VAL EMMICH
DU BIST DER
STURM,
DU BIST DAS
LICHT
Aus dem Amerikanischen von
Petra Koob-Pawis
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© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2021 Val Emmich
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel:
»Maybe We’re Electric« bei Poppy,
einem Imprint von Little Brown and Company, New York
Übersetzung: Petra Koob-Pawis
Umschlagkonzeption: Geviert, Grafik & Typografie
unter Verwendung einer Abbildung von © Stocksy (Rolf Brenner)
MP × Herstellung: UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25589-3
V003
www.cbj-verlag.de
Sie werden Zeuge von etwas,
das vor dem heutigen Abend
und außerhalb dieser vier Wände
noch nie jemand gesehen hat.
– THOMAS ALVA EDISON –
DU WILLST KEIN MONSTER SEIN. NICHT MEHR. DU WILLST dich nicht mehr hässlich fühlen. Innen nicht und außen nicht.
Thomas Edison sagt, Scheitern gehört dazu. Der Teil, der zählt und woran sich die Leute am Ende erinnern, ist das, was man danach tut. Früher hast du daran gezweifelt, aber jetzt glaubst du das auch. Deshalb gehst du zurück, um deine Schritte nachzuvollziehen. Vielleicht gibt es einen Weg, den Schaden, den du angerichtet hast, wiedergutzumachen. Sich dem Hässlichen zu stellen, schafft Hoffnung auf ein schöneres Danach.
ICH KAUERE AUF DEM HARTEN BODEN DES MUSEUMS, DEN Rücken an eine sich langsam erwärmende Sockelleiste gepresst, und warte darauf, dass mein Zittern aufhört.
Der Schachbrettboden ist an manchen Stellen rissig, und das wiederum gibt mir das Gefühl, selbst an manchen Stellen rissig zu sein. Es erinnert mich daran, dass alles irgendwann einmal neu und fast perfekt ist, nur um dann an manchen Stellen rissig zu werden.
Um mich herum sind hundert Gesichter, alle schwarzweiß. Die meisten gehören dem Mann, der hier geehrt wird, dem Erfinder, der diesen unscheinbaren Fleck in New Jersey einst zu einem weltweiten Anziehungspunkt machte, bis schließlich die ganze Stadt nach ihm benannt wurde.
Neben den Fotos von Thomas Edison sind funktionsfähige Modelle seiner vielen Erfindungen zu sehen. Glühbirnen. Tongeräte. Karbontelefone. An der Wand hängt ein Dutzend der vierhundert Patente, die er während seiner Zeit in Menlo Park anmelden konnte. In einer Vitrine steht ein Modell des Forschungslabors, das sich damals auf dem Gelände befand. Und alles ist in einen Raum gepfercht, der nicht größer ist als unser Wohnzimmer.
Aber hier ist es besser als in unserem Wohnzimmer. Im Moment möchte ich nicht einmal in der Nähe meines Zuhauses sein. Ich wünschte nur, ich hätte daran gedacht, ein paar Dinge mitzunehmen, bevor ich aus dem Haus gestürmt bin. Vor allem mein Handy. Und eine Jacke, das wäre auch keine schlechte Idee gewesen.
In Gedanken verfasse ich eine E-Mail an meinen Dad: Sie ist schrecklich. Im Ernst. Sie hat alles zerstört. Bitte stell dich nicht auf ihre Seite. Das ist das Letzte, was ich jetzt brauche. Ich stelle mir seine Antwort vor: Mom tut ihr Bestes. Ich stelle mich nicht auf ihre Seite, versprochen. Ja, sie kann schwierig sein. Das sind wir alle manchmal.
Ich schlinge die Arme um die Knie und vergrabe mein nasses Gesicht in dem Abgrund dazwischen. Dann sitze ich stumm da und zittre – eine Minute lang, eine Stunde lang.
Ein vertrauter Piepton schreckt mich auf. Jeder, der jemals hier gearbeitet hat, kennt dieses nervige Geräusch. Es reißt uns aus allem heraus, was wir gerade machen, und warnt uns, dass jemand das Museum betreten hat.
Ich habe vergessen, die Tür hinter mir abzuschließen.
Vielleicht ist meine Mom mir durch den Schnee gefolgt. Charlie kann es nicht sein; er hat heute einen Gig und ist längst weg, weshalb er das Drama zu Hause verpasst hat. Wenn es Mom ist, sitze ich in der Falle. Das Thomas-Edison-Center besitzt viele Dinge, aber Platz gehört nicht dazu. Es gibt einen vorderen Raum und einen hinteren Raum (wo ich jetzt bin), eine Toilette und eine winzige Abstellkammer. Außerdem gibt es noch eine Hintertür, die nach draußen zu einem Schuppen und zum Gedenkturm führt, aber wenn sie geöffnet wird, ertönt ein weiterer Piepton.
»Hallo?«, sagt eine Stimme, die definitiv nicht die meiner Mutter ist.
Ich halte ganz still und hoffe, dass die Stimme und derjenige, dem sie gehört, so schnell verschwinden werden, wie sie gekommen sind.
Ein Schatten breitet sich vom Hauptraum bis ins Hinterzimmer aus. Dann hält der Schatten inne und ich hebe den Kopf. Eine Gestalt mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze ragt über mir auf. Schnee rieselt auf den Boden, als die Kapuze zurückgeschlagen wird.
