Das Buch

Ein Mann mit verschiedenen Identitäten. Acht spurlos verschwundene Frauen. Und das nächste Opfer steht schon fest …

FBI-Agent Drex Easton hat ein Ziel: den Betrüger Weston Graham zur Strecke bringen. In den letzten dreißig Jahren hat dieser acht wohlhabende Frauen ihres Vermögens beraubt, bevor sie spurlos verschwanden. Drex ist überzeugt, dass die Frauen ermordet wurden, aber Grahams zahlreiche Identitäten haben ihn bisher entkommen lassen. Doch nun scheint er in greifbarer Nähe. Der attraktive Jasper Ford hat vor Kurzem die viel jüngere, erfolgreiche Geschäftsfrau Talia Shafter geheiratet. Drex schleicht sich als vermeintlicher neuer Nachbar unauffällig in das Leben des Paares ein, denn er ist überzeugt: Jasper ist Graham, und Talia sein nächstes Opfer. Doch als Drex’ Anziehung zur schönen Talia immer stärker wird, droht er, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Und auch Talia hat Geheimnisse …

Die Autorin

Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Sandra Brown

Dein Tod ist nah

Thriller

Aus dem Amerikanischen
von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Outfox« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Books Group Inc., New York.


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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Sandra Brown Management Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images/Spring Images/Alamy; www.buerosued.de

JB · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25599-2
V001

www.blanvalet.de

Prolog

Die Leiche am Strand lag hinter einem Schleier aus tristem Nieselregen.

Der Dunst legte Lichtkreise um die Laternen auf dem Pier, doch gegen den gleißenden Schein der von den Ersthelfern aufgestellten Scheinwerfer kam er nicht an. Sie strahlten ihr kaltes Licht auf den bedeckten Körper, als wollten sie ihn in einer grotesken Parodie ins Rampenlicht zerren.

Ein Polizeihubschrauber kam im Tiefflug näher. Sein greller Suchscheinwerfer tastete gnadenlos den Pier in ganzer Länge ab. Kurz zuckte der Strahl über den Jachthafen, wo die Boote in der Dünung schaukelten, deren schläfriger Rhythmus so gar nicht zu der Hektik rundherum passte.

Bevor der Suchscheinwerfer auf die Brandung am Strand schwenkte, schnitt er in einem Bogen über den Leichnam. Im Abwind des Rotors klappte eine Ecke der grellgelben Plastikplane um und deckte dabei eine Hand auf, die reglos und kalkweiß auf dem zusammengedrückten Sand lag.

Seit der Entdeckung des Leichnams hatten sich Beamte diverser Polizeibehörden am Tatort versammelt. Die farbigen Lichter des Such- und Rettungshelikopters blinkten unter den Bäuchen der niedrig hängenden Wolken, die über den Hafen zogen. Jenseits von Fort Sumter pflügte ein Kreuzer der US Coast Guard durch den Atlantik und ließ seinen Suchscheinwerfer über die Wellen streichen. Fernsehübertragungswagen waren eingetroffen und spien ungeduldige Reporter und die dazugehörigen Kameracrews aus.

Auf dem Pier hatten sich die unvermeidlichen Schaulustigen versammelt. Sie rangelten um die besten Plätze, von denen aus sie das Geschehen begaffen, die Aktivitäten von Polizei und Presse verfolgen und Selfies mit dem abgedeckten Leichnam im Hintergrund schießen konnten. Informationen und Spekulationen wurden ausgetauscht.

Man erzählte sich, der Leichnam sei mit der Abendflut an den Strandabschnitt gespült worden, wo ihn ein Mann mit seinem kleinen Sohn entdeckt hätte, als sie ihren schokoladenbraunen Labrador ausgeführt hatten.

Man erzählte sich, es deute alles auf einen Tod durch Ertrinken hin.

Man erzählte sich, es sei die Folge eines Bootsunfalls gewesen.

Keine dieser Hypothesen war korrekt.

Der von der Leine gelassene Labrador war seinem Herrchen vorausgelaufen, und es war der Hund gewesen, der beim Planschen in der Brandung die grausige Entdeckung gemacht hatte.

Einer der Schaulustigen auf dem Pier lächelte schweigend und selbstzufrieden, während er lauschte, wie Fakten, Fiktion und Lamentos ausgetauscht wurden.

