»Wer die Auslegungen der früheren Korangelehrten als absolut und allein richtig für alle Zeiten auffasst und keine neuen Interpretationen zulässt, der ist wie tot, denn er lebt in einer Zeit, die nicht mehr existiert. Dieser Mensch hat der Menschheit in der Gegenwart nichts mehr zu sagen.«
Imam Benjamin Idriz
Das Plädoyer für einen neuen Umgang mit dem Koran in der Gegenwart – traditionsbewusst und weltoffen; spirituell und vernunftgeleitet.
Benjamin Idriz, geboren 1972 in Skopje/Mazedonien ist Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg und Vorsitzender des »Münchner Forum für Islam«.
BENJAMIN IDRIZ
Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?
GRUNDGEDANKEN FÜR EINEN ISLAM HEUTE UND HIER
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.
Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © imago images / Astrid Schmidhuber
ISBN 978-3-641-24064-6
V002
www.gtvh.de
INHALT
EINLEITUNG: DER KORAN – EIN BUCH, DAS MEINEN HORIZONT ERWEITERT UND MICH VOR EXTREMEN SCHÜTZT
TEXT UND KONTEXT: DREI KRITERIEN, UM DEN KORAN BESSER ZU VERSTEHEN
1. Sabab-an-nuzul: Den Text des Korans in seinem Kontext verstehen
2. Tadabbur: Den Koran reflektierend lesen
3. Maqasid: Den Sinn entdecken – was hat Gott mit seiner Offenbarung gewollt?
DIE SIEBEN SÄULEN DES KORANS
1. Fünf Säulen des Islam? – Eine Anfrage
2. Die erste Säule: Wissen als Grundlage von Aufklärung und gesellschaftlicher Entwicklung
3. Die zweite Säule: Freiheit als Bedingung für Ehrlichkeit und persönliche Entwicklung
4. Die dritte Säule: Frieden stiften, Gewalt vermeiden
Exkurs: Die vier Elemente der Philosophie des Dschihad und des Friedens im Koran
5. Die vierte Säule: Menschen gleich und gerecht behandeln, Diskriminierung bekämpfen
6. Die fünfte Säule: Die Ressourcen der Welt gerecht verteilen, Armut bekämpfen
7. Die sechste Säule: Umwelt bewahren, ökologisches Bewusstsein schärfen
8. Die siebte Säule: Das Leben durch die Religion nicht erschweren
DER ISLAM: EIN WEG ZU GOTT – VERMITTELT DURCH VERSCHIEDENE PROPHETEN
1. Was ist »der Islam« und wer ist »der Muslim«?
2. Die Bedeutung des Wortes islam
3. Umgang mit Differenzen
DER IMÂN: MEHR ALS GLAUBE
1. Der Glaube und die Vernunft
2. Der Glaube und das Herz
3. Der Glaube und die rechtschaffene Tat (amel-salih)
4. Imân statt aqida
DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN GOTT UND MENSCH
1. Gott ist dem Menschen näher als seine Halsschlagader
2. Der Mensch im Fokus der Wertschätzung Gottes
GNADE IST DIE GRUNDLAGE ALLER LEHRE
1. Gnade als das Paradigma für das Verständnis des Islam
2. Die Barmherzigkeitsvergessenheit des Islam – Ursache für Fanatismus und Gewalt
DIE TÄGLICHEN GEBETE ALS TRAINING FÜR MITMENSCHLICHKEIT
1. Das Gebet soll Menschen einander annähern
2. »Allahu Akbar« ist keine Kampfparole, sondern Gottesdienst in Demut
3. Nicht jeder Betende ist Gott gefällig
4. Wer sind die, die den »geraden Weg« beschreiten?
GEBOTE UND VERBOTE – ZWISCHEN GOTT UND MENSCHEN UNTEREINANDER
1. Nur Gott hat die Kompetenz, Dinge für »haram« zu erklären
2. Sünden, Fehlverhalten und Verbote im Koran
3. Zwei Arten von Sünden: die Gott und die den Menschen gegenüber
ISLAMISCH BEGRÜNDETER ANTISEMITISMUS? – EINE NOTWENDIGE REFLEXION ÜBER DIE KORANVERSE ZU DEN JUDEN
1. Alles begann mit dem Wunsch nach einem dauerhaften Bündnis
2. Religiöse, politische und soziale Spannungen mit den Juden in Medina
3. »Nicht alle sind gleich!« – Das Bündnis mit Christen und Juden gilt ungebrochen
»MUHAMMAD-KARIKATUREN«: WIE SOLLTEN DIE MUSLIME MIT BELEIDIGUNGEN UMGEHEN?