Ich weiß, wer das ist. Er geht in meine Klasse, ist im zweiten High-School-Jahr, genau wie ich. Sein Name ist Mac Durant. Mac Durant, aka Inbegriff aller Sehnsüchte: gut aussehend, klug, charmant, beliebt, Top-Athlet, Zu-perfekt-um-wahr-zu-sein-Herzensbrecher und Idealbesetzung jeder Teenie-Rom-Com, die du je gesehen hast. Und dann dieser geradezu absurd passende Name. Mac Durant. Was zum Teufel macht er hier?
Ich dagegen bin das Chaos in Person. Ich bin zwei Tage nicht gewaschenes Haar. Ich bin ein löchriges Sweatshirt. Ich bin abgetragene Leggings mit zwei verschiedenen Socken. Selbst an Tagen, an denen ich damit rechne, von anderen Menschen gesehen zu werden, und mir deshalb Mühe gebe, ist das Ergebnis nicht gerade berauschend. Aber mein momentaner Look, der durch meine verquollenen roten Augen noch komplettiert wird, gibt dem Wort erbärmlich eine ganz neue Bedeutung.
Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht und gebe mein Bestes, um halbwegs zurechnungsfähig zu wirken. Er hat riesige goldene Augen, die mich verwirrt anstarren. Vermutlich versucht er, sich an meinen Namen zu erinnern. Wer ist dieses Mädchen, an dem ich täglich vorbeilaufe, ohne jemals in irgendeiner Weise mit ihr zu interagieren? Und warum liegt sie zu einer zittrigen Kugel zusammengerollt auf diesem schmutzigen, rissigen Fußboden?
»Ich brauche dein Handy«, sagt Mac Durant. »Es ist ein Notfall.«
Das sind nicht die Worte, mit denen ich gerechnet hätte, und definitiv nicht der Tonfall, den ich erwartet habe. Zu erleben, wie jemand, der sonst vor Selbstvertrauen nur so strotzt, der Verzweiflung nahe scheint, bringt mich noch etwas mehr aus der Fassung.
Das Museum ist geschlossen, würde ich am liebsten sagen. Er dürfte gar nicht hier sein, und ich auch nicht.
»Bitte«, sagt Mac, höflich, aber drängend.
Ich hebe meine rechte Hand und deute mit dem Finger. Mac dreht sich rasch um und sein Schatten auch. Ich stehe auf und gehe in den Vorraum, verdrücke mich wie eine Spionin in die Ecke. Er greift nach dem alten Telefon dort, hebt aber den Hörer nicht ab. Da bemerke ich das Blut an seiner Hand.
Er blickt auf und sieht mich.
»Mach du es«, sagt er.
Ich will etwas sagen, bringe aber kein Wort heraus.
Er hält mir den Hörer entgegen. »Du musst für mich anrufen. Ich sage dir, was du melden sollst.«
Sein Blick ist nicht fies, sondern flehentlich.
Ich sehe, wie seine blutigen Finger drei Zahlen drücken. Jeder Anruf, der mit nur drei Zahlen auskommt, ist ein Anruf, mit dem ich nichts zu tun haben will.
Ich bin kurz davor, ihn auf diese neue und noch ungeschriebene persönliche Regel hinzuweisen, als er mich hektisch zu sich winkt. Und dann sagt er meinen Namen. »Tegan.« Dass er meinen Namen nennt, meinen Namen kennt – das ist zu viel.
Ich lasse mir von ihm den Hörer in die Hand drücken.
Eine undeutliche Stimme: »9-1-1. Was ist passiert?«
Mac fordert mich mit einer Geste auf, den Hörer an mein Ohr zu halten. Es ist, als wäre ich in Edisons Zeit zurückversetzt worden und Mac müsse mir erst beibringen, wie man ein Gerät bedient, das ich noch nie gesehen habe. So macht man das, wenn man mit einem Telefon ein Ferngespräch führen möchte. Man hält das eine Ende des Hörers ans Ohr und spricht in das andere Ende hinein.
Aber was spricht man hinein?
»Ich möchte etwas melden«, instruiert mich Mac leise.
Aber ich kann nicht. Ich bin stumm. Mac fleht mich mit seinen großen Augen an, und dann höre ich, wie ich den Satz wörtlich wiederhole: »Ich möchte etwas melden.«
Mac blinzelt quälend lange, bevor er mir den nächsten Satz vorgibt. »Da ist ein Mann in einer Garage.«
»Da ist ein Mann …«, fange ich an.
»In einer Garage«, sagt Mac.
»In einer Garage.«
»Sein Auto läuft. In der Garage.«
»Sein Auto läuft in der Garage«, wiederhole ich.
»Ich glaube, er versucht, sich etwas anzutun«, sagt Mac.
Ich halte inne. Mac nickt. Es ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Seine Augen versprechen: Wir stehen das gemeinsam durch.
Ich sage dem Mann am anderen Ende der Leitung: »Womöglich versucht er, sich etwas anzutun.«
Mac reckt beide Daumen hoch. Ich halte den Hörer etwas weiter weg und sage zu Mac, dass der Mann nach der Adresse fragt.
»Achtundachtzig Anchorage Road«, sagt Mac.
Ich gebe die Adresse durch, und es dauert einen Moment, bis ich den Sinn der Worte erfasse. Mac wohnt in der Anchorage Road, nur wenige Gehminuten entfernt, in der entgegengesetzten Richtung von meinem Zuhause. Das Museum liegt etwa auf halber Strecke zwischen unseren Häusern.