Kapitel 1

Drei Wochen zuvor

Die Automatiktüren öffneten sich mit einem leisen Zischen. Drex Eastons Blick schwenkte kurz prüfend durch die Hotellobby, die bis auf die hübsche junge Frau am Empfang leer war. Sie hatte einen Teint wie eine Porzellanpuppe, einen glänzenden schwarzen Pferdeschwanz und begrüßte ihn mit einem unsicheren Lächeln.

»Guten Morgen, Sir. Kann ich Ihnen helfen?«

Drex stellte den Aktenkoffer ab. »Ich habe nicht reserviert, aber ich brauche ein Zimmer.«

»Check-in ist erst ab vierzehn Uhr.«

»Hm.«

»Weil … weil wir den Gästen bis zwölf Uhr Zeit lassen, um auszuchecken.«

»Hm.«

»Das Housekeeping braucht Zeit, um …«

»Das ist mir alles bewusst, Ms. Li.« Er hatte den Namen von dem Schild an ihrem braunroten Blazer abgelesen. Er lächelte. »Ich hatte gehofft, Sie könnten für mich eine Ausnahme machen.«

Er fasste nach hinten, um die Brieftasche aus der hinteren Hosentasche zu ziehen, und öffnete das Anzugsakko dabei so weit, dass das Schulterholster unter seinem linken Arm zu sehen war. Nachdem die junge Frau es bemerkt hatte, blinzelte sie nervös, ehe sie eilig wieder in seine Augen sah, die unverwandt auf sie gerichtet waren.

»Kein Grund zu erschrecken«, sagte er ruhig. Er klappte die Brieftasche auf und zeigte ihr seine Marke und den Ausweis mit Foto, der ihn als Special Agent des Federal Bureau of Investigation auswies.

Er spielte diese Karte so selten wie möglich aus und nur, wenn er Vorschriften und Regulierungen umgehen musste. Sie zog bei Ms. Li, die sich sofort entgegenkommend zeigte.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun.«

Elegante Finger klackerten über die Tastatur. »Einzel- oder Doppelzimmer?«

»Ich bin nicht wählerisch.«

Ihr Blick flog über den Monitor. Sie scrollte abwärts und wieder aufwärts. »Ich kann Ihnen vom Housekeeping ein nettes Doppelzimmer fertig machen lassen, aber das könnte bis zu einer halben Stunde dauern. Oder ich hätte ein nicht ganz so schönes Einzelzimmer, das allerdings sofort.«

»Ich nehme das nicht ganz so schöne Zimmer sofort.« Er schob eine Kreditkarte über die Granittheke.

»Wie lange werden Sie bleiben, Mr. Easton?«

Sie war auf Zack, musste man ihr lassen, und hatte sich seinen Namen gemerkt. »Weiß ich noch nicht genau. Zwei … Zwei Partner werden in Kürze eintreffen. Ich weiß erst nach unserer Besprechung, wie lange ich bleiben werde. Dann sage ich Ihnen Bescheid.«

»Kein Problem. Sie können das Zimmer behalten, bis Sie mir sagen, wann Sie abreisen möchten.«

»Super. Danke.«

Sie zog seine Kreditkarte durch das Kartenlesegerät und checkte ihn weiter ein. Er musste auf dem Formular unterschreiben; dann reichte sie ihm die Kreditkarte zusammen mit der Schlüsselkarte fürs Zimmer zurück. »Sie öffnet auch die Tür zum Fitnesscenter im ersten Stock.«

»Danke, aber das werde ich nicht brauchen.«

»Das Restaurant befindet sich am Ende des Gangs gleich hinter Ihnen. Frühstück gibt es …«

»Auch kein Frühstück.« Er bückte sich und hob seinen Aktenkoffer an.

Sie verstand die subtile Geste und deutete auf die Aufzüge. »Das Zimmer liegt links vom Aufzug auf Ihrer Etage.«

»Danke, Ms. Li. Sie waren mir eine sehr große Hilfe.«

»Darf ich Ihren Kollegen Ihre Zimmernummer geben, wenn sie eintreffen?«

»Das ist nicht nötig, ich schicke ihnen eine Nachricht. Sie können direkt nach oben kommen.«

»Ich hoffe, Ihre Besprechung läuft gut.«

Er lächelte spröde. »Das hoffe ich auch.« Dann beugte er sich vor und raunte ihr zu: »Entspannen Sie sich, Ms. Li. Sie machen das ganz großartig.«

Sie sah ihn bedröppelt an. »Das ist erst mein zweiter Tag. Merkt man mir das so an?«