1. Ibn Salul als Prototyp des Muhammad-Karikaturisten
2. Warum reagierte der Prophet auf Hetze und Spott so gelassen?
3. Was also tun?
LITERATUR
ANMERKUNGEN
EINLEITUNG: DER KORAN – EIN BUCH, DAS MEINEN HORIZONT ERWEITERT UND MICH VOR EXTREMEN SCHÜTZT
Es ist die 27. Nacht des Monats Ramadan, in der ich diese Einleitung schreibe. Muslimen gilt sie als »Nacht des Schicksals und der Bestimmung«, »Lailatu-l-Qadr«, als die segensreichste Nacht des Jahres, tausend Monaten gleich (Sure 97). Diese Nacht war Zeugin einer Veränderung und des Anfangs einer neuen Ära in der Geschichte der Menschheit, denn in dieser Nacht begann die Offenbarung des Korans mit dem Befehl: Iqra, »Trag vor, lies (bilde dich)!« Der Ramadan ist darum nicht einfach nur der »Fastenmonat«, er ist der Monat, in dem das Buch namens Koran den Menschen als Rechtleitung gegeben und anvertraut wurde (2/al-Baqara, 185). Aber: Fühlen sich die Menschen durch den Koran angesprochen? Hat dieses eintausendvierhundert Jahre alte Buch den Menschen in der heutigen Zeit noch etwas zu sagen? Ich versuche, im Folgenden auf diese Frage zu antworten, aber ohne den Anspruch zu haben, dies in einer abschließenden Weise tun zu können.
In diesen Tagen des Ramadan sitze ich jeden Nachmittag in der Penzberger Moschee vor der Kamera und rezitiere 20 Seiten aus dem Koran. Bis zum Ende des Fastenmonats werde ich auf diese Weise den ganzen Koran vorgetragen haben, coronabedingt nicht vor Zuhörern in der Moschee, sondern via livestream. Einzelne, Eheleute, viele Familien sitzen gemütlich auf dem Sofa, haben YouTube oder Facebook geöffnet und lauschen eine Stunde lang der melodischen Rezitation. Wie viele von ihnen das Arabisch des Korans beherrschen, ist schwer zu sagen, doch Übersetzungen helfen dabei, die Botschaft Gottes zu verstehen. Aber so sehr geht es gar nicht um die Bedeutung der Worte. Was die Herzen der Zuhörenden berührt und manchmal Gänsehaut und Tränen hervorruft, ist der melodische Klang, in der die »beste aller Lehren« (ahasanu-l-hadith) hier zum Ausdruck kommt: »Gott erteilt von droben, Schritt für Schritt, die beste aller Lehren in Gestalt einer göttlichen Schrift, völlig in sich stimmig, jede Aussage der Wahrheit in vielfältiger Form wiederholend – (eine göttliche Schrift) ob derer die Haut aller erschauert, die Ehrfurcht vor ihrem Erhalter haben: (aber) am Ende erweichen ihre Haut und ihr Herz beim Gedenken (der Gnade und des Wortes) Gottes …«1 (39/az-Zumar, 23).
