Epub-Version © 2022 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74098-991-0
Eine Windbö kam auf und wirbelte den beiden Kindern dicke Schneeflocken ins Gesicht. Pünktchen schüttelte die blonden Locken und lachte hellauf. »Wollen wir eine Schneeballschlacht machen, Heidi?«, rief sie übermütig. »Oder ist es dir lieber, wenn wir einen Schneemann bauen? So einen großen, dicken mit Kohlestücken als Augen und einer Mohrrübe als Nase?«
Als Pünktchen auf ihre Frage keine Antwort bekam, beugte sie sich hinunter zu der Dreijährigen, die in Sophienlust rasch die Herzen aller erobert hatte und zum Liebling von groß und klein geworden war. »Was ist los mit dir, Heidi? Gefällt dir der viele Schnee nicht? Also, ich finde den Winter prima.«
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Pünktchen«, entgegnete Heidi mit merkwürdig belegt klingender Stimme. »Mein Kopf tut auf einmal so weh. Mir ist auch so schrecklich heiß. Am liebsten möchte ich meinen Mantel ausziehen und den dicken Pulli dazu. Meine Beine sind auch so schwer«, setzte sie noch kläglich hinzu. Dann ließ sie das Köpfchen sinken und stand apathisch neben Pünktchen, die schon bei den ersten Worten der Kleinen einen ordentlichen Schrecken bekommen hatte.
»Nun fängt es bei dir also auch an, Heidi«, meinte Pünktchen mitleidig. »Na ja, wenigstens bist du nicht allein. Im Moment leidet ja beinahe ganz Sophienlust an der Grippe. Komm, lass uns rasch zum Haus zurückgehen, damit du möglichst schnell ins Bett kommst. Bestimmt hast du Fieber. Dein Gesicht ist ganz rot. Aber es dauert ja zum Glück nicht lange«, fügte sie tröstend hinzu.
»Die ersten, die mit der Erkältung ins Bett mussten, laufen schon wieder quietschvergnügt herum.«
Liebevoll nahm Pünktchen das kleine Mädchen an der Hand und ging langsam mit ihm zu dem Gutsgebäude zurück, das jetzt, durch die wirbelnden Schneeflocken hindurch, wie ein verzaubertes Märchenschloss aussah. Doch dafür hatte im Moment keines der Kinder ein Auge.
Frau Rennert, die Heimleiterin, stand gerade in der Halle, als die beiden Mädchen ins Haus kamen.
»Tante Ma, Heidi muss sofort ins Bett«, rief Pünktchen ihr entgegen. »Ich glaube, es hat sie jetzt auch erwischt. Sie klagt über Kopf- und Gliederschmerzen, und Fieber scheint sie außerdem zu haben.«
»Arme Heidi«, meinte Frau Rennert mitleidig, während sie sich mit einem raschen Blick in das brennende Gesicht der Kleinen von der Richtigkeit von Pünktchens Behauptungen überzeugte. »Doch Frau Dr. Frey wird schon dafür sorgen, dass du recht bald wieder gesund wirst«, fügte sie tröstend hinzu. »Sie ist übrigens gerade droben bei unseren übrigen Patienten. Komm, ich bring dich hinauf zu ihr, damit sie dich gleich untersuchen kann.« Frau Rennert nahm die Kleine auf den Arm und lief mit ihr die breite Treppe hinauf in den ersten Stock.
Auch Pünktchen wollte in ihr Zimmer gehen, um ihren Mantel und die feuchten Schuhe auszuziehen, als plötzlich abermals die Tür aufgerissen wurde und Nick und sein jüngerer Bruder Henrik hereingestürmt kamen. Beide hatten feuerrote Wangen von der frischen Luft und glänzende Augen. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, dass sie kerngesund waren und dass der grassierende Grippevirus ihnen nichts anhaben konnte.
»Wie ist’s, Pünktchen, kommst du mit uns raus in den Park zu einer zünftigen Schneeballschlacht?«, rief Nick ausgelassen, als er das Mädchen erblickte.
»Ich komme gerade von draußen«, entgegnete sie zögernd. »Ich habe Heidi nach Hause gebracht. Sie scheint jetzt auch die Grippe zu haben.«
»Schlimm?«, erkundigte sich Nick teilnahmsvoll.
»Ich weiß es nicht. Frau Dr. Frey muss sie erst noch untersuchen. Sie ist gerade oben.«
»Alle werden krank, bloß ich nicht«, beschwerte sich Henrik plötzlich mit gekränktem Gesicht.
Die beiden anderen drehten sich nach ihm um und musterten ihn verwundert.
»Sag bloß, dir tut’s leid, dass du nicht auch im Bett liegen kannst«, meinte Nick verständnislos. »Krank zu sein ist doch etwas schrecklich Langweiliges …«
»Finde ich gar nicht«, verteidigte sich der Jüngere. »Man braucht nicht in die Schule zu gehen, darf den ganzen Tag im Bett liegen und kriegt alles zu essen, was man sich wünscht. Also, ich finde eine Grippe prima.«
»Versteh ich nicht!«, erklärte Nick und schüttelte den Kopf. »Sonst bist du doch immer froh, wenn du den ganzen Tag draußen sein und mit den anderen Kindern spielen darfst. Jetzt willst du auf einmal das Bett hüten …« Gleich darauf fügte er in dozierendem Tonfall hinzu: »Außerdem hat man auch gar keinen Hunger, wenn man krank ist. Es nützt dir also gar nichts, wenn man dir dann deine Lieblingsspeisen kocht.«
»Trotzdem«, maulte der Kleine. »Ich sehe einfach nicht ein, weshalb die andern alle die Grippe haben dürfen, bloß ich nicht! Sie können zu Hause im Bett bleiben – bloß ich muss in die Schule. Eine Ungerechtigkeit ist das!«
Das Klingeln des Telefons setzte der Diskussion der beiden Brüder ein Ende. Es klingelte ein paar Mal im Büro, doch niemand hob den Hörer ab.