»Jemand anderer würde wahrscheinlich nichts merken, aber es gehört zu meinem Beruf, Menschen schnell einschätzen zu können. Und wenn das erst Ihr zweiter Tag ist, finde ich es umso beeindruckender, wie Sie mit einem so schwierigen Gast umgehen.«

»So schwierig sind Sie doch gar nicht.«

Er lächelte träge. »Sie haben mich an einem guten Tag erwischt.«

Das weniger nette Einzelzimmer war kein Zimmer, das je in einer Hotelanzeige auftauchen würde, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Drex stellte den Aktenkoffer auf dem Schreibtisch ab, klappte ihn auf und fuhr den Laptop hoch. Er schickte Mike die Zimmernummer und trat dann ans Fenster. Aus dem Zimmer im dritten Stock hatte man freie Sicht auf ein Freeway-Kleeblatt, aber nur wenig mehr.

Er kehrte an den Schreibtisch zurück und checkte den Maileingang. Nichts von Bedeutung. Er verschwand im winzigen Bad und benutzte die Toilette. Als er wieder herauskam, läutete das Hoteltelefon. Er nahm den Hörer ab. »Ja?«

»Mr. Easton?«

»Ms. Li?«

»Ihre Partner sind hier.«

»Gut.« Schneller als erwartet.

»Soll ich Ihnen etwas aus der Küche nach oben bringen lassen? Vielleicht einen Obstteller? Oder eine Gebäckauswahl?«

»Danke, aber nein.«

»Zögern Sie nicht anzurufen, falls Sie es sich anders überlegen.«

»Mache ich, Ms. Li. Noch einmal vielen Dank für Ihre Mühe.«

»Gern geschehen.«

Obwohl die offenen Vorhänge reichlich Tageslicht ins Zimmer ließen, schaltete er die Schreibtischlampe ein. Er drehte den Thermostat um ein paar Grad zurück. Nach einem Blick in den Spiegel über der Kommode kam er zu dem Schluss, dass er präsentabel, aber nicht wirklich schick aussah. Er hatte sich in aller Eile geduscht und umgezogen.

Als er ein leises Klopfen hörte, ging er zur Tür und schaute kurz durch den Spion, bevor er öffnete. Dann trat er zur Seite und ließ die beiden Männer herein.

Im Vorbeigehen eröffnete ihm Gifford Lewis: »Das Mädchen am Empfang hat uns aufgehalten und gefragt, ob wir Mr. Eastons Partner wären. Sie steht auf dich.«

»Alles, was Mr. Easton möchte«, grummelte Mike Mallory. »Also, nachdem sie es schon angeboten hatte, hätte ich mich über die Obstplatte und Gebäckauswahl gefreut. Du könntest immer noch unten anrufen.«

Aus Gewohnheit warf Drex einen prüfenden Blick in den – menschenleeren – Gang, ehe er die Tür schloss und den Riegel vorlegte. »Ihr reißt mich vor Tag und Tau aus dem Schlaf und erklärt mir: ›Such uns was, wo die Wände keine Ohren haben.‹ Und verlier keine Zeit, habt ihr gesagt. Also habe ich keine Zeit verloren, dieses Zimmer gefunden, und jetzt sind wir hier. Scheiß auf die Obstplatte und das Gebäck. Was liegt an?«

Die beiden Besucher sahen sich an, aber keiner antwortete.

»Was ist so streng geheim, dass wir es nicht über die gewöhnlichen Kanäle besprechen konnten?«, fragte Drex gereizt.

Gif lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Mike rollte den Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und zwängte seine hundertfünfzig Kilo zwischen die ächzenden Armlehnen.

Drex stemmte die Hände in die Hüften und sah beide fordernd an. »Verdammt noch mal, macht einer von euch jetzt den Mund auf?«

Mike sah Gif an, der Mike mit einer stummen Handbewegung das Wort überließ. Mike sah zu Drex auf und sagte: »Ich hab ihn gefunden.«

Mikes Stimme klang fröhlich wie eine Totenglocke. Das ihn brauchte keine weitere Erklärung.

Seit Jahren wartete Drex darauf, diese Worte zu hören. In zehntausenden Versionen hatte er sich diesen Moment ausgemalt. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie sein Körper reagieren würde. Vielleicht würden seine Ohren zu klingeln beginnen, sein Mund austrocknen, seine Knie einknicken, sein Atem stocken, sein Herz zerspringen.

Stattdessen lösten sich seine Hände von den Hüften, und eine geradezu übernatürliche Taubheit erfasste seinen Körper.