Als Nächstes werde ich nach meinem Namen gefragt. Mac hört mit und formt lautlos mit den Lippen, dass ich auflegen soll. Ich zögere. Er nimmt mir den Hörer aus der Hand und legt auf.
Im Museum herrscht Stille.
Mein Blick fällt auf seine blutige Hand am Hörer. Er zieht sie rasch weg und schiebt sie in seine Jackentasche.
Mac Durant holt tief Luft, dann atmet er aus. Die Anspannung fällt von ihm ab. Eine Verwandlung. Jetzt ist er wieder der Typ, den ich kenne: sorgenfreie Grübchen, hinreißend goldene Augen, die Coolness in Person. Und ausgerechnet er starrt mich an, mich, und sagt das unkomplizierteste Wort, was einem in einer alles andere als unkomplizierten Situation einfallen kann.
»Danke.«
DAS TELEFON LIEGT STUMM ZWISCHEN UNS. WIR STARREN es an, wie eine in einem Erdloch abgelegte Leiche. Ich komme allmählich zu der Erkenntnis, dass das gerade ein Big Thing war, auch wenn ich keine Ahnung habe, um was es eigentlich geht.
Mac setzt zu einer Erklärung an. »Das war echt krass. Ich bin spazieren gegangen und da war dieser Typ. Er saß in seinem Auto, in seiner Garage.«
Ich warte auf den Rest der Geschichte, aber Mac lächelt nur, als wolle er sagen: Wow, das war lustig. Und was machen wir jetzt?
Moment mal. Ich habe diesen Anruf für ihn gemacht und dafür schuldet er mir eine vernünftige Erklärung. Er war spazieren? In einem Schneesturm? Woher wusste er, dass der Typ sich etwas antun will? Hätte das Garagentor nicht geschlossen sein müssen? Und wenn ja, wie konnte Mac den Mann sehen? Und wenn das in seiner eigenen Straße war, nicht weit von ihm zu Hause, warum hat er dann nicht von dort aus angerufen? Ach ja, und was ist eigentlich mit seiner Hand passiert?
Zu schade, dass ich nichts davon laut sagen kann. Aber so funktioniert das nicht. Wenn ich jetzt etwas sage, dann verstoße ich gegen die Gesetze unseres Universums, in dem Leute wie er die Ansagen machen und ich schweigend gehorche.
Meine Verwirrung wird noch größer, als Mac in seine Jackentasche greift und ein Handydisplay aufleuchtet. Sein Handy! Ein Gerät, mit dem er ohne Weiteres den Notruf hätte wählen können.
Das kann ich nicht durchgehen lassen, Universum hin oder her. »Cooles Handy«, platze ich heraus.
Er inspiziert sein Handy, wie um herauszufinden, was daran so cool sein soll. »Danke«, sagt er und sieht mich an, als wäre ich diejenige, die crazy ist.
Er steckt das Handy wieder weg und schaut sich um. »Ich war noch nie hier drin. Ich laufe ständig daran vorbei, aber …«
Mac hat sich in Bewegung gesetzt, und jemand wie er sieht sogar in einer krisenhaften Situation überirdisch gut aus: locker sitzende Chinos, weiße Turnschuhe und eine dicke Steppjacke mit Kunstfellkapuze. Er geht zu der Büste von Thomas Edison, die alle Museumsbesucher am Eingang begrüßt. Der Zauberer von Menlo Park, so nennen sie ihn. Edison, nicht Mac Durant. Wobei der Name zu beiden passt.
»Das ist er also«, sagt Mac superlässig. »Der Mann. Der Mythos. Die Legende.«
»Der Mythos«, sage ich und bin selbst überrascht, meine Stimme zu hören.
Mac lächelt und bringt dabei sein Grübchen voll zur Geltung. »Kein Fan?«
Ich zucke mit den Schultern. Ich war mal einer, aber jetzt finde ich Thomas Edison ziemlich überbewertet.
Worüber reden wir hier eigentlich? Warum lächelt Mac mich an, als würde er sich bestens amüsieren? Ich bin geschockt über den Ernst der Situation, aber auch entnervt von der totalen Vorhersehbarkeit des Ganzen. Die Frage ist doch: Bin ich tatsächlich in Gefahr, mich zur Komplizin zu machen, oder stecke ich nur in einer weiteren Dauerschleife der High School Reality Show meines täglichen Lebens fest? Denn natürlich kann ein Typ wie Mac Durant einfach hier reinplatzen, als gehöre ihm der Laden, weil sich natürlich jede Tür auf Gottes Spielplatz wie von selbst für ihn öffnet und natürlich jedes Mädchen, das er seines Blickes für würdig hält, ihm den absurdesten Wunsch erfüllt, selbst wenn es sich damit womöglich in eine potentielle Straftat verwickeln lässt. Und was jetzt? Hängen wir nun im Museum ab und halten einen netten, kleinen Plausch?
Mein Blick gleitet nach unten. Das Schachbrettmuster weist neue Unregelmäßigkeiten auf: rote Punkte. Ich verfolge die Spur zurück bis zu Macs Hand, mit der er gerade die Edison-Büste berührt hat.
»Nein«, sage ich.
»Was ist los?«
»Nein, nein, nein.«
»Alles okay mit dir?«
Stumm zeige ich auf die Büste: Thomas Edison hat eine blutige Nase.
