Katja Brandis

Und keiner wird dich kennen

Thriller

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Brief

Giftige Gedanken

Flucht

Zu keinem ein Wort

Wer ist Alissa?

Scheiterhaufen

Einbrecher

Eindringlinge

Drei Dinge

Aufbruch

Lügen

Das Mädchen mit den Silberringen

Flugprüfung

Fliegende Tomaten

Schräge Schwestern

Easy Rider

Fast berühmt

Auf dem Drahtseil

Auf der Hut

Versuchung

Wahrheit

HotPink & SunBurn

Das Treffen

Glück und Unglück

Ernstfall

Schuld

Blutspur

Verbündete

Countdown

Kaninchen und Fuchs

Geheimnisse

Abschied vom Winter

Nachwort und Danksagung

Impressum neobooks

Der Brief

Als Maja die Wohnungstür aufschließt und in den Flur tritt, spürt sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Es ist so still. Normalerweise hört ihre Mutter ständig nebenbei Radio, ein Gedudel, ohne das sie nicht auszukommen scheint. Und um diese Uhrzeit ist sie normalerweise von der Arbeit zurück. Außerdem riecht es auch ungewohnt, nach Zigarettenrauch. Majas Herz beginnt schmerzhaft gegen ihre Rippen zu pochen. Gefahr, Gefahr, Gefahr!, schreit diese Stimme in ihr, die einfach nicht verstummen will.

Leise stellt Maja ihren Rucksack im Flur ab, geht zum Wohnzimmer und blickt hinein.

Ihre Mutter sitzt regungslos auf dem Polstersofa. Zwischen ihren Fingern hängt eine Zigarette, von der sich ein bläulicher Rauchfaden zur Decke kräuselt. Mist. Die erste Kippe seit drei Jahren, was ist passiert?

„Hey“, sagt Maja.

Ihre Mutter Lila starrt noch immer auf die Schrankwand gegenüber, in der sich ein Pegasus aus Porzellan aufbäumt. Dann streift sie Maja mit einem kurzen Blick und reicht ihr einen Brief, den sie in der Hand gehalten hat. Ein amtliches Schreiben, inzwischen sieht Maja so etwas auf den ersten Blick – braungraues Papier, kleine eckige Schriftart. Der Absender: Polizeipräsidium Südosthessen. Schnell überfliegt sie den Text, und plötzlich hat sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

... teilen wir Ihnen mit, dass Herr Robert Barsch am 8.2. aus der Haft entlassen wird ... sind gerne zu einem Gespräch bereit, um Ihnen Möglichkeiten zur Eigensicherung aufzuzeigen ... bitte melden Sie sich zur Terminabsprache.

„Ach du Scheiße“, flüstert Maja. „In einer Woche schon?“

„Ist ´ne nette Geste“, sagt Lila und verzieht das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln sein soll. „So was machen die nicht immer, hab ich gehört. Dass die dich benachrichtigen, meine ich. Manchmal erfährt man auch gar nichts und dann steht der Kerl plötzlich wieder vor der Tür.“

Majas Beine tragen sie nicht mehr. Sie lässt sich in den Sessel gegenüber ihrer Mutter fallen und schiebt das Schreiben über die Tischplatte. Einen Moment lang schweigen sie, dann sagt Maja: „Immerhin, er weiß ja nicht, wo wir jetzt leben.“

„Ja“, sagt Lila. „Immerhin.“

Sie haben ihre Spuren verwischt, so gut es geht. Lila hat das Einwohnermeldeamt um eine Auskunftssperre gebeten. Ihre Telefonnummern sind in keinem Verzeichnis zu finden. Alle ihre Freunde und Verwandten wissen, dass sie auf keinen Fall die neue Adresse weitergeben dürfen. Bei Facebook hat Maja keinen Wohnort angegeben, natürlich auch nirgendwo sonst, die Vorsicht ist längst zu einem Teil von ihr geworden.

Reicht das? Es muss reichen. Der Albtraum ist vorbei, er muss vorbei sein!

Erschrocken sieht Maja, dass Lilas Hände zittern. Asche fällt von der Zigarette auf den Teppich. Maja setzt sich neben ihre Mutter aufs Sofa und legt den Arm um sie. „Ist vielleicht besser, du rufst Dr. Salzmann an. Oder soll ich das machen?“

„Nee, lass mal, das kriege ich schon hin.“ Ihre Mutter streicht sich die langen dunklen Locken aus dem Gesicht. Dann steht sie auf und geht im Raum umher, erst zum Fenster, dann zur Zimmertür und zurück zum Fenster. Blickt nach draußen. Zurück zur Tür. Nur kurz hält sie an, um sich eine neue Zigarette anzustecken.

„Er muss sich im Knast ziemlich schlecht benommen haben“, sagt Maja und wundert sich darüber, dass sie selbst so ruhig ist. „Sonst wäre er ja schon vorher auf Bewährung entlassen worden. Kein Wunder. Jemand, der noch im Gerichtssaal herumpöbelt ...“

„Eigentlich hat er nicht gepöbelt“, sagt ihre Mutter abwesend. „Schlimmer. Er war ganz ruhig. Aber das, was er gesagt hat ...“

„Was genau hat er denn gesagt?“, entfährt es Maja. Sie ist nicht dabei gewesen bei der Gerichtsverhandlung damals, vor drei Jahren – ihre Mutter wollte es nicht und sie selbst auch nicht. Elias war damals vier und Maja dreizehn.

Ihre Mutter blickt sie erschrocken an, so, als wäre sie eben erst aus einer Art Trance erwacht. Sie antwortet nicht, holt stattdessen das Telefon. „Ich rufe jetzt erst mal auf dieser Dienststelle an. Vielleicht bekommen wir schon in dieser Woche einen Gesprächstermin.“ Fahrig sieht sie auf die Uhr. „Verdammt, gleich muss ich Elias aus dem Hort abholen.“

Keine Antwort bedeutet wohl, dass ihr der Typ gedroht hat. Auf einmal ist Maja froh, dass Lila eben nicht geantwortet hat. Manche Worte fressen sich in die Seele wie Säure, besser, man erspart sich das.

„Ich muss los!“ Ihre Mutter drückt die Kippe aus, schnappt sich ihre dicke wattierte Jacke und stopft Handy, eine Packung Taschentücher, Hustenbonbons, den Hausschlüssel und allen möglichen anderen Kram hinein, der auf dem Sideboard herumliegt.

In Maja schwappen die Erinnerungen hoch. Jeden Tag lungert er vor der Tür herum. Es fühlt sich an, als kleben seine Blicke auf meiner Haut. Mama hat gesagt, ich soll ihn nicht ansehen, soll einfach so tun, als wäre er nicht da, und ins Haus gehen. Dort sei ich in Sicherheit.

Meine Hände zittern, als sie den Schlüssel im Schloss drehen. „Gib mir den Schlüssel“, sagt der Typ. „Los. Her damit.“ Ich will ins Haus rennen, aber er stellt den Fuß in die Tür, kommt mir nach, entreißt mir den Schlüssel. Noch am gleichen Tag lässt Mama alle Schlösser auswechseln, aber was hilft das schon?

Maja blickt auf die Uhr, aber die Ziffern tanzen vor ihren Augen. Es dauert eine Weile, bis sie einen Sinn ergeben. Fast vier Uhr. Vier. Lorenzo. Gleich sind sie verabredet, wo noch mal? An der Sporthalle. Ja, genau. Er hat ja jetzt Basketballtraining.

