren Kindern helfen.
Was passiert mit Menschen, die es schaffen, sich dem Tod zuzuwenden? Die hinschauen anstatt davor zu fliehen?
Ich glaube, sie könnten ein zufriedeneres Leben führen. Wenn sie einfach ganz nüchtern wahrnehmen, dass es ihnen gerade wirklich relativ gut geht. Egal wie das Wetter draußen ist, dass es ein schöner und guter Tag ist. Sie könnten manchmal immer wieder einmal Bilanz ziehen: Was ist wirklich wichtig in meinem Leben? Viele kennen mittlerweile die fünf Dinge, die Menschen am Ende des Lebens bereut haben aus dem Buch »Five Regrets of the Dying«. Da wurden Menschen im Hospiz gefragt, die wussten, dass sie sehr bald sterben werden, was sie eigentlich gerne anders gemacht hätten.
Bei den Antworten war eine nicht dabei: »Ich wäre gerne mehr im Büro gewesen«, oder?
Das war der Punkt. Viele haben bereut, dass sie nicht wirklich ihr Leben, sondern das der anderen leben mussten. Dass sie für die Arbeit, die Karriere sehr viel Zeit aufgewendet haben. Das nimmt heute deutlich zu und führt dazu, dass viele in entscheidenden Phasen ihres Lebens ganz wenig Zeit haben. Wenn ein Kind geboren wird, wenn ein Angehöriger ersten Grades verstirbt und ich nur ein bis zwei Tage Sonderurlaub bekomme, in denen ich gar nicht begreifen kann, was da geschieht. Viele junge Menschen stellen dann fest, dass die Großeltern qua Gesetz nur als Angehörige zweiten Grades gelten und sie unter Umständen sich gar nicht kurzfristig die Zeit bzw. Sonderurlaub dafür nehmen können. Es ist auch schwerer geworden, Beziehungen aufrechtzuerhalten, weil uns die Arbeit oft an einen anderen Ort verschlägt. Viele Menschen können sich heute für das, was ihnen einmal wichtig war, nicht mehr so einsetzen. Stattdessen sind andere Dinge wichtiger geworden, welches Produkt als Nächstes gekauft wird u. v. m. Wir befassen uns weniger mit dem, was für uns tatsächlich relevant ist. Da ist der Tod ein ganz großer Wachmacher. Denn ab diesem Moment ist erst einmal alles ganz anders, weil der Tod den Menschen auch nicht so häufig begegnet und dann vielleicht manches anders bewerten werden kann.
Gut, wenn ich einen Trauerfall habe und wirklich in Trauer bin, muss ich mich in irgendeiner Form diesem Thema stellen. Aber warum sollte ich mich dem Thema stellen, wenn es mir im Grunde gut geht? Ich habe einen guten Job, genug Geld, ich kann fröhlich vor mich hin leben. Da ist doch gar kein Platz für diesen Gedanken?
Stimmt. Ich denke aber, man sollte manchmal einfach innehalten, um zu wissen, wo man gerade steht, warum man so viel arbeitet, wofür ich das, was ich habe, investiere, was ich konsumiere. Das ist wie in der Debatte über das Essen: Ob ich jetzt vegan lebe oder Fleisch esse oder wie auch immer. Es geht darum, dass ich weiß, was ich da tue, dass ich genieße, was ich da gerade tue, dass ich auch bewusst von dort aus meine nächste Mahlzeit, meine nächsten Tage oder meine Ziele plane. Dadurch, dass ich weiß, was Tod ist, weiß ich auch, was Leben ist. Was lebendig ist, bekommt gleichzeitig einen Wert dadurch, dass ich weiß, dass ich nicht das Versprechen hab, den nächsten Tag zu erleben. Das ist die einzige Garantie in unserem gesamten Leben: unser Tod. Darauf kann ich mich absolut verlassen. Von Herzen lachen und von Herzen weinen sind Emotionen, die von den gleichen Quellen genährt werden. Wir können nicht immer glücklich sein, wir können nicht immer traurig sein, wir brauchen diesen Wechsel. Trauer ist die vergessene Schwester des Glücks.