Schon seit meiner Kindheit rezitiere ich den Koran im Ramadan vor Menschen und dank der Jahre, in denen ich Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger Jahre in Damaskus lebte und die arabische Sprache erlernen konnte, verstehe ich, wenn auch nicht immer ganz leicht, das, was ich rezitiere. Immer wieder entdecke ich dabei zu meinem eigenen Erstaunen etwas Neues, und es kommt mir vor, als hätte ich manche Stellen noch nie zuvor gelesen. Der Koran prägt mein Leben seit genau 40 Jahren. Als ich 8 Jahre alt war, las ich ihn zum ersten Mal ganz. Später traf ich dann die Entscheidung, den ganzen Koran auswendig zu lernen. Vor meinem Vater auf dem Boden sitzend übte ich und es gelang mir innerhalb von 17 Monaten. So bekam ich mit 11 Jahren den Ehrentitel »Hafiz« – jemand, der den ganzen Koran auswendig beherrscht. Die wundervolle Feier, die meine Familie zu diesem Anlass ausrichtete, ist in meinen Gedanken immer noch ganz lebendig gegenwärtig. Als damals jüngster Hafiz in Skopje im damals jugoslawischen Makedonien, begann ich, in der Moschee meines Vaters den Koran im Ramadan zu rezitieren. Seitdem prägt mich diese schöne Tradition, die in den Balkanländern und in der Türkei als mukabela bekannt ist. Mukabela heißt so viel wie »Begegnung«; die Begegnung zwischen dem Koranrezitator und den Zuhörenden sowie zwischen beiden und dem Wort Gottes. Diese Tradition fasst jetzt auch in Deutschland Fuß. In vielen Moscheen hierzulande rezitieren die Imame den ganzen Koran einmal während des Ramadan.
Und nicht nur im Ramadan spielt der Koran für mich eine große Rolle. Ich stehe täglich in der Gebetsnische der Moschee, arab. mihrab, die mir Ruhe und Freude beschert, um das Gebet in der Gemeinschaft zu leiten. Die Koranrezitation ist die wichtigste Voraussetzung für die Gültigkeit des Gebetes. Ich stehe wöchentlich auf der Kanzel, arab. minbar, um die Inhalte der Lehre des Korans mit der Gemeinschaft zu teilen. Meine zentrale Aufgabe als Imam ist durch diese beiden Pole bestimmt: mihrab und minbar, durch die Rezitation und die Erklärung dessen, was ich vom Koran wie verstanden habe, ohne dass ich je behaupten würde, mein Verständnis sei das allein gültige und richtige. In diesem Buche teile ich einige meiner Grundgedanken, wie wir als Gesellschaft den Koran verstehen können und vielleicht auch sollten, im Hier und Heute.
Der Koran stellt für mich die primäre Quelle für mein Islamverständnis dar. Er hat eine Korrekturfunktion für die Überlieferungen und die Interpretationen, die nach seiner Offenbarung aufkamen. Diese verdienen nur dann Beachtung, wenn sie mit dem Koran und seinem universellen Geist übereinstimmen. Keine Instanz kann über dem Koran stehen, nicht einmal die Sunna, die dem Propheten Muhammad zugeschriebene Überlieferung, geschweige denn die Interpretationen der Gelehrten.
Der Koran sagt, dass die Torah (5/al-Maida, 44) und ebenso das Evangelium (5/al-Maida, 45) Lichter seien. Das letzte Licht, welches Gott der Menschheit geschenkt hat, aber ist der Koran: »Glaubt denn (o Menschen,) an Gott und Seinen Gesandten und an das Licht (der Offenbarung), das Wir (euch) von droben erteilt haben!« (64/at-Taghabun, 8). Die Metapher des Lichts bestimmt auch einen der schönsten, berühmtesten und wirkmächtigsten Verse des Korans, den so genannten Lichtvers (35/an-Nur, 24): »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis seines Lichtes ist das einer Nische, die eine Lampe enthält. Die Lampe ist in einem Glas eingeschlossen, das Glas leuchtend wie ein strahlender Stern: Eine Lampe, entzündet von einem gesegneten Baum, einem Olivenbaum, der weder vom Osten noch vom Westen ist, dessen Öl ist so hell, dass es beinahe von sich aus Licht geben würde, selbst wenn das Feuer es nicht berührt hätte. Licht über Licht. Gott leitet zu Seinem Licht, wer geleitet werden will, und zu diesem Zweck legt Gott den Menschen Gleichnisse vor, da Gott allein volles Wissen von allen Dingen hat.« Generationen von Korangelehrten zerbrachen sich den Kopf über die Bedeutung dieses Verses. Mit dem »Licht Gottes«, verstärkt formuliert als »Licht über Licht«, ist die Liebe Gottes, Seine Fürsorge, kurzum, Seine Botschaft an uns gemeint. Gott hat jedem Menschen Verstand und Herz gegeben, um dieses Licht zu sehen, zu spüren und ihm zu folgen. Jeder Mensch kann von Seinem Licht profitieren, so weit, wie sein Herz sich öffnet und das Licht hineinlässt. Aber es gibt vieles, das Menschen daran hindert, das Licht zu sehen. Darum sollten Muslime, wenn es um Vorurteile und Unkenntnis gegenüber dem Islam geht, die heute sehr verbreitet sind, nicht nur »die Anderen« beschuldigen, sondern auch das eigene Fehlverhalten und die eigene Unkenntnis erkennen und korrigieren.