»Tante Ma ist droben bei Heidi«, erinnerte sich Pünktchen plötzlich, »und Carola wird bei den Zwillingen sein. Willst du nicht abnehmen, Nick?«
Der Junge überlegte nur kurz, dann lief er schon ins Büro und nahm den Hörer ab. »Dominik von Wellentin-Schoenecker«, meldete er sich und lauschte, während Bruder Henrik und Pünktchen neugierig unter der Tür stehenblieben.«
»Büro Marina Pavese«, meldete sich am anderen Ende eine außerordentlich arrogant klingende weibliche Stimme. »Ich möchte Frau von Schoenecker sprechen. Möglichst rasch, bitte.«
Die arrogante Stimme war Nick von der erste Sekunde an unsympathisch. Trotzdem erwiderte er höflich: »Meine Mutti ist im Augenblick nicht da. Kann ich ihr etwas bestellen?«
»Dann gib mir ihre Vertreterin, wenn deine Mutter nicht da ist!«, forderte die Stimme barsch. »Aber beeile dich ein bisschen!«
»Ich muss Frau Rennert erst suchen«, erklärte Nick, nur noch mit Mühe den höflichen Ton beibehaltend. »Einen Moment, bitte …«
»Nicht nötig. Ich habe keine Zeit, stundenlang am Telefon zu warten!«
Klack! Damit war die Verbindung unterbrochen.
Ganz verdattert legte Nick den Hörer auf die Gabel zurück. »Also, so etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert!«, entrüstete er sich gleich darauf. »Sie hat mich behandelt, als ob ich ein unmündiges Baby wäre.« Nicks Stolz war tief getroffen. »Dabei bin ich doch schon fast erwachsen!«
»Wer war’s denn überhaupt, Nick?«
Pünktchen konnte ihre Neugier nicht länger zügeln.
»Büro Marina … Marina …« Nick überlegte. »Es hat so südländisch geklungen. Italienisch vermutlich.« Er legte seine glatte Bubenstirn in tiefe Denkerfalten.
Pünktchen hatte große Augen bekommen. »Marina Pavese vielleicht?«, erkundigte sie sich ein wenig atemlos.
Nick betrachtete sie überrascht. »Ja, so hat sie gesagt«, bestätigte er. »Aber woher weißt du das?«
»Aber Nick!«, tadelte seine langjährige Freundin. »Marina Pavese ist doch eine ganz berühmte Schauspielerin! Früher trat sie nur an Theatern auf. Aber nach den ersten Filmen, die sie gedreht hat, konnte man ihr Bild doch in allen Illustrierten sehen.«
»Ich schau mir selten mal eine Illustrierte an«, rechtfertigte sich Nick. »Höchstens mal beim Zahnarzt im Wartezimmer.«
Pünktchen hörte jetzt überhaupt nicht auf ihn. Schwärmerisch fuhr sie fort: »Sie ist wirklich ganz wunderschön, die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe – außer Tante Isi natürlich!«, fügte sie rasch und völlig überzeugt hinzu. »Und jetzt soll sie nach Hollywood gehen und dort Filme drehen. Was wollte sie eigentlich von Tante Isi, Nick?«
»Weiß ich doch nicht!«, knurrte der Junge, noch längst nicht versöhnt. Was konnte das schon für eine großartige Schauspielerin sein, wenn in ihrem Büro so unhöfliche Leute herumsaßen? Bestimmt war es einer dieser kurvenreichen Stars, die man weitgehend unbekleidet auf der Leinwand bewundern konnte. Aber so etwas fand Nick einfach zum Gähnen langweilig.
»Na, ihr schaut ja so nachdenklich aus, ihr drei!«, sagte in diesem Moment eine weiche, ungemein sympathisch klingende Stimme von der Tür her.
»Mutti!« und »Tante Isi!«, riefen die drei beinahe gleichzeitig und liefen auf die schöne, elegant gekleidete Frau an der Tür zu.
Lachend breitete Denise von Schoenecker die Arme aus. Sie fing die drei Kinder gleichzeitig darin auf. »Guten Tag, Pünktchen«, begrüßte sie zuerst das Mädchen. Dann wandte sie sich an ihre Söhne: »Ich kam gerade mit dem Wagen vorbei. Und da ich eure Angewohnheit kenne, jede freie Minute in Sophienlust zu verbringen, habe ich gedacht, dass ich euch nach Hause mitnehmen könnte. Es wird bald dunkel, und bei dem Schneegestöber, das im Moment draußen herrscht, wüsste ich euch nicht gern unterwegs nach Schoeneich, auch wenn ihr mittlerweile den Weg bereits im Schlaf kennt. So ein Schneetreiben ist tückisch.«
Denise richtete sich auf und rückte ihr Hütchen wieder gerade. »Gibt es hier in Sophienlust etwas Neues, Pünktchen?«, erkundigte sie sich anschließend.
»Ja, jetzt hat auch noch Heidi die Grippe bekommen«, berichtete das Mädchen eifrig. »Glaubst du, dass sie nun bald die Schulen schließen werden, Tante Isi? Die halbe Klasse ist bereits krank, und jeden Tag werden es noch mehr.«
»Ich weiß nicht, Pünktchen«, entgegnete Denise nachdenklich. »So schlimm wie in diesem Jahr war es allerdings noch selten.«
»Die Schulen schließen – das wäre ja herrlich, Mutti!«, rief Henrik plötzlich mit leuchtenden Augen. »Glaubst du, dass es recht lange dauern wird? Ein paar Monate – oder noch länger?« Erwartungsvoll hingen die Bubenaugen am Gesicht der Mutter.
Denise betrachtete ihren jüngsten Sohn verwundert. »Was ist nur los mit dir, Henrik? Früher bist du doch immer gern zur Schule gegangen, doch nun behauptest du plötzlich jeden Morgen, es gehe dir schlecht, du habest schreckliche Halsschmerzen oder sonst etwas. Dabei fehlt dir gar nichts. Sag mal, hat es Ärger mit den Lehrern gegeben?« Besorgt musterte sie das Gesicht des Jungen.
