Originalcopyright © 2021 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autor: Simak Büchel

Illustrationen und Gesamtgestaltung: Corinna Böckmann

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-108-3

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Für Malin, Henrik und Danny!

Prolog

In einem hellgrün leuchtenden Band waberte das Polarlicht über den nachtschwarzen Winterhimmel. Nur die spiegelnde Fläche des Fjords trennte ihn von der Düsternis des Landes. Karg lagen Felsen und Hänge da, bedeckt mit einer krossen Schneeschicht. Lautlos floss der Lichtstrom über alles hinweg, bildete Wirbel, Wogen, Wellen, tanzte und be­­­rührte den Horizont an der Stelle, wo die Positionslichter eines Containerschiffes blinkten.

Der Junge schob die schwere Kapuze seines Anoraks zurück, legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie sich gegen seinen Willen ein Staunen in ihm breitmachte. Doch sein Gesicht blieb starr. Nicht einmal eine Atemwolke zeigte sich im Frost der Nacht. Er strich sich die welligen Haare aus der Stirn, stand da und wusste es besser.

Aurora borealis“, schnaubte er verächtlich. „Polar­lich­ter.“

Die Erscheinung am Himmel war weder göttliches Zei­chen noch Geisteratem oder Botschaft aus dem Jenseits, wie man es vor Urzeiten geglaubt hatte, sondern reine Physik. Materie. Ein Teilchenschauer aus den schwarzen Weiten des Alls, der an den Polen auf die Atmosphäre traf, um in einem Glühen zu vergehen. Ein Gruß aus dem Nichts.

Und doch ist es schön, ertappte er einen Gedanken in seinem Kopf, nur um ihn sogleich unwirsch fortzuwischen. Schön? Er war nicht hier, um zu staunen oder über Geister­atem zu philosophieren, sondern um einen Auftrag zu erledigen. So einfach war das. Er hatte seine eigenen Geister, die ihn eskortierten, beschützten, während er den Auftrag für seinen Schöpfer ausführte, für seinen ... Vater.

Irgendein Idiot hatte die Kalibrierung1 vergessen, sodass der Dämon beim Verladen aus seinem Schlaf erwacht war. Das durfte nicht sein. Das brachte den Plan in Gefahr. Den großen Plan. Er packte das metallene Kästchen in seinen Händen fester und stapfte den Hang hinab auf die alte Walfangstation zu, wobei jeder seiner Schritte im harschen Schnee knirschte. Schon ragten die rostroten Zylinder der Tanks zu seiner Rechten auf, in denen früher der gekochte Waltran gelagert worden war. Wind fegte ihm um die Nase und er zog die Kapuze wieder über den Kopf, obwohl er Kälte nicht kannte. Nicht spürte. Sein Schöpfer dagegen schon, der so bitter enttäuscht worden war von dieser Ver­räterin! Zorn brodelte in ihm auf, bei dem Gedanken an das hellblonde Haar, an die Sommersprossen auf den Wangen seiner ... Ja, was?

„Schwester?!“, stieß er hervor. Sie hatte gewagt, sich gegen das Projekt zu stellen. Sie hatte sich gegen ihren Ur­­sprung entschieden und war dem langhaarigen, dumpfen Trottel nachgelaufen, hinein ins Verderben. Warum? Wegen seiner Augen? Wegen dieser gletscherwasserblauen Bälle aus Glibber und Schleim? Aus Freundschaft, hatte sie gesagt.

„Jorin Flugbrand!“ Er fletschte seine Zähne und eine Bitternis breitete sich in ihm aus. Ihn verlangte es nach Rache! Jorin, der Auserwählte, der Liebling der Anti-KI-Allianz, der Saboteur und Zerstörer von Projekt Mimesis, musste in seine Schranken gewiesen werden. Ihn galt es in den Staub zurück zu treten, aus dem er sich erhoben hatte. Nein, besser noch, er gehörte zurück auf die Bäume zu seinesgleichen.

„Dieser ... dieser ...“ Lodernd vor Zorn und Eifersucht ballte der Junge seine Rechte zur Faust und suchte nach dem abscheulichsten Schimpfwort, das sich in seinem Wortschatz fand. Widerwillig spuckte er es in die frostklirrende Nacht am Polarkreis. „Dieser Mensch!