»Scheiße«, sagt Mac. »Das ist wohl meine Schuld.«
Ich renne los und komme gleich darauf mit Papiertüchern und Reinigungsspray zurück. Ich wische den Boden und kümmere mich um Mr Edison, während Mac versucht, die Blutung zu stoppen. Es gelingt ihm nicht besonders gut.
Ich hole unseren Erste-Hilfe-Kasten hinter der Verkaufstheke hervor. Bisher habe ich nur ein einziges Mal erlebt, dass jemand ihn benutzt hat (bei einem Bienenstich). Den vergilbten Pflastern nach zu urteilen, ist der Kasten womöglich älter als die Ausstellungsobjekte hier im Raum.
Ich lege den Uraltkasten auf die Theke, klappe den Deckel auf und seufze dramatisch. »Komm her.«
Mac legt seine Hand auf die Glasabdeckung der Verkaufstheke. Die Auslage bietet das volle Programm an Thomas-Edison-Merchandise. Glühbirnen-Schlüsselanhänger. Glühbirnen-Stressbälle. Glühbirnen-Notizblöcke. Glühbirnen-Glühbirnen. Geniewasser für einen Dollar – ein Schnäppchen. Auf der Theke steht ein Edison-Wackelkopf. Mac stupst ihn an und der Kopf nickt ja, ja, ja, ja, ja.
Ich zeige auf Macs Hand. Er wirkt unschlüssig, und schon wieder weiß ich nicht, was ich davon halten soll: Dieser Typ, der normalerweise schwebt, während der Rest von uns auf zwei Beinen geht, steht plötzlich auf dem Boden. Nicht im Sinne von geerdet und standfest, sondern unfähig, frei zu fliegen.
Ich kenne das Gefühl besser als jeder andere: Wenn man seine Hand zeigt, macht man sich verletzlich.
»Normalerweise könntest du so viel Blut verlieren, wie du willst«, sage ich. »Aber im Moment ist ein schlechter Zeitpunkt dafür.«
Mac grinst. Es ist ein Lächeln, das Atome spalten könnte.
Er öffnet seine Faust und legt die Hand flach auf die Theke.
Mit meinen eigenen Händen, und zwar beiden, greife ich in den Erste-Hilfe-Kasten und hole das Material heraus. Verbandszeug, Schere, Salbe. Zuerst den Alkohol. Ich befeuchte einen Wattebausch und drücke die getränkte Seite auf Macs Hand. Er zuckt zusammen.
»Das könnte jetzt ein bisschen brennen«, sage ich zu ihm.
»Sagt man so was nicht davor statt danach?«, fragt Mac.
Da könnte er recht haben.
Ich tupfe auf den rosa- und lilafarbenen Bluterguss und dann auf die raue Mitte der Wunde. Langsam sickert die Realität dessen, was ich da gerade tue und mit wem, in mein Bewusstsein. Wie ist mein Atem? Meine Haare? Meine Augenbrauen? Nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Wenn die Leute mich ansehen, ist ihr Fokus woanders. Auf der Theke liegen vier Hände und eine ist nicht wie die anderen drei. Meine linke Hand hat nur zwei Finger. Ich bin sicher, dass Mac sie anstarrt. Um meine Theorie zu überprüfen, schiebe ich meine linke Hand ein Stück zur Seite und behalte Mac dabei im Blick, um herauszufinden, ob seine Augen meiner Hand folgen. Das tun sie.
Ich ziehe meine Hand weg. Mac fängt sich wieder und tut so, als wäre nichts. Wenigstens entschuldigt er sich nicht. Das ist immer das Schlimmste – wenn Leute sich entschuldigen, als hätten sie dich gerade nackt erwischt und etwas von dir gesehen, das nicht für ihre Augen bestimmt war.
Ich schnappe mir eine Tube mit Heilsalbe. »Hier, zum Einrubbeln«, sage ich und merke zu spät, wie sich das anhört. Ich drücke zu und die Tube furzt die Salbe auf seine unverletzte Hand. Überhaupt nicht peinlich. Jetzt bin ich diejenige, die so tut, als wäre nichts. »Viel Spaß«, sage ich.
Er lacht leise und trägt die Salbe auf. Als sie sich verteilt, wird sie dünn und transparent und seine Haut wird glitschig. Er verreibt sie auf der wunden Stelle und massiert sie mit sanften Bewegungen ein. Was immer er da macht, es sollte im Privaten stattfinden.
Mac hält sich die Hand an die Nase und schnuppert, dann hält er sie mir hin. »Riech mal.«
»Nein«, sage ich und weiche ihm aus.
»Kann das Zeug schlecht werden?«
Ich nehme die mehrfach geknickte Tube genauer in Augenschein. »Ist 2003 abgelaufen.«
Er schnuppert noch einmal daran und verzieht das Gesicht.
Meine Neugier gewinnt die Oberhand. »Na gut, lass mich mal riechen.«
Er streckt seine Hand aus. Da ist definitiv ein Geruch. Er bildet sich das nicht ein. Ich schnüffle an der Tube, um zu sehen, ob es die Salbe ist, aber das Zeug ist praktisch geruchlos.
»Ich glaube, das bist du«, sage ich. »Es ist dein Blut.«
»Was soll das heißen, mein Blut?«
»Du hast schlechtes Blut.«
»Mein Blut ist nicht schlecht«, protestiert er entschieden.