Den Koran als leuchtendes und beleuchtendes Buch zu betrachten, bedeutet, in ihm ein Buch zu sehen, das den Horizont erweitert und nicht einschränkt. Er hat eine Korrekturfunktion; alle anderen im Islam und im Namen des Islam entstandenen Werke sind abhängig von ihm, er ist die erste und authentische Quelle. Viele Muslime bauen ihr Islamverständnis aber nicht nur auf dem Koran auf, sondern auf die Überlieferungen und Interpretationen von Gelehrten, die in anderen Zeiten und Umständen gelebt haben, wie auch auf Traditionen und kulturelle Gepflogenheiten, die manchmal der Haltung des Korans diametral entgegenstehen. Je mehr wir Muslime unser Islamverständnis vom Koran her entwickeln, desto mehr wird es uns gelingen, mit unserer eigenen Identität in einer pluralen Welt erfolgreich und – als Musliminnen und Muslime – anerkannt zu sein.
Den Koran verstehe ich dabei nicht als erstarrten und eingefrorenen Text, sondern vor allem als ein offenes und dynamisches Gespräch. Und die in diesem Buch niedergeschriebenen Gedanken kommen aus diesem Gespräch, wie ich es mit meiner Moscheegemeinde in Penzberg in meinen Predigten führe. Ich teile diese Gedanken auch mit der nichtmuslimischen Gesellschaft. Denn der Koran, wie ich ihn verstehe, verpflichtet mich, nicht in einem Getto, abgeschottet, realitätsfern, am Rande der Gesellschaft, sondern im Zentrum und aufgeschlossen zu wirken. Ein Vers bringt das schön auf den Punkt: »Und so haben Wir euch zu einer in der Mitte (wasat) stehenden Gemeinschaft gemacht, auf dass ihr Zeugen seid über die Menschen« (2/al-Baqara, 143). Der Begriff wasat in diesem Vers kann als Zentrum übersetzt werden und bezeichnet hier den Ort einer Gemeinschaft, die weder extremistisch noch schwach, weder isoliert noch assimiliert, sondern souverän, moderat, integriert, aber mit einer erkennbaren Identität Teil des Ganzen ist. Diese Gemeinschaft (der Muslime) hält sich von Extremen fern: von Assimilation ebenso wie von Isolation, von einer Religiosität, der Vernunft, Offenheit und Modernität fehlen, ebenso wie von einer Modernität, der religiöse Identität und Spiritualität fehlen.
In der Mitte zu wirken bedeutet, dort zu sein, wo ganz unterschiedliche Menschen sind: Arbeiter und Akademiker, Junge und Alte, Frauen und Männer, Gläubige, Andersgläubige und Nichtgläubige. Die Menschen wurden beauftragt, inmitten dieser Verschiedenheit durch friedliche Mittel gemeinsam das Konstruktive zu bewirken und das Destruktive zu vermeiden: »Auf dass aus euch eine Gemeinschaft (von Leuten) erwachsen möge, die einladen zu allem, was gut ist, und das Tun dessen fördern, was recht ist, und das Tun dessen verhindern, was unrecht ist: und es sind sie, sie, die einen glückseligen Zustand erlangen werden.« (3/Al ‘Imran, 104). Das Gebot, Gutes zu fordern und zu fördern und das Böse zu verhindern, verlangt eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um ein gemeinsames Bewusstsein dafür zu schärfen, alles, was gut und recht ist, zu verwirklichen.