Auf dem Weg dorthin nimmt sie zwei Autos die Vorfahrt und übersieht eine rote Ampel. Mit wackeligen Knien stellt sie ihr Fahrrad neben der Sporthalle ab, geht hinein und setzt sich auf die Zuschauerbank am Rand. Das Training läuft noch und Majas Augen suchen nach Lorenzo, finden ihn. Sein verstrubbelter, rotblonder Haarschopf leuchtet förmlich aus dem Pulk der Spieler hervor. Er dribbelt gerade um einen Gegner herum, jede Bewegung rasch und kraftvoll. Schon hat er sich zum Korb vorgearbeitet und wirft. Der Ball prallt mit einem harten Tock am Rand ab und dotzt davon. Anscheinend hat auch Lorenzo heute einen schlechten Tag. Sonst trifft er meistens.

Fünf Minuten später ist das Spiel beendet, und einige der jüngeren Spieler scharen sich um Lorenzo, hoffen auf ein paar Sekunden seiner Aufmerksamkeit, einen Tipp, einen anerkennenden Blick. Noch während Lorenzo sich mit ihnen unterhält, bewegt er sich in Majas Richtung, er hat sie längst gesehen. Verschwitzt und strahlend kommt er auf sie zu, und Majas Herz zerfließt.

„He, willst du das wirklich?“, ruft Lorenzo lachend, als sie sich in seine Arme wirft. „Ich bin klatschnass ...“

„Ist mir egal“, sagt Maja und hört, dass ihre Stimme erstickt klingt. Auch Lorenzo hört es und wird ernst. Sie fühlt seine warme Hand an ihrer Wange, seinen Kuss auf ihren Lippen. „Was ist passiert?“

Doch Maja bleibt stumm, sie bringt die Worte nicht über ihre Lippen. Besser, sie behält es für sich. Es ist beschissen gelaufen in ihrer letzten Schule. Als die Leute dort Wind von der ganzen Sache bekommen haben, hatten sie ihre Sensation, begierig haben sie immer wieder nachgefragt. Wow, das ist ja wie im Krimi, und was genau hat der Typ dann gemacht? Was, die Bullen waren schon wieder bei euch, was ist denn passiert? Aber nach einer Weile gab es andere Dinge, die interessanter waren, und irgendwann hatte Maja das Gefühl, dass es einfach nur nervte, wenn sie schon wieder davon erzählte. Wie sich das wirklich anfühlte, wie schlimm es war, konnten die anderen sowieso nicht verstehen.

Sie will nicht, dass es ihr mit Lorenzo auch so geht. Ihre Zeit mit ihm soll absolut Robert-Barsch-frei sein. Nicht verseucht von all diesem Mist.

Vorsichtig lässt Lorenzo sie los und sieht sie mit einem forschenden Blick an. „Ich dusche ganz schnell, dann bin ich wieder bei dir, ja?“, verspricht er und Maja nickt mechanisch.

Lorenzo hält Wort, schon nach wenigen Minuten ist er wieder da und sieht in seinem schwarzen Kapuzen-Sweatshirt und den Jeans verwegen und unglaublich gut aus.

Minutenlang stehen sie einfach nur auf dem Hof und Lorenzo hält sie ganz fest, während die anderen Leute an ihnen vorbeilaufen. Maja drückt ihr Gesicht in seine Halsbeuge und atmet seinen Geruch nach frisch gebackenem Pizzateig ein, der wie so oft in seinen Klamotten hängt.

„Irgendwas mit deiner Familie? Zoff gehabt?“, versucht Lorenzo es noch einmal, doch als Maja schweigend den Kopf schüttelt, gibt er vorerst auf.

Sie fahren zu ihm nach Hause, und Maja schleppt sich mit Mühe die Treppenstufen des Altbaus hoch, sämtliche Energie scheint sie verlassen zu haben. Seine Eltern sind gerade nicht da und das ist vielleicht besser so. Bei Lorenzos Vater, der aus einem kleinen Ort in Norditalien stammt, hat Maja manchmal das Gefühl, er wünsche sich ein anderes Mädchen für Lorenzo. Eins, das nicht besser in Physik ist als sein Sohn, ein Mädchen, das irgendetwas anderes werden will als Lebensmittelchemikerin – jedes Mal fragt er sie ungläubig, ob sie das ernst meine. Und jedes Mal kommen daraufhin in Maja die Zweifel hoch, ob sie sich dieses lange und schwierige Studium wirklich zutraut. Da hilft es wenig, wenn Lorenzos selbstbewusste, rothaarige Mutter Nelly ihr verschwörerisch zuzwinkert, als wolle sie sagen: So sind sie halt, die Männer. Und wenn die Großeltern da sind, dann ist alles noch schlimmer, irgendwann regt sich Lorenzos Nonna garantiert wieder über Lorenzos holpriges Italienisch auf.

Doch heute ist außer ihnen niemand da.

Lorenzo geht voraus in sein Zimmer, ein gemütliches Chaos aus Klamotten – zum großen Teil ungewaschen –, Bibliotheksbüchern, die bestimmt längst überfällig sind, und selbst gebrannten Foto-CDs. Instinktiv geht Maja zum Fenster, schaut hinaus, kontrolliert wie schon zahllose Male zuvor, ob sie jemand Verdächtiges auf der Straße sieht. Nein, da ist niemand. Erschöpft presst sie die Stirn gegen die Fensterscheibe und fühlt, wie die Kälte in ihre Haut sickert.

„Bleib so“, flüstert Lorenzo und dann hört sie das satte Klack-Klack seiner digitalen Spiegelreflex. Schweigend zeigt er ihr die Bilder, und Maja staunt wieder einmal, wie hübsch sie auf Lorenzos Fotos aussieht. Vielleicht haben er und seine Kamera sich gemeinsam in sie verliebt, und die Bilder zeigen, wie Lorenzo sie sieht. Jedenfalls wirkt das Mädchen auf dem Bild wie eine verbannte Prinzessin, und das sonst so hässliche graue Winterlicht legt einen Perlenschimmer auf ihr langes, eichenholzfarbenes Haar.

„Wir brauchen noch ein Motto für nächste Woche“, sagt Lorenzo, fährt seinen Laptop hoch und ruft Treibgut auf, ihren gemeinsamen Blog. Er fotografiert dafür, sie schreibt. „Diesmal bist du dran.“

Maja weiß, dass er sie ablenken will, und ist ihm dankbar dafür. „Wie wär´s mit Frost und Asche?“ Es ist das Erste, was ihr in den Sinn kommt.

„Wow, du bist ja wirklich gut drauf“, grinst Lorenzo. „Ja, okay. Ich hab schon ein paar Motive dazu im Kopf. Und du? Artikel, Anekdote, Kurzgeschichte?“

„Vielleicht“, erwidert Maja. Am liebsten hätte sie so getan, als wäre alles in Ordnung, aber das ist furchtbar schwer. Und Lorenzo scheint es zu spüren. Er klappt den Laptop wieder zu und hockt sich im Schneidersitz auf sein Bett.