»Ich meine, wegen der Verletzung – wo auch immer du sie herhast.«
Er blickt auf seine Hand und sein atomares Lächeln ist wie weggewischt. Ich muss etwas Falsches gesagt haben. Und seine arme Wunde ist immer noch nicht verarztet.
»Wir sollten sie abdecken«, sage ich.
Ich fange an, seine Wunde zu verbinden. Aber dazu muss ich meine linke Hand benutzen und sie hinter der Theke hervorziehen.
Während ich den Verband um Macs Hand lege, eine Lage nach der anderen, kehrt meine Frustration zurück. Ich habe Fragen, und er hat Antworten, aber statt meinen Mund aufzumachen, wickle ich feige immer weiter.
Die Chance, den Kreislauf zu durchbrechen, kommt vielleicht nie wieder.
Ich frage: »Was ist passiert?«
Er schließt die Augen.
Lass mich raten: Er hat Brennholz gehackt. Er hat eine Katze vom Baum gerettet. Er hat für ein greises Mütterlein Schnee geschaufelt.
»Ich habe einen Ziegelstein zertrümmert«, sagt Mac und schafft es, einem offenkundig gewalttätigen Akt alles Gewalttätige zu nehmen. Als wäre das, was er getan hat, unausweichlich gewesen.
Ich versuche, mir die Szene vorzustellen – Mac, wie er einen Ziegel zerschlägt –, aber das Video lädt nicht. Dass diese Lässigkeit in Person tatsächlich einmal die Fassung verlieren könnte, dafür reicht meine Fantasie nicht aus.
Was ich jedoch sehe, sind seine Gefühle bei dem Gedanken an das, was passiert ist: eine Mischung aus Scham und Reue und so etwas wie Stolz.
Er öffnet die Augen und wartet auf meine Reaktion.
»Tja«, sage ich nach einigem Nachdenken. »Deine Hand sieht immer noch besser aus als meine.«
Ich lache über meinen Witz, damit er das auch tun kann.
DU BIST VON GEBURT AN ANDERS. BABYS HABEN normalerweise fünf Finger und zehn Zehen. Du nicht. Du hast eine Hand mit nur zwei Fingern – Daumen und Ringfinger – und sogar die sind mickrig. So etwas nennt man Symbrachydaktylie. Ein Wort, das man kaum anschauen kann, ohne Kopfschmerzen zu kriegen. Aber jemand war kreativ genug gewesen, um sich einen einfacheren Begriff auszudenken. Wenn Gliedmaßen irgendwie anders aussehen als normal, sagt man dazu – Trommelwirbel bitte – Fehlbildung. Deine Eltern haben sich für etwas anderes entschieden. Sie nennen deine linke Hand deine spezielle Hand.
Schon sehr früh denken deine Eltern über eine Operation nach, entscheiden sich aber schließlich dagegen. Stattdessen setzen sie ihre ganze Hoffnung auf eine riskante Methode, die sich Selbstakzeptanz nennt. Am Anfang scheint es zu funktionieren. Du bist ein sorgloses und unbekümmertes Kind. Du weißt nicht, wie es ist, an beiden Händen fünf Finger zu haben. Du hast nicht das Gefühl, als fehle dir etwas. Mom und Dad lassen dir die Freiheit, Dinge selbst herauszufinden. Knöpfe zu schließen ist eine nervige Herausforderung, und wenn du den Fahrradlenker umklammerst, hat nur die eine Hand einen sicheren Griff. Aber das ist nichts, was dich verstört. Es ist, wie es ist.
Dann wirst du älter. In der dritten Klasse fällt dir auf, wie sie starren. Sie haben dich schon immer angestarrt, aber erst jetzt nimmst du es bewusst wahr. Isla, deine beste Freundin seit Kindergartenzeiten verteidigt dich vehement, wenn die Jungs über dich kichern. Du fängst an, dich selbst mit anderen Augen zu sehen. Zum ersten Mal spricht ein Arzt von »Behinderung«. Du wusstest immer, dass du anders bist, aber dieses Wort – ganz gleich, wie sachlich es verwendet wird – erweckt den Eindruck, als wäre mit dir etwas nicht in Ordnung. Zweifel schleichen sich ein. Du fragst dich, wie »normal« du bist. Deine Gedanken drehen sich fast nur noch um dein Anderssein, was dir weder guttut noch weiterhilft, wie du selbst weißt. Du starrst deine Hand an, bis es keine Hand mehr ist. Sondern ein Ding, das an dein Handgelenk geschnallt ist.
Du versuchst, die Aufmerksamkeit der Leute von deiner Hand abzulenken. Selbst im Sommer trägst du lange Ärmel. Shirts mit auffälligen Slogans, die die Blicke auf sich ziehen. Du machst Witze, sehr viele, die meisten davon auf deine Kosten.
Als Teenager bist du irgendwann drüber weg. Das Thema langweilt dich nur noch. Was soll das Ganze? Es ist nur eine Hand, mehr nicht. Schon gar nicht speziell. Keiner beachtet eine Hand. Du nicht. Und deine Familie und deine Freunde auch nicht. Du bist dir deiner Hand zwar bewusst, aber du konzentrierst dich nicht darauf. Nur Fremden fällt sie auf. Das Problem ist, dass es viele Fremde gibt, und es kommen ständig weitere hinzu, die dich an das erinnern, was du immer wieder vergisst. Das kostet Kraft. Du hast nicht die Energie, bei jeder neuen Begegnung Erklärungen abzugeben. Oder mit Menschen, die du schon lange kennst, die immergleichen Kämpfe auszufechten. Viel einfacher ist es, in den Hintergrund zu verschwinden. Also weichst du ihren Blicken aus. Machst dich klein. Wirst sehr, sehr still.