Auch Gif und Mike hatten offenbar mit irgendeiner Art von Ausbruch gerechnet, denn beide waren sichtlich verblüfft über sein Schweigen und die plötzliche Erstarrung, die ausgesprochen gespenstisch wirkten – sogar auf ihn selbst.

Als sich, eine volle Minute später, die Schockstarre zu lösen begann, trat er noch mal ans Fenster. Keine umwälzende Katastrophe hatte sich ereignet, seit er zuletzt hinausgeschaut hatte. Weder war der Verkehr auf den sich überschneidenden Freeways zum Erliegen gekommen, noch hatten sich zerklüftete Schluchten im Erdboden aufgetan. Der Himmel war ihnen nicht auf den Kopf gefallen, die Sonne nicht erloschen.

Er ließ die Stirn gegen die Scheibe sinken und nahm überrascht wahr, wie kalt sich das Glas anfühlte. »Bist du sicher?«

»Sicher? So wie hundertprozentig? Nein«, antwortete Mike. »Aber auf dem Papier sieht alles danach aus.«

»Alter?«

»Zweiundsechzig. Laut seinem Führerschein.«

Drex drehte den Kopf und zog in einer stummen Frage die Brauen hoch.

»Aus South Carolina«, ergänzte Mike. »Mount Pleasant. Vorort von …«

»Charleston. Ich weiß. Und welcher Name ist angegeben?«

»O nein.«

Das brachte Drex dazu, sich ganz umzudrehen. »Verzeihung? Was soll das heißen?«

»Das heißt«, antwortete Gif, »dass du den Namen erst erfährst, wenn wir wissen, was du mit der Information anfangen wirst.«

»Was zum Teufel glaubt ihr denn, dass ich damit anfange? Zuerst einmal werde ich meinen Arsch nach Charleston bewegen.«

Gif wechselte einen Blick mit Mike, stieß sich dann von der Wand ab und baute sich vor Drex auf. Seine Haltung war nicht bedrohlich, was auch lächerlich gewirkt hätte, weil Drex einen imposanten Körperbau vorzuweisen hatte und Gif ihm bei Weitem nicht gewachsen war. Trotzdem stellte er sich breitbeinig in Position, als hätte er schwere Zweifel an Drex’ Selbstdisziplin und würde nicht auf einen Sieg der Vernunft hoffen.

»Hör zu, Drex. Mike und ich haben auf der Fahrt hierher darüber gesprochen. Wir glauben, du solltest bedenken … Also, es wäre ratsam, wenn … Vielleicht wäre es am klügsten, wenn …«

»Was?«

»Rudkowski benachrichtigt würde.«

»Kommt überhaupt nicht in die Tüte.«

»Drex …«

Drex wiederholte die Aussage, diesmal aber lauter und nachdrücklicher.

Mike warf Gif einen ironischen Blick zu. »Hab ich es nicht gesagt?«

Inzwischen schrillte es sehr wohl in Drex’ Ohren. Jetzt, wo er die Nachricht wirklich begriffen hatte, schoss sein Blutdruck in ungeahnte Höhen. Die Fensterscheibe hatte sich an seiner Stirn nur so kühl angefühlt, weil sein Gesicht vor Fieber glühte. Die Adern in seinen Schläfen pochten. Unter den Haaren war seine Kopfhaut von Schweiß überzogen, und sein Rumpf fühlte sich klamm an.

Er zog das Sakko aus und warf es aufs Bett, wand sich aus seinem Schulterholster und ließ es auf sein Sakko fallen, löste dann den Knoten seiner Krawatte und den obersten Hemdknopf, ganz als könnte die Meinungsverschiedenheit schlimmstenfalls in einen Faustkampf ausarten, auf den er vorbereitet sein wollte.

Bemüht, wenigstens gefasst zu klingen, fragte er noch mal: »Welchen Namen verwendet er?«

»Vorausgesetzt, er ist es wirklich«, schränkte Mike ein.

»Ihr geht davon aus, dass er es ist, sonst hättet ihr dieses Geheimtreffen nicht vorgeschlagen. Ich will alles hören, was ihr über ihn wisst, angefangen mit dem Namen.«

»Kein Name.«

Mike Mallory war ein Guru, wenn es darum ging, Informationen in einem Computer auszugraben, aber er war kein Menschenfreund. Im Allgemeinen verachtete er seine Mitmenschen, die er größtenteils für komplette Vollidioten hielt, wobei Drex und Gif möglicherweise die einzigen Ausnahmen darstellten.