So hat sich auch der Prophet Muhammad, nachdem er die Offenbarung am Lichtberg erhalten hatte, nicht in die Abgeschiedenheit zurückgezogen, sondern in der Mitte der Gesellschaft gewirkt. Muslime sollen darum nicht isoliert und realitätsfern leben, auch nicht als Gemeinschaft. Es ist längst die Zeit gekommen, dass sie in Deutschland aus abgeschotteten Hinterhofmoscheen herauskommen, um sichtbare Strukturen aufzubauen. Und dabei geht es nicht nur um eine zeitgemäße, attraktive Architektur der Moscheegebäude, sondern auch um die Art und Weise der Moscheearbeit: zeitgemäß, offen, frauen- und fremdenfreundlich und mit Deutsch als Kommunikationssprache. Der Koran betont, dass »Gott niemals einen Gesandten/Propheten anders als in der Sprache seines eignen Volkes entsandt (hat), auf dass er ihnen die Botschaft klarmachen möge.« (14/Ibrahim, 4). Dieser Vers verpflichtet vor allem Imame und islamische Theologen, denen die Funktion zukommt, den Islam zu deuten und zu erklären, die Sprache des Landes zu lernen und in dieser Sprache zu lehren. Und in Deutschland ist das eben Deutsch. Wenn sie das nicht tun, können sie nicht von sich behaupten, sie seien »die Erben des Propheten«2, wie es in einer Überlieferung von Muhammad heißt. Die Sprache und eine offene Kommunikation sind die Schlüssel, um den Koran bzw. den Islam zu entgettoisieren.
Und das gilt auch für den Diskurs. Die Auseinandersetzung des Propheten Muhammad mit den »Leugnern des Korans« war immer von einer Kultur des Dialogs, des Gesprächs und des Austausches geprägt. Er forderte die andere Seite auf, ihre Argumente vorzulegen. Dutzende Beispiele im Koran belegen die kontroversen Diskussionen, die zwischen Muslimen und Nichtmuslimen stattgefunden haben. Der Koran lädt zu einer Streitkultur ein. Auch wenn der Koran ein »erhabenes« Buch ist, ist er doch kein »unantastbares«, über das nicht gesprochen und debattiert werden darf. Seine Auslegung ist eine offene und nicht abgeschlossene Materie. Eine Streitkultur über seine Inhalte ist nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht und sogar notwendig, denn nur so kann das Wort Gottes seine Lebendigkeit bewahren. Selbstverständlich haben die Menschen ein Anrecht darauf, kritische Fragen über den Koran zu stellen. Wenn ein Muslim sich bei solchen kritischen und manchmal provokanten Fragen über die Inhalte des Korans beleidigt fühlt und darauf emotional und aggressiv reagiert oder offenen Dialog verweigert, dann entzieht er sich der Verantwortung. Wer die Auslegungen der früheren Korangelehrten als absolut und allein richtig für alle Zeiten auffasst und keine neuen Interpretationen zulässt, der ist wie tot, denn er lebt in einer Zeit, die nicht mehr existiert. Dieser Mensch hat der Menschheit in der Gegenwart nichts mehr zu sagen.