ICH LEGE DAS VERBANDSZEUG IN DEN ERSTE-HILFE.Kasten zurück, stelle ihn wieder in das untere Regal und bleibe länger als nötig hinter der Theke in Deckung. Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken.
Worum ging es bei diesem Anruf? Warum wollte er, dass ich telefoniere? Und dann ist da noch die Sache mit dem Blut – seinem schlechten Blut!
Vielleicht ist er ja auf magische Weise verschwunden, wenn ich wieder hochkomme. Dann kann ich mich wieder mit meinen eigenen Problemen beschäftigen.
Ich richte mich auf. Mein Gebet wurde erhört. Er ist weg.
Das war einfach.
Ich blicke aus dem Fenster. Keine Spur von ihm. Mit ein paar schnellen Schritten bin ich an der Tür und schiebe energisch den klemmenden Riegel vor, um die Welt auszusperren. Ich seufze vor Erleichterung.
Oder ist es Enttäuschung? Ist womöglich gerade der aufregendste Moment meines Lebens an mir vorbeigezogen? Vor einer Sekunde war er noch da, ich schwöre es, direkt vor mir: Mac Durant. Er ist gegangen, ohne sich zu verabschieden. Oder sich für meine Erste Hilfe zu bedanken.
Ein Geräusch aus dem Hinterzimmer lässt mich herumwirbeln. Als ich nachschauen gehe, sehe ich, wie Mac an einem Phonographen herumhantiert.
»Vorsichtig«, sage ich, erleichtert und erschrocken zugleich. Er kann einem beinahe Angst einjagen. Es ist, als stünde man plötzlich vor einem Einhorn: Man hätte nie gedacht, dass diese Kreatur tatsächlich existiert.
Ich schreite sofort ein, bevor er den Phonographen-Arm auf die Platte legen kann. Mr Edisons Gesicht haben wir bereits besudelt. Für den Schaden an einem dieser unbezahlbaren Geräte verantwortlich zu sein, ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.
»Das Modell ist aus den Dreißigern«, sage ich. »Der Apparat ist unersetzlich.«
»Wir haben einen Plattenspieler zu Hause«, sagt Mac.
»Aber nicht so einen.«
»Ziemlich ähnlich.«
Wie schön, dass sein Selbstbewusstsein in alter Stärke zurückgekehrt ist, aber leider hat er keine Ahnung, wovon er redet.
»Funktioniert das Ding?«, fragt er.
Sogar in seinem jetzigen Zustand – pappige Haare, die in alle Richtungen abstehen, und sehr menschliche rote Wangen – verfügt Mac über eine Macht, der man sich nur schwer entziehen kann.
Ja, der Plattenspieler funktioniert. Er kann nicht jede x-beliebige Platte abspielen, nur Edisons eigene Scheiben und die auch nur bei Führungen. Das Museum ist vier Tage die Woche geöffnet. An einem Samstag wie heute schließt es um vier und macht erst morgen um zehn Uhr wieder auf, falls das Wetter mitspielt. Aber ich habe seit Monaten nicht mehr im Thomas Edison Center gearbeitet und keiner von uns beiden dürfte jetzt hier sein.
Aber wir sind es.
Na schön. Nur ganz kurz.
Ich öffne die Frontplatte unseres größten Phonographen und setze die Nadel auf. Die Musik ist das, was man schmissig nennt. Wir hören eine lange Minute zu (gar nicht so einfach). Ich fühle mich lächerlicherweise dafür verantwortlich, als wäre ich die Künstlerin, die den Song aufgenommen hat, und Macs Urteil darüber würde unweigerlich auf mich zurückfallen. Sein Fuß scheint sich allerdings über den Beat zu freuen, denn er tappt in schnellem Rhythmus mit. Mac wirft einen kurzen Blick auf sein Handy und steckt es wieder weg. Als die Musik endlich endet, führe ich die Nadel in die Ausgangsstellung zurück und klappe die Frontplatte hoch.
»Es ist ein Megahit bei den über Neunzigjährigen«, sage ich, um mich von dem uncoolen Spektakel zu distanzieren, das er gerade über sich ergehen lassen musste.
Kommentarlos wendet er sich anderen Exponaten zu. Sein Gang – lässig, aber interessiert – erweckt absurderweise den Eindruck, als hätte Mac nie etwas anderes vorgehabt, als seinen Samstagabend damit zu verbringen, lange vernachlässigte Kenntnisse über Thomas Edison aufzufrischen. Ich verfolge seine Bewegungen, betrachte sein Profil (aus Sicherheitsgründen, versteht sich). Er hat eine markante Nase und sie steht ihm gut. Seine Lippen scheinen mit einem teuren Pinsel aufgemalt zu sein; um ehrlich zu sein, habe ich mehr als einmal davon geträumt, diese Farbe zu verschmieren.