„Komm her“, sagt er sanft und sie geht zu ihm. Doch diesmal schmiegt sie sich nicht an ihn, um sich trösten zu lassen. Auf einmal ist es Wut, die sie fühlt, eine plötzliche heiße Wut auf die Welt. Sie küsst Lorenzo so heftig, dass er überrascht wirkt. Doch schon nach ein paar Momenten hat er sich darauf eingestellt, nimmt die Herausforderung an und küsst sie ebenso wild zurück. Wagemutig lässt Maja die Hände unter sein Kapuzen-Sweatshirt wandern, über die harten Muskeln seines Rückens, über seine glatte Brust, über die Ausbeulung in seiner Jeans. Sie zieht sich den Pullover und das Top über den Kopf, lässt beides auf den Boden fallen.

Was ist los mit ihr? Ein halbes Jahr lang hat sie diesen Moment hinausgezögert und jetzt ist die Furcht davor einfach weg. Wahrscheinlich wird es wehtun – na und?

Lorenzo steht nur noch einmal kurz auf, um die Tür seines Zimmers abzuschließen und in einer Schublade hektisch nach etwas zu kramen – aha, einem Kondom – , dann kehrt er zu ihr zurück. Seine Lippen tasten sich voran, gleiten über ihre Haut, berühren geheime Stellen ihres Körpers. Er wirkt ein klein wenig nervös, schaut immer wieder zu ihr hoch, wartet auf ein Stopp, das nicht kommt. Ein warmer Schauer rieselt durch Majas ganzen Körper, ihr Atem geht schnell.

„So? Ist das gut so, oder ...?“ Lorenzo hält kurz inne. „Ja, ja, und ja“, flüstert Maja, sie will, dass er weitermacht, merkt er nicht, dass es ihr gefällt? Wieso hört er auf? Vielleicht, weil sie jetzt dran ist? Ihre Hände tasten sich vor und Lorenzo keucht auf. Maja streift ihren Slip ab, und endlich kommen von Lorenzo keine Fragen mehr. Wo hört sein Körper auf und beginnt ihrer?

Ja, es tut wirklich einen Moment lang weh und ist auch ziemlich schnell vorbei, aber das macht nichts. Ganz eng liegen sie beieinander und halten sich fest, nackt und verschwitzt unter der Daunendecke. Wow. Sie haben es getan. Sehr viel erwachsener als vorher fühlt Maja sich nicht, vielleicht kommt das noch.

Lorenzo streicht über ihre Wange, lässt einen Finger über ihre Stirn, ihre Nase, ihr Kinn gleiten. So unsagbar zärtlich, dass Maja fast die Tränen kommen. Aber sie kann jetzt nicht weinen, das würde er falsch verstehen.

„Wie gut, dass du mich damals gesucht und gefunden hast“, flüstert sie ihm zu. „Wenn du das nicht getan hättest ...“

„Daran will ich gar nicht denken“, wispert Lorenzo. „Es gibt so viele verpasste Gelegenheiten im Leben ... aber manchmal hat man eben auch Glück ...“

Glück? Hat sie Glück gehabt im Leben? Wenn Maja Lorenzo ansieht, dann steigt eine große Wärme in ihr hoch. Ja. Die furchtbare Zeit in Marburg ist Vergangenheit, ganz sicher ist sie das!, und Lorenzo ist ihre Zukunft. Noch nie hat sie jemanden getroffen, mit dem sie sich so auf Anhieb verstanden hat, mit dem sie so vieles teilen kann.

Irgendwie spürt Lorenzo, dass ihr so einiges durch den Kopf geht, er stützt sich auf einen Ellenbogen und betrachtet sie nachdenklich. Doch Maja will jetzt kein Problemgespräch, sie will genießen, wie sie sich jetzt fühlt. Ganz und gar lebendig. Froh. Geborgen. Das ist ja wohl ein Zeichen, dass sie das Richtige getan haben, oder?

Langsam verfliegt ihre andächtige Stimmung.

„Gut, dass du deine Simpsons-Socken nicht anhattest“, murmelt Maja. „Die Dinger sind so albern, die hätten mich wahrscheinlich im letzten Moment noch abgetörnt.“

Lorenzo grinst im Halbdunkel. „Ach, die hättest du mir doch in Sekundenbruchteilen vom Leib gerissen. Was hast du eigentlich heute gegessen? Was auch immer es war, wir müssen mehr davon kaufen.“

„Ich hätte im Schullabor nichts von diesem neuen Wirkstoff probieren sollen“, frotzelt Maja.

„Damit gewinnst du hundert Pro bei Jugend forscht“, behauptet Lorenzo und streckt seinen durchtrainierten Körper. Kaum zu glauben, dass er als Kind dick gewesen ist und seine Mitschüler ihn “Klops“ gerufen haben. Maja hat es erst geglaubt, als er ihr die Fotos gezeigt hat. Erkannt hat sie ihn nur an den Haaren, dem kleinen Grübchen im Kinn und dem Ausdruck in den Augen.

Maja legt den Kopf auf Lorenzos sommersprossigen Bauch, so dass ihre langen Haare über seinen Körper strömen. „Na, dann drück mir mal die Daumen“, murmelt sie und küsst seine warme Haut. In Wirklichkeit experimentiert sie nicht mit neuen Wirkstoffen, sondern mit einem Warngerät, das einen darauf aufmerksam macht, wenn in der Küche zu viele Schimmelsporen herumfliegen. So richtig ausgereift ist das Ding noch nicht, aber es macht Spaß, daran weiterzuarbeiten.

„Kannst du noch bleiben?“, fragt Lorenzo, sein Blick streift seinen Wecker. „Wie wär´s mit einem Snack? Später muss ich leider noch los. Dutzende von Pizzas warten darauf, ausgeliefert zu werden an lauter Leute, die nicht wissen, dass man am Abend keine Kohlehydrate mehr essen sollte.“

Maja fällt ein, was sie daheim erwartet, und ihre Stimmung sackt ab. Sie schüttelt den Kopf. „Besser, ich bin zum Abendessen daheim. Meiner Mutter geht´s nicht so gut.“

Lorenzo wirft ihr einen forschenden Blick zu, doch er fragt nicht nach. „Schade“, sagt er nur. „Aber morgen sehen wir uns, oder?“

„Ja, logisch“, antwortet Maja, und als sie ihn ansieht, kann sie ihr Glück kaum fassen. „Ach, übrigens, habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?“

Auf seinem Gesicht geht die Sonne auf. „Hm, heute noch nicht, da bin ich mir ziemlich sicher.“

„Ich liebe dich“, flüstert Maja und Lorenzo küsst sie lange.

Dann wirft sich Maja ein T-Shirt über und tappt auf bloßen Füßen zur Dusche.

Giftige Gedanken

Unmöglich. Unmöglich, jetzt zu schlafen. So viel ist geschehen. Maja spürt den Gefühlen von vorhin nach, erinnert sich an Lorenzos Berührungen und lächelt in sich hinein. Ein bisschen wund fühlt sich ihr Körper an, aber das wird vorübergehen. Sie haben es getan. Endlich. Und ausgerechnet heute, nach diesem schrecklichen Brief. Total strange. Den richtigen Moment hat sie sich romantischer vorgestellt, irgendwie. Aber das hier ist eben die richtige Welt und nicht Hollywood...

Dieser Brief. Maja fragt sich, ob ihre Mutter jetzt ebenso wach liegt – wahrscheinlich schon. Fünf Tage. In fünf Tagen ist Robert Barsch frei, und was dann? Wie ein giftiger Dunst steigen die Erinnerungen in Maja hoch.