Er war so fähig, dass Drex gewöhnlich seine giftigen Kommentare und seine mangelnden sozialen Fähigkeiten hinnahm, aber jetzt grummelte er einen Fluch, der nicht nur auf Mike zielte, sondern auch auf Gif, der sich in diesem Punkt auf Mikes Seite geschlagen hatte.

»Nur zu«, sagte Mike. »Du kannst uns alles Mögliche heißen. Wir denken dabei nur an dich.«

»Ich denke lieber für mich selbst, vielen Dank.«

»Hör dir erst mal alles an, vielleicht entschließt du dich dann, die Sache lieber nicht selbst in die Hand zu nehmen.«

»Bestimmt nicht.«

Mike zuckte mit den Achseln. »Es ist deine Beerdigung. Aber ich werde dir nicht helfen, dein Grab zu schaufeln, und ich werde mich erst recht nicht zu dir gesellen. Nur als Warnung.«

»Ich bin gewarnt. Ich werde den bescheuerten Namen selbst herausfinden. Setzt mich nur aufs richtige Gleis.«

Mike nickte. »Werde ich machen. Denn ich will genauso wenig, dass er uns entwischt. Falls er es ist.«

Drex richtete sich auf und rollte angestrengt die Schultern, um die Muskeln zu lockern. »Hat der mysteriöse Mann einen Job?«

»Nicht, soweit ich feststellen konnte«, sagte Mike. »Aber er lebt ganz angenehm.«

»Jede Wette«, murmelte Drex vor sich hin. »Wie lange wohnt er schon in Mount Pleasant?«

»Das habe ich noch nicht ermittelt. In seiner aktuellen Bleibe lebt er seit zehn Monaten.«

»Und was ist das für eine Bleibe?«

»Ein Haus.«

»Gemietet?«

»Eigentum.«

»Kreditfinanziert?«

»Falls ja, konnte ich nichts darüber finden.«

»Also bar gekauft.«

Mike hob seine fleischigen Schultern zu einem wortlosen schätze ja.

Gif wandte ein, dass das Haus auch geerbt sein könnte, aber das glaubte keiner, darum wurde der Einwand nicht weiter verfolgt.

»Was ist es für ein Haus?«, fragte Drex.

»Laut der Immobilienanzeige kein neues, sondern aus zweiter Hand«, sagte Mike. »Aber es ist ein angesehenes Viertel. Vornehm.«

»Preis?«

»Anderthalb Millionen und noch was drauf. Auf Google Earth sieht es geräumig und gepflegt aus. Du findest alles hier drauf.« Mike tastete unter seiner Wampe nach der Hosentasche und zog einen USB-Stick hervor.

Drex schnappte ihn aus seiner Hand.

»Wird dir ohne Passwort nichts nutzen, und das kriegst du erst, wenn wir das hier durchgesprochen haben.«

Drex schnaubte. »Ich kann das Passwort hacken lassen. Mir ist klar, dass bei dir der Begriff Nerd eine lächerliche Untertreibung wäre, aber du bist nicht der Einzige, der sich mit Computern auskennt, weißt du?«

Mike hob die Hände. »Wie du möchtest. Besorg dir einen Nerd und lass ihn wühlen. Aber wie wirst du dein Interesse an diesem allen Anschein nach gesetzestreuen Bürger erklären, falls dir jemand auf die Schliche kommt?«

»Einen bezahlten Hacker interessiert es nicht, wieso ich mich für den Mann interessiere.«

»Ein bezahlter Hacker würde ohne zu zögern bei dir abkassieren und dir dann …«

»Das Messer in den Rücken rammen«, stimmte Gif ein.

»Dein Hacker könnte den Mann in South Carolina anrufen und ihm erklären, dass im fernen Lexington, Kentucky, ein Typ sitzt, der ihn ausspionieren lässt.«

Gif übernahm wieder. »Ein Hacker würde dich geradewegs ans Messer liefern, wenn ihm die andere Seite mehr bezahlt.«

»Und dann wärst du es, Special Agent Easton«, fuhr Mike fort und zielte dabei mit einem Stummelfinger auf Drex’ Brust, »den man ausspionieren würde und der dabei erwischt würde, wie er weiß Gott wie viele Verstöße und Verbrechen begeht, und damit hättest du dir jede Chance verbaut, diesen Hurensohn festzunageln. Und nur dafür hast du dein ganzes Leben gearbeitet.« Er holte pfeifend Luft. »Sag uns, dass wir falschliegen.«

Drex ließ sich aufs Fußende des Bettes sinken, stemmte die Hände auf die Schenkel und senkte den Kopf. Nach kurzem Nachdenken sah er auf. »Okay. Kein Hacker. Ich werde mich bremsen. Zufrieden?«

Die beiden anderen sahen sich an, und Gif sagte: »Geh mit etwas Zurückhaltung und Diskretion vor.«

»Stürm nicht mit runtergelassener Hose los«, sagte Mike.