1. Kapitel

Gut getarnt saß Jorin Flugbrand in einer Astgabel der ur­­alten Ulme und ließ seine gletscherwasserblauen Augen über die Schrebergartensiedlung Zum kleinen Glück schweifen. Er gähnte, dass seine Kiefer knackten. Nein, so hatte er sich das Agentenleben wirklich nicht vorgestellt. Von wegen James Bond! Wer hätte ahnen können, dass A.KI.A.-Agent Samuel Smuts ein solcher Spießer war? Nicht, dass man ihn falsch verstand, Jorin war heilfroh, dass Smuts sich bereit erklärt hatte, ihn bei sich aufzunehmen, nachdem die Mimesis-Schule in die Luft gesprengt worden war. Aber irgendwie hatte Jorins Leben nach dem Abenteuer auf der Eidechseninsel eine Wendung genommen, die ihn allmählich verzweifeln ließ.

„He, Sam, wann kann ich denn endlich mit dem richtig coolen Zeug anfangen?“, hatte Jorin erst an diesem Morgen beim Frühstück nachgebohrt.

„Dem – was?“ Samuel verschluckte sich an seinem Croissant.

„Du weißt schon, dem echten Agentenkram: geheime Kampf­techniken, Mandarin und der Umgang mit seltenen Giften! Dieses Zeug eben!“ Jorin war sich mit beiden Händen durch seine brandneue Frisur gefahren und hatte das strubbelige Deckhaar noch etwas wilder verwuschelt. An den Seiten und im Nacken waren die Haare nun raspelkurz und erinnerten nicht mehr im Entferntesten an einen mittelalterlichen Knappen. Vielmehr verlieh der Schnitt seinem pausbackigen Gesicht mit den strahlend blauen Augen etwas Verwegenes, das Jorin selbst ausnehmend gut an sich gefiel.

„Geduld, mein junger Freund, Geduld. Du hast dich bisher zwar ganz prächtig geschlagen, trotzdem hat man dir erst die niedrigste A.KI.A.-Sicherheitsfreigabe er­teilt. Trainiere weiter deinen Blick, lerne genau hinzuschauen und Täuschung von Wahrheit zu unterscheiden. Du sollst die Füße bis auf Weiteres stillhalten, Jo, An­­ordnung von oben, von ganz oben.“ Damit hatte Smuts den Chef der Anti-KI-Allianz gemeint, jener streng geheimen Untergrundorganisation, der Jorin nun angehörte. „Vertrau mir, deine Zeit mit dem richtig coolen Zeug wird kommen, vielleicht früher, als dir lieb ist.“ Smuts hat­­te sich Marmelade vom Finger geleckt und war vom Früh­­­­stückstisch aufgestanden, ohne Jorin eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Oh Mann, das Warten ist so was von ätzend!“, maulte Jorin.

„Du hättest ja mit Konrad und Nele ins Zeltlager fahren können“, sagte Smuts. „Das Angebot stand immerhin.“

„Pff, die ...“ Jorin hatte abgewunken. „Die turteln von morgens bis abends, was soll ich denn da? Nee, Smuts, echt nicht ... Vielen Dank!“ Sogar seine besten Freunde hatten ihn in jener faultierhaften Langeweile zurückgelassen, die vor sich hin gärte wie Brennnesseljauche. Jorin war es leid.

Dabei war Borax Dosch, der Mörder seiner Eltern, immer noch auf freiem Fuß. Allein bei dem Gedanken an den milliardenschweren Gründer von Projekt Mimesis verkrampfte sich etwas in Jorins Brust. Dieses verdammte Monster! Dosch hatte damals sogar angedeutet, dass Jorin selbst das Ergebnis einer Genmanipulation und seine Augen mit fremden Genen perfektioniert worden waren. So ein Schwachsinn! Borax Dosch hatte es einfach nicht verkraftet, von ein paar Kindern besiegt worden zu sein! So sah es aus. Hoch oben im Baum grollte Jorin vor sich hin.

Aus der Brusttasche seines Hemdes zog er ein knittriges, angesengtes Foto hervor, verpackt in eine Klarsichtfolie, auf dem seine Eltern, Cord und Edda, in einem Pulk von Labormitarbeitern standen. Doch bereits auf diesem Foto tauchte als Vorbote des Todes, zwei Reihen hinter seinen Eltern, der Glatzkopf von Camaphos auf, einem der gefährlichsten Handlanger von Borax Dosch.

Um das Aufwallen seiner Gefühle zu stoppen, sah Jorin vom Foto hoch und starrte in die Ferne. Von Dosch und seiner Organisation fehlte noch immer jede Spur. Selbst die Anti-KI-Allianz tappte völlig im Dunkeln. Dabei konnte es doch nicht so schwer sein, einen selbstverliebten Großkotz mit Hollywoodgebiss ausfindig zu machen! An irgend­einem Schickimicki-Strand musste sich Dosch schließlich unter Palmen lümmeln oder mit seiner Yacht anlegen. Und Camaphos, der im Gefängnis schmorte, schwieg beharrlich, vermutlich aus Angst vor seinem ehemaligen Boss. Nichts war aus dem Mimesis-Cheftechniker herauszubekommen. Nicht der zarteste Hinweis auf Doschs Geheimversteck, geschweige denn auf dessen Pläne. Jorin spürte, wie das dumpfe Grollen in seiner Brust weiter anschwoll. Mit zittrigen Fingern steckte er das Foto zurück in seine Brusttasche.