Noch sind Mama und dieser Robert zusammen. Aber ich wundere mich über die vielen blauen Flecken, stammen die wirklich daher, dass Mama vom Fahrrad gefallen ist? In den ersten Monaten kam mir Robert so nett vor, aber dann hat er immer wieder Sachen gesagt, für die ich ihm am liebsten eine geknallt hätte – wieso lässt sich Lila das bieten, dass er sie Schlampe nennt? Ich glaube, sie hat Angst vor ihm. Robert will nicht, dass Mama Freunde hat, besonders keine männlichen. Wenn jemand anruft, um zu fragen, wie es ihr geht, gibt es Streit. Einmal rastet Robert wegen so etwas völlig aus – Mama kauert auf dem Boden und Robert schlägt auf sie ein, als wäre er verrückt geworden. Ich brülle ihn an, aber er beachtet mich nicht mal. Ich schließe mich im Bad ein und rufe die Polizei an, meine Finger zittern so sehr, dass ich kaum die Nummer wählen kann ...

Die Gedanken wühlen in Majas Magen, sie wegzuschieben klappt nicht. Ablenken. Irgendwie muss sie sich ablenken. Maja nimmt ihr Handy, überlegt, wen sie anrufen könnte. Eigentlich niemanden mehr, nicht um diese Uhrzeit. Lorenzo? Der ist wahrscheinlich noch unterwegs und liefert Pizzas. Eine beste Freundin könnte man schon noch anrufen, aber die muss man erst mal haben. Maja fährt ihren Laptop hoch, geht auf Facebook. 120 Freunde dort, immerhin, das ist doch was. Sie hat eine Einladung von Patrick bekommen zu einer Faschingsparty unter dem Motto „Filmstars“. Klingt lustig. Maja sagt zu, dann postet sie: So ein Mist, ich kann nicht schlafen, zu viel im Kopf, geht es euch auch manchmal so???

Wow, schon nach ein paar Minuten kommen die ersten „Likes“ und mitfühlenden Kommentare.

Ja, klar, kenn ich auch, ich drück dir die Daumen, dass dir bald die Augen zufallen! Das ist von Martina.

Augen zumachen und eine Weile tieeeef durchatmen, das hilft wirklich. Ich drück dich! Cheyenne – die ahnt natürlich nichts von dem Giftmüll in Majas Kopf.

Bin auch noch wach, um diese Uhrzeit bin ich eigentlich am fittesten!, postet Natascha.

Mark schreibt: Schon Schäfchen gezählt?

Depp!

Trotzdem. Es tut gut. Sich nicht allein zu fühlen in dieser Scheißnacht.

Gegen eins legt Maja sich wieder hin. Aber sie ist immer noch nicht müde genug, um sofort wegzudämmern, und schon sind die Gedanken wieder da, aufdringlich wie ein Heer Ameisen.

Irgendwie hat sich Robert wieder in unser Leben gedrängt. Beim nächsten Streit rastet er aus, wirft eine volle Konservendose – nach mir! Ein heftiger Schlag, plötzlich liege ich am Boden, Blut läuft mir in die Augen. Krankenhaus. Mama erstattet Anzeige - und sagt Robert, dass er uns endlich in Ruhe lassen soll, nie wieder will sie irgendetwas mit ihm zu tun haben. Robert ist wütend, so furchtbar wütend. In den nächsten Tagen klingeln alle unsere Telefone ständig. Alle paar Minuten ruft er an, nachts einmal die Stunde, schläft der Typ gar nicht, verdammt? Mama erzählt, dass er ihr jeden Tag Dutzende Mails schreibt. Sie antwortet nicht, aber das scheint ihn nicht zu stören. Wir stöpseln das Telefon aus, Mama beantragt eine neue Nummer, wir ändern unsere Mail-Konten. Aber das macht ihm nichts aus, er ruft sie einfach auf der Arbeit an und schreibt ihr Briefe, die Mama am liebsten verbrennen würde, jedoch als Beweismittel aufheben muss. Ich schaffe es kaum noch einzuschlafen, weil er vielleicht schon wieder vor der Tür steht... und wenn ich schließlich schlafe, dann nur mit fiesen Träumen...

Maja fragt sich, ob die Albträume heute noch wiederkommen werden – vielleicht ist es die Angst vor ihnen, die sie wach hält. Klingt logisch. Aufgedreht und todmüde zugleich wandert Maja durch die Wohnung, redet sich ein, dass sie nichts Bestimmtes sucht. Im Bad ist der Schrank mit Lilas Medikamenten, starkes Zeug hat sie da drin. Zu stark, stärker als sie manchmal. Besser nicht mehr dran denken.

Irgendwie schafft Maja es, am Bad vorbeizugehen. Sie kommt am Zimmer vorbei, in dem Elias schläft, sie kann seinen ruhigen Atem hören. Lila hat wohl geschafft, ihm vorzumachen, dass alles in Ordnung ist. Gott sei Dank. Früher war das anders, da ging das nicht mehr ...

Wir spielen viel drinnen mit Elias, weil wir alle Angst haben, draußen wieder Robert Barsch zu begegnen. Meistens bleiben die Rollläden unten. Elias stellt viele Fragen, will wissen, warum manche Menschen so böse sind und was er eigentlich von uns will. „Er will über uns herrschen, glaube ich – wie so eine Art König“, sagt Lila. „Ein böser König“, sagt Elias und nickt, das versteht er, so was gibt es auch in seinen Märchen. Lila und ich blicken uns an. Ist es das? Oder ist es noch viel schlimmer? Vielleicht will er uns jetzt nur noch bestrafen. Sich rächen dafür, dass Mama ihn nicht mehr will. Uns vernichten.

Kurz darauf schafft es unsere getigerte Katze Jumpy, rauszuschlüpfen auf die Straße. Am nächsten Tag liegt ihre blutige Pfote vor unserer Tür. Es ist eine Botschaft, das ist klar. Wir heulen alle, Elias ist völlig hysterisch. Mama ruft sofort die Polizei an, will wieder einmal Anzeige erstatten, aber sie erfährt, dass es nur eine Sachbeschädigung ist, eine Katze zu töten. Nur eine Sachbeschädigung!

Mamas Anzeigen und Einstweilige Verfügungen beeindrucken Robert Barsch sowieso nicht, er ignoriert einfach, dass er sich uns nicht mehr nähern darf. Die Polizei gibt zur Auskunft, dass sie uns nicht helfen könne.

Bis eines Tages ...

Nein. NEIN! Verdammt, nein! Bloß nicht an all das denken. Maja versucht es mit einer der Übungen, die der Psychologe ihr erklärt hat, und tut ihr bestes, um das heitere Bild in sich heraufzubeschwören. Ich liege auf einer Sommerwiese, über mir der blaue Himmel. Wolken ziehen an mir vorbei. Ich stelle mir vor, dass ich die düsteren Gedanken auf einer dieser Wolken ablege. Sofort fühle ich mich leichter, die Last auf mir ist weg. Die Wolke wird vom Wind über den Himmel geschoben und nimmt die Gedanken mit ...

Es funktioniert, Maja fühlt sich ein wenig besser. Er weiß nicht, wo wir jetzt leben, sagt sie sich immer wieder. Er ist weg, wir sind hier in Sicherheit.

Aber was ist, wenn er aus dem Knast kommt und dann wieder anfängt, sie zu verfolgen? Würden sie das noch mal durchstehen? Müssen sie dann wieder so leben wie damals, im Haus verschanzt, voller Panik, hilflos, ausgeliefert ohne echten Schutz?