»Mehr verlangen wir gar nicht«, ergänzte Gif.

Drex legte die Hand auf sein Herz. »Ich werde mit Zurückhaltung, Diskretion und hochgezogener Hose vorgehen. Okay?«

Keiner von beiden kommentierte die letzte Bemerkung, und beide wirkten nicht sonderlich überzeugt, trotzdem sagte Mike: »Okay. Nächste Frage?«

»Habt ihr ein Bild von ihm?«

»Nur das auf seinem Führerschein.«

»Und?«

»Darauf sieht er absolut nicht so aus wie bei seinem letzten Auftritt.«

»In Key West«, rief Gif ihnen in Erinnerung, als hätten sie das je vergessen können.

»Man würde nicht darauf kommen, dass es derselbe Mann ist«, sagte Mike. »Und das heißt, dass ich vollkommen falschliegen könnte.«

»Falls er sich täuscht«, sagte Gif, »und du wild entschlossen losstürmst und das Leben dieses Mannes ins Chaos stürzt, wirst du in einer Welt voller Schmerzen landen. Vor allem, falls Rudkowski Wind von der Sache bekommt.«

»Rudkowski kann sich selbst ficken.«

»Wie man hört, hat er das lange versucht, weiß aber nicht, wie er es anstellen soll.«

Gifs Bemerkung entlockte Mike ein seltenes belustigtes Schnauben und Drex ein zaghaftes Schmunzeln. Gif verstand es, eine angespannte Situation zu entschärfen. Er war durchschnittlich groß und schwer, hatte dünnes braunes Haar und kein einziges hervorstechendes Merkmal. Gifs Durchschnittlichkeit diente ihm ausgezeichnet als Tarnung: Er konnte andere beobachten, ohne dass sie ihn bemerkten oder im Gedächtnis behielten, und das machte ihn zu einem unverzichtbaren Mitglied ihres Teams. Außerdem konnte er, wie eben demonstriert, zuverlässig das Verhalten seiner Mitmenschen vorhersagen.

Denn Drex’ erster Impuls war es sehr wohl gewesen, loszustürmen und Chaos anzurichten.

Weil er einen Augenblick brauchte, um seine Gedanken zu ordnen, deutete er auf die Minibar. »Bedient euch.« Er stand wieder auf und begann auf dem schmalen Streifen zwischen Bett und Fenster auf und ab zu gehen.

Mike und Gif suchten sich jeweils ein Getränk aus und rissen ihre Dosen auf. Mike beschwerte sich, dass er eine Schraubzwinge bräuchte, um den Deckel des Nussglases zu öffnen. Gif bot ihm an, es einmal zu versuchen. Mike schnaubte nur und bezeichnete ihn als Schwächling.

Drex blendete ihr Geplänkel aus und konzentrierte sich ganz auf seine Zielperson, einen Mann, den er damals als Weston Graham kennengelernt hatte, was allerdings wohl nur ein weiterer in einer langen Reihe von Decknamen gewesen war. Seit Jahrzehnten war dieser Mann den Behörden immer wieder durch die Lappen gegangen. Inzwischen hätte er auch mit einem Eis in der Hand in dem Wendy’s hinter dem Freeway auftauchen oder Weihrauch in einem Kloster im Himalaja verbrennen können, und weder das eine noch das andere hätte Drex überrascht.

Der Mann war ein Chamäleon, so geschickt konnte er sein Äußeres verändern und sich neuen Lebensumständen anpassen. Er hatte bequem und ohne Verdacht zu erregen in einem Penthouse an der Gold Coast in Chicago gelebt sowie auf einer Pferderanch außerhalb von Santa Barbara und einer Jacht, die in Key West vor Anker gelegen hatte. Andere Örtlichkeiten, in denen er sich eingenistet hatte – und von denen Drex wusste –, waren weniger glamourös gewesen. Das hatte auch nicht sein müssen. Alle waren für ihn äußerst profitabel gewesen.