Hätte er die Zwischenzeit wenigstens für eine anständige Agentenausbildung nutzen dürfen! Doch nein, von Training keine Spur. „Null, nichts, nada.“ Alles, was neben der Schule auf dem Plan gestanden hatte, war groß und fett geschriebene Langeweile. Ätzende Langeweile.

„Hier passiert aber auch echt gar nichts“, stöhnte er und gähnte erneut. Anfang der Sommerferien waren Konrad und Nele zu einem Zeltlager auf eine friesische Insel gefahren. Von dort hatten sie Jorin eine Postkarte geschickt, mit Möwen, Sandstrand und einem Leuchtturm vorne drauf. Vielleicht hätte er doch besser mitfahren sollen?

Träge verlagerte Jorin sein Gewicht in der Astgabel, um die selbst geschnitzte Steinschleuder aus dem Hosenbund zu zerren. Sein Blick glitt über die Glasfassaden der Hoch­haustürme, die ihre violetten Nachmittagsschatten bis zur Schrebergartensiedlung ausstreckten, über die Gemüse- und Blumenbeete, zwischen denen alte Leute herumdackelten, und landete schließlich bei seinem Mentor2, Samuel Smuts. Oder besser gesagt, seinem Nicht-Mentor, denn gelernt hatte er von Samuel tatsächlich ...

„Nüscht.“ Jorin verengte seine Augen zu Schlitzen und hielt nach einem Ziel Ausschau.

Wenn wenigstens Fenja da wäre. Das iKID mit den schwedenblonden Haaren und den Sommersprossen auf den Wangen hatte es ihm angetan. Dabei war es schon Mo­­­­nate her, dass er das Roboter-Mädchen getroffen hatte. Offenbar verfolgte die A.KI.A. andere Pläne mit ihr. Jorin versuchte, die Erinnerung an Fenjas schmales, fein geschnittenes Gesicht und ihre herrlich grauen Augen beiseite zu wischen, um sich auf ein Ziel für seine Schleuder zu konzentrieren. Er atmete tief durch, spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust zu lösen begann.

Smuts kniete zwischen Tomatenpflanzen, kehrte Jorin den Rücken zu und zog sich gerade die rutschende Hose über dem Gesäß hoch.

„Hm, nee“, entschied Jorin und ließ seinen Blick über die angrenzenden Schrebergartenparzellen wandern, wo Herrschaften in Feinrippunterhemden vor ihrem Grill saßen und den Hochsommer genossen. Jorin seufzte. Ob­­wohl er das Idyll unerträglich fand, erschien die Zeit bei Smuts immer noch besser, als all die Jahre, die er zuvor in einer Pflegefamilie verbracht hatte, ganz zu schweigen von seinem Nachtlager auf dem Alten Friedhof.

Entschlossen griff Jorin in seine Hosentasche, friemelte einen haselnussgroßen Kiesel hervor und spannte seine Schleu­­der. Das linke Auge zugekniffen, die Zungenspitze zwischen den Schneidezähnen vorgeschoben, zielte er, hielt den Atem an und ließ schließlich die Zwille flitschen. Der Kiesel raste über drei, vier penibel gestutzte Hecken hinweg, um dahinter einen Plastik-Gartenzwerg von seinem Sockel zu fegen.

„Yes, Volltreffer.“ Jorin grinste, klappte sein rostiges Taschenmesser auf und schnitt eine Kerbe in den Griff seiner Schleuder. Es war die achtundzwanzigste.

2. Kapitel

Der Triumph des Jägers hielt bei Jorin gerade einmal zwei Minuten an, denn plötzlich breitete sich ein warmes Gefühl auf seiner Brust aus.

Der Junge stutzte, kratzte sich durch den Stoff des T-Shirts, doch die Wärme strahlte weiter, nicht in seiner Brust, sondern tatsächlich auf ihr.

Verdutzt lupfte er den Bund des Shirts und schaute an seinem Oberkörper hinab. Da war nichts, nur Speckröllchen und der Kommunikator in Gestalt eines muschelförmigen Anhängers, der wie eh und je über seinem Brustbein baumelte. Mit ihm hatte sich Jorin auf der Eidechseninsel mit der A.KI.A. in Verbindung setzen können. Aber wie der Rest der Welt hatte seitdem auch dieses Meisterwerk der Spio­­nagetechnik keinen Mucks mehr von sich gegeben. Arg­­wöhnisch zog Jorin den Anhänger hervor und spürte dessen Wärme in der Handfläche.

„Was soll denn das jetzt?“ Seine Finger zitterten, als er den Kommunikator aus der Halterung löste, ihn einschaltete und sich die Keramik ins Ohr stopfte. Angenehm warm schmiegte sich die Muschelform in seinen Gehörgang, ein Knistern ertönte.

„Hallo Junge“, meldete sich sofort eine vertraute Män­nerstimme zu Wort, sodass Jorin vor Schreck einen Satz machte. Hilflos ruderte er mit beiden Armen und umklammerte im letzten Moment einen dürren Ast.

„He!“, schnaubte er. „Verdammt noch mal, finden Sie das etwa witzig? Ich sitz grade in einem Baum und wäre fast runtergefallen. Hätten Sie sich nicht mal zwischendurch melden können? Neun Monate tote Hose – nichts! Funkstille!“ Mit einem Mal brach der angestaute Frust aus Jorin hervor. „Ich dachte, ihr haltet eure Agenten besser bei Laune. Mit ’nem klitzekleinen Observierungs-Auftrag oder so. Aber was ist?! Ich krepiere hier vor Langeweile! Die Hälfte der Sommerferien ist rum. Hier gibt’s nicht mal ’ne Spielkonsole und Smuts redet mit Toma–“

Unwirsch unterbrach ihn die Stimme am anderen Ende.„Junge, wir haben keine Zeit für Plaudereien. Deine zweite Spionage-Mission startet in zehn, neun, acht, sieben ...“

Ein Knistern in Jorins Ohrmuschel verriet, dass die Ver­bindung gekappt worden war. Unwillkürlich zählte er weiter, bewegte dabei stumm die Lippen und blickte hektisch um sich.

„... sechs, fünf, vier ...“

Bei drei hörte Jorin Schritte auf dem Kiesweg.

„... zwei, eins ...“

Wie auf ein geheimes Zeichen hin bog in diesem Mo­­ment ein Mädchen um die von Faltern umtaumelte Ligus­terhecke. Jorin traute seinen Augen nicht.

„Njeri?!“ War das wirklich seine Klassenkameradin aus der Mimesis-Schule, die lässige, allseits beliebte Njeri? Das Waisenkind mit kenianischen Wurzeln? Kein Zweifel, der Klamottenstil aus zerschlissener Jeans und pinkem T-Shirt mit schielendem Einhorn darauf kam Jorin sehr bekannt vor. Ebenso die kunstvoll geflochtenen Reihen unterschiedlich breiter Haarzöpfe, Njeris Cornrows, deren Enden im Nacken leicht abstanden. Wie immer umspielte ihre Lippen ein kaum merkliches Lächeln. Gerade drehte Njeri ihren Kopf über die Schulter und wandte sich an eine Person, die noch von der Hecke verdeckt wurde: „Und er weiß wirklich nichts davon? Shit, das wird ihn aus den Socken hauen! Hoffentlich verplapper ich mich nicht.“

„Das hoffe ich auch, Njeri“, antwortete eine Frauen­stimme, woraufhin Jorin der Atem stockte. Seine Zunge klebte am Gaumen fest, als im Gefolge von Njeri zwei weitere Gestalten auftauchten: A.KI.A.-Agentin Annabel Biron und –

„Fenja!“

Einem Kometenschweif gleich zog der hellblonde Haar­schopf des iKID-Mädchens an der Hecke vorbei und nun verlor Jorin endgültig den Halt. Wie ein betäubter Orang-Utan plumpste er aus dem Blätterdach und landete mit einem dumpfen Schlag zwischen den Wurzeln. Kurz wurde es ihm schwarz vor Augen, dann rollte er sich auf den Rücken und blinzelte heftig. Ächzend zog er den Kommunikator aus seinem Ohr. Er fingerte ihn gerade noch in die Halterung zurück, da erreichten ihn die Neuankömmlinge und schoben ihre Gesichter in sein verschwommenes Blickfeld. Annabel schüttelte missbilligend den Kopf; Njeri hielt sich die Seiten vor Lachen, wobei ihr ein baugleicher Kommunikator in Muschelform aus dem T-Shirt rutschte, um gut sichtbar an einem Silberkettchen über ihrem Schlüsselbein zu baumeln. iKID Fenja lächelte. „Hey, Blauauge, ich dachte, ihr Menschen seid schon ein bisschen länger von den Bäumen runter.“

„Ha ha“, machte Jorin, brachte ansonsten aber nur Grunzlaute zustande. Mit Annabels Hilfe rappelte er sich auf und streifte trockene Blätter von seinen Klamotten. Im nächsten Moment fiel ihm Fenja um den Hals und drückte ihn so fest, dass es Jorin die Luft abschnürte. Ihr Haar duftete nach Vanille und unter der Haut ihrer Arme erahnte er die stahlbiegende Kraft einer Kampfmaschine. Er spürte, wie seine Handflächen schwitzig wurden und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Den Zustand kannte Jorin sonst nur, wenn er einen Löffel Cayenne-Pfeffer in seine Tütensuppe mischte. Schnell blinzelte er seine Verlegenheit weg und schluckte.

„Fenja ...“ Sie hatte sich so gar nicht verändert.

„Jetzt ist aber gut, Fenja, wir wollen Jorin auch begrüßen!“ Annabel befreite den überrumpelten Jungen aus der Umklammerung. Njeri blieb verlegen danebenstehen und schob ihre Hände in die Gesäßtaschen der Jeans. Keine von ihnen hatte vergessen, was Jorin auf der explodierenden Insel für ihre Rettung getan hatte. Nicht nur Annabel verdankte ihm ihr Leben.

„Wovon weiß ich noch nichts?“, wollte Jorin wissen, erntete von Njeri jedoch nur einen Stupser gegen den Ober­arm, bevor diese einen raschen Blick mit Annabel wechselte.

„Äh …, dass wir da sind, das ist doch Überraschung genug, oder? Es ist so schön, dich zu sehen“, wich die zierliche Agentin aus und drückte dem verblüfften Jorin einen Kuss auf die Stirn. Dazu musste sie sich allerdings auf die Zehen stellen. Seit ihrer letzten Begegnung war Jorin ein gutes Stück gewachsen.

„Leider haben wir nicht viel Zeit zum Reden“, fuhr Annabel fort und sah sich suchend um. „Wir müssen dringend zu Smuts. Es gibt Neuigkeiten, Jorin, Camaphos hat sich bereit erklärt, mit uns zu sprechen – endlich! Wo steckt Sam denn? Hockt der Kerl etwa wieder im Gemüsebeet?“ Kopfschüttelnd ließ die Agentin mit den katzengrünen Augen Jorin unter der Ulme stehen, um den Weg in die Schre­­bergartensiedlung hinab zu stapfen.

„Jo“, nuschelte Jorin und betastete seine Stirn, „einfach nur Jo, wann kapiert die das endlich?“

Fenja strahlte über das ganze Gesicht. „Mensch, wie geht’s dir? Hattest du auch so eine coole Zeit? Ich sag dir, Blauauge, die Tage haben sich nur so gejagt. Es war der Hammer. Coole Frisur übrigens.“

Verlegen fuhr Jorin sich durch seine strubbeligen Haare.

Njeri verdrehte hinter Fenjas Rücken die Augen, sodass nur Jorin es sehen konnte.

„Ach ... äh ...“ Rasch schob er die Schleuder in seinen Hosenbund, denn just in dem Moment tauchte ein Rentner hinter der Hecke auf und drehte seinen Gartenzwerg in den Händen.

„Tja“, hüstelte Jorin, „hier war auch mächtig was los ...“

3. Kapitel

Hinter Annabel passierten Fenja, Jorin und Njeri das Tor im Staketenzaun zum Schrebergartenhäuschen. Smuts kehrte ihnen den Rücken zu und zuckte zusammen, als Annabel mit harter Stimme rief: „Keine Bewegung, Smuts! Wenn du auch nur mit der Wimper zuckst ...“

Samuel hob die Arme bis auf Schulterhöhe, stieß sich dann aber zu Jorins Verblüffung mit dem rechten Bein aus der Hocke ab, um hinter den Komposthaufen zu hechten. Dort tauchte sein Haarschopf erst wieder auf, als aus Annabels Kichern schnaubendes Lachen wurde.

„Sehr witzig, wirklich.“ Smuts erhob sich aus der Deckung und applaudierte mit erdverklumpten Fingern. „Hab lange nicht mehr so gelacht, Annabel.“

Jorin grinste, diese kleine Lektion geschah Smuts ganz recht.

„Spaß beiseite.“ Das herzförmige Gesicht der A.KI.A.-Agentin wurde sofort wieder ernst. „Es gibt Neuigkeiten, mein Lieber. Nachdem ich Camaphos von dem Video erzählt habe, hat er sich tatsächlich bereit erklärt, mit uns zu sprechen. Unter einer Bedingung.“ Sie deutete auf Jorin, der verdutzt in die Runde blickte.

„Video?“, fragte der. „Was für’n Video?“

Keiner beachtete seine Frage. Samuel nickte nur und sah auf seine Armbanduhr. „Phase zwei, wurde aber auch Zeit.“ Der Agent stapfte hinüber zur Gartenhütte, schlüpfte aus seinen Gummistiefeln und schob die Haustür auf. „Na los, rein mit euch, wir haben lange genug gewartet.“

Jorin klappte den Mund auf und wieder zu, um dann als Letzter über die Schwelle zu stolpern. Er kam sich geradezu unsichtbar vor. Alle redeten an ihm vorbei oder um ihn herum. Es war zum Haare raufen.

Im Inneren des Häuschens, das seit einem Dreivierteljahr das Zentrum seines Lebens bildete, wirkten die Besucher völlig fehl am Platz. Die Gruppe aus Kindern und Agenten knubbelte sich in der winzigen Koch-Wohnnische, während sich Smuts am ersten Rollladen zu schaffen machte, um das Fenster zu verdunkeln.

„Jo, wärst du so freundlich, den Damen die Räum­lich­keiten zu zeigen?“

Jorin blinzelte. „Die – was?

„Ich wäre dir wirklich sehr verbunden“, fuhr Smuts fort. „Habe hier noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, bevor ich mich um das Wohlergehen unserer Gäste kümmern kann.“

Jorin ließ seinen Blick über die Nasszelle mit Klo und Dusche wandern, taxierte die winzigen Kammern mit den ungemachten Betten daneben und kehrte zu den erwartungsvoll lächelnden Gesichtern von Annabel, Fenja und Njeri zurück.

„Äh ...“ Der größte Luxus, den Smuts sein Eigen nannte, war ein uraltes Telefon mit Wählscheibe und spiraligem Hörerkabel. Kein W-LAN, kein Rechner, nicht einmal ein Fernseher; sie hausten hier im tiefsten digitalen Mittelalter.

„Äh, Damen“, begann Jorin und machte eine Geste, die alles umfasste: „Hütte!“ Damit war seine Wohnungsführung abgeschlossen. Hilfesuchend drehte er sich zu Smuts um, der den letzten Rollladen herabließ, woraufhin nur noch schmale Lichtstreifen zwischen den Schlitzen durchschienen. „Und jetzt?“

„Meine Güte, Sam!“ Annabel lehnte sich gegen die Tisch­platte, auf der im Dämmer halbvolle Tassen und Teller mit Croissantkrümeln und Erdbeerkonfitüre zu sehen waren. „Ich muss schon sagen, du hast dich wirklich ins Zeug gelegt, um unserem jungen Freund die Umgangsformen eines wahren Gentleman nahezubringen. Jorin ist nicht nur charmant, sondern auch noch ... äh ... äußerst redegewandt.“

Die Mädchen kicherten, während Smuts die Haustür verriegelte. Er reckte sich nach einem ausgestopften Raub­fischkopf, einem entenschnabeligen Hecht mit spitzen Dolchzähnen, der genau über dem Eingang hing, und drückte dessen rechtes Glasauge ein. Sofort senkte sich mit leisem Summen eine Fliese neben der Spüle in die Wand und fuhr beiseite, um eine blau leuchtende Scanfläche freizugeben. Fassungslos starrte Jorin auf das Leuchten, das Samuels Gesichtszüge aus der Finsternis schälte.

Ein weiteres „Äh“ war alles, was Jorin zuwege brachte. Neun Monate lang hatte Smuts das vor ihm geheim ge­­halten?! Nun presste der Agent ungerührt seine Hand gegen den Scanner, woraufhin ein Lichtbalken diese ab­fuhr. Sekundenbruchteile später klickte es im Boden. Die Um­­risse einer Falltür zeichneten sich im zerschrammten Lino­­leum vor dem Kühlschrank ab.

„Ich glaub’s ja nicht!“ Jorins Augenlid begann zu zucken. Smuts kniete sich hin und öffnete die Luke, sodass ein erleuchteter Schacht sichtbar wurde, der in die Tiefe führte.

„Ladies first“, sagte der Agent mit einer Verbeugung. Wie selbstverständlich schwang sich Annabel die Sprossenleiter hinab. Fenja klatschte vor Begeisterung in die Hände und folgte ihr.

„Action“, hallte die Stimme des iKIDS aus dem Schacht. „Das ist ja der Hammer hier unten!“

Njeri atmete tief durch. „Na, dann wollen wir mal.“

Samuel tippte sich verschwörerisch gegen die Nasen­spitze und kletterte seinen Gästen hinterher. Gerade, als sein Kopf auf Höhe des Fußbodens anlangte, drehte er sich noch einmal zu Jorin um, der wie vom Blitz getroffen dastand. „Bei Gelegenheit kannst du deinen Mund wieder schließen, Jo, wir warten dann unten auf dich.“

4. Kapitel

Smuts’ Geheimkammer war wirklich der Hammer. Der Raum erstreckte sich unter der gesamten Schrebergarten­par­zelle. Die Betonwände waren mit gepanzerten Spezial­schrän­­ken vollgestellt, hinter deren Türen sich kugelsiche­re Körperrüstungen, Überwachungskameras, Wanzen, Peil­­sender, Magnetfeld-Granaten, Kampfstäbe und die un­­ter­schiedlichsten Waffensysteme befanden. Fenja pfiff durch die Zähne und musterte Schultergurte mit matt schim­mernden Wurfscheiben. Daneben versammelte ein Bü­­cher­regal so ziemlich alle verfügbaren Aufsätze über seltene Gifte, Geheimsprachen, Verschlüsselungstechniken, küns­­tliche Intelligenz und die neuesten Errungenschaften der Ro­boterwissenschaft.

„Jo, das ist Agenten-Kram der allerfeinsten Sorte“, flüs­­terte Fenja, während Jorin vor eine Pinnwand mit Ver­­brecherfotos trat und es immer noch nicht fassen konnte. Njeri stellte sich neben ihn, um das Who is Who3 von Pro­­jekt Mimesis zu betrachten: zuoberst Borax Dosch, der schmierige Milliardär, braungebrannt, mit Holly­­wood­­lächeln und Unterlippenbärtchen. Direkt darunter prangte das Foto des glatzköpfigen Camaphos, dem Meis­ter­tech­niker und Mann für alles Grobe. Über sein Gesicht war der Vermerk VERHAFTET geklebt.

In der dritten Reihe folgten die Lehrer und Handlanger von Doschs Orga­nisation: Esther Zünsler – klein, rothaarig, mit blaugetönter Sonnenbrille, Ansgar Telchow – hager, hohlwangig mit Hyänenlächeln, Grit Bracken – durchtrainiert, mit Igel­­frisur und markanten Wangenknochen und schließlich Leander Maria Lehmschlag, dessen Gesicht von dunklem Voll­bart und Pferdeschwanzfrisur eingerahmt wurde.

Die vierte Reihe bildeten die Fotos der verbliebenen iKIDS der ersten Generation, der auch Fenja angehörte: Chloé wirkte mit ihrem Kinngrübchen und dem zu einem Kranz geflochtenen Haar, als könne sie kein Wässerchen trüben. Dorian, der blasse Hüne mit den speckigen Wan­gen, hatte Jorin bereits übel zugesetzt. Und natürlich Adam, der Anführer der iKIDS. Auf den ersten Blick sah er wie ein schüchterner Junge aus der Nachbarschaft aus, mit seinem welligen Seitenscheitel und den leicht abstehenden Ohren. Unter der Fassade lauerten jedoch unmenschliche Kräfte und kälteste Intelligenz.

Auf einem Beistelltisch, an dem ein Vergrößerungsglas mit Lichtring montiert war, lagen in einer Metallschale Fragmente von Bienen: Flügel, zwei Oberkörper und Köpfe. Aber es waren keine normalen Insekten, sondern Nanobots, Borax Doschs Spionagedrohnen, welche die Kinder auf der Eidechseninsel auf Schritt und Tritt überwacht hatten.

„Smuts!“, zischte Jorin aufgebracht. „Du bist echt … Ich komme um vor Langeweile und dabei mache ich meine Hausaufgaben die ganze Zeit über einer geheimen Unter­grundzentrale der A.KI.A.! Wann wolltest du mir denn von dem Zeug hier erzählen, hä? Ich glaub, ich spinne!“

Der Agent legte seinen Kopf schräg, während er ein Nacht­sichtgerät aus dem Regal fischte. „Befehl ist Befehl! Du solltest selbst drauf kommen, Jo, ein Test, wie gut du darin bist, den Schein zu durchschauen. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen enttäuscht von dir, von deiner mangelnden Hartnäckigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist die erste Lektion der Agenten-Ausbildung: Nichts ist, was es zu sein scheint. Ein bisschen Rumstöbern hätte dich vielleicht auf eine Spur gebracht“, Smuts schüttelte mitleidig den Kopf, „aber du hattest ja alle Hände voll damit zu tun, Jagd auf Gartenzwerge zu machen.“

Annabel wechselte wieder einen Blick mit Njeri, während Jorin abwehrend die Hände hob. Er blies die Backen auf, doch bevor er sich für die Zwergenpirsch in der Nachbarschaft rechtfertigen konnte, knackte es in einem Deckenlautsprecher und die Stimme der A.KI.A., die Jorin zuvor in seinem Kommunikator vernommen hatte, meldete sich zum zweiten Mal an diesem Tag zu Wort.

Ohne Umschweife kam sie zur Sache: „Liebe Mitstreiter, ich bin froh, dass ihr da seid. Vor allen Dingen Njeri möchte ich in unserem Kreis willkommen heißen, da sie erst vor Kurzem rekrutiert wurde. Fenja hat bereits das gesamte A.KI.A.-Trainingsprogramm durchlaufen und Jorin ... erhält mit dem heutigen Tag die letzte Sicherheitsfreigabe.“ Es knackte im Lautsprecher und der Junge spürte, wie sich seine Gesichtsfarbe einem dunklen Purpur näherte. Un­­gerührt fuhr die Stimme fort: „Wie ihr von Annabel gehört habt, gibt es Neuigkeiten zu Borax Dosch. Seit der Explosion auf der Eidechseninsel ist er wie vom Erdboden verschwunden und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht.“

Während Jorin die Worte hörte, schob sich erneut ein Kloß in seine Kehle. Die Wut auf Smuts verrauchte bei der bloßen Nennung dieses Namens: Borax Dosch, Mil­­liar­där und exzentrischer Technikfreak mit Hang zur Welt­beherrschung. Ohne es zu merken, ballte Jorin seine Hände zu Fäusten, bis sich die Fingerknöchel weiß durch die Haut drückten wie eine Schule buckelnder Belugawale.

„Seit Längerem hegen wir den Verdacht, dass die Ent­wicklung der iKIDS bloß der erste Schritt in Doschs Plan war. Wir glauben, dass er im Verborgenen an KI-Maschinen arbeitet, mit denen er aktiv ins Weltgeschehen eingreifen will. Zuerst waren es nur Gerüchte, jetzt liegt uns dank Njeri der Beweis vor. Annabel, würdest du bitte?“ Die Stim­me der A.KI.A. verstummte, woraufhin nur ein statisches Summen in der Luft hängen blieb.

Annabel hatte die ganze Zeit über mit gesenktem Kopf dagestanden, die Arme vor der Brust verschränkt, und schien erst jetzt wieder zum Leben zu erwachen. Sie wippte auf ihren Fußballen und griff dabei in die Innentasche ihrer sand­­farbenen Jeansjacke, um ein hauchdünnes Tablet hervorzuziehen.

„Vor einigen Tagen ist ein Video aufgetaucht“, begann sie, marschierte zu einem Beamer hinüber und stellte mit wenigen Handgriffen eine Verbindung zwischen beiden Ge­­räten her. „Njeri ist zufällig darauf gestoßen und hat mich sofort informiert. Das ist auch der Grund, weshalb sie ab jetzt unser Team verstärkt.“ Sie zwinkerte dem Mäd­­­chen zu. „Jacob Mkwawa, Njeris Vormund, arbeitet als Zoologe in Skandinavien, er ist spezialisiert auf gro­ße Prädatoren, Raubtiere am Ende der Nahrungskette“, er­­klärte Annabel. „Hoch im Norden untersucht er den Ein­­­fluss des Klimawandels auf das Verhalten von Wölfen und Bären. Dazu hat er an einigen Stellen Kameras mit Be­­­wegungssensoren installiert und eine der Aufnahmen war ziemlich merkwürdig.“ Sie nickte Njeri zu, damit diese wei­ter­­­erzählte.

„Genau“, fuhr das Mädchen fort. „Seit Jacob mitbekommen hat, was mit unserer Schule passiert ist, telefonieren wir regelmäßig. Beim letzten Mal hat er mir von diesem komischen Video erzählt, das er vor einem halben Jahr in der Nähe einer verlassenen Walfangstation aufgenommen hatte. Ich war die Erste, der sich Jacob überhaupt anvertraut hat. Er hatte Angst, sich seinen Ruf zu ruinieren, denn als Forscher kann er ja schlecht behaupten, einen Geist gefilmt zu haben.“ Njeri malte mit den Fingern An­­führungszeichen in die Luft. „Vor vier Tagen hatte ich das Video in der Post und es ist wirklich krass. Nicht nur der Geist …“ Sie warf einen verschwörerischen Blick in die Runde.

„Ein Geist.“ Jorin krauste seine Stirn. „Ernsthaft?“

Ein fiebriger Glanz hatte sich über Samuels Pupillen ge­­legt. „Wir zeigen ihn euch“, flüsterte er.