Schluss jetzt! Er wird nicht herausfinden, wo wir sind. Klar?

Klar, antwortet Maja sich selbst gehorsam. Sie tappt doch noch ins Bad, aber nur, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Zwei Uhr nachts. Das wird mal wieder toll werden in der Schule, ein endloser Kampf gegen nach unten sackende Augenlider. Wenigstens schreiben sie morgen keine Klassenarbeit, das hätte ihr gerade noch gefehlt.

Maja kriecht unter ihre Bettdecke und schließt die Augen. Die Sommerwiese ist weg und nicht wiederzufinden. Und gerade jetzt bräuchte Maja sie so dringend, schon spürt sie, wie die Vergangenheit über sie herfällt ....

Ich komme von der Schule nach Hause – und schon von Weitem sehe ich das Blaulicht. Je näher ich komme, desto schneller gehe ich, eine furchtbare Ahnung steigt in mir auf. Ja, es ist unser Haus, vor dem Kranken- und Polizeiwagen stehen! Ich frage, was los ist, aber keiner will es mir sagen, ich rede immer lauter, schreie herum ... und dann tragen sie Mama heraus, blutüberströmt, eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht ...

Jetzt erst kommen die Tränen, sie kitzeln auf ihrem Gesicht, sickern ins Kissen. Und seltsam ... das Weinen hilft, endlich ist Majas Kopf leer.

Endlich kann der Schlaf sie zu sich holen.



Der nächste Morgen ist eine Zumutung. Maja fühlt sich, als hätte sie gestern alleine eine Flasche Tequila geleert, die Kopfschmerzen sprengen ihr fast den Schädel. Schweigend beißt sie in ihr Aufbackbrötchen. Lila versucht, fröhlich dreinzublicken. Doch unter ihren Augen zeichnen sich tiefe Schatten ab, ihre Haut sieht aus wie dünnes, zerknittertes Papier und selbst ihre langen, dunklen Locken wirken heute nicht so prachtvoll wie sonst. Sie hat ihre Narben noch nicht überschminkt, man sieht sie an der Schläfe und neben dem Kinn. Aber sie sind verblasst in den letzten Jahren. Vielleicht verschwinden sie irgendwann einmal ganz. Wie die Erinnerungen hoffentlich auch.

„Darf ich noch ein Brötchen süß?“, fragt Elias, sein hellblondes Haar steht noch ungekämmt zu Berge. Er mustert hoffnungsvoll das Glas mit der Schokocreme. Sein grün-orangener Kuscheldrache sitzt neben ihm auf dem Frühstückstisch und scheint die Schnauze in Richtung Schokoglas zu recken.

„Na gut, ausnahmsweise“, antwortet Lila. „Und lass uns mal besprechen, wen du zu deinem Geburtstag übernächste Woche einladen willst.“

Elias blickt auf seinen Teller. „Weiß nich. Nur Lorenzo.“

Maja muss lächeln. Das ist süß, aber eigentlich hatte ihnen eher eine Kinderparty vorgeschwebt. „Wen magst du denn in deiner Klasse?“, versucht sie nachzuhelfen.

„Eigentlich niemand“, sagt Elias. „Die sind alle doof.“

„Ach, wir müssen auch gar keine Party machen“, sagt Lila rasch. „Wie wär´s, wenn wir drei und Lorenzo zusammen Pommes essen gehen?“

Zum Glück nickt Elias und versucht sogar ein Lächeln. Maja lächelt zurück. Was für ein Mist, dass er in seiner Klasse immer noch keinen Anschluss gefunden hat. Wahrscheinlich ist er den anderen zu schüchtern, oder zu uncool. Es tut weh, sich vorzustellen, dass ein lieber Kerl wie er jeden Tag allein auf dem Pausenhof steht und sein Brot in sich hineinmümmelt. Lorenzo hat erzählt, dass er früher auch gemobbt wurde, und unterhält sich immer total nett mit Elias, wenn er Maja besucht. Kein Wunder, dass Elias ihn mag.

Irgendwie schleppt sich Maja durch den Schultag. Lorenzo ist ein Jahr älter als sie und eine Stufe über ihr, sie sieht ihn nur in den Pausen und in der Mensa. Aber allein sind sie keinen Moment lang, und Maja freut sich schon auf den Abend mit ihm. Ob sie wieder miteinander schlafen werden? Will sie das? Sie ist noch nicht ganz sicher, die Stimmung muss passen.

Als Maja heimkommt, wirft sie sich völlig erschöpft aufs Sofa. Mit Jana hat sie ausgemacht, dass sie gegen fünf Uhr anruft, um ihr Kostüm für die Party abzusprechen. Patrick selbst wird als „Man in Black“ gehen, so viel ist schon klar, aber Jana schwankt noch zwischen Lara Croft und irgendeiner Figur aus den Tolkien-Verfilmungen. Maja hat noch keine wirkliche Idee. Sie fühlt sich in der Stimmung für ein King-Kong-Kostüm, am liebsten würde sie jetzt sofort den einen oder anderen Wolkenkratzer umkippen.

Elias ist auch aus Schule und Hort zurück. Mit zwei Vulkan-Büchern unter dem Arm verzieht er sich in sein Zimmer, steckt dann aber noch mal den Kopf durch die Tür und schaut sie mit Dackelblick an. „Hilfst du mir nachher noch, an meinem Vulkan weiterzubauen?“

„Okay“, sagt Maja und seufzt. Elias bastelt seit Wochen an einem fast einen Meter hohen Vulkanmodell aus Pappmaché, das er mit rot-gelben Lavaströmen bemalt hat.

„Er soll nämlich richtig Feuer spucken, und ich weiß nicht, wie ich das hinkriegen soll“, meint Elias.

„Ich müsste mal im Internet nachschauen, ob so was überhaupt geht“, wendet Maja ein. „Außerdem klingt das ziemlich gefährlich.“

„Aber es ist wichtig, dass der Vulkan richtig ausbrechen kann! Sonst kann ich doch nicht ...“

Es ist fünf Uhr und das Festnetz-Telefon klingelt. Ganz kurz wundert sich Maja, warum sich Jana nicht auf dem Handy meldet, aber da hat sie schon abgenommen.

Doch es ist nicht Janas Stimme, die aus dem Hörer dringt. Sondern die eines Mannes. Maja erkennt sie sofort und ein eisiger Schauer rieselt durch ihren ganzen Körper.

„Ihr dachtet, ihr seid mich los, was?“, sagt der Mann. „Aber ich weiß, wo ihr seid. Sag deiner Mutter, sie soll zu mir zurückkommen. Sonst killen wir euch ...“

Das Telefon fällt Maja aus der Hand und kracht auf den Boden.

Nein!

Nein!

