Tivertons sirrend heißer Sommer wird von einem kalt grünen Winter abgelöst. Constable Hirschhausen patrouilliert über die einsamen Landstraßen. Scheinbare Kleinigkeiten halten ihn auf Trab: ein Unterwäschedieb, ein randalierender Vater. Hirsch weiß genau, wie leicht solche Fälle eskalieren und bemüht sich um Kontrolle. Bis sie ihm entgleitet.
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Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.
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Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.
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Barrier Highway
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Ein Constable-Hirschhausen-Roman (3)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Lektorat: Anne-Catherine Eigner
Originaltitel: Consolation
© by Garry Disher 2020
© by Unionsverlag, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Jonathan Lloyd (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31114-5
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Für Juliane Römhild
Herrschte Hirsch über den Ort?
Manchmal kam es ihm so vor – zumindest machte er ihn zu dem seinen, wenn er bei Tagesanbruch durch die Straßen patrouillierte. Als er damit vor achtzehn Monaten begonnen hatte, hatte er sich eine Art inneren Lageplan zurechtgelegt. Ausgehend vom Polizeirevier hatte er imaginäre Verbindungslinien gezogen zur kleinen Schule am Barrier Highway, zum Gemischtwarenladen, zu dem Geschäft für Luzernesamen in der Nebenstraße, den Tennisplätzen, den bemalten Silos an der aufgelassenen Bahnstation – und zu jedem der Häuser, zumeist errichtet aus lokalem Gestein des Woll- und Weizenlandes auf halber Strecke zwischen Adelaide und den Flinders Ranges.
Als Hirsch diesen Lageplan vollendet hatte und alles mit allem verknüpft war, hatte der Polizist in ihm wieder die Oberhand gewonnen. Der Beschützer und Gesetzeshüter. Er wachte über die beiden Geschwister im Teenageralter, die sich um ihre manisch-depressive Mutter kümmerten, über die alte Frau, deren Gatte ständig umherirrte, kaum dass sie ihm den Rücken kehrte, über den jungen Ureinwohner, der erst allmählich zu glauben begann, dass Hirsch nicht zu der prügelnden Sorte von Polizisten gehörte. Und er hielt Ausschau nach Dummheit, Hinterlist und reiner Bosheit. Er ging alte Verbrechen und launische Schicksalsschläge durch, von denen nur noch ein paar Blutflecken an einem Verandapfosten oder auf einer Einfahrt zeugten – verbunden mit einem Gefühl von Bedauern: »Hätte ich doch nur …« Vielleicht konnte er das nächste Mal früher eingreifen? War da nicht ein irrer Glanz in den Augen eines Mannes, der auf den ersten Blick wie ein ordentlicher Bürger wirkte? An welcher Stelle auf der First Street konnte er vielleicht einen eventuellen Fluchtversuch unterbinden? Oder wie am Canowie Place schließlich den Schlüpferdieb schnappen? Jeder Ort war durchlässig, nach allen Seiten offen. Niedertracht wie Gutherzigkeit konnten einsickern. Alles war mit allem verbunden.
Der Schlüpferdieb. Hirsch ging an diesem eisigen Mittwochmorgen gegen Ende August von der Mawson Street zum Canowie Place; Frost lag auf dem Gras, Eiszapfen hingen an tropfenden Gartenwasserhähnen, schließlich zerfielen sie im Glanz der Sonne in Prismen und Diamanten. Vor Hirsch lag ein strahlender, ruhiger, eisiger Tag. Gestern war Schnee auf dem Razorback gemeldet worden, und Hirsch war gewillt, das zu glauben, denn von der Kälte tränten ihm die Augen, und Wangen und Zehen waren eiskalt.
Komische Vorstellung, dass 2019 mit Buschbränden im ganzen Land begonnen hatte. Was konnte da noch kommen? Hirsch stampfte mit den Füßen auf, zog die Schultern hoch und den Kopf ein, wurde zu einer gedrungenen Gestalt unter einer Strickmütze, die den Canowie Place entlangging. Er kam an der Uniting Church vorbei, in der nun ein Geologe im Ruhestand wohnte, dann an einem transportablen Fertighaus, aus dessen Schornstein der Rauch senkrecht in die Höhe stieg, und passierte weitere steinerne Häuser mit verblichenen roten oder grünen Blechdächern, deren Sträucher und Jalousien die Welt fernhielten. Die übliche ländliche Gemeinde: ein Mischmasch aus alt und neu, renoviert und verlassen; Hirsch konnte die Kälte in all den Gemäuern spüren.
Er blieb bei Mrs Lidstroms Haus, 9 Canowie Place, stehen und schaute an der Seitenwand entlang zur Wäscheleine im Hinterhof hinüber. Ein Geschirrtuch und eine marineblaue Polyesterhose, die sie häufig trug. Sie dürften steif gefroren sein, nahm er an. Er stellte sich vor, wie er sie mit den Fingern anschnippste: ein leises Knacken wie Pappe.
Er schaute zum Dachvorsprung hinauf. Nachdem der Schlüpferdieb wiederholt in der Gegend zugeschlagen hatte – hier in Tiverton, unten in Penhale, drüben in Spalding – und bei einigen Opfern mehrmals aufgetaucht war, hatte sich im Polizeibudget eine Summe gefunden, um die Installierung einer versteckten Überwachungskamera an je einem Haus in jedem Ort zu finanzieren. In Redruth war nichts dergleichen vorgefallen, was Hirsch und seine Vorgesetzte, Sergeant Brandl, vermuten ließ, dass der Täter dort lebte. Das war nun zehn Wochen her gewesen. Seitdem hatten die Kameras bei Mrs Lidstrom und in Penhale körnige Videoaufnahmen von einer männlichen Gestalt in Motorradkleidung und Helm geliefert. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, hatten die Nachbarn gesagt, »ich habe gestern Nacht ein Motorrad gehört.« Kein Gesicht, nur der Eindruck einer gedrungenen Gestalt in Lederkluft.
Bob Muir, Hirschs Elektrikerfreund, hatte die Kameras installiert. Mrs Lidstrom, die mit Hirsch danebengestanden und Bob auf der Leiter zugeschaut hatte, hatte ein Wort benutzt, das Hirsch bislang nur gedruckt gekannt hatte.
»Wer würde denn meine alten Liebestöter klauen?«
»Das liegt an deinem topmodischen Geschmack, Betty«, hatte Bob erwidert und mit ein paar Messingschrauben zwischen den Zähnen von der Leiter geschaut.
Mrs Lidstrom hatte geprustet. Sie war rundlich und gemütlich, weißhaarig und gewitzt und amüsierte sich meist über die Welt. »Und dann auch noch meinen Badeanzug und meinen besten BH.«
»Badeanzug?«, hatte Hirsch gefragt.
Sie machte eine leicht verdrießliche Miene: Schon vergessen, Paul? »Wassergymnastik. In Redruth.«
Wie sie mal zu Hirsch gesagt hatte, war sie keine von denen, die einfach auf dem Hintern herumsaßen. Vorträge im Probus Club, Wanderurlaub auf Neuseeland, freiwillige Dienste, Sport. »Ach ja«, meinte Hirsch.
»So bleibe ich jung. Aber so jung auch wieder nicht. Also, wer würde denn die Unterwäsche einer alten Frau klauen wollen?« Betty Lidstrom sah Hirsch an. Er bemerkte ihren hellen Blick und den wachen Verstand dahinter. »Ein Fetisch?«, fragte sie. »Etwas Psychosexuelles?«
Hirsch sah sie stirnrunzelnd an. Sie verpasste seinem Oberarm einen leichten Schlag – unterschätzen Sie mal alte Frauen nicht –, und er lächelte und nickte. »Schon möglich.«
Die beiden standen unten, Bob Muir balancierte im Overall oben auf der Leiter, und alle drei versuchten, sich in einen Mann hineinzudenken, der Unterwäsche von den Wäscheleinen in Hinterhöfen klaute. Warum tat er das? Was machte er mit seinem Schatz an Liebestötern? Und war das nur der Auftakt zu weiteren Taten?
Ihn zu fassen würde schwer werden. Und wenn, dann konnte er seinen Kopf ganz einfach aus der Schlinge ziehen und sagen, er habe die Unterwäsche in einem Secondhandladen gekauft. Peinlich, aber kein Diebstahl. Dann würde er sagen, die Behörden hätten in den Schlafzimmern der Bürger nichts zu suchen, und so weiter. Deshalb waren die Opfer mit besonders markierter Unterwäsche ausgestattet worden, falls der Mann wieder zuschlagen sollte: ein in die obere linke Ecke des Etiketts gestanztes Loch.
In diesem Augenblick ging in Mrs Lidstroms hinterem Seitenfenster das Licht an: die Küche. Hirsch setzte seinen Kontrollgang fort, die nächtlichen Verspannungen und die Steifheit lösten sich und er fühlte sich trotz Kälte und Eintönigkeit lebendig. Er würde den Vormittag wahrscheinlich damit verbringen, ein, zwei eidesstattliche Erklärungen zu bezeugen, einen Bericht über die Kneipenschlägerei unter Windfarmarbeitern am letzten Wochenende abzufassen und die Lehmklumpen aus den Radkästen seines Allrad-Dienstfahrzeugs der South Australia Police zu kratzen, die aus dem fiesen, zähen, klebrigen roten Staub der Plains zusammengebacken waren.
Dann ging er seitlich an einem kleinen Backsteinhaus am Highway vorbei. Im Vorübergehen klopfte er gewohnheitsmäßig mit den Fingerknöcheln auf die Windschutzscheibe seines alten Nissan, das sollte Glück bringen. Er betrat das Haus durch die Hintertür. Nach der Dusche und dem zweiten Frühstück öffnete er die Verbindungstür und trat aus seiner kleinen Dreizimmerwohnung in das Zimmer mit Blick auf den Highway.
Das war das ganze Polizeirevier. Ein Deckenventilator für den Sommer, ein nutzloser Heizstrahler für den Winter. Gemeindemitteilungen an den Wänden, ein abgelaufener Kalender mit Aufnahmen von Wildblumen im Frühling östlich der Ortschaft, ein Tresen, der seinen Schreibtisch, den Computer, Drehstuhl und Aktenschrank vom Wartebereich abtrennte. Allerdings wartete selten jemand. Ab und an geschah ein Verbrechen, Gesetzesbrecher waren unterwegs, doch meistens konnten Anwohner oder Fremde damit rechnen, sofort angehört zu werden – zumindest, wenn Hirsch anwesend war, nicht Streife fuhr oder am Telefon hing. Eine verschlafene Ortschaft auf dem Land. Meistens jedenfalls.
Hirsch saß am Schreibtisch, der Heizstrahler roch nach verbranntem Staub, wärmte ihm aber kaum die Schienbeine; er widmete sich dem Eingangskorb, las Mails und warf einen Blick auf die What-The-Fuck-Seite von Tiverton auf Facebook. Der Wäschediebstahl war dort das vorherrschende Thema, die Kommentare manchmal amüsant, manchmal leicht daneben; gelegentlich wurden sie bösartig. Hirsch nahm an, dass Betty Lidstrom davon wusste. Er konnte sie nicht davor beschützen. Überall kämpfte die Polizei einen aussichtslosen Kampf gegen die sozialen Medien.
Drei interessante Dinge gab es an diesem Vormittag: Fotos vom Razorback mit Schnee auf dem Grat; Meldungen von einem Paar irischer Dachflicker, die sich im Bezirk herumtrieben – eine Betrugsmasche?; und eine anonyme Anfrage bezüglich Quinlan Stock and Station, einem Händler in Redruth, der sich auf den Ankauf von Land, Vieh, Wolle, Agrochemikalien und Landmaschinen spezialisiert hatte: Hat jemand Erfahrungen damit, dass diese Bande die Zahlungen verschleppt?
Das Telefon klingelte. »Paul?«
Hirsch erkannte die Stimme nicht. »Am Apparat.«
»Ich bins, Clara.«
Hirsch nahm an, dass ihm Name und Stimme etwas sagen sollten; aber das war nicht seine Stärke. Nicht gut bei einem Polizisten auf dem Land: Zur Jobbeschreibung gehörte, neben Gesetzeshüter, auch Freund und Ratgeber für alle zu sein. Doch der Name Clara war nur ein Rauchwölkchen in seinem Verstand, weit entfernt in Raum und Zeit.
»Hi.«
Sie erkannte sein Dilemma. »Clara Ogilvie.«
Nichts. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er und konzentrierte sich wie verrückt.
»Caledonian Dreaming?«
Ach ja. Eine lockere Gruppe aus Fiedlern, Gitarristen, Dudelsackspielern, Blechflötenspielern und Sängern beiderlei Geschlechts – schottische Balladen, trendiger Folk, Country, dazu alles, was vage keltisch klang. Alle vierzehn Tage traten sie im Hinterzimmer des Woolpack in Redruth auf, eine halbe Stunde den Highway entlang. Hirsch war zwei Mal dort gewesen, Wendy Street und ihre Tochter hatten ihn mitgeschleift. Beim zweiten Mal, im Juni, hatte er die Augen vor allen bohrenden Blicken im Raum geschlossen und eine kurze, zutiefst unsichere Gesangseinlage gegeben von Dirty Old Town, das er aus seiner Kinderzeit von einer alten Platte der Pogues kannte, die seinen Eltern gehört hatte. Den Text konnte er auswendig; was ihm fehlte, war die kratzige Stimme von Whisky und Zigaretten.
Plötzlich konnte er Clara Ogilvie einordnen. Mitte vierzig, schlank, lebhaft, ständig unter Strom. Sie hatte ihn hinterher am Arm berührt – Wendy hatte mit einem schläfrigen kleinen Lächeln zugeschaut – und gesagt, er hätte eine hübsche Tenorstimme. In einer kleinen Gemeinde war das ein anderer Ausdruck für halbwegs passabel.
»Clara, was kann ich für Sie tun?«
»Ich rufe an, weil …« Sie verstummte. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Ja.«
»Und Sie müssen keine Runde machen?«
Wenn, dann wäre Hirsch schon seit sieben Uhr früh unterwegs gewesen.
»Immer los«, sagte er, und sein Herz verkrampfte sich ein wenig. Sie wollte, dass er noch mal sang, vielleicht auf dem Konzert auf der Redruth Show im September.
»Ich rufe an, weil … hören Sie, es ist etwas kompliziert.«
»Lassen Sie sich Zeit.«
»Ich mache mir um das Wohlbefinden einer Person Sorgen.«
Als Hirsch das letzte Mal bei jemandem vorbeigefahren war, um sich um dessen Wohlbefinden zu kümmern, war er auf zwei Leichen gestoßen: Mutter und Sohn, die bei einem Hauseinbruch erschossen worden waren. Das Blut, die Leichen: Alles stand plötzlich wieder vor seinem geistigen Auge. »Hmhm. Wer?«
»Also«, setzte Clara Ogilvie an. »Ich unterrichte Englisch an der Redruth Highschool – deshalb kenne ich Wendy. Sie meinte, ich solle erst mit Ihnen reden und mich dann an das Jugendamt wenden.«
Ein Kind in ihrer Klasse? Gab es denn in den Schulen keine Sozialbeauftragten? Dieses Gespräch würde wohl noch ewig um den heißen Brei kreisen. »Jemand in Ihrer Klasse? Und Sie glauben, das sei ein Fall für die Polizei?«
»Ich hoffe nicht, aber ich mache mir Sorgen.«
Kindesmisshandlung, dachte Hirsch. Blaue Flecken. Überreaktionen. Vernachlässigung. Auf Drogen. Handelt mit Drogen …
Aber warum rief sie ihn an? Das Polizeirevier Redruth war zwei Minuten von der Schule entfernt, Hirsch aber eine halbe Stunde. »Vielleicht bitten Sie Sergeant Brandl, sich das mal anzuschauen.«
»Sie sind näher.«
»Erzählen Sie mir doch mal die Sachlage.«
Eine kurze Pause, so als habe er sie schroff behandelt. Dann holte die Frau anscheinend tief Luft. »Zu meinem Job an der Highschool arbeite ich nebenbei online mit Grundschulkindern, die zu Hause unterrichtet werden, und überwache deren Fortschritte.«
»Okay.«
»Für das Bildungsministerium.«
»Okay.«
»Das ist eine der Bedingungen, wenn jemand zu Hause unterrichtet wird.«
»Hmhm.«
»Diese Woche bin ich online mit einem Mädchen im letzten Grundschuljahr. Lydia Jarmyn, elf, wird von ihrer Mutter Grace zu Hause unterrichtet.«
»Okay.«
»Also, ein paarmal im Jahr setze ich mich mit diesen Kindern in Verbindung, kontrolliere die Fortschritte in den verschiedenen Fächern und schaue mir den Lehrplan an. Lydia war allerdings die ganze Woche über zerstreut. Sie gähnt viel. Schaltet andauernd ab.«
»Reden wir hier von Skype? Zoom? Sie können sie also sehen?«
»Sie wirkt dünn und blass. Nickt ein, schüttelt sich, als ob sie versucht, sich wach zu halten, nickt wieder ein.«
»Haben Sie mit der Mutter gesprochen? Vielleicht hängt das Mädchen die ganze Nacht am Computer. TikTok, oder was immer heute angesagt ist.«
»Ich glaube, da ist noch was anderes im Busch. Ich habe Lydia gefragt, ob alles in Ordnung sei, und sie antwortete, sie habe die ganze Zeit Hunger. Sie dürfe nur eine kleine Schüssel Reis am Tag essen. Und ihr sei ständig kalt.«
Hirsch ging die möglichen Szenarien durch, falls er beim Jugendamt anrief: der dreißigste Anrufer in der Warteschleife; jemand verspricht zurückzurufen, tut es aber nie; Hirsch bekommt eine Aktennummer, die nächsten Monat bearbeitet werden kann; man verlangt weitere Beweise; sie versprechen zu handeln, tun es aber nie … und dann stirbt das Kind.
Oder aber wir haben es hier mit einem Kind zu tun, das nur rumjammert.
»Wissen Sie, wo die Jarmyns wohnen?«
Er hörte Papier rascheln, dann gab ihm Clara Ogilvie eine Adresse: Hawker Road. Hirsch kannte die Straße: eine Schotterpiste oben in den Tiverton Hills. »Und aus welchem Grund wird sie zu Hause unterrichtet?«
Statt auf die Grundschule in Tiverton zu gehen, die gleich auf der anderen Seite des Polizeireviers lag?
»Wenn die Eltern gewisse Bedingungen erfüllen, dann dürfen sie ihre Kinder zu Hause unterrichten.«
Das war eine Antwort, aber nicht auf seine Frage.
»Okay, danke, ich schaue nach.« Er hielt kurz inne. »Das haben Sie gut gemacht.«
Sein Job bestand zur Hälfte aus Diplomatie.
Ogilvies Stimme veränderte sich, klang leicht und gesprächig. Clara freute sich schon auf das Beisammensein mit Caledonian Dreaming am Sonntagnachmittag; sie nannte ein paar Lieder, die gut zu seiner Stimme passen könnten, wie sie fand. Hirsch schluckte. Schon nach den Titeln zu urteilen, handelte es sich um epische Balladen über Fehden, Überfälle und wohlverdiente übernatürliche Strafen. Er wand sich, erfand Ausflüchte und beendete das Telefonat, ohne sich zu irgendetwas verpflichtet zu haben.
Hirsch heftete seine Handynummer an die Haustür und steuerte seinen Dienstwagen, einen Toyota Hilux, rückwärts auf den Highway. Ein Strom von Autos fuhr durch den Seitenzugang zur Schule, und wieder fragte er sich, warum Lydia Jarmyn zu Hause unterrichtet wurde. Er wartete, dass der Bus von Broken Hill vorbeizockelte, dann folgte er ihm nordwärts durch das Farmland.
Weizen-, Hafer- und Gerstensprösslinge säumten die beiden Straßenseiten in üppigen, sattgrünen Rechtecken und reichten in breiten Pinselstrichen die Hügelflanken hinauf, bis der fruchtbare Boden Felsklippen wich. In der Ferne waren die Dächer von Farmhäusern und Geräteschuppen zu sehen. Hirsch dachte an den Wandel der Jahreszeiten. Als er noch in Adelaide wohnte, hatte er nicht viel davon mitbekommen. Das Wetter war dort heiß, kalt oder irgendetwas dazwischen, mehr nicht. Von Pflanzenwuchs und Vogelstimmen hatte er nichts mitbekommen, auch nicht von Pollen und Blüten, Werden und Vergehen. Wichtig war nur, was man anzog; brauchte er eine Jacke oder war es heiß genug, um schwimmen zu gehen? Hier oben, drei Stunden von der City und höher gelegen, gab es zwei Extreme: kalte, grüne Winter und trockene Sommer.
Ein Fleck am Himmel entpuppte sich als kurzes, stummeliges Sprühflugzeug, dessen Kabine wie eine große Seifenblase über den Flügeln saß; die Maschine schmierte seitlich ab und richtete sich dann wieder aus, um ein Weizenfeld zu überfliegen. Hirsch bremste, blinkte, hielt am Straßenrand und sah zu, wie die Maschine tiefer flog, über die Stromleitung hopste, wieder sank und von Zaun zu Zaun jaulte, wobei sie einen breiten Streifen Chemikalien versprühte; sie zog wieder hoch, bevor sie gegen die Hügelflanke pflügte, kippte über einen Flügel und wendete. Sinkflug, Heckenhopser, Sprühen, Anstieg, Wende.
Hirsch setzte die Weiterfahrt genau so an, dass er keine Ladung Chemikalien abbekam oder das Fahrwerk sich in seiner Dachreling verfing, und zog den HiLux wieder auf die Straße hinaus. Eine Viertelstunde später bog er links ab; die Schotterpiste führte ihn eine Flanke hinauf und dann an ihr entlang. Schließlich kam er zu einer Einfahrt, die von einem doppelflügeligen verzinkten, verschlossenen Eisentor gesichert war.
Hirsch hielt an und stieg aus; mürrisch betrachtete er das Schloss. Die Zufahrt führte zwischen silbrigen Eukalyptusbäumen entlang zu einem hellbraunen, von Kiefern umstandenen Ziegelhaus aus den Siebzigern. Fantastische Aussicht, fand er, drehte sich zur Bestätigung um und sah die Welt durch die Augen der Bewohner hier oben über dem Tal.
Sollte er, sollte er nicht? Bevor Hirsch noch länger zaudern konnte, kletterte er über den Zaun und stapfte zum Haus. Es blies ein eisiger Wind, der ihm bis in die Knochen fuhr, die Eukalyptusbäume bogen sich und wiegten ihre Kronen in einem unablässigen Rauschen. Das Haus wirkte verschlossen, alle Vorhänge waren zugezogen. Keine Fahrzeuge, soweit er sehen konnte. Er klopfte: keine Reaktion. Das gefiel ihm nicht. Am liebsten wäre er wieder verschwunden.
Aber das Haus war nicht vernachlässigt. Die Veranda war sauber, die Topfpflanzen gediehen, die Beete waren frisch gejätet, die Fensterscheiben fleckenfrei. Kein Schimmel an den Fallrohren. Und aus einem Zwinger beobachtete ihn gleichgültig ein Schäferhund. Hühner pickten und scharrten im Hinterhof herum. Im Carport stand ein pinkfarbenes Dreirad. Die Bewohner waren ausgeflogen, nahm Hirsch an. Irgendwann mussten sie ja wieder auftauchen und den Hund füttern.
Sollte er eine Nachricht dalassen? Dann schreckte ihn der Anflug eines leisen Flüsterns oder einer minimalen Bewegung auf, und Hirsch sah sich noch einmal genauer den Wohnwagen an, der in einem offenen Maschinenunterstand am hinteren Ende des Hofs stand.
Hirsch überquerte den Hof. Es handelte sich um einen altmodischen Wohnwagen auf verrottenden Rädern. Und er war Wind und Wetter ausgesetzt, dem Schmutz und Schimmel nach zu urteilen. Ein Schieberiegel war an die Tür montiert worden, alle Fenster waren vergittert. Ein hübsches Gefängnis.
Hirsch klopfte, sagte Hallo, wartete nicht erst, sondern schob den Riegel auf, öffnete die Tür und trat ein.