Henrik wich ihren Blicken aus. »Nein, Mutti, die Lehrer sind in Ordnung. Das weißt du doch. Du kennst sie ja.«
Nick fand, dass Henrik nun lange genug das Interesse aller auf sich gezogen habe. Kurz und bündig erklärte er: »Ich glaube, Henrik tut es nur leid, dass er nicht auch die Grippe bekommen hat wie alle anderen. Er will sich bestimmt nur ein bisschen von dir verhätscheln lassen, Mutti. Doch nun muss ich dir etwas ganz Wichtiges sagen. Vorhin hat eine Frau angerufen. Büro Marina Pavese, hat sie gesagt, und dann hat sie nach dir gefragt.«
Wortgetreu wiederholte Nick das für ihn so kränkende Telefongespräch.
Denise hörte ihrem Sohn schweigend zu. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Ich weiß allerdings auch nicht, was ich zu soviel Unhöflichkeit sagen soll«, meinte sie abschließend. »Warst du auch gewiss höflich zu der Dame, Nick?«
»Das war er, Tante Isi!«, verteidigte Pünktchen ihren Freund sofort. »Wir haben beide zugehört, Henrik und ich. An Nick hat es bestimmt nicht gelegen, dass die Dame sich so schlecht benommen hat.«
»Was wirst du nun unternehmen, Mutti?«, erkundigte sich Nick interessiert. »Die Schauspielerin deinerseits anrufen?«
Denise lächelte. »Nein, das werde ich nicht tun, mein Sohn. Wenn es sehr wichtig ist, wird die Dame ohnehin von selbst noch einmal anrufen. Wenn nicht, nun ja, dann um so besser. Unhöfliche Menschen sind mir nämlich genauso ein Gräuel wie dir.«
»Dann ist es ja gut«, erklärte Nick mit einem Aufatmen.
In diesem Moment hörten sie eilige Schritte die Treppe herunterkommen. Denise sah auf. »Ah, Sie sind es, Frau Dr. Frey«, begrüßte sie die junge Ärztin.
Diese strich eine Strähne ihres langen, mittelblonden Haares aus der Stirn und sagte seufzend: »Schon wieder ein neuer Patient, Frau von Schoenecker. Diesmal ist es die kleine Heidi. Frau Rennert bringt sie gerade zu Bett.«
»Ist es schlimm, Frau Doktor?«, erkundigte sich Denise mit besorgtem Gesicht.
Doch die junge Ärztin schüttelte den Kopf. »Nein, da kann ich Sie beruhigen. Die Fälle verlaufen allesamt harmlos. Ein paar Tage Bettruhe, bis das Fieber herunter ist – und dann sind die kleinen Patienten gewöhnlich wieder munter und fidel wie zuvor. Doch nun muss ich mich entschuldigen, Frau von Schoenecker. Ich habe zu Hause nämlich auch eine Patientin. Meine kleine Tochter. Ich habe ihr versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen.«
Denise lächelte. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Frau Doktor. Viele Grüße an Felicitas. Und gute Besserung natürlich.«
»Vielen Dank, Frau von Schoenecker.« Damit war die junge Ärztin bereits draußen.
»So, und wir werden uns nun ebenfalls verabschieden«, sagte Denise zu ihren Söhnen. »Wenn euer Vater nach Hause kommt, möchte er gern sein Abendbrot haben. Es ist unhöflich, ihn unnötig warten zu lassen.« Doch plötzlich schien ihr etwas einzufallen. »Henrik, kommst du bitte mal einen Moment mit mir?«, sagte sie zu ihrem jüngsten Sohn und ging ihm voraus in das Biedermeierzimmer. Der Junge folgte ihr mit gesenktem Kopf.
In dem kostbar ausgestatteten Raum, der eine Atmosphäre des Behagens und der Gemütlichkeit verbreitete, ließ Denise sich in einen der Sessel sinken und zog Henrik an sich. Mit der rechten Hand fasste sie unter sein Kinn und zwang ihn so, ihr in die Augen zu schauen. »Hast du plötzlich kein Vertrauen mehr zu mir, Henrik?«, fragte Denise mit trauriger Stimme.
»Doch, Mutti«, erklärte der Kleine, wich aber den forschenden Blicken aus.
»Wenn du etwas angestellt hast, Henrik – du weißt, dein Vater und ich haben sehr viel Verständnis für die Sorgen der Kinder. Wir bestrafen euch nur sehr selten. Du brauchst also keine Angst zu haben.«
»Ich weiß, Mutti.«
»Und – kannst du mir nicht sagen, was du auf dem Herzen hast, Henrik? Ich möchte dir so gern helfen, mein Junge.«
»Ach, Mutti, das kannst du eben nicht!«, brach es verzweifelt aus Henrik hervor. »Niemand kann mir helfen …« Er verstummte mutlos.
Denise erschrak. Es musste ja weit schlimmer sein, als sie angenommen hatte. Aber was mochte der Kleine nur auf dem Herzen haben? Sie konnte es sich einfach nicht erklären.
Henrik gab sich nun einen Ruck. »Da ist seit letzten Herbst ein Mädchen in meiner Klasse«, begann er endlich. »Sofie heißt sie und ist schon zweimal sitzengeblieben. Sie ist viel größer und stärker als wir anderen in der Klasse. Alle haben Angst vor ihr. Nicht nur ich.«
Insgeheim atmete Denise auf. Das war es also. Er hatte Angst vor einer größeren und stärkeren Mitschülerin, die die Kleineren wohl nicht in Ruhe ließ. Nun, da konnte rasch Abhilfe geschaffen werden. Nachdem Henrik einmal den Anfang gemacht hatte, gab es nun kein Halten mehr für ihn. Aufgeregt sprudelte er hervor: »Wir müssen alles tun, was sie von uns verlangt, sonst droht sie, uns zu verhauen. Sie kann boxen wie ein großer Junge und …«
»Hat sie dich etwa auch schon verhauen, Henrik?«, unterbrach Denise ihren Sohn.