Als seine Besucher wieder zur Ruhe gekommen waren, fragte Drex: »Wie seid ihr auf den Kerl in South Carolina aufmerksam geworden?«

»Ich kontrolliere routinemäßig alle Fangleinen, die ich ausgelegt habe, aber was mich wirklich stutzig gemacht hat?«, antwortete Mike und rülpste. »Eine Dating-Plattform. Ich gehe davon aus, dass er seine Opfer vorab durchleuchten will, darum treibe ich mich regelmäßig auf solchen Webseiten rum, nur um zu sehen, ob es irgendwo Klick macht. Und vorgestern bin ich über ein Profil gestolpert, bei dem genau das passiert ist. Die Wortwahl hat was losgerüttelt. Es war, als hätte ich den Eintrag schon mal gelesen. Ich hab eine Weile gebraucht, aber dann bin ich fündig geworden. Bis auf die Beschreibung seines Aussehens war es Wort für Wort, Komma für Komma identisch mit dem neuen Profil. Vorlieben, Abneigungen, Fünfjahresziele, Lebens- und Liebesphilosophie. Die ganze Kacke. Aber der Kick? Das erste Profil wurde sechs Monate vor Pixies Verschwinden gepostet.«

Patricia Montgomery, Pixie für ihre Freunde, war aus ihrer Villa in Tulsa verschwunden und nie wiederaufgetaucht.

»Zufall, Mike«, sagte Drex. »Pixies Bekannte haben bei den Befragungen beteuert, dass sie nie im Leben eine Dating-Plattform benutzt hätte, um Männer kennenzulernen.«

»Das haben die Bekannten aller vermissten Frauen beteuert. Sie haben auch beteuert, dass ihre Freundin zu erfahren gewesen wäre, um auf einen Betrüger reinzufallen. Aber Pixie verschwand nur wenige Tage, nachdem sie all ihre Aktien verkauft und das komplette Vermögen aus ihren Ölgeschäften von ihrem Bankkonto abgezogen hatte.«

Gif schaltete sich ein. »Aus ihrem Haus fehlte einzig und allein ihr Rechner. Ihr Verführer ließ Schmuck und Pelze im Wert von mehreren zehntausend Dollar zurück, aber den alten Computer hat er mitgenommen.«

»Damit es keine Hinweise auf einen Online-Flirt gab«, bestätigte Mike. Der Ledersessel stöhnte unter ihm auf, als er sich vorbeugte und Gif das fast leere Glas mit Nüssen aus der Hand nahm. »Du schaust so ernst«, sagte er zu Drex.

»Ich würde mich gern begeistern, aber das ist verflucht dünn.«

»Stimmt. Dünn wie Zwiebelschalen. Darum habe ich mir noch mal das Opfer nach Pixie vorgenommen. Also, sein mutmaßliches Opfer.«

»Marian Harris. Key West.«

»Acht Monate vor ihrem Verschwinden wurde das gleiche verdammte Profil gepostet. Auf einer anderen Datingseite, aber einer, die ebenfalls auf ›erfahrene‹ Kunden mit ›gehobenem Geschmack‹ zielt.«

»Wort für Wort?«, fragte Drex.

»Wie ein Fingerabdruck.«

»Schlechter Witz«, sagte Gif.

Der Mann, den sie suchten, hatte noch nie einen Fingerabdruck hinterlassen. Oder falls doch, hatte ihn niemand gefunden. Er war ein verfluchtes Gespenst.

Mike schüttete die letzten Nüsse aus dem Glas direkt in seinen Mund. »In Pittsburgh war er schneller«, erläuterte er schmatzend. »Er nahm die ›Bekanntschaft‹ mit einer ›eleganten Dame‹ nur drei Monate vor Loretta Doans Verschwinden auf, und das war vor über sechs Jahren.«

»Bieten die Datingseiten, die du durchsuchst, landesweit Vermittlungen an?«

»Ja. Ein Umzug schreckt ihn nicht ab. Ich glaube, das Arschloch liebt die Luftveränderung.«

»Wann wurde das Profil zuletzt hochgeladen?«

»Vor ein paar Monaten.«

Drex verzog das Gesicht. »Er hält Ausschau nach dem nächsten Opfer.«

»Das hab ich auch daraus geschlossen. Also hab ich einen Testballon gestartet. Ich hab ihm geantwortet und dabei ein paar Schlagworte einfließen lassen, die mich nach einer leichten Beute aussehen lassen würden. Ich hab mich als kinderlose Witwe in den Fünfzigern beschrieben, finanziell abgesichert und unabhängig. Ich liebe Haute Cuisine, guten Wein und Kunstfilme. Die meisten Männer finden mich attraktiv.«

»Ich nicht«, sagte Gif.

