Sommer, Sonne, Strand und jede Menge Seehunde –– Lassen Sie sich von Marieke Hansen an die deutsche Nordseeküste entführen! Nach einem arbeitsreichen Jahr als Konditorin auf einem Kreuzfahrtschiff hat Fenja eine Auszeit dringend nötig. Wie schön, dass Oma Lotti ihr anbietet, den Sommer bei ihr in Ostfriesland zu verbringen! Hier könnte sie endlich zur Ruhe kommen. Wäre da nicht Sven, Omas Mitarbeiter in der Seehundstation, mit dem Fenja von der ersten Minute an aneinandergerät. Sie hält ihn für einen eingebildeten Schnösel, er sieht in ihr die tollpatschige Großstädterin. Als Oma Lotti plötzlich krank wird und die Seehundstation in Schwierigkeiten gerät, ist jedoch schnell klar: Fenja und Sven müssen sich wohl oder übel zusammenraufen –…
Umgeben von Natur und Tieren wuchs Marieke Hansen in einem kleinen Dorf im Oberbergischen Land auf. Nach einem Studium der Umweltwissenschaften begann sie, sich für Wildtiere einzusetzen. Heute ist sie in der Wildtierrettung tätig und kümmert sich um verwaiste Jungtiere. Als Expertin hat sie mehrfach Radio-Interviews gegeben und vor Fernsehkameras gestanden. Ihre Liebe zum Meer entstand durch zahlreiche Urlaube in ihrer Kindheit –– nun lebt sie selbst nahe der Küste und ist vertraut mit Wind und Wellen. In ihrem ersten Roman vereint Marieke Hansen ihre Erfahrung mit wilden Tieren mit ihrer Passion für das Meer.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg
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eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2089-2
luebbe.de
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»Lüch up un fleu herut«
(Hebe auf und fliege weit hinaus)
Wahlspruch der Klootschießer
Wer kennt das Land nicht, wo der Torf die Erde und arger Nebel stets den Himmel bedeckt?
Wer kennt das Land nicht, das bei seinem »Werde!« der Herrgott selber erst zuletzt entdeckt?
Leutnant von Düring in Aurich, 1853
Fenja wagte den ersten Schritt ins eiskalte Wasser. Der volle Mond stand hoch über dem Deich und warf ein gespenstisches Licht auf die Buhnen. Der Wellengang war ruhig, auch die Möwen schliefen. Sie wagte sich weiter nach vorne und schloss dann die Augen. Salz. Wind. Dieser einzigartige Gesang des Wassers, der Lieder von Urlaub, den Sommerferien ihrer Kindheit und Oma Lottis Umarmung in ihren Ohren summte. Sie war müde, ausgelaugt, erschöpft.
Einen Moment verharrte sie, sog alles in sich auf und versuchte loszulassen. Das letzte Jahr war hart gewesen, es hatte sie all ihre Kraft gekostet. Sie hatte als Konditorin auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet, war von Gibraltar nach Istanbul und von Venedig nach Kairo gefahren und hatte doch das Meer so wenig genießen können. Die Schichten waren lang gewesen, oft zwölf, manchmal vierzehn Stunden am Stück. Während die Gäste an Land gingen, hatte sie mit ihrem Küchenteam die Vorratskammern aufgefüllt. Und in letzter Zeit saß ihr ständig dieses nervige Klingeln im Ohr, das immer dann schlimmer wurde, wenn sie unter Stress stand.
Nun war sie wieder an dem Ort, an dem sie geboren worden war, Greetsiel an der ostfriesischen Küste. Ein Ort, der Erinnerungen weckte, mit dem sie heute jedoch fast nichts mehr verband.
Silberne Wellenkronen tanzten um sie herum, und auch, wenn es nicht sein konnte, glaubte sie, die Muschelbänke im Meer klappern zu hören. Sie löste sich vom Anblick des Mondes, der sich so verheißungsvoll auf der Wasseroberfläche spiegelte, es schien fast, als wäre er im Meer versunken und beleuchte es von unten. Wie verzaubert trat sie einen weiteren Schritt vor. Ein saugendes Geräusch ertönte, als sie knöcheltief im Watt versank. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu finden, und spürte einen stechenden Schmerz, als eine Muschel ihr die Fußsohle aufriss. Sie war es nicht mehr gewohnt, barfuß zu laufen. Fluchend humpelte sie den Weg zurück, spürte wieder festen Boden unter den Füßen und suchte den Parkplatz neben der Düne, auf dem ihr VW Käfer parkte.
Dort angekommen kramte sie ein Handtuch aus ihrer Tasche und trocknete ihre Füße, um sich die Wunde anzusehen. Ein Kratzer, mehr nicht, aber er war tief und blutete. Unter der Abdeckung des Kofferraums fand sie den Erste-Hilfe-Kasten. Als sie mit klammen Fingern die Mullbinde hervorholte, fiel sie ihr herunter, nur um unter das Auto zu kullern.
»Mist.« Sie beugte sich tief unter den Wagen und tastete im Sand danach, bis sie endlich das knisternde Plastik der Verpackung spürte.
»Kann ik helpen?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr. Fenja erschrak so sehr, dass sie mit dem Hinterkopf an die Stoßstange knallte.
»Mist«, wiederholte sie. »Aua.« Kleine Sternchen tanzten vor ihren Augen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu orientieren.
Vor ihr stand ein Mann mit dunklen Wuschellocken, einem Fünftagebart und, wenn sie es im schummrigen Licht des Käfers recht erkennen konnte, schokoladenbraunen Augen. Er trug eine verschlissene Jeans, ein löchriges T-Shirt und wirkte nicht besonders vertrauenerweckend.
»Nein, danke. Alles in Ordnung«, murmelte sie und trat einen Schritt zurück.
»Sicher?«
»Ja.«
Der Mann hob eine Augenbraue. Anstatt sich in den Schatten zurückzuziehen, aus dem er gekommen war, blieb er stehen und verschränkte die Arme. »Du solltest um diese Uhrzeit nicht allein hier draußen sein.«
Seine Bemerkung jagte Fenja einen Schauer über den Rücken. Was wollte dieser Typ von ihr? »Wie bitte? Sie sind doch auch hier.«
»Ich komm von hier. Ich kenne mich aus.«
»Wer sagt, dass ich nicht auch hier wohne?«
Der Mann lachte. »Erstens hättest du mir bei meiner ersten Frage auf Plattdüütsk geantwortet. Zweitens trägt kein Einheimischer an einem Mittwochabend eine Seidenbluse am Strand. Drittens kommt nur ein Tourist auf die Idee, ausgerechnet an diesem Abschnitt barfuß ins Wasser zu latschen.«
Fenja stieg die Schamesröte ins Gesicht. Das fing ja gut an.
Und der Lockenkopf war noch nicht fertig. »Viertens kenne ich hier jeden. Es ist eine kleine Gemeinschaft.«
»Soso«, sagte Fenja und verdrängte tapfer das traurige Gefühl, das immer dann in ihr aufstieg, wenn sie sich entwurzelt vorkam. Das hier war eigentlich ihre Heimat, und doch gehörte sie nicht dazu. Auch in Düsseldorf hatte sie sich nie richtig heimisch gefühlt.
»Das sieht schmerzhaft aus.« Er deutete auf ihren Fuß.
»Nein, ist es nicht. Nur ein Kratzer. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich habe zu tun.«
Er hob beschwichtigend die Hände und grinste, verzog sich aber tatsächlich, sodass sie in Ruhe den pochenden Schnitt verarzten konnte. Vorsichtig schlüpfte sie wieder in den Schuh – Oma sollte nichts von dieser peinlichen Begegnung erfahren.
Ihre Mutter hatte sie gewarnt: »Die Greetsieler lieben ihre Heimat. Mach dir keine Illusionen, sie werden dich nicht als eine von ihnen akzeptieren. Für die waschechten Krummhörner bist du eine Touristin.«
Wie recht sie gehabt hatte! Doch eigentlich konnte Fenja das herzlich egal sein. Sie wollte ihre Oma besuchen, entspannen, runterkommen und endlich wieder tief durchatmen. Das würde allerdings schwierig werden, wenn alle Greetsieler solche arroganten Torfnasen waren wie dieser Typ.
Sie seufzte und schüttelte auch den Sand aus ihrem anderen Schuh, bevor sie hineinstieg. Es war viel zu viel Zeit vergangen, seit sie Oma zuletzt gesehen hatte. Ihr Leben in der Großstadt und zuletzt auf dem Schiff hatte sie so beansprucht, dass sie jahrelang nicht mehr in den Norden gefahren war. Immer war etwas dazwischengekommen, und vielleicht hatte sie es auch vermieden, auf die Krummhörn zurückzukehren, weil sie bittersüße Erinnerungen damit verband.
Fünf Minuten später tuckerte sie durch die verlassenen Straßen von Greetsiel, die im Dunkeln unwirklich und verwunschen wirkten. Tagsüber zog das Dorf in der Hochsaison viele Besucher an, aber nachts, wenn die Werbetafeln und Postkartenständer fehlten, erinnerte es sie an eine verlassene Filmkulisse in Hollywood. Gerne hätte sie sich den Ortskern angeschaut, aber das musste bis morgen warten, denn dort durften keine Autos fahren. Früher hatte sie es genossen, an der Hand ihrer Oma entlang der Souvenirläden, Modeboutiquen und Cafés zu schlendern und sich in der Eisdiele am Hafen eine Kugel Erdbeereis zu kaufen. Damals kostete die Kugel noch 60 Pfennig, das war jetzt fünfundzwanzig Jahre her. Die Zahl gruselte sie.
Ihre Eltern hatten sich noch vor ihrer Geburt getrennt, aber ihr Vater hatte sie jeden Sommer für mehrere Wochen zu sich nach Greetsiel eingeladen. Da er viel mit seinem Boot unterwegs gewesen war, hatte Oma Lotti meist auf sie aufgepasst. Sie hatte ihr Freiheiten gelassen, die sie zu Hause nicht gehabt hatte. Nur eins hatte sie nie gedurft: die Seehundstation betreten, die Oma leitete.
Ihre Mutter hatte ihr erst viele Jahre später den Grund erklärt. Es lag an Garlef, Oma Lottis zweitem Mann, der ein Alkoholproblem hatte. Papa und Garlef konnten einander nicht leiden. Ihr Vater hatte ihrem Stiefopa nie verziehen, dass seine Mutter einen Großteil ihrer Energie damit verbrachte, seine Schnapsflaschen zu verstecken und sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Es war zu einem Streit zwischen Papa und Oma gekommen, der irgendwann sogar zum Bruch geführt hatte. Papa zog nach Hamburg und gründete dort eine neue Familie, und mit dem Wegzug ihres Vaters aus der Krummhörn hatte auch Fenja den Kontakt zu ihrer Oma verloren. Sie hatten zwar telefoniert, und Oma Lotti war einige Male mit dem Zug nach Düsseldorf gekommen, aber es war nie mehr so gewesen wie früher.
Nun lebte Opa Garlef schon lange nicht mehr, und Fenja freute sich darauf, Oma endlich einmal in der Krummhörn zu besuchen. Und natürlich auch, endlich ihre legendäre Seehundstation kennenzulernen und mitzuhelfen, sich um die Tiere zu kümmern.
Sie setzte den Blinker und verließ den Ort auf der Nordseite. Am Störtebekerkanal entlang fuhr sie Richtung Neuwesteel, bis sie in die kleine Straße bog, in der die Seehundstation lag. Natürlich kannte sie den ehemaligen Gulfhof von Fotos, aber als sie nun vor dem alten Gebäude hielt, staunte sie dennoch. Das Vorderhaus war so groß, dass es mehreren Generationen Platz bieten könnte, und auch die Dimensionen des angrenzenden Scheunentrakts waren enorm. Durch die Abseiten des Daches war die Scheune hinten breiter als das Haus. Dort mussten sich die Anlagen für die Seehunde befinden. Das Dach war mit roten Ziegeln eingedeckt, die im Mondlicht schimmerten, nur auf dem oberen Bereich des Scheunentraktes fand sich Reet.
Ein Schild begrüßte sie: Auffangstation »Seehund in Sicht!«, darunter prangte ein aufgemalter Heuler mit großen Knopfaugen. Kaum war sie ausgestiegen, öffnete sich bereits die Haustür und Oma Lotti stürmte heraus.
»Mien Leev, da bist du ja!«, rief sie und umarmte Fenja so fest, dass ihr die Luft wegblieb.
»Hallo, Oma«, krächzte sie und schnappte nach Luft. »Ich freue mich so, dich wiederzusehen.«
Ihre Großmutter roch wie früher. Da war eine Note von Vanille, vermischt mit etwas Erdigem, das an einen blühenden Garten erinnerte. Sanft schob Oma sie wieder ein Stück von sich weg und betrachtete sie. Auch ihr Gesicht war Fenja sofort wieder vertraut. Ein paar mehr Falten hatten sich in ihre Züge gestohlen, und sie trug nun eine Brille mit modischem Gestell, aber ihr Strahlen war noch genauso herzlich, wie Fenja es in Erinnerung hatte. Die kurzen grauweißen Locken kringelten sich unverändert um ihr schlankes Gesicht, das freundlich und scharfsinnig zugleich wirkte.
Bei genauerem Hinsehen entdeckte Fenja eine lilafarbene Strähne über Lottis Schläfe, die sich frech an den Ohren vorbeischob. So war ihre Oma schon damals gewesen – immer anders, immer ein bisschen verrückt. Fenja lächelte. »Entschuldigung, dass es so spät geworden ist. Die Fahrt hat länger gedauert als geplant. Erst gab es einen Unfall bei Düsseldorf, und später war die A31 streckenweise wegen einer Baustelle gesperrt.«
»Warst du am Wasser, mien Dern?«, fragte Oma Lotti, ohne auf ihre Erklärung einzugehen.
»Ja. Ich habe kurz am Strand gehalten. Woher weißt du das?«
Sie lachte. »Du riechst nach Meer. Außerdem kleben Schlammspritzer auf deinem Ärmel, die holt man sich nicht auf der Autobahn.«
Fenja grinste. »Gut beobachtet, Oma.« Schon früher war ihren Argusaugen nie etwas entgangen.
Als sie ihren Koffer von der Rückbank hievte, ließ Oma es sich nicht nehmen, ihre Reisetasche zu tragen. Seite an Seite marschierten sie über den Kies zum Haus.
Drinnen empfing sie ein köstlicher, heimeliger Duft nach Gewürzen und überbackenem Käse. Es war mollig warm, und mehrere Bleiglaslampen verströmten ein angenehmes Licht.
»Hm, das riecht lecker«, sagte Fenja, während sie ihren Koffer neben einen antiken Hutständer stellte.
»Ich wollte nicht, dass du hungrig ins Bett gehst«, erklärte Oma und führte sie in die alte Wohnküche.
Neugierig schaute Fenja sich um. Die Schränke und der Tisch waren aus einem nussbraunen Holz, alles wirkte einladend und urgemütlich. Der Geruch aus dem Ofen ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Das ist echt lieb. Ich habe seit heute Mittag nichts mehr gegessen.«
»Und das als Konditorin! Ja, sag mal, du bist spargeldürr. Hat man dir auf dem Schiff nichts zu essen gegeben?« Sie piekte Fenja in die Seite, was diese zusammenzucken ließ. Wenn sie eins mit Sicherheit nicht war, dann spargeldürr. Als Konditorin musste man schließlich seine eigenen Kreationen probieren und mögen.
»Nu setz dich, min Deern, und trink erst mal einen Schluck«, sagte Oma und holte eine Kanne mit Stövchen aus einem Schrank, was Fenja wenig wunderte. Immerhin war Tee so etwas wie das Nationalgetränk Ostfrieslands. Hier wurde so viel Tee getrunken wie sonst nirgendwo auf der Welt – 300 Liter pro Person pro Jahr, das war mehr als das Elffache des Durchschnittsdeutschen.
Nachdem der Tee gezogen hatte, goss Oma ihn in die Servierkanne um und stellte eine hauchdünne Porzellantasse vor Fenja. Das herbe, würzige Aroma der dunklen Flüssigkeit stieg ihr in die Nase. Mit der Zuckerzange holte sie Kluntjes aus der Dose, hörte, wie es leise knisterte, als der Kandis sich auflöste. Routiniert versah sie den Tee mit Sahne, die sie gegen den Uhrzeigersinn in die Tasse tröpfelte, um symbolisch die Zeit anzuhalten.
»Du hast nichts verlernt«, sagte ihre Oma leise, und Stolz stand in ihren Augen.
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Fenja verlegen und kramte ein rot eingewickeltes Päckchen aus ihrer Handtasche.
»Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Oma Lotti nahm das Mitbringsel entgegen und löste die Schleife. Das Geschenkpapier raschelte, als sie den Inhalt herausholte. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick der muschelbesetzten Dose, die blau, grün und weiß bemalt war.
»Die haben wir gemeinsam gebastelt«, sagte sie gerührt. Fenja bemerkte, wie ihre Augen feucht wurden. »Da warst du erst fünf und konntest dich noch hinter einem Ölfass verstecken.« Unauffällig drehte sie sich weg und wischte sich über die Wange.
Auch Fenja wurde wehmütig ums Herz. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Sie war wirklich viel zu lange nicht mehr hier gewesen. Es war schön, Oma endlich wiederzusehen.
»Öffne sie«, bat sie, und ihre Großmutter hob den Deckel an.
Auf dunkelblauem Samt lag eine silberne Kette mit Medaillon. Oma ließ es aufschnappen und schaute auf ein Foto ihres jüngeren Ichs. Kopf an Kopf mit einem dunkelblonden Fratz, der in die Kamera grinste.
»Meine Güte hattest du damals helle Haare.« Sie ließ die Kette durch die Finger gleiten. »So ein edles Stück, Fenja. Das hätte nicht sein müssen. Du reichst mir schon als Geschenk.«
Statt zu antworten, nahm Fenja ihr die Kette ab und legte sie ihr um den Hals. Sie stand Oma so gut, wie sie gehofft hatte, und ihr Strahlen verriet, dass sie sich ehrlich darüber freute.
Zufrieden widmete Fenja sich wieder ihrer Tasse. Der heiße Tee tat gut und wärmte sie von innen.
Als Oma den Auflauf servierte, nahm Fenja sich zweimal nach, so gut schmeckte es. Als Nachspeise gab es Butterkuchen. Sie schaufelte zwei Stück in sich hinein. Der Geschmack weckte alte Erinnerungen, denn Oma hatte diesen Kuchen früher öfter gebacken. Zu ihrem sechsten Geburtstag hatte sie ihn sogar in einem Paket nach Düsseldorf geschickt, wo er halb gefroren ankam, denn Fenja war ein Januarkind.
»Der ist natürlich nichts gegen deine Torten«, sagte Oma Lotti, aber Fenja winkte ab. Oma hatte noch nie eine ihrer Torten probiert. »Quatsch, der ist super. Wie kriegst du den nur so fluffig hin?«
»Altes Geheimrezept. Das verrat ich niemandem. Wäre ja sonst nicht mehr geheim.«
Später machten sie gemeinsam den Abwasch – Oma Lotti weigerte sich, eine Spülmaschine zu kaufen – und unterhielten sich dabei. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Oma.
Fenja zögerte mit der Antwort. Ihre Mutter litt seit ihrer Jugend immer wieder an Depressionen und hatte nach der Trennung von Fenjas Vater zusammen mit der kleinen Fenja die Krummhörn verlassen, um endlich ihr Lebensglück zu finden. Doch die Schübe verfolgten sie auch heute noch. »Es geht ihr besser, seit sie einen neuen Freund hat«, sagte Fenja schließlich. Und die Medikamente gewechselt hat, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Und wie geht es Fiete?« Die Frage klang gepresst.
Fenja schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. Sie hatte wenig Kontakt zu ihrem Vater. »Redet ihr immer noch nicht miteinander?«
»Nein.« Omas Gesicht hatte sich verdunkelt. »Er hat mir die Heirat mit Garlef nie verziehen. Ich würde so gerne wissen, ob es ihm gutgeht.«
»Er hat eine Villa in Blankenese gekauft«, erzählte Fenja. »Seine Kanzlei läuft gut. Beide Söhne studieren inzwischen Jura. Wir schreiben uns zu Weihnachten und zum Geburtstag Karten, mehr aber auch nicht. Gesehen haben wir uns seit Jahren nicht, ich glaube, es ist ihm vor seiner neuen Familie unangenehm, dass es mich gibt.«
Ihre Entscheidung, trotz ihres guten Abiturs eine Ausbildung zur Konditorin zu machen, hatte das Verhältnis zu ihrem Vater auch nicht unbedingt verbessert. Er legte Wert auf einen gewissen Status, und seines Erachtens gehörte ein Studium, bevorzugt an einer Elite-Uni, dazu. Wenn sie nun darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass er so gar nichts mit der alternativen Art seiner Mutter gemein zu haben schien. Was er wohl zu der lilafarbenen Strähne und den pinken Flamingo-Ohrringen seiner Mutter sagen würde? Bei dem Gedanken musste sie grinsen.
»Weißt du, ich denke, wir haben uns einfach entfremdet«, fuhr sie endlich fort. »Vorletztes Jahr habe ich ihn zu seinem Geburtstag angerufen, aber das war total merkwürdig. Wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten.«
Sie unterdrückte einen Seufzer. Offenbar wiederholte sich dieselbe Geschichte in der nächsten Generation: Wegen einer Heirat beziehungsweise einer neuen Familie brach die alte Familie auseinander. Wegen Garlef hatten sich Oma und Fenjas Vater zerstritten, und nach Papas Heirat hatte nun auch Fenja den Kontakt zu ihm verloren. Das war traurig, aber eine Lösung für das Problem kannte sie nicht – dies war keine verklärte Geschichte, in der am Ende alle zusammenfanden, sondern das Leben. Sie waren alle erwachsen und ihren Weg gegangen. Vielleicht hatten wenigstens Oma und sie eine Chance, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen.
»Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist, Fenja«, sagte Oma in diesem Moment mit weicher Stimme. »Ich habe mich immer gefragt, wie es dir geht und was du machst.«
Fenja lächelte. Sie würde sich gut mit Oma verstehen, das spürte sie.
Die Küchenuhr zeigte nach Mitternacht, als Fenja gähnte und aufstand. »Könntest du mir zeigen, wo ich schlafen soll? Ich bin müde und möchte dir gerne morgen gleich zur Hand gehen.«
Oma führte sie durch den Flur, an dessen Ende sie eine Tür öffnete. Es roch nach Kräutern, die wohl aus dem Holzöl stammten, mit denen Oma die alten Dielen bearbeitete. Vor ihr lag ein niedlicher Raum, der erstaunlich zeitgemäß eingerichtet war und nicht zum Rest des Hauses passte: hellgraue Möbel, türkisfarbener Bettbezug, mintgrüner Teppich, alles im maritimen Stil.
»Wow, Oma, das ist sehr gemütlich.« Sie ließ die Hand über ein Kissen mit gestreiftem Seidenbezug gleiten.
»Ich wollte doch, dass du dich wohlfühlst. Da hab ich die Gelegenheit genutzt und Sven das nach meinen Vorstellungen einrichten lassen.«
Fenja schluckte. Damit, dass ihre Oma gleich ein Zimmer für sie renovieren würde, hätte sie nicht gerechnet.
»Schlaf ruhig aus. Dann frühstücken wir gemeinsam, und anschließend zeige ich dir die Station. Nachmittags muss ich zum Arzt. Sven hat versprochen, dich durch Greetsiel und die Umgebung zu führen.«
»Wer ist Sven?«, fragte Fenja neugierig. Den Namen hatte sie eben zum ersten Mal gehört.
»Er arbeitet seit drei Jahren bei mir und bewohnt gelegentlich das Zimmer, das deinem schräg gegenüberliegt. Das heißt, wenn er nicht gerade in Greetsiel bei seinem Vater übernachtet. Ich habe ab und zu ehrenamtliche Helfer hier, aber Sven ist mein Angestellter. Er ist eine große Hilfe. Ohne ihn hätte ich meine Station längst schließen müssen. Er ist in deinem Alter und kennt das Wattenmeer wie kein anderer. Ihr werdet euch sicher gut verstehen.«
Fenja zuckte mit den Schultern. Wenn Leute sagten, man würde sich sicherlich gut mit jemandem verstehen, bedeutete das normalerweise, dass man eine unsagbare Nervensäge kennenlernte.
»Ich bin vor allem deinetwegen hier, Oma.«
In dem Moment ging die Haustür auf, und Schritte ertönten auf den Dielen. Oma lachte. »Wenn man vom Teufel spricht! Das muss Sven sein, er war noch beim Treffen des Boßelvereins, die Jungs nehmen das sehr ernst.«
Fenja trat neugierig in den Flur, um den Neuankömmling zu begrüßen, und erstarrte. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Ihr Mund war auf einmal so trocken, dass keine Worte herauswollten.
»Du?« Vor ihr stand der junge Mann mit dem Fünftagebart und dem dunklen Wuschelhaar. Er grinste schief, aber seine Augen lachten nicht mit.
Das konnte ja heiter werden.