Flucht

Zur Schule zu gehen, kommt nicht mehr in frage, zu riskant. Eine halbe Stunde später sitzen sie alle drei bei der Polizei, vor ihnen eine Beauftragte für Familie und Kinder. Lila schreit beinahe. „Wie konnte denn das passieren? Wie kann dieser Mistkerl überhaupt an ein Telefon herankommen, wenn er in Haft ist?“

Die dunkelhaarige Polizeibeamtin, die Koretzki heißt oder so ähnlich, verzieht das Gesicht. „Natürlich darf er im Gefängnis normalerweise nicht telefonieren, das versteht sich von selbst. Aber wenn die wirklich entschlossen sind, schaffen sie es doch irgendwie, sich ein illegales Handy zu besorgen. Oder Drogen, oder sonstwas. Aha, ich sehe in den Unterlagen, dass die Gefängnisverwaltung mehrere seiner Briefe an Sie gar nicht erst an Sie zugestellt hat, weil sie Drohungen enthielten.“

Um Maja dreht sich alles, sie kann kaum klar denken. In ihrem Gehirn läuft eine Endlosschleife. Ihr dachtet, ihr seid mich los, was? Wieso hat sie den Hörer überhaupt abgenommen? Das hat sie jahrelang nicht getan, wer etwas von ihr wollte, musste auf den Anrufbeantworter sprechen. Aber ich weiß, wo ihr seid. Wie hat er das nur herausgefunden? Und die Nummer?

Das Gespräch rauscht an ihr vorbei. „Was ist mit Sicherheitsverwahrung? Können Sie ihn nicht drinbehalten, wegen Rückfallgefahr oder so was? Diese Briefe zeigen doch klar und deutlich, dass er mit uns noch etwas vorhat!“ Lilas Stimme ist noch immer laut, viel zu laut.

„Ich fürchte, so etwas ist rechtlich leider nicht möglich. Wir werden ihn uns natürlich vorknöpfen und ihm klarmachen, dass wir ihn im Auge behalten.“

„Gefährderansprache, ja klar. Hat die Polizei in Marburg auch schon gemacht, aber besonders beeindruckt hat ihn das nicht! Er hat einfach weitergemacht! Dieser Mann meint es ernst, wenn er uns droht!“

„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Köttnitz. Ich weiß, das ist eine wirklich schwere Situation für Sie. Ich werde auf jeden Fall den Kollegen Bescheid geben, damit sie auf Streife besonders häufig an Ihrem Haus vorbeifahren.“

Lila hat den Arm um Elias gelegt, hält ihn ganz nah bei sich. Stumm und verstört hört er zu, am liebsten würde Maja ihm die Ohren zuhalten.

Mit einem schnellen, besorgten Blick prüft Lila, wie es ihm geht, dann atmet sie tief durch. „Danke.“ Maja erkennt den Ton in ihrer Stimme – ihre Mutter versucht gerade, ruhig und vernünftig zu klingen. „Aber ich glaube nicht, dass das reicht. Sie wissen natürlich nicht, was in Marburg schon alles passiert ist. Ist Ihnen klar, dass Herr Barsch wahrscheinlich nicht allein handelt?“

„Sind Sie sicher?“ Die Polizeibeamtin klingt skeptisch. „Stalking und häusliche Gewalt sind gewöhnlich...“

Maja spürt, wie ihre Mutter neben ihr tief Luft holt. „Anders ist nicht zu erklären, was wir erlebt haben. Auf uns ist geschossen worden, während Robert Barsch schon in Haft war. Das steht sicher auch in irgendeiner Akte, vielleicht können Sie mal nachschauen.“

„Zum Glück sind wir nicht getroffen worden“, meldet sich Elias schüchtern zu Wort. „Es hat nur ziemlich laut geknallt.“

„Du erinnerst dich noch daran?“ Die Polizeibeamtin ist erstaunt. „Obwohl das drei Jahre her ist? Wie alt bist du denn?“

„Sieben“, sagt Elias leise und schmiegt sich noch enger in Lilas Arm.

Auch Maja erinnert sich daran. Sie waren gerade von einem Besuch bei Majas Opa Friedrich in einem Vorort von Marburg zurückgekommen und zu ihrem Auto gegangen, als sie plötzlich ein lautes Knallen gehört hatten. Feuerwerk, hatte Maja gedacht ... und dann hatte sie das Loch in der Plakatwand neben sich gesehen. Lila war in einen Blumenladen gerannt, an dem sie gerade vorbeikommen waren, und hatte Elias mit sich gezerrt. Maja war hinterhergestolpert und hinter der Theke in Deckung gegangen, während die Besitzerin des Ladens noch völlig verwirrt das Einschussloch in ihrer Ladentür angestarrt hatte. Während die Spurensicherung am Werk war, hatte eine Streife Lila, Elias und Maja auf die Wache und später zurück zu ihrem Auto gebracht. Kurz darauf waren sie nach Offenbach gezogen – bloß weg!

„Möglicherweise hat er Verbindungen zur Mafia“, berichtet Lila. „Es gab da seltsame Telefonate und Treffen ... Robert hat darauf geachtet, dass ich nichts mithören kann und diesen Leute nicht begegne, aber einmal habe ich gesehen, wie er sich mit zwei Typen, die ziemlich brutal wirkten, vor dem Haus unterhalten hat ... vielleicht hat er diese Leute im Gefängnis kennengelernt? Er war ja schon mal ein paar Monate drin ...“

„Und man weiß gar nichts über diese Leute, die auf Sie geschossen haben? Das ist tatsächlich besorgniserregend.“ Die Polizeibeamtin macht sich Notizen und tippt etwas in den Computer. „Andererseits ist in den letzten drei Jahren nichts passiert, oder?“

Lila wirkt nicht, als fände sie das beruhigend. „Aber wenn er es jetzt geschafft hat, zu seinen Freunden Kontakt aufzunehmen ... das heißt doch, dass wir wieder auf irgendeiner Abschlussliste stehen! Und wenn Robert erst mal draußen ist, wird es noch viel schlimmer ... Es sind nur noch vier Tage, was sollen wir denn machen, verdammt? Wir haben doch schon alles getan!“

Ihr dachtet, ihr seid mich los, was? Ihr dachtet, ihr seid ...

„Maja?“ Jemand redet mit ihr. Mühsam reißt sich Maja zurück in die Wirklichkeit.

„Bist du ganz sicher, dass er wir gesagt hat bei diesem Anruf?“, fragt die Polizeibeamtin.

„Ja, ich bin ganz sicher“, sagt Maja fest.

Sag deiner Mutter, sie soll zu mir zurückkommen. Sonst killen wir euch! „Nach dem, was Sie mir bisher erzählt haben, ist es zumindest möglich, dass er Verbündete hat“, sagt die Polizeibeamtin nachdenklich. „Moment.“ Sie geht in ein anderes Zimmer, redet mit einem Kollegen, dann hört Maja, wie sie telefoniert.

Erschöpft sitzen sie alle drei in diesem Büro, in dem es nach alten Akten, Kaffee und Angst riecht. Elias hat die Ellenbogen auf die Knie gestützt und starrt auf seine geliebten Turnschuhe, in denen bei jeder Bewegung kleine LEDs aufblinken. Lila zieht ihn wieder in ihre Arme, gibt beruhigende Geräusche von sich, doch Maja sieht, dass ihre Augen weit aufgerissen sind. Sie ist völlig fertig, das ist klar. Und um Majas Nerven steht es nicht viel besser, sie fühlen sich an wie angesägte Drähte, die jeden Moment reißen können. Maja überlegt, ob sie Lorenzo anrufen kann, sie sehnt sich so sehr danach, ihm alles zu erzählen. Doch auf dem Weg zur Wache hat sie ihr Handy ausgeschaltet, es ist nicht mehr sicher, vielleicht hat Robert Barsch auch diese Nummer?