»Ich auch nicht«, pflichtete Drex ihm bei.

Mike zeigte ihnen den Finger. »Er offenbar auch nicht. Er hat den Köder nicht geschluckt.«

Gif kratzte sich nachdenklich an der Stirn. »Vielleicht hast du zu dick aufgetragen. Vielleicht hast du zu selbstsicher, gebildet und klug geklungen. Er sucht Frauen, die ein bisschen naiv sind. Verletzlich. Du hast ihn verschreckt.«

»Oder«, sagte Drex, »er hat die Schlagworte als solche erkannt, den Braten gerochen und sich ausgerechnet, dass hinter dieser angeblichen Traumlady ein FBI-Agent steckt, der seine Angel ausgeworfen hat.«

»Vielleicht«, sagte Mike. »Aber es gibt noch eine andere, wahrscheinlichere Möglichkeit – und die macht mir Angst. Nämlich, dass er einen Frühstart hingelegt hat. Die Anzeige voreilig rausgegeben hat. Er hat nicht reagiert, weil er noch mit seinem augenblicklichen Opfer beschäftigt ist.«

Es war eine vernünftige Theorie, die Drex umso glaubhafter erschien, weil sich allein bei dem Gedanken sein Magen zusammenkrampfte. »Und das bedeutet, dass diese Frau sich in genau diesem Moment in Lebensgefahr befindet.«

»Schlimmer noch.«

»Was ist schlimmer als Lebensgefahr?«

Mike zögerte.

»Mach schon«, drängte Drex.

Der schwergewichtige Mann seufzte. »Ich wiederhole, Drex, ich kann auch falschliegen.«

»Aber das glaubst du nicht.«

Mike hob die pfannengroßen Pranken.

»Wieso glaubst du, dass es er ist?«, fragte Drex.

»Versprich mir nur …«

»Keine Versprechungen. Wie kommst du darauf, dass dieser Mann unser Mann ist? Mein Mann?«

»Drex, du darfst nicht …«

Gif meldete sich zu Wort: »Rudkowski wird …«

»Raus mit der Sprache, verflucht noch mal!«, übertönte Drex ihre Warnungen.

Nach einer längeren Pause murmelte Mike: »Er ist verheiratet.«

Das hatte Drex nicht kommen sehen. »Verheiratet?«

»Verheiratet. ›Willst du …? Mit diesem Ring … Hiermit erkläre ich euch zu …‹«

Gif bestätigte das mit einem ernsten Nicken.

Drex sah beide abwechselnd an, schüttelte dann perplex den Kopf und lachte schnaubend und bitter enttäuscht. »Na schön, damit hat sich der Fall erledigt, und ihr habt meine Zeit verschwendet. Wenn wir uns beeilen, bekommen wir unten im Restaurant noch Frühstück.« Er schob die Finger durch sein Haar. »Scheiße! Und ich hatte schon Morgenluft gewittert, weil es ganz so aussah, als hätte sich unser einsames Herz wieder auf Wanderschaft begeben und nach seiner Seelenverwandten gesucht. Aber das ist nicht unser Mann, denn eine Ehefrau passt nicht ins Bild.«

»Sie hat einmal durchaus gepasst«, rief Gif ihm ins Gedächtnis.

»Ein einziges Mal. Und seither nicht mehr. Eine Eheschließung mit ›willst du …, mit diesem Ring …‹ passt seit Jahren nicht zu seinem Profil oder seinem Modus Operandi. In keiner Form, Gestalt oder Art.«

»Tatsächlich tut sie das sehr wohl«, widersprach Mike ernst.

»Inwiefern?«

Gif räusperte sich. »Die Frau ist stinkreich.«

Drex sah die beiden nacheinander an. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können, aber die ängstlichen, bedrückten Mienen waren identisch.

Er drehte ihnen den Rücken zu, und dabei fiel sein Blick auf sein Spiegelbild über der Kommode. Selbst ihm fiel auf, dass sich seit seinem letzten Blick seine Haltung verändert, verhärtet hatte, dass er jetzt gespannte Entschlossenheit ausstrahlte. In seinen Augen glühte eine Wildheit, die vor Minuten noch nicht darin gewesen war, bevor er erfahren hatte, dass das Leben einer Frau am seidenen Faden hing. Einem dünnen Faden. Und dass nur er sie retten konnte.

Er sprach leise, aber mit stählerner Härte: »Sagt mir, wie er heißt.«