Dieses Buch versucht, eine Antwort auf Fragen, die Muslime und Nichtmuslime heute stellen, zu geben. Wenn einige Gedanken in diesem Buch ein Streitgespräch in Gang setzen – ob innerhalb der muslimischen Gemeinschaft oder auch innerhalb der nichtmuslimischen Gesellschaft –, dann hat dieses Buch sein Ziel erreicht. Herr Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus, – dem ich sehr herzlich für sein beharrliches Interesse an diesem Projekt danken möchte –, hat mich mit seiner Wahrnehmung, dass es in Deutschland ein neues Leserpublikum für islamische Themen gibt, ermutigt: die Generation junger Muslime, die in Deutschland geboren wurde, die hier aufgewachsen ist und sich mit diesem Land identifiziert. Mein erstes Buchprojekt mit dem Gütersloher Verlagshaus »Der Koran und die Frauen – Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam« (2019), hat bewiesen, dass tatsächlich ein großer Bedarf an Büchern besteht, die sowohl muslimische als auch nichtmuslimische Leser ansprechen. Die junge Generation der Muslime in Deutschland unterscheidet sich von der älteren Generation, die aufgrund sprachlicher Barrieren keine intensiven Berührungspunkte mit der breiten nichtmuslimischen Gesellschaft hatte. Diese neue Generation der deutschen Muslime ist aufgeschlossen, gebildet und interessiert, dieses Land in allen Hinsichten des Lebens mitzuprägen und zu seiner Entwicklung, intellektuell und kulturell, das ihre beizutragen. Sie sind Brückenbauer zwischen Sprachen, Kulturen, Religionen, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Dieses Buch ist vor allem an die heranwachsende Generation der Muslime einerseits und an die Nichtmuslime anderseits gerichtet, die an einer lebhaften Diskussion über den Islam und nicht nur an einer Konfrontation interessiert sind. Die nichtmuslimischen Leser können ihr potenziell stereotypes Bild des Islam hinterfragen und korrigieren und differenzierte Informationen über den islamischen Glauben bzw. den Koran erwerben, die Muslime können den Horizont ihres ererbten oder gelernten Islamverständnisses erweitern und ihrerseits mögliche Fehlinterpretationen korrigieren.
Meine Frau Nermina hat mich maßgeblich in meiner Arbeit unterstützt. Ihr will ich hier meinen Dank in Demut aussprechen. Ich bin nicht in Deutschland geboren, nicht primär hier sozialisiert worden. Jedoch haben mich unsere Söhne Ammar und Emir, die dieses Land geprägt hat, mit ihren reflektierenden Ansichten immer wieder neu zum Nachdenken gebracht. Für ihre vielfältigen Impulse will ich hier ebenfalls meinen Dank aussprechen. Die Vorstandsmitglieder wie auch die Mitglieder meiner Moscheegemeinde haben die innovative Arbeit der Gemeinde maßgeblich vorangetrieben. Ohne deren Unterstützung, für welche ich mich recht herzlich bedanke, hätte die Penzberger Moscheegemeinde wie auch meine Person nicht das erreicht, was wir in 25 Jahren gemeinsam bewirkt haben. Mein geschätzter Freund, Prof. Dr. Stefan Jakob Wimmer (LMU), verdient meinen Dank – auch dafür, dass er mich während der Arbeit an diesem Buch konstruktiv begleitet hat. Nicht zuletzt geht mein herzlicher Dank an alle muslimischen Kollegen und Mitstreiter, wie auch an christliche und jüdische Partner im interreligiösen Dialog, und schließlich auch ganz besonders an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der unsere Arbeit anerkannt und bei seinem Besuch der Penzberger Moschee im Dezember 2019 Folgendes gesagt hat: »Von Journalisten bin ich gefragt worden, was wir an dieser Gemeinde so bewundern, warum wir gerade hierher gekommen sind. Es gibt ja noch die eine oder andere muslimische Gemeinde in Deutschland. Sie dürfen ruhig wissen: Das, was Sie hier tun, ist weit über die Grenzen Penzbergs hinaus bekannt, und ich freue mich wirklich sehr, dass es dieses eine und hoffentlich bald noch viele mehr Beispiele gibt, in denen sich die Menschen muslimischen und nichtmuslimischen Glaubens mit so viel Neugier und so viel Respekt begegnen, wie wir das hier heute in Penzberg erlebt haben. Ihnen allen herzlichen Dank.«3
Dieses Buch widme mich meinem Koranlehrer: meinem Vater – möge Gott seiner Seele gnädig sein.
Benjamin Idriz
Penzberg, Ramadan 1442 n. H./Mai 2021.