Auf irgendeinem Brief steht der Name der Beamtin. KHK Nina Koretzki. Kriminalhauptkommissarin. Maja kennt sich längst mit den Abkürzungen aus. Auf dem Schreibtisch stehen ein paar gerahmte Fotos, eines zeigt ein Pferd – einen Schimmel mit langer Mähne –, ein anderes KHK Koretzki beim Skilaufen mit einem dunkelhaarigen Mann und beim Felsenklettern, unternehmungslustig lächelt sie in die Kamera. Ob sie Kinder hat? Ob sie verstehen kann, wie das ist, wenn einen jemand bedroht und man sich nicht wehren kann?

Dann ist Nina Koretzki zurück, sie sieht noch ernster aus als zuvor. „Vielleicht können wir Ihnen etwas anbieten“, sagt sie. „Aber Sie müssen gründlich darüber nachdenken.“

„Okay“, sagt Lila mit rauer Stimme und legt den Arm um Elias. „Um was geht es?“

„Um einen Platz im Opferschutzprogramm. Das würde bedeuten, dass die ganze Familie eine neue Identität bekommt. Neue Papiere, neue Zeugnisse. Sie könnten an einem weit entfernten Ort neu anfangen.“

Im ersten Moment klingt das wunderbar. Neu anfangen, o ja, nach nichts sehnt sich Maja mehr. Nach einem Leben ohne diesen Hass, ohne diese Angst. Doch schon spricht die Kriminalhauptkommissarin weiter. „Aber das würde bedeuten, dass Sie sämtliche Brücken zu Ihrem alten Leben abbrechen müssten. Kein Kontakt mehr zu den bisherigen Freunden, zu Verwandten. Sie müssen Ihr altes Leben komplett zurücklassen, nur so ist gewährleistet, dass diese Leute Ihnen nicht wieder auf die Spur kommen.“

„Was soll das heißen?“, fragt Maja erschrocken. „Man darf seine Verwandten nie wieder sehen? Aber das ist doch...“

„Das ist ganz, ganz schwer, ich weiß“, sagt Nina Koretzki und kramt aus ihrem Schreibtisch ein Bonbon für Elias hervor.

Elias blickt das Bonbon an, als wüsste er nicht mal mehr, was das sein soll. „Willst du nichts Süßes?“, fragt die Beamtin und schaut drein, als wolle sie ihm am liebsten durch die Haare wuscheln – auf Erwachsene wirkt Elias manchmal so, während die anderen Kinder sich darüber lustig machen, dass er so zart, fast mädchenhaft gebaut ist.

Stumm schüttelt Elias den Kopf.

Nina Koretzki schenkt ihm noch einen mitleidigen Blick und wendet sich an Maja. „Es bedeutet, sich ein ganz neues Leben aufbauen, und keiner wird dich kennen dort, wo du hinziehst.“

Lorenzo. Maja hat eine Gänsehaut, plötzlich fällt es ihr schwer zu atmen. „Was ist mit ... jemandem, den man liebt?“

„Keine Ausnahmen“, sagt Nina Koretzki und begegnet ihrem Blick. „Und keine Abschiedsrituale. Wenn jemand wirklich in Lebensgefahr schwebt, dann darf niemand etwas davon wissen, dass und wann derjenige untertaucht.“

Maja ist noch immer nicht sicher, ob sie richtig verstanden hat. Heißt es, dass sie sich von Lorenzo trennen müsste? Dass sie sich nicht einmal von ihm verabschieden dürfte? Das kann doch nicht sein, oder?

Fahrig streicht Lila ihre dunklen Locken zurück. „Was ist mit meinem Beruf? Könnte ich den weiter ausüben? Wie sollte ich denn beweisen, dass ich überhaupt eine Ausbildung habe?“

„Die Abteilung, die mit Zeugen- und Opferschutz befasst ist, würde Ihnen natürlich neue Zeugnisse organisieren“, versichert die Polizeibeamtin. „Sie wären von einer anderen Firma ausgestellt, damit es keine Verbindung zu Ihrem alten Leben gibt.“

„Haben wir dann einen falschen Pass und so?“ Elias wirkt fasziniert.

„Nein, eure Pässe wären echt. In solchen Fällen wird einfach für den neuen Namen ein Pass bei den Behörden beantragt und ausgestellt.“

Doch Maja hörte kaum noch zu. Sich von Lorenzo zu trennen kommt überhaupt nicht in frage, niemals, das können die so dermaßen von vergessen! Der alte, ungeheure Hass auf Robert Barsch steigt wieder in ihr auf. Dieser Lebenskaputtmacher, dieses Riesenarschloch, sie würde so gerne quitt werden, ihm zur Abwechslung auch mal irgendetwas antun.

„Denken Sie darüber nach, ja?“, sagt Nina Koretzki. „Ich will Ihnen nichts vormachen, es wäre furchtbar schwer für Sie alle, aber ...“

„Es ist jetzt schon furchtbar schwer“, gibt Lila bitter zurück. „Was denken Sie denn? Dass es Spaß macht, sich wie ein gejagtes Tier zu fühlen?“

Darauf geht die Kriminalhauptkommissarin gar nicht erst ein. „Lassen Sie uns darüber nachdenken, was Sie als nächstes tun sollten, in Ordnung? Können Sie und die Kinder ein paar Wochen lang irgendwo anders unterkommen? Da jetzt offensichtlich bekannt ist, wo Sie wohnen...“

Lila atmet aus, knetet sich mit den Fingerspitzen die Stirn. „Ich ... ich weiß nicht ... wir ...“

Tröstend legt Nina Koretzki ihr die Hand auf den Arm. „Denken Sie ganz in Ruhe nach. Sie können auch mein Telefon benutzen. Ihr bisheriges Handy lassen Sie besser ausgeschaltet, besorgen Sie sich möglichst bald ein neues Prepaid – du auch, okay?“ Sie blickt Maja an und Maja nickt.

Die Polizeibeamtin gibt ihnen die Nummer des Weißen Rings, einer Opferschutzorganisation; die hätten einen Spezialisten für neue Identitäten und könnten vielleicht auch mit ganz praktischen Dingen wie dem Handy helfen. Dann geht sie für Lila und Maja einen Kaffee holen, vielleicht auch, damit sie in Ruhe nachdenken können.

Inzwischen hat Lila sich wieder etwas erholt, erleichtert sieht Maja, dass ihre Mutter entschlossener aussieht, nicht mehr so hin- und hergerissen ist zwischen lähmender Angst und Wut. Früher war sie oft so fertig, dass sie beim kleinsten Anlass in Tränen ausgebrochen ist und fast nichts mehr auf die Reihe bekommen hat. Ohne ihren Therapeuten Dr. Salzmann ging in dieser Zeit gar nichts mehr. Und Maja ging es nicht viel besser. Aber in den letzten drei Jahren haben wir Kraft gesammelt, denkt Maja. Drei Jahre normales Leben ... sind die jetzt vorbei, einfach so? Noch kann Maja es nicht begreifen, der Gedanke weigert sich, einzusinken.

„Lasst uns mal überlegen, wo wir unterkommen könnten“, sagt Lila und gibt Elias einen Kuss auf die Nasenspitze. Majas kleiner Bruder sieht so verloren aus wie ein Tier, das man ausgesetzt hat. Auch er scheint langsam zu begreifen, dass sich vieles ändern wird, so oder so.

„Wie wäre es mit einem Hotel?“, schlägt Maja vor. „Oder ist das zu teuer?“ Es ist ein seltsames Gefühl, dass sie noch nicht weiß, wo sie heute übernachten wird. Oder die Tage danach.