Henrik ließ den Kopf sinken. »Nein, das ist es ja gerade. Mich verhaut sie nie.«
»Das verstehe ich nicht. Warum bist du denn nicht froh darüber, dass sie dich in Ruhe lässt?
Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sagte Henrik: »Sie verhaut mich nur deshalb nicht, weil sie mich liebt. Zumindest hat sie das behauptet. Und wenn wir einmal groß sind, will sie mich heiraten. Als ich ihr sagte, dass ich sie aber nicht heiraten wolle, hat sie gesagt, dann würde sie mich so verhauen, dass ich nicht mehr sitzen könnte. Sag, Mutti, – muss ich Sofie später heiraten? Sie ist doch so dick und hässlich …« Mutlos ließ er den Kopf sinken.
Denise konnte nur mit Mühe ein Lächeln verbeißen. Todernst entgegnete sie: »Selbstverständlich musst du diese Sofie nicht heiraten, Henrik. Wenn sie ein bisschen älter geworden ist, wird sie schon von selbst begreifen, dass man Liebe und Zuneigung nicht ausgerechnet mit Drohungen und Schlägen erzwingen kann. Nur Mut, mein Sohn! Ihr werdet mit dieser kleinen Tyrannin schon fertig werden, wenn ihr alle zusammenhaltet. Wenn man sich einschüchtern lässt, hat man bereits den ersten Schritt zur Niederlage getan. Das musst du dir merken. Aber nun müssen wir wirklich nach Hause fahren. Vati macht sich sonst Sorgen um uns.«
Denise nahm Henrik an der Hand und stellte mit einem verstohlenen Blick in sein Gesicht fest, dass seine Augen schon wieder viel fröhlicher in die Welt schauten als noch vor wenigen Minuten. Wenn man nur alle Probleme so leicht aus der Welt schaffen könnte wie dieses! dachte sie beklommen. Ein paar Wochen lang hatte es keine Aufregungen in Sophienlust gegeben – dann war prompt diese Grippeepidemie gekommen. Die Hälfte der Kinder war nun bereits krank gewesen. Hoffentlich gab es nicht noch verspätete Komplikationen.
Völlig in Gedanken war Denise vor die Haustür getreten. Erst als die ersten Flocken ihr Gesicht trafen und sofort schmolzen, kehrte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Wir werden langsam fahren müssen, Mutti«, sagte Nick neben ihr. »Man sieht kaum noch die Hand vor den Augen. Und Nebel kommt außerdem auf.«
Denise nickte. Sie wollte sich jetzt ausschließlich auf die Heimfahrt konzentrieren.
An den mysteriösen Anruf dachte längst niemand mehr.
*
Am nächsten Morgen schien die Sonne auf eine glitzernde Märchenwelt. Die ganze Nacht hindurch hatte es geschneit. Dick lag nun der Schnee auf Ästen und Zweigen. Er funkelte und glitzerte in der Sonne, als habe jemand unzählige Diamanten über der Landschaft ausgestreut. Oder als sei ein talentierter Zuckerbäcker am Werk gewesen.
Als die Kinder am Morgen vor das Haus traten und ihre Busse besteigen sollten, um in die Schule zu fahren, gab es zunächst eine kleine Schneeballschlacht. Die frisch gefallene weiße Pracht hatte ganz einfach dazu verlockt. Doch nachher stiegen die Kinder brav in ihre Busse, um pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Manche hatten noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, dass es doch noch ein paar Tage zusätzlicher Ferien geben würde. Lehrer waren schließlich auch nicht gegen die Grippe gefeit.
Erst mittags kehrten die Kinder aus der Schule zurück, denn der Unterricht hatte wie gewohnt stattgefunden. Gerade als sie die beiden Busse verließen, glitt völlig geräuschlos ein großer schwerer Wagen die Auffahrt entlang und hielt vor der breiten Freitreppe.
Fabian, der sich als richtiger Junge in Wagentypen gut auskannte, erklärte mit respektvoll gedämpfter Stimme: »Das ist ein Rolls-Royce. Den sieht man selten hier in Deutschland. Der ist ganz schrecklich teuer.«
Doch die Mädchen hatten nur Augen für die Frau, die dem Wagen nun entstieg, nachdem ein uniformierter Chauffeur herausgesprungen war und eine der Türen aufgerissen hatte.
Die Frau war tatsächlich wunderschön. Ihre zarte schmale Gestalt wurde von dem flauschigen Mantel fast völlig eingehüllt. Ein großer Hut mit einem glockigen Rand beschattete ihr Gesicht, das sie zudem noch gesenkt hatte. Doch einmal hatte die Kinder ein Blick aus den riesigen grünen Augen getroffen, sodass sie alle verstummt waren. Sie blickten der Dame noch lange stumm nach, nachdem sich das Portal hinter ihr geschlossen hatte.
Erst nach einer Weile erwachten die Kinder aus ihrer andächtigen Versunkenheit. »Das war Marina Pavese. Ich hab sie genau erkannt«, berichtete Pünktchen aufgeregt den übrigen Kindern. »Gestern hat jemand aus ihrem Büro angerufen, und nun ist sie selbst gekommen.«
»Da, in dem Wagen, da sitzt ein Kind«, unterbrach Fabian sie. »Ob das Mädchen zu uns kommen soll?«
Die Aufmerksamkeit aller wandte sich nun wieder dem großen Wagen und seinen Insassen zu.
Tatsächlich, im Fond saß ein etwa achtjähriges Mädchen mit langen, goldblonden Haaren. Es blickte mindestens ebenso interessiert heraus zu den Kindern, wie diese den unbekannten Gast musterten. Es war ein ausgesprochen hübsches Kind mit runden, rosig angehauchten Wangen und großen blauen Augen. Es trug ein weißes Mäntelchen und ein dazu passendes Mützchen.