»Vielleicht solltest du den Laden schließen«, sagt Mac. »Sieht übel aus da draußen.«
Er mustert mich von Kopf bis Fuß, als würde er mich erst jetzt in meiner ganzen merkwürdigen Erscheinung wahrnehmen. Das waschmaschinengeschrumpfte rote Sweatshirt, in das ich mich schon den ganzen Tag mümmle, ist mein Favorit für Herumgammeln und Faulsein, aber als Arbeitskleidung macht es nicht gerade viel her. Ich mag wie eine offizielle Mitarbeiterin des Museums klingen, aber ich sehe definitiv nicht so aus.
»Ich werde abgeholt«, sage ich. »Kann sich nur noch um Minuten handeln.« Eine glatte Lüge.
»Wahrscheinlich ruft der Gouverneur den Ausnahmezustand aus.« Er schüttelt den Kopf. »Die bauschen immer alles auf. Die Leute lieben Dramen.«
Leute. Wie in: andere Menschen. Nicht er. Mac Durant steht nicht auf Dramen. Das ist die Botschaft, die er rüberbringen will. Dabei ist er derjenige, der hier das Drama macht. Ich hatte vor, mich eine Weile im Museum zu verstecken, aber wegen Mac fühlt sich mein sicherer Ort nicht mehr sicher an. Ich sollte gehen. Jetzt sofort.
Ich will nicht nach Hause, aber was bleibt mir anderes übrig? Ich habe kein Geld, kein Handy. Keiner meiner Freunde wohnt in der Nähe. Unter diesen Umständen würde ich am ehesten zu Neel wollen, aber er und ich haben uns gestritten.
Nach Hause zurückzukehren, bedeutet nicht, dass ich mit meiner Mutter reden muss. Ich kann direkt in mein Zimmer huschen und mich unter der Decke verkriechen. Aber zuvor muss ich Mac zum Gehen bewegen.
Ich räuspere mich. »Bestimmt hast du heute noch was vor oder so.«
Mac antwortet nicht, er ist ganz in die Betrachtung der Museumswand vertieft.
Ich werde das Licht ausschalten, vielleicht kapiert er es dann. Es ist eine extreme und möglicherweise missverständliche Maßnahme, aber jetzt ist nicht die Zeit für taktvolle Zurückhaltung. Ich überwinde meinen inneren Widerstand und bewege mich unauffällig Richtung Lichtschalter. Als ich den Schalter fast erreicht habe, stellt Mac sich mir unabsichtlich in den Weg, und ich bin gezwungen, den Rückzug anzutreten.
»Nimmst du immer noch den Bus?«, fragt Mac. Er muss sich fast um die eigene Achse drehen, um mich anzuschauen.
»Ja«, sage ich, überrascht, dass er sich daran erinnert. »Leider.«
Mac ist seit der Mittelstufe nicht mehr mit dem Bus gefahren, und damals hat er fast jeden Morgen die Fahrt mit Schlafen verbracht. Das ist ein Thema, über das ich liebend gerne mehr von ihm hören würde – die Vergangenheit, unsere Vergangenheit, auch wenn es da praktisch nichts zu erzählen gibt –, aber er geht nicht weiter darauf ein.
Es ist an der Zeit, auf den altbewährten Wink mit dem Zaunpfahl zurückzugreifen: lautes Gähnen. Während Mac sich weiter umsieht, starte ich meinen ersten Versuch. Das Ergebnis ist ein kaum hörbares Hauchen. Bei meinem zweiten Versuch lege ich mich ins Zeug. Diesmal ist das Gähnen so laut, dass ich mich anhöre wie ein ältlicher Zauberer, der einen Nierenstein ausscheidet.
»Mann«, sage ich, schraube jedoch die Dringlichkeit in meiner Stimme etwas runter. »Ich bin supermüde.«
Mac reagiert nicht darauf. Stattdessen schaut er zum millionsten Mal auf sein Handy und steckt es wieder in die Tasche. Umso absurder ist seine nächste Frage.
»Kann ich das Telefon noch einmal benutzen?«
Warum benutzt du nicht dein eigenes?, ist die nahe liegende Frage, die ich natürlich nicht stelle.
»Klar«, sage ich.
Er geht zurück in den Hauptraum. Ich zähle bis zehn, dann folge ich ihm, bleibe aber im Türdurchgang stehen und drücke mich gegen die Wand. Langsam lehne ich mich zur Seite, bis eines meiner neugierigen Augen einen Fingerbreit hinter dem Türrahmen hervorlugt.
Mac steht regungslos da, die Hand auf dem Hörer. Er denkt nach. Dann nimmt er den Hörer ab, wählt, lauscht. Er legt auf und wartet. Dreht sich zum Fenster. Kaum was zu sehen da draußen.
Er wendet sich um, und ich weiß, ich sollte mich schleunigst bewegen, aber da hat er sich schon umgedreht, und ja, eine Hälfte meines Gesichts ist deutlich zu sehen, was viel peinlicher ist als ein ganzes Gesicht.
»Hi«, sagt Mac.
Ich trete hinter dem Türrahmen hervor und zeige mein ganzes Gesicht. »Hi.«
Mac setzt sich hinter der Theke auf einen Hocker. Er stützt die Ellbogen auf die Glasabdeckung und vergräbt den Kopf in den Händen.
Es gibt nur einen guten Grund, warum Mac nicht sein eigenes, voll funktionsfähiges Handy zum Telefonieren benutzt: Er will nicht, dass die Person, die er anruft, weiß, dass er es ist. Das erklärt den ersten Anruf bei der Notrufzentrale. Aber was ist mit diesem Anruf? Wen hat Mac Durant diesmal angerufen?