Lila verzieht das Gesicht. „Die Hotels in der Gegend wird er garantiert abtelefonieren. Besser wäre irgendein privates Ferienhaus oder ein Gästezimmer in einem Haus.“ Sie überlegen schweigend, dann wählt Lila von Frau Koretzkis Apparat aus eine Nummer. „Eine Kollegin von mir. Rosi. Teamassistentin“, sagt sie dabei, ohne aufzublicken. „Die hat mal angeboten, mir zu helfen. Sie hat selber schon Probleme mit einem Stalker gehabt, sie weiß, wie das ist. Hoffentlich ist sie noch nicht heimgefahren, ich hab nur ihre Büronummer.“

Das Wunder geschieht – diese Rosi ist nicht nur da, sondern ihre Mutter hat auch ein Haus am Stadtrand, in dem mehrere Zimmer leer stehen, seit ihr Mann gestorben ist und die Kinder aus dem Haus sind.

„Sie ruft gleich bei ihrer Mutter an und fragt, ob das in Ordnung geht“, sagt Lila und schweigend warten sie. Warten. Warten. Auch Elias sagt kein Wort.

Lila ruft noch einmal an. Besetzt. Die Zeit dehnt sich endlos, während sie in diesem fremden Büro sitzen, zu sagen gibt es nichts mehr. Maja lässt den Blick über Akten und Flyer wandern. Elias´ kleine, schwitzige Hand wandert zu ihrer, und sie halten sich aneinander fest. In der anderen Hand – ihr ausgeschaltetes Handy. Schon Viertel nach sechs. In weniger als einer Stunde ist sie mit Lorenzo verabredet, sie muss ihm doch Bescheid sagen, was los ist, dass sie wahrscheinlich nicht kommen kann ... soll sie darum bitten, dass sie ihn über dieses Büro-Telefon anrufen kann? Doch ihre Lippen scheinen aufeinander zu kleben.

Frau Koretzki kommt mit dem Kaffee zurück und hat sogar einen Kakao für Elias organisiert. Dankbar trinken sie, obwohl Maja der Kaffee unglaublich bitter vorkommt.

Die Finger der Beamtin klackern über die Tasten, sie schreibt schon mal ihren Bericht. Zehn Minuten später versucht Lila es wieder bei ihrer Arbeitskollegin. Während sie zuhört und nickt, beginnen ihre Augen seltsam zu schimmern. Maja ist alarmiert. Was ist denn jetzt los, warum weint sie? Klappt es doch nicht?

„Alles okay“, sagt Lila, als sie auflegt. „Es gibt doch noch nette Menschen.“

Maja wird klar, dass es Tränen der Erleichterung sind.

Ihre Mutter wendet sich an die Hauptkommissarin. „Aber was ist mit unseren Sachen?“

Nina Koretzki bittet zwei Kollegen, Lila, Maja und Elias noch einmal zu ihrer bisherigen Offenbacher Wohnung zu fahren, das Familienauto muss hier stehen bleiben, es ist ein roter Toyota, der ist in den nächsten Monaten viel zu auffällig. Leicht zu verfolgen. „Denken Sie daran – zu keinem ein Wort“, gibt ihnen die Polizeibeamtin noch mit. „Ihr Leben kann davon abhängen, dass Sie dichthalten.“

Und dann – daheim. Maja sprintet die vertrauten Treppenstufen hoch, ihr Herz hämmert. Schnell holen sie die Koffer aus der Abstellkammer, ihre Hände sind ungeschickt vor lauter Eile. Die Polizisten haben anderes zu tun, als auf sie zu warten, mehr als eine halbe Stunde Zeit ist nicht zum Packen.

„Nur ganz wichtige Sachen und ein bisschen Anziehkram“, schärft Lila Elias ein. Dann steht Maja in ihrem Zimmer, sieht sich hilflos um. Was ist wichtig, was nicht? Als Erstes natürlich ihr Laptop, auf dem ihre Daten und Fotos sind, der kommt in ihren Rucksack, sie schiebt noch den MP3-Player und ein paar Zeugnisse dazu, ihre Bankkarte und das Fotobuch, das sie und Lorenzo mit gemeinsamen Bildern gestaltet haben. Die Riesenmuschel, die sie von ihrem Vater bekommen hat, muss mit, und ihre Sammlung von Vogelfedern, die nimmt nicht viel Platz weg. Drei ihrer Lieblingsbücher, die wichtigsten. Ihr Schmuckkästchen aus Spanien mit schwarz-weißen Einlegearbeiten aus Holz, das hat ihr Lila aus dem Urlaub mitgebracht. Die edle Schreibfeder, die Lorenzo ihr mal geschenkt hat. Sie hat sich furchtbar mit Tinte bekleckert, als sie die ausprobiert hat. Was ist mit ihrer Gitarre? Muss wohl dableiben, die Transporttasche ist kaputt, und außerdem ist sie zu sperrig.Zwischendurch wirft Maja immer wieder Blicke aus dem Fenster, bemerkt eine Bewegung in der Dunkelheit – dort draußen ist jemand! Nur irgendein Nachbar, der mit seinem Hund spazieren geht? Robert Barsch? Nein, kann nicht sein, noch nicht, aber vielleicht einer seiner Komplizen? Instinktiv hält Maja sich vom Fenster fern, die Angst krallt sich in ihren Magen.

Was geschieht mit ihrem kleinen Zitronenbaum, den sie selbst gepflanzt hat und der jetzt auf dem Fensterbrett die Blätter ausbreitet? Wird wohl vertrocknen. Die Patchwork-Decke, die Oma ihr gemacht hat und auf der Majas Name steht? Muss hierbleiben, viel zu groß, hoffentlich wirft die keiner in die Altkleidersammlung. Es ist eine ihrer wenigen Erinnerungen an Oma Helene, die vor einem Jahr gestorben ist. Schon spürt Maja, wie Tränen in ihre Augen drängen. Alles verschwimmt vor ihren Augen, als sie den Kleiderschrank aufreißt, ihre Lieblingsjeans und ein paar andere Klamotten herauszerrt. Zahnbürste, Deo, Bürste.

Auch Elias weint, er hat einen kleinen Berg mit Spielzeug im Flur angehäuft, über den jetzt alle drüberstolpern. „Das ist zu viel, das können wir nicht mitnehmen“, wiederholt Lila immer wieder, während sie Pässe, Impfausweise und ihr Tagebuch in ihre lederne Umhängetasche stopft. Aber dann ist es doch Lila, die das meiste Gepäck hat, gerade verfrachtet sie mehrere Akten über den Prozessgegen Robert Barsch in einen Pappkarton.

Maja zwingt sich zur Geduld und hilft dem schniefenden Elias, seine Sachen in ganz wichtige und weniger wichtige zu sortieren – Lila ist dafür anscheinend zu nervös. Als Maja ihn ganz fest umarmt, beruhigt sich Elias nach und nach wieder. Gemeinsam bringen sie sein Zeug in einem der Koffer unter.

„Ich muss noch mal auf den Dachboden, wir nehmen noch die Reisetasche mit“, ruft Lila und hastet ins Treppenhaus.

Maja weiß, das ist ihre Chance. Hastig rennt sie in ihr Zimmer zurück, reißt ein Stück Papier aus dem Drucker, kritzelt ein paar Worte für Lorenzo darauf.


Liebster Lorenzo, wir müssen weg, es liegt nicht an dir. Ich liebe dich! Maja