Der Tod und das Leben existieren gleichzeitig. Wir haben allein in Deutschland rund 900 000 Sterbefälle im Jahr, stündlich stirbt irgendwo jemand. Wenn wir das jetzt hochrechnen auf die Weltbevölkerung, dann lautet die Tatsache: jede Sekunde sterben Menschen. Diese Gleichzeitigkeit verliert man aus dem Blick, oder? Wenn man bei euch im Bestattungshaus ist, dann verliert man das nicht aus dem Blick – weil hier Tote sind und gleichzeitig finden eine Reihe von Veranstaltungen satt. Was macht ihr da?
Hier im Haus finden Lesungen statt, Kabarett, Konzerte. Es sind Veranstaltungen, die manchmal, aber nicht immer mit dem Tod zu tun haben, und es gibt natürlich Veranstaltungen für Trauernde. Genauso aber auch für Menschen, die gar nicht in Trauer sind. Hier ist jeder willkommen.
David, macht dir der Tod Angst?
Nein, kein bisschen. Ich kann es nicht beeinflussen. Ich kann nur mit einem ganz großen Zutrauen auf das Thema zugehen. Und wenn es mich treffen sollte, persönlich, dass die anderen einen Weg finden werden, damit umzugehen. Sie können dabei nichts falsch machen.
IST SCHON MAL JEMAND AN LEICHENGIFT GESTORBEN?
Die Vorstellung, dass Tote etwas Gefährliches an sich haben, hält sich hartnäckig. Von Leichengift hat jeder schon einmal gehört. Ob es so etwas wirklich gibt und Tote tatsächlich giftig sind, darüber wissen die wenigstens Bescheid.
Oft hört man, man soll den Toten so in Erinnerung behalten, wie er war. Du siehst das anders …
Ich glaube, das ist nicht hilfreich. Wir sehen jeden Tag Hunderte Verstorbene im Fernsehen, bei The Walking Dead, im Tatort oder in anderen Serien. Und wir haben natürlich alle Vorstellungen, wie der Tote aussehen müsste, bis hin zu den Ängsten, die wir damit verbinden. Das ist ganz natürlich.
Wenn so viele Tote im Fernsehen vorkommen, haben wir natürlich auch eine Vorstellung davon, wie Tote aussehen müssen. In vielen Kriminalfilmen geben sich die Maskenbildner Mühe, sie tatsächlich zu schminken wie Tote – oder werden die Toten unrealistisch dargestellt?
Das ist oft hyperrealistisch, drastisch, richtig grausige Bilder. Und das kann Angst machen. Wenn Angehörige hierherkommen, sind viele ganz verwundert, wie entspannt ein Verstorbener da liegt. Aber hier geschieht etwas sehr Natürliches: Alle Muskeln entspannen sich, der Verstorbene liegt friedlich da. Wir möchten den Menschen, die hierhin kommen, natürlich keine heftigen Bilder zeigen. Die Verstorbenen, die hier sind, sind natürlich gewaschen und in ihre persönlichen Sachen eingekleidet. Wir sprechen manchmal auch mit den Angehörigen darüber, wenn sie uns sagen, wie derjenige vielleicht am bequemsten gelegen hat, wenn er im Bett lag.
Du empfiehlst den Menschen, die zu euch kommen oder zu denen ihr geht, die Toten tatsächlich auch anzuschauen?
Ja. Wenn ich einen Verstorbenen sehe, dann spüre ich, dass da etwas anders ist, dass da etwas kälter ist, dass da gar keine Regung mehr zu sehen ist. Dann kann ich anfangen zu begreifen, was da geschehen ist. Es geht uns darum, den Angehörigen zu vermitteln, dass sie ein gutes Gefühl haben dürfen und das Empfinden: Auch dem Verstorbenen geht’s gut. Wir machen hier bei ihrem Besuch außerdem Mut, ihren Verstorbenen still zu berühren.
Machen das die Leute, fassen die den Toten tatsächlich an?