Mac blickt zur Decke. Sein Oberkörper streckt sich und er legt den Kopf in den Nacken. Ein leises Ächzen, dann neigt er den Kopf und schmiegt ihn in seine Handfläche wie in ein Kissen. Hingerissen verfolge ich jede Bewegung.
Gedankenverloren fragt er: »Sind deine Eltern noch zusammen?«
Die Frage ist willkürlich, kommt aber genau zur richtigen Zeit. Ich schüttle den Kopf. Nein, sind sie nicht.
»Glück gehabt«, sagt Mac.
Glück gehabt? Nein, das finde ich nicht. Im Gegenteil. Wenn Mac wüsste, was ich heute durchgemacht habe, weil meine Kernfamilie eine Kernschmelze hatte.
Er richtet sich auf und blickt durchs Fenster. Draußen liegt dichter Schnee. Die Flocken halten sich auf ihrem Weg nach unten an den Händen. Sie bilden einen weißen Wall, durch den man nicht hindurchsehen kann.
Macs Blick wandert die Wand entlang und verharrt einen Moment an der Eingangstür. »Ziemlich spät dran«, sagt er.
»Wer?«
»Dein Abholservice.«
Ach ja, die imaginäre Person, die mich abholt. »Muss am Wetter liegen«, antworte ich. Das klingt plausibel.
Er steht auf und kommt hinter der Theke hervor. Mit jedem Schritt scheint er größer zu werden, die bandagierte Hand hängt schlaff herab. Ich drücke mich mit dem Rücken an die Wand. Seine Jacke raschelt, erst laut, dann leiser, als er an mir vorbeigeht und wieder etwas Abstand zwischen uns bringt. Er steuert die Tür an. Na endlich. Elvis verlässt das Gebäude.
Nein. – Er geht an der Tür vorbei.
Es grenzt an Folter. Ich habe mein Zuhause als einsamster Mensch der Welt verlassen, und ausgerechnet jetzt habe ich Gesellschaft bekommen, was aufregend, aber auch beängstigend und verwirrend ist. Ganz abgesehen davon ist das Timing mies.
»Ich muss abschließen«, sage ich und nähere mich dem Ende meiner Konversations-Rettungsleine. »Gibt es sonst noch was, womit ich dir helfen kann oder …«
Er blickt auf sein Handy. Schon wieder. Wartet er etwa auf jemanden? Was zum Teufel ist hier los? Ich finde, es reicht.
»Warum bist du noch hier?«, frage ich ihn direkt.
Er schaut von seinem Handy auf. »Ich? Warum bist du noch hier?«
Machst du Witze? Hallo?! »Ich arbeite hier, was sonst?«
»Du hast niemanden angerufen, damit er dich abholt. Keine Textnachricht. Nichts.«
»Das liegt daran, dass ich … mein Handy zu Hause vergessen habe.«
Er grinst. »Ach ja? Da ist das Telefon.«
Meine Kehle wird eng. Mac kommt näher, dringt in meine persönliche Distanzzone ein. »Ich will ja nicht fies sein, aber ich glaube nicht, dass dich jemand abholen kommt.«
Ich greife nach der Wand, für den Fall, dass ich Hilfe beim Aufrechtstehen brauche. »Wie kommst du darauf?«
Er deutet auf die Tür. Das Schild mit den Öffnungszeiten. Mac muss es gesehen haben, als er vorhin am Fenster stand.
»Das Museum schließt um vier«, sagt er. »Jetzt ist es nach sieben.«
In meiner lächerlichen, frei erfundenen Story habe ich seit drei Stunden Feierabend und sitze seitdem geduldig hier herum und warte. Ohne auf die Idee zu kommen, jemanden anzurufen. Ohne auch nur ein einziges Mal aus dem Fenster zu spähen und nach einem Auto Ausschau zu halten. Angezogen wie eine professionelle Couch-Potato.Vor Kurzem saß ich im Hinterzimmer zusammengekauert auf dem Boden. Mac hat das alles registriert. Und ich dachte, ich wäre gut im Beobachten.
»Und?«, sage ich.
Ich weiß immer noch nicht, was ihn das alles überhaupt angeht und worüber wir hier eigentlich reden.
»Und …«, sagt Mac und fängt an, langsam im Kreis herumzugehen. »Sagst du mir, warum du wirklich hier bist?«
Ich senke den Kopf. Seit Monaten, besser gesagt seit Jahren, versuche ich, mich zusammenzureißen, aber nach den Ereignissen des heutigen Tages bin ich kurz davor, auch noch das letzte bisschen Fassung zu verlieren.
»Ich will nicht nach Hause«, gebe ich leise zu.
Er seufzt. »Ich auch nicht.«
Ich beobachte ihn. Seine gleichmäßigen Runden sehen jetzt wie nervöses Herumtigern aus. Mit einem Mal geht mir auf, was mir von Anfang an hätte klar sein müssen: Aus irgendeinem Grund kann dieser Typ nicht still sitzen.
»Also?« Mac wirft die Arme in die Luft, als würde er sich ergeben wollen. »Keiner von uns beiden will nach Hause gehen.«
Seine goldenen Augen blicken durch den Raum hinweg direkt in meine.
»Dann lass uns hierbleiben«, sagt er.