Aus Wasser ist alles, und ins Wasser kehrt alles zurück – Liv Lammers ermittelt in ihrem sechsten Fall auf Sylt Sylt glüht unter der Sommerhitze. In den Wanderdünen bei List meldet ein anonymer Anrufer eine männliche Leiche. Der Tod des Mannes gibt Rätsel auf, denn obgleich das Opfer auf einer Düne liegt, ist es ertrunken. Zumindest die Identität ist rasch geklärt: Es handelt sich um Klaus von Raboisen, den steinreichen Spross einer Adelsfamilie, der eine Villa in List besitzt. Seine Ehefrau Charlotte ist Politikerin, weshalb die Ermittlungen sofort im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Doch noch während Liv Lammers und ihre Kollegen von der Kripo Flensburg ermitteln, wird im Sylter Watt eine weitere Leiche angespült. Auch hier steht die Todesart im Widerspruch zum Fundort: Die Frau ist verdurstet. Makabrer Zufall oder Ergebnis eines perfiden Plans?
Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, »Schwarze Brandung«. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.
SABINE
DÜSTERES
WATT
Sylt-Krimi
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg
Einband-/Umschlagmotiv: © Symbiont/gettyimages
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2118-9
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Langsam säbelte das Messer durch die Kruste. Das Fleisch war innen blutig, wie es ihm gefiel. Er spülte den Bissen mit dem exquisiten Rotwein herunter und zündete sich eine Zigarre an. Nur das Spiel der Wellen, das Knacken der Holzkohle und das Knistern des Tabaks waren noch zu hören. Für den weiten Sylter Sternenhimmel hatte er keinen Blick. Während er rauchte, überschlug er, wie viele Micromorts ihn diese Mahlzeit kosten würde. Zu seiner Irritation hatte er feststellen müssen, dass die wenigsten den Begriff Micromort kannten, dabei beschrieb diese Maßeinheit für den Tod die Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, dass man stirbt. Seiner Ansicht nach sollte sich jeder klarmachen, wo er auf der Lebensskala stand. Während er tief den Rauch einsog, hing er dieser Haltung nach. Arbeitete nicht jeder mit seinen Handlungen auf das eigene Sterben hin? Oder aber man plante das Sterben anderer.
So wie er.
Gedankenverloren wog er das Messer in der Hand. Er hatte heute durch den Tabakkonsum seine Lebenserwartung um eine Dreiviertelstunde verkürzt. Der halbe Liter Wein schlug mit einem weiteren Micromort zu Buche. Dazu kam seine Vorliebe für scharf auf Holzkohle geröstete Steaks, die ihn ebenfalls nicht unerheblich dem Tod näher brachte. Es gab natürlich höhere Risiken. Sieben Micromorts für einen Marathonlauf, einhundertsiebzig für einen Kaiserschnitt oder am Ende der Skala eine Todeswahrscheinlichkeit von fünfunddreißigtausend Micromorts für die Besteigung des Mount Everest.
Sein Handy klingelte, aber er war noch nicht bereit. Alles musste seine Ordnung haben. Sorgfältig wischte er Blut, Fett und Fleischfasern von der Schneide des Messers ab. Die Menschen waren dumm, unfähig, die Risiken richtig abzuschätzen. Statistisch gesehen war Pizza gefährlicher als Terror, Autofahren lebensverkürzender als Fliegen. Es war genau genommen siebzehntausendsechshundert Mal wahrscheinlicher, einen Herzinfarkt zu erleiden, als bei einem Terroranschlag zu sterben. Mehr Menschen verreckten daran, dass sie an einem Kugelschreiber herumnuckelten – zwischen hundert und dreihundert im Jahr allein in Deutschland – als an Haiangriffen, die nur zwölf Tote weltweit ausmachten. Die Risiken abzuwägen, das war die Kunst.
Auf der Habenseite seiner persönlichen Bilanz standen heute zwei Microlifes, weil er sich durch sein Sportprogramm gequält hatte. Durch das Essen von Obst und Gemüse hatte er sein Leben um zwei weitere Stunden verlängert.
Er erhob sich, endlich bereit. Statistisch gesehen hatte der Mann, dem er gleich das Leben nehmen würde, noch 33,9 Jahre vor sich. Doch was zählte schon Statistik, wenn harte Fakten dagegenstanden? Eine Lebensspanne war eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung. Und er würde immer auf der Gewinnerseite stehen. Deshalb dachte er jetzt auch nicht an Mord, sondern an Microlifes. Und an Geld.