Doch das Mädchen saß nicht allein im Fond des Wagens. Neben ihm erkannten die Kinder einen Schäferhund, der die treuen braunen Augen keine Sekunde von dem Gesicht des Mädchens ließ. Nun wandte sich die Kleine ihrem treuen Begleiter zu und strich ihm zärtlich über den schönen schmalen Kopf. Jetzt beugte sie sich hinab zu ihm und presste ihr Gesicht in sein Fell. Dabei zuckten ihre schmalen Schultern unter dem Fell des Mantels, als schüttle sie ein heftiger Weinkrampf. Als sie Minuten später wieder aufblickte, waren ihre Augen tatsächlich rot von Tränen.
Pünktchen, die es als taktlos empfand, das unbekannte Mädchen in seinem Schmerz zu beobachten, sagte rasch: »Kommt, wir müssen reingehen zum Essen, sonst schimpft Tante Ma. Wir sind heute ohnehin spät dran, weil die Busse durch den vielen Schnee nur langsam vorwärtsgekommen sind.«
Von den Kindern widersprach keines. Hinter Pünktchen trotteten sie alle ins Haus und verstauten ihre Schulmappen. Selbst die Kleineren schienen zu erkennen, dass man das unglückliche Mädchen jetzt besser allein ließ.
Unterdessen hatte die schöne Frau im Mantel, in der Pünktchen Marina Pavese erkannt hatte, längst die Halle betreten. Carola Rennert war ihr als erste begegnet. Mit freundlichem Lächeln stellte sie sich vor und fragte die Besucherin anschließend, wen sie zu sprechen wünsche.
Mit einer ein wenig heiser klingenden Stimme, deren gepflegte Aussprache Carola sofort auffiel, sagte die Besucherin: »Mein Name ist …« Es folgte ein kurzes Zögern, dann fuhr sie fort: »Ich heiße Manuela von Wild und möchte gern Frau von Schoenecker sprechen, sofern ich ihr damit keine zu großen Ungelegenheiten bereite.«
Carola stellte überrascht fest, dass die Besucherin nicht nur wunderschön, sondern auch ausgesprochen rücksichtsvoll war. »Sie haben Glück, Frau von Schoenecker ist vor wenigen Minuten eingetroffen«, antwortete sie. »Wenn Sie hier bitte einen Augenblick warten wollen?« Carola führte die Besucherin in das Biedermeierzimmer und ging anschließend ins Büro, um Denise über den Besuch zu unterrichten.
Die Besucherin, die sich Manuela von Wild genannt hatte, blickte sich bewundernd in dem hübschen Zimmer mit den alten Möbeln um. Man sah ihr deutlich an, dass sie einen solchen Raum in einem Kinderheim nicht erwartet hatte. Doch zugleich schien sie sehr angetan zu sein von allem, was sie erblickte. Tief aufatmend knöpfte sie ihren Mantel auf und ließ sich in einen Sessel sinken.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu lange warten lassen«, sagte da plötzlich eine Frauenstimme hinter ihr.
Manuela sprang auf wie ein Schulkind und drehte sich um. Sekundenlang musterten die beiden Frauen einander unauffällig. Manuela von Wild schien tief beeindruckt von Denises Schönheit und von der Güte und dem Verständnis, die aus ihren Augen sprachen.
Doch auch Denise war überrascht von der aparten Erscheinung ihrer Besucherin. Der breitrandige Hut beschattete ein ebenmäßiges Gesicht, das ganz von den großen grünen Augen beherrscht wurde. Die langen rotblonden Locken waren außerordentlich gepflegt, und das elegante schwarze Wollkleid, das die Besucherin unter dem Mantel trug, stammte aus einem erstklassigen Schneideratelier.
Doch die Frau benahm sich keineswegs wie eine gefeierte Schönheit. Beinahe demütig bat sie Denise: »Bitte, entschuldigen Sie, dass ich so unangemeldet hier hereinplatze. Meine Sekretärin hätte mich bei Ihnen anmelden sollen, doch wie ich hörte, waren Sie gestern leider nicht anwesend.«
Denise neigte den Kopf mit den schwarzen Haaren. »Bitte, nehmen Sie wieder Platz, Frau von Wild«, bat sie. Dann fuhr sie fort: »Ich bin nicht ständig in Sophienlust. Frau Rennert führt an meiner Stelle hier die Aufsicht als Heimleiterin. Ich selbst wohne mit meiner Familie drüben auf Gut Schoeneich. Doch wir wollten ja nicht von mir sprechen. Was führt Sie zu mir, Frau von Wild?« Erwartungsvoll blickte Denise ihre Besucherin an.
Manuela von Wild ließ den Kopf sinken. Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Zunächst möchte ich Sie um Verzeihung bitten für das ungehörige Benehmen meiner Sekretärin gestern. Wie ich später erfahren habe, war einer Ihrer Söhne am Apparat, Frau von Schoenecker, und meine Sekretärin soll sich sehr unhöflich benommen haben.«
Denise sagte mit einem kleinen Lächeln: »Ich habe davon gehört. Doch Nick hat es rasch wieder verschmerzt.«
Die schöne Besucherin hielt noch immer den Kopf gesenkt, als sie antwortete: »Trotzdem ist mir die Sache außerordentlich peinlich. Zu mir ist Frau Hämmerle immer ausgesprochen höflich. Doch gestern, als sie mich bei Ihnen anmelden sollte, wurde meine kleine Tochter zufällig Zeugin dieses Gesprächs. Sie war völlig außer sich über den Ton, den meine Sekretärin Ihrem Sohn gegenüber angeschlagen hat.« Manuela von Wild hielt einen Augenblick inne und fragte dann mit der gleichen leisen Stimme wie zuvor: »Darf ich rauchen?«
»Selbstverständlich«, sagte Denise rasch und schob ihr einen der schweren Kristallaschenbecher hin. Sekunden später konnte sie beobachten, wie ihre Besucherin mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette anzündete und in hastigen Zügen rauchte. Die Frau hatte etwas auf dem Herzen, das erkannte Denises geschultes Auge sofort.
Da begann ihre Besucherin auch bereits wieder zu sprechen. »Ich werde mir in letzter Zeit immer stärker bewusst, dass ich all die Jahre blind für meine Umgebung war. Ich habe nur für meinen Beruf gelebt – und mein Privatleben darüber sträflich vernachlässigt. Doch wie in den meisten Fällen kommt auch hier die Reue zu spät. Meine Ehe ist zerstört. Und nun muss ich mich auch noch von meiner Tochter trennen.« Mit zitternden Fingern fuhr sie sich über die Stirn. »Bitte entschuldigen Sie, Frau von Schoenecker«, bat sie gleich darauf, »ich rede hier allerlei zusammen, was Sie unmöglich interessieren kann, und stehle Ihnen damit Ihre kostbare Zeit.«
Denise schüttelte energisch den Kopf. »Das tun Sie nicht, Frau von Wild. Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, dann sprechen Sie sich ruhig aus. Wenn ich Ihnen helfen kann, werde ich es jederzeit tun. Ich finde, es ist ein Hauptübel unserer Zeit, dass keiner mehr dem anderen zuhören will. Jeder hat nur noch Interesse an seinen eigenen Kümmernissen und Problemen. Sein Mitmensch interessiert ihn nicht im geringsten. Reden Sie sich also alles vom Herzen, Frau von Wild. Oder soll ich Sie Frau Pavese nennen?«, schloss Denise lächelnd.
Doch die andere wehrte hastig ab. »Bitte nicht, Frau von Schoenecker. Sie ahnen ja nicht, wie sehr ich diesen Namen in letzter Zeit oft hasse. Früher, ja, da war ich mächtig stolz auf meinen Künstlernamen, der so rasch berühmt wurde und den bald Millionen kannten. Doch heute denke ich oft, es wäre besser gewesen, wenn ich niemals ganz oben angekommen wäre. Meiner Karriere habe ich mein gesamtes Privatleben geopfert. Und meine Ehe ist darüber in die Brüche gegangen. Dabei habe ich meinen Mann geliebt, wie man einen Menschen nur lieben kann.« Sie hielt inne und schluckte ein paarmal krampfhaft. Denise erkannte, dass ihre Besucherin Tränen in den Augen hatte. Taktvoll schaute sie rasch zur Seite. Arme berühmte Frau! dachte sie dabei.
Während sich Manuela von Wild mit zitternden Fingern eine neue Zigarette anzündete, fuhr sie nun etwas gefasster fort: »Sie müssen wissen, dass ich für meine Karriere hart gearbeitet habe, Frau von Schoenecker. Ich war nicht wie viele gleich ganz oben – nein, ich habe jahrelang die Schauspielschule besucht, Ballettunterricht genommen und mein Debüt an Provinzbühnen gegeben. Der Ruhm kam dann plötzlich über Nacht mit der Verfilmung eines Theaterstückes, in dem ich die Hauptrolle bekam. Von da an riss der Erfolg nicht ab. Es kamen das Fernsehen, neue Filme, Gastspiele an Theatern – und jetzt soll die Krönung meiner Karriere kommen. Ich habe einen Vertrag mit Hollywood unterzeichnet. Heute Abend fliege ich hinüber. Doch bis zu diesem letzten Augenblick habe ich das aufgeschoben, was mir am meisten am Herzen liegt: Ich muss mich von meiner Tochter trennen! Zum ersten Mal in den acht Jahren, seit sie auf der Welt ist.«
Verständnisvoll erkundigte sich Denise: »Sie suchen also jemanden, der sich um Ihre Tochter kümmert, solange Sie in Hollywood filmen?«,
Manuela von Wild nickte, dankbar darüber, dass die andere sie gleich verstanden hatte. »Natürlich hätte ich mich schon viel früher darum kümmern müssen«, sprach sie weiter.
»Aber ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen. Die ganze Zeit über wollte ich mir zudem auch einreden, dass es schon gehen würde, drüben in Hollywood, zusammen mit Petra. Schließlich ist sie mit ihren acht Jahren kein kleines Kind mehr. Sie ist im Gegenteil schon recht vernünftig. Aber dann ist da ja auch noch die Schule. Und die Landessprache versteht sie auch nicht. Ganz abgesehen davon, dass das Milieu dort auch nicht gerade das beste für ein Kind ist.«
»Das denke ich mir auch«, stimmte Denise ihr zu.
»Jemand hat mir Ihr Kinderheim empfohlen, Frau von Schoenecker«, fuhr Manuela fort. »Sehr warm empfohlen übrigens. Da fuhr ich kurz entschlossen hierher. Sie sind buchstäblich meine letzte Rettung. Außer Sophienlust wüsste ich keinen Ort, an den ich mein Kind bringen könnte.« Wieder ließ sie den Kopf traurig sinken.
Denise entgegnete behutsam: »Bitte, verzeihen Sie, wenn ich dieses Thema noch einmal anschneide, Frau von Wild. Aber Petra hat doch auch noch einen Vater. Gewiss nehmen wir jederzeit Kinder hier auf, die kein Heim mehr besitzen. Doch wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die Kinder am besten in einem Elternhaus aufgehoben sind. Oder doch zumindest bei einem Elternteil.«
Manuela von Wild schien einige Sekunden mit sich zu kämpfen. Dann sagte sie mit entschlossenem Gesicht: »Es ist wohl besser, ich sage Ihnen die volle Wahrheit, Frau von Schoenecker, damit Sie meine Handlungsweise verstehen. Mein Mann verbringt jeden Abend mit einem anderen Starlet und vermutlich auch die darauf folgende Nacht. Genau weiß ich es allerdings nicht, denn wir wohnen seit einem Jahr getrennt. Ich in unserer Villa in München-Bogenhausen, mein Mann in seinem Appartement in Schwabing. Wenn etwas Wichtiges zu besprechen ist, erledigen wir dies telefonisch.« Ihre Stimme klang jetzt bitter. »Oh, natürlich verkehren wir sehr höflich miteinander. Es gibt keinen Streit, keine Vorwürfe, nichts. Und gerade dies ist ja das Furchtbare. Wäre mein Mann eifersüchtig auf mich, gäbe es mal einen heftigen Streit, dann bliebe hinterher doch immer noch die Hoffnung auf Versöhnung. Aber so? Alles geht kühl und gelassen vor sich, richtiggehend geschäftsmäßig. Das ist einfach furchtbar!«
»Warum lassen Sie sich in diesem Fall nicht scheiden, Frau von Wild?« meinte Denise voller Mitleid. »Der jetzige Zustand bedeutet doch nur eine einzige Quälerei für Sie.«
Voller Trauer blickten die großen grünen Augen sie an, während Manuela mit tonloser Stimme sagte: »Weil ich meinen Mann noch immer liebe. Tag für Tag habe ich darauf gewartet, dass er zu mir zurückkehrt. Und jeden Morgen las ich dann in den Boulevardblättern, mit wem er den vergangenen Abend verbracht hatte. Oh, es war eine fürchterliche Quälerei! Aus diesem Grund habe ich auch sofort den Vertrag mit Hollywood unterschrieben.
Ein paar Monate lang wollte ich von alledem nichts mehr hören.«
»Das ist wirklich schlimm!«, murmelte Denise voller Mitleid.
»Dabei haben wir uns doch so sehr geliebt – damals, in den ersten Jahren unserer Ehe«, fuhr Manuela mit der gleichen tonlosen Stimme wie zuvor fort. »Damals waren wir beide entsetzlich arm, wohnten in einem möblierten Zimmer und konnten uns nur das billigste Essen leisten. Das war die Zeit meiner ersten Engagements an den Provinzbühnen. Richard, mein Mann, bekam damals ebenfalls ein paar kleine Rollen an kleineren Bühnen.«
»Ach, Ihr Mann ist ebenfalls Schauspieler? Das wusste ich gar nicht!«, rief Denise überrascht.
»Das ist es ja gerade!«, entgegnete Manuela bitter. »Mein Mann ist auch Schauspieler, aber bereits seit Jahren ohne festes Engagement. Dies ist wohl der Kern des Übels.« Sie holte tief Luft, zündete sich eine neue Zigarette an und sprach dann weiter: »Mein Mann ist der Sohn eines Gutsbesitzers. Sein Vater hoffte natürlich, dass der einzige Sohn dieses Gut einmal übernehmen würde. Doch mein Mann kannte seit seiner frühesten Jugend nur den einen Wunsch, Schauspieler zu werden. Das ist vielleicht nicht ganz unverständlich, wenn man weiß, dass auch seine Mutter Schauspielerin war. Nun, es gab einen heftigen Streit zwischen meinem Mann und seinem Vater. Richard verließ das Haus – und hat seinen Vater seither nie mehr gesehen.«
Denise entfuhr ein überraschter Ausruf, den sie jedoch sofort bereute. Doch ihre Besucherin schien ihn gar nicht gehört zu haben. Völlig in Gedanken versunken fuhr sie fort: »Mein Mann trennte sich also von seinem Vater und nahm Schauspielunterricht. Das Geld dazu verdiente er sich selbst – als Hilfsarbeiter. Er scheute keine Arbeit, mochte sie auch noch so schwer sein. Dann kamen die ersten kleinen Rollen – und dann lernten wir uns kennen! Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Wir heirateten buchstäblich auf der Stelle. Zehn Monate später wurde Petra geboren. Es war ein Glück, wie man es sich größer einfach nicht vorstellen kann. Aber bereits damals begann das, was später das große Problem unserer Ehe werden sollte: Ich bekam häufiger und besser bezahlte Engagements als mein Mann, ich bekam auch die ersten guten Kritiken in den Zeitungen. Damals lachte mein Mann noch darüber. Er meinte, das mache ihm überhaupt nichts aus. Da spiele eben er an meiner Stelle Hausfrau, betreue das Kind und wasche das Geschirr ab. Es schien ihm wirklich ehrlich damit zu sein. Aber nur in den ersten Jahren. Vermutlich hatte er die ganze Zeit über gehofft, dass ihm eines Tages doch noch der Durchbruch gelingen würde. Doch das geschah nicht. Und so machte sich langsam Erbitterung in ihm breit. Zuerst war es nur ein Groll auf seine Agenten, Regisseure und Produzenten. Selbstverständlich hielt ich in diesen Jahren zu meinem Mann. Immer wieder versuchte ich, ihn zu trösten, ihm Mut zu machen und ihn wieder aufzurichten. Doch dann kam jener Abend, den ich nie im Leben vergessen werde, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Es war der Abend meiner ersten Filmpremiere. Wir hatten noch in einem Hotel gefeiert und Sekt getrunken. Ich war glücklich und sehr beschwingt, als wir in unsere Villa in Bogenhausen zurückkehrten.
›Warum zahlst du mir eigentlich kein Taschengeld, Marina Pavese?‹ fragte er mich unvermittelt in einem so aggressiven Tonfall, wie ich ihn noch nie von ihm gehört hatte. Zunächst verkannte ich die Situation. Ich lachte hellauf und fragte scherzhaft: ›Wie viel möchtest du denn? Schließlich bin ich jetzt Großverdienerin und kann mir eine sehr teure Haushälterin leisten. Also, setze deine Forderungen ruhig recht hoch an.‹
Doch Richard lachte nicht. Ihm war es sehr ernst an diesem Abend. Er entgegnete ruhig: ›Du gibst also zu, dass ich für dich nur noch das Mädchen für alles bin – nicht mehr der Ehemann, sondern tatsächlich so etwas wie eine männliche Haushälterin. Nun ja, ich kann es dir nicht einmal verdenken.‹
›Das ist doch Unsinn!‹, unterbrach ich ihn, denn jetzt endlich hatte ich erfasst, wie ernst es ihm tatsächlich war. Natürlich wollte ich ihm diese Gedanken ausreden. War es in einer Ehe nicht egal, wer das Geld verdiente, wenn man sich nur liebte und gut verstand?
Wir haben an diesem Abend noch lange hin und her geredet. Es endete damit, dass wir uns von da an ständig mehr entfremdeten. Dazu kam außerdem noch, dass ich häufig zu Außenaufnahmen weg musste und wir auch noch räumlich voneinander getrennt waren. Richard blieb dann jedes Mal in München – wohl vergeblich auf eine winzige Filmrolle hoffend. Nur Petra nahm ich immer mit mir. Keinen einzigen Tag trennte ich mich von dem Kind. Ich liebe es mit einer geradezu verzweifelten Liebe. Vielleicht verstehen Sie mich, denn Sie haben doch selbst Kinder. Petra bedeutet für mich die Erinnerung an die glücklichste Zeit meines Lebens – die Erinnerung an unsere Liebe –, kurz, an all das, was ich für immer verloren habe.«
Manuela von Wild schwieg. Auch Denise sagte nichts. Sie wollte ihrer Besucherin Gelegenheit geben, sich wieder zu fassen, denn sie ahnte, was in dieser jetzt vorging.
Nach einer kurzen Pause erklärte Manuela: »Petra hat einen Großvater, den Vater meines Mannes, auf dessen Gut sie vermutlich gut aufgehoben wäre. Aber ich kann doch unmöglich mit dem Kind, von dessen Existenz er gar nichts weiß, zu ihm hinfahren und von ihm verlangen, dass er nun für einige Monate Großvater spielen soll, bis die Dreharbeiten in Hollywood beendet sind. Für dieses Ansinnen würde er sich mit Recht bedanken.«
»In diesem einen Punkt kann ich Sie beruhigen, Frau von Wild«, sagte Denise nun. »Ihre Tochter kann bei uns bleiben, bis Sie aus Hollywood zurückkehren. Schließt sie sich leicht an andere Kinder an?«
»Normalerweise schon, wenn sie bis jetzt auch wenig Gelegenheit hatte, Freundschaft mit gleichaltrigen Kindern zu schließen.«
»Diese Gelegenheit hat sie dafür hier massenhaft.«
»Es ist aber nicht nur Petra, die ich Ihnen so unvermutet ins Haus bringe, Frau von Schoenecker«, fuhr Manuela nun zögernd fort.
Denise schaute sie überrascht an. »Haben Sie noch mehr Kinder, Frau von Wild?«
Es war das erste Mal, dass Denise ihre Besucherin schüchtern lächeln sah. »Nein, ich habe nur diese eine Tochter«, entgegnete Manuela, »aber sie bringt ihren vierbeinigen Freund mit, von dem sie sich einfach nicht trennen will. Ihren Schäferhund Hasso. Können Sie den ebenfalls hier aufnehmen?« Die Stimme der Frau klang beinahe ängstlich bei diesen Worten.
Doch Denise beruhigte sie auf der Stelle. »Bei uns gehört es schon beinahe zur Tagesordnung, dass Kinder entweder ihre Tiere mitbringen, oder sich im Tierheim meiner Tochter und meines Schwiegersohnes einen speziellen Freund aussuchen. In dieser Hinsicht kann ich Sie also ebenfalls beruhigen. Frau von Wild.«
Die Besucherin atmete hörbar auf. Dann erhob sie sich. Sie ging auf Denise zu und reichte ihr die Hand. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Frau von Schoenecker, wie sehr ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin!«, sagte sie warm. »In Ihrer Obhut lasse ich meine Tochter gern zurück. Nun kann ich beruhigt nach Amerika fliegen. Ein paarmal war ich schon nahe daran, den Vertrag rückgängig zu machen und die hohe Konventionalstrafe zu zahlen, nur damit ich mich nicht von Petra zu trennen brauchte. Wissen Sie, nachdem meine Ehe zerbrochen ist, wollte ich nicht auch noch das Letzte hergeben, an dem mein Herz hängt.«
Denise sah die Tränen in den Augen ihrer Besucherin bei diesen Worten glitzern. In ihrer gütigen, mütterlichen Art beruhigte sie die andere: »Sie können wirklich unbesorgt nach Amerika fliegen, Frau von Wild. Wir werden hier alles tun, um Ihrer Tochter den Aufenthalt in Sophienlust so angenehm und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Und nun lassen Sie uns Ihr kleines Töchterchen hereinholen. Es wird bestimmt schon auf Ihre Rückkehr warten.«
*
»Komm mit uns, wir zeigen dir die Ponys und all die anderen Tiere, die wir hier in Sophienlust haben«, sagte Nick gutmütig zu Petra, die mit Tränen in den Augen vor der Haustür stand und dem Rolls-Royce nachblickte, der schon längst um die Kurve verschwunden war. Petra schien noch immer nicht fassen zu können, dass ihre geliebte Mutti, von der sie sich noch nie in ihrem Leben hatte trennen müssen, ohne sie weggefahren war. Sie wusste, am Abend flog ihre Mutti nach Amerika. Bis zum letzten Augenblick hatte sie gehofft, dass diese sie mitnehmen würde.
Aber ihre Mutti hatte sie hierhergebracht und war ohne sie abgereist! Was nutzte es, dass diese Frau von Schoenecker, zu der sie Tante Isi sagen sollte, furchtbar lieb und nett zu ihr war? Und eine andere Frau, zu der alle Tante Ma sagten, ebenfalls. Mit ihrer Mutti waren sie doch allesamt nicht zu vergleichen. Und diese vielen fremden Kinder alle … Deren Namen würde sie doch niemals behalten.
»Komm doch mit, Petra«, drängte Nick nun. Er hatte die rotgeweinten Augen des Mädchens gesehen und sich vorgenommen, es möglichst rasch auf andere Gedanken zu bringen. Tiere waren zu so etwas sehr geeignet. Deshalb fügte er gleich noch hinzu: »Dein Schäferhund ist aber ein sehr schönes Tier, Petra. Hast du ihn schon lange?«