Er wusch sich das Blut ab, ließ das reinigende Wasser über seine Haut rinnen. Ganz ruhig war er. Was er getan hatte, war unvermeidbar gewesen. Kritisch kontrollierte er im Spiegel seinen Haarschnitt und die Rasur, für die er vorhin den Barbier seines Vertrauens aufgesucht hatte; im Nacken war der Cut einen Millimeter zu lang. Als er aus dem Bad trat, ließ das sattgelbe Sonnenlicht die Staubpartikel auf seinem Designerschreibtisch und der gläsernen Vitrine mit seinen Gadgets hell aufscheinen. Verärgert machte er sich eine Notiz. Er gab doch nicht Unsummen für seine technischen Liebhabereien aus, um sie verstauben zu lassen! Anschließend speicherte er die Sicherungskopie und klappte das MacBook zu. Alles war bestens vorbereitet, wie es sich gehörte.
Vom Fenster aus blickte er über die Dünen. Fackeln und blühende Friesenwälle umgaben das Grundstück. Rosafarbene, blaue und weiße Hortensien, lila Heidekraut, Duftrosen und Lavendel. Auf dem Rasen luden Sitzlandschaften zum Verweilen ein. Der Gartenpavillon war ansprechend dekoriert, samt der Feuerschale aus Edelstahl, einem Einzelstück aus schwedischer Manufaktur. Ein perfekter Abend auf einer perfekten Insel.
Es war eine ausgezeichnete Idee gewesen, ebenfalls ein Krebsfest zu veranstalten. In Schweden hatte dieses Event schon lange Tradition, und auch von der Sylter Society wurde bereits seit Jahrzehnten ein Krebsfest in Kampen gefeiert. Aber natürlich hatten die Gastgeber darauf kein Monopol. Denn auch ihre Gäste rissen sich um die Einladung. Und gerade, um Geschäftspartner, Politiker oder Damen für sich einzunehmen, eignete sich dieses von Völlerei, Champagner und Aquavit geprägte Spektakel ausgezeichnet. Seine Verwandtschaft liebte derartige Festivitäten ohnehin; der Adel feierte gern, von Steifheit keine Spur. Dieses Mal war er jedoch angespannt. Die wirtschaftlichen Turbulenzen hatten vielen zu schaffen gemacht, auch ihnen. Deshalb durfte nichts schiefgehen. Das heutige Krebsfest war in vielfacher Hinsicht ein Ritt auf der Rasierklinge.
Seine persönlichen Vorbereitungen nahmen einige Zeit in Anspruch, doch irgendwann trieb das satte Röhren eines Lotus Elise, gefolgt von dem Wummern eines Aston Martin Valkyrie, ihn zur Eile an. Es gab nicht viele Orte, an denen man die Gäste anhand des Motorsounds ihrer Autos erkennen konnte. Aber Sylt nannte man nicht umsonst das deutsche Long Island. Oder bezeichnete man die Hamptons, das Mekka der New Yorker Milliardäre, als amerikanisches Sylt? Letztlich war das belanglos. Diese Etikettierungen waren etwas für Armleuchter, Leute, die es nötig hatten, nicht für ihn.
In seinem Ankleidezimmer hingen der maßgeschneiderte Anzug und das Hemd mit fliederfarbenem Besatz am Krageninnensteg sowie den Innenmanschetten bereit. Während er die Ringe überstreifte, rief er auf dem großen LED-Bildschirm die Aufnahmen der Überwachungskameras auf. Die Luxuswagen in der Auffahrt. Gäste in eleganter Sommer-Couture. Im Entree Kellner mit Willkommensdrinks, vereinzelt Personenschützer. Im Vestibül waren die Tische festlich eingedeckt. Blumenbouquets überall. Er schaltete ins Büro, in Küche und Hauswirtschaftsräume, in denen es von Personal nur so wimmelte, in die Schlafzimmer und Kinderzimmer. Die Aufnahmen hatten ihm schon so manchen Vorteil eingebracht. Nicht, dass er das nötig hätte, aber Kontrolle war wichtig und verschaffte ihm Befriedigung.
Geschirrklappern, Gelächter, das Klirren von Champagnergläsern beim Zuprosten. Eine nervtötende Geräuschkulisse, die er heute jedoch ertragen würde. Immerhin geben die Krebse keine Schmerzensschreie von sich, wenn man sie ins kochende Wasser wirft, dachte er. Da man pro Person zwölf bis fünfzehn Krebse rechnete, würde die Villa ansonsten von einem tausendfachen Schrei erschüttert werden. Seltsamerweise amüsierte ihn die Vorstellung.
Kaum konnte er sich von den Bildern losreißen. Er liebte es, die anderen zu steuern, ohne dass sie es merkten. Noch mehr liebte er es, wenn sie sich seinem Willen fügen mussten. Doch was war das? Heiße Wut schoss durch seine Adern. Wer das getan hatte, musste zur Rechenschaft gezogen werden, und zwar aufs Strengste!
***
Die Wanderdünen wirkten in den nächtlichen Schatten wie verwunschen. Wenig erstaunlich, dass diese Landschaft mit diversen Sagen und Mythen verwoben ist, schoss ihr durch den Kopf, während ihr Auto über die Landstraße raste. Geschichten von Hexentanzplätzen und Teufelsbeschwörungen rankten sich um diese Dünen. Ein mulmiges Gefühl ergriff sie, als sie den Wagen am Fahrbahnrand abstellte und ausstieg. Wo sich sonst Autokolonnen an Fahrradfahrern vorbeischoben, um die Urwüchsigkeit von Listland zu erobern, herrschte jetzt absolute Leere. Glücklicherweise würde die Dämmerung bald die unheimlichen Schatten vertreiben.
Leise drang das Grollen des Meeres zu ihr. Kaum Wind. Die salzgeschwängerte kühle Luft war eine Wohltat, nachdem in den letzten Tagen ein Temperaturrekord den anderen gerissen hatte. Und ein Ende der Hitzewelle war noch nicht abzusehen, das hatte sie auf dem Wetterradar gesehen. Das war aber nicht der Grund, warum sie den Schutz der Nacht gesucht hatte.
Sie holte den viereckigen Rucksack aus dem Kofferraum, setzte ihn auf und marschierte auf die Wanderdünen zu. Das Schild mit der Aufschrift: »Betreten verboten! Das gesamte Dünengebiet ist Naturschutzgebiet! Die Trampelpfade sind nur für die vierbeinigen Schafe!«, ignorierte sie. Sie war kein Schaf, weder mit zwei noch mit vier Beinen, sondern ein Mensch mit einem Ziel.
Es war weiter, als sie gedacht hatte. Weich umrieselte der Sand jeden Schritt, als sie die erste Düne erklomm. Sie ging zügig, geriet außer Atem. Schweißtropfen rannen ihren Rücken hinunter. Die Hände unter die Riemen des Rucksacks geschoben, hielt sie inne. Um sie herum zeichneten sich die Dünenkuppen gegen den Himmel ab. Eine sah wie die andere aus: karge Sandflanken und finstere Abgründe. Die Sylter Sahara, malerisch wie ein Schwarz-Weiß-Foto von Ansel Adams. Ob man sich hier wie in der echten Wüste verirren konnte? Gut, dass sie sich im Gelände zu orientieren wusste. Sie ließ den Blick schweifen. Kaum Lichter am Lister Ortsrand. In der Ferne durchschnitten die Signalfeuer der Leuchttürme die Nacht.
Hinter ihr raschelte etwas. Ihr Herz tat einen Sprung, sie riss den Kopf herum. Nichts zu sehen. Vermutlich hatte sie nur ein Kaninchen oder einen der Fasane aufgeschreckt, die auf der Insel oft herumstreiften. Alles war wieder still. Kaum zupfte eine Bö am Dünengras. Schnell lief sie weiter. In der Dünensenke klang ihr Atem so laut, dass sie unwillkürlich die Luft anhielt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierherzukommen. Sie tastete nach ihrem Handy, fand es aber nicht. Es musste im Rucksack sein.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Mit rasendem Puls starrte sie ins Zwielicht. War dort jemand? Ein Halbmond aus Sand an der nächstgelegenen Düne rieselte weg, als hätte jemand gerade seinen Fuß herausgezogen. Sei nicht albern. Wer stromert um diese Zeit schon verbotenerweise im Naturschutzgebiet herum? So verrückt wie du ist doch keiner! Oder war es etwa …
Im selben Augenblick blinzelten zaghaft die ersten Sonnenstrahlen über die Dünenkuppe. Sie versuchte, ihre Furcht beiseitezudrängen. Beeilung! Als sie die nächste Erhöhung erreicht hatte, setzte sie den Rucksack ab und packte das Gerät aus. Ein freudiges Kribbeln erfasste sie beim Anblick des technischen Wunderwerks. Sie liebte diesen Moment, lebte für diese Augenblicke. Kaum ein Windhauch bewegte die Rotorblätter des Quadrocopters. Der Himmel war beinahe wolkenlos – die Aufnahmen würden spektakulär werden. Natürlich würde sie die Fotos und Filme nicht unter ihrem richtigen Namen veröffentlichen. Der Betrieb unbemannter Flugobjekte über Naturschutzgebieten war untersagt und wurde teilweise mit einem Bußgeld in fünfstelliger Höhe bestraft. Aber unter den Drohnen-Fans kannte ohnehin jeder ihre Handschrift. Niemand filmte an Lost Places oder verbotenen Orten so spektakulär wie sie. Diese Aufnahmen würden ihr Respekt einbringen. Und sie schadete ja niemandem.
Routiniert koppelte sie Controller und Handy. Dann startete sie mit ihrem Smartphone die Drohne. Kontrollierte noch einmal alle technischen Einstellungen.
Wie eine Wespe surrend erhob sich der Copter in die Luft. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Ein wenig war es, als würde sie mit in den Himmel aufsteigen. Höher und höher schoss die Drohne. Auf dem Display des Handys betrachtete sie gebannt die Landschaft, die das Kameraauge enthüllte. Gemächlich flog sie den Dünengürtel ab. Die Weite der Natur, die langsam aus dem Schlaf zu erwachen schien, das Meer, das auf beiden Seiten die Insel liebkoste. Ein Streifflug über die Häuseransammlung am Ortsrand von List, dann zurück über die Wanderdünen. Wie malerisch der Sonnenaufgang war! Das Licht verzauberte das Cremeweiß der Dünen, das kräftige Lila des Heidekrauts und das Anthrazit der Dünengräser. Gebannt bewegte sie die Joysticks des Controllers, um zu filmen und zu fotografieren.
Jetzt noch einmal ein Tiefflug über die drei Lister Wanderdünen. Plötzlich stolperte ihr Herzschlag. Was lag da auf der Düne? War das …
Ihre Handflächen wurden schlagartig feucht. Sie ließ die Drohne tiefer sinken. Keine Reaktion auf das Herannahen des Flugobjekts, auf deren schrilles Surren.
Auf einmal in der Ferne ein hartes Klacken. Beinahe gleichzeitig flackerte das Bild auf dem Smartphone. Das Display wurde schwarz. Herzrasen. Hatte ein Vogel die Drohne angegriffen? Waren soeben Hunderte Euros in den Dünen versenkt worden? Schon wollte sie losrennen, um das kostbare Gerät zu bergen. Aber was war das klackende Geräusch gewesen?
Im selben Augenblick setzte die Übertragung wieder ein. Erleichterung durchströmte sie. Sie starrte auf den Bildschirm.
Als sie erkannte, was sie sah, war es zu spät.
Eine warme Meeresbrise strich über Livs Haut. Die breite Krempe ihres Hutes verschattete ihr Gesicht. Liv blickte über die leicht gekräuselten Nordseewellen, die im Sonnenlicht funkelten. Die schiere Unendlichkeit von Horizont und Himmel weitete ihr Herz und machte sie zugleich demütig. Sie fühlte sich eins mit den Elementen, war Teil des natürlichen Lebenskreislaufs. Aus Wasser war alles, und ins Wasser kehrte alles zurück – war es nicht so? Schließlich bestand ein Säugling zu fünfundneunzig Prozent aus Wasser, und selbst ein Erwachsener noch zu beinahe zwei Dritteln. Sie war also mit allem verbunden. Und gleichzeitig war sie auf sich allein gestellt.
Sanft schaukelte der Bootsrumpf im Takt der Wellen. Obgleich es Morgen und sie erst vor wenigen Stunden aufgestanden war, fühlte Liv sich schläfrig. Jetzt den Sonnenhut über das Gesicht ziehen und ein Nickerchen machen … Sie war im Ferienmodus. In den letzten Wochen hatte Liv in der Mordkommission Flensburg Berge von Akten zusammengetragen und anschließend alte Fälle gesichtet. Papierarbeit war ein wichtiger Aspekt der Ermittlungen – aber so dröge musste es nach Livs Geschmack auch nicht zugehen. Selten hatte sie einen Urlaub derart herbeigesehnt.
Ein Sprühregen aus Meerwasser riss sie aus ihren Gedanken. Sebastian grinste sie übermütig an. »Wovon träumst du?«
Liv spürte Glück in sich aufbranden. Seit knapp zwei Monaten waren Sebastian und sie ein Paar. Sie hatte lange gezögert, eine Beziehung mit ihm einzugehen, weil er als Rechtsmediziner in gewisser Weise ein Kollege war. Doch ihre Gefühle hatten sich nicht unterdrücken lassen. Seit sehr langer Zeit hatte sie sich nicht mehr so intensiv auf jemanden eingelassen, hatte sich so weit geöffnet. Hatte ihre seelischen Abwehrschilde heruntergefahren. Diese Schutzlosigkeit jagte ihr eine Heidenangst ein.
Sebastian und sie hatten es langsam angehen lassen, hatten sich entdeckt, waren meist für sich gewesen. Dieser Urlaub war für sie beide etwas Besonderes. Ihre ersten gemeinsamen Ferien. Aber auch eine Bewährungsprobe. Livs Großmutter Elise und ihre Tochter Sanna würden hinzukommen. Zudem sollte Liv endlich Sebastians Ex-Frau und seinen Sohn kennenlernen, was sie ausgesprochen nervös machte. Sebastians Verhältnis zu seiner Jugendliebe Larissa war noch immer eng. Ein richtiges Familientreffen also …
»Ich habe davon geträumt, dass du angekleckert kommst, ehe ich einen Sonnenstich bekomme. Aber du hast ja derart getrödelt«, sagte Liv und überspielte launig ihr Gedankenkarussell.
»Getrödelt? Mein Boot hatte eine …«
Natürlich wusste sie, was er sagen wollte, ließ ihn aber nicht aussprechen, sondern umfasste das Doppelpaddel ihres Kajaks und sprühte eine Meerwassersalve zurück.
Lachend schüttelte Sebastian einen Tröpfchenregen aus dem Locken. »Ich glaube, du hast schon einen Sonnenstich. Du brauchst wohl ärztliche Hilfe. Na warte!« Sie platschten ins Meer, tobten und küssten sich, als wären sie nicht Anfang dreißig, sondern übermütige Teenager.
Wenig später hielten sie sich etwas atemlos an den Kajaks fest, die sie zusammengebunden hatten. Die Nordsee hatte nach der Hitze der letzten Wochen fast Badewannentemperatur. Vor ihnen, über den Wellenkämmen, zeichnete sich der sanft geschwungene Dünengürtel des Sylter Ellenbogens ab. Kurz blieb ihr Blick an dem rot-weiß geringelten Leuchtturm List-Ost hängen. Dieser und sein Zwillingsturm List-West, weiß mit roter Haube, waren die nördlichsten Leuchttürme Deutschlands. Hier, im Norden der Insel, war der Strand angenehm leer und Dänemark ganz nah. Noch einmal zog Liv ihren Freund an sich, und ihre Lippen fanden sich erneut. Sie konnte nicht fassen, wie glücklich sie war. Konnte kaum glauben, dass es ihm ebenso zu gehen schien …
»Wir könnten es bequemer haben. Vielleicht sollten wir an Land paddeln und uns eine gemütliche Dünensenke suchen. Ein kleines Päuschen machen«, meinte Sebastian japsend, als eine versprengte Welle sie übersprühte.
»Und unsere Kajaktour?« Sie hatten schon lange vorgehabt, Sylt mit dem Boot zu umrunden. Sebastian kannte diese Tour bereits. Für Liv, die auf Sylt geboren und aufgewachsen war, war dies eine neue Art, die Heimat zu erkunden, auf die sie sehr gespannt war.
»Unsere Ferien fangen doch erst an.«
»Stimmt auch wieder.«
Als sie mit den Kajaks auf das Ufer zusteuerten, hörte Liv ein dumpfes Brummen, spürte gleichzeitig das leichte Vibrieren des Bootsrumpfs. Klingelte da ihr Handy in der Trockentonne? Kurz überlegte sie, ob Elise oder Sanna Probleme wegen der Anreise haben könnten. Aber das glaubte sie nicht. Beide kannten Sylt gut, und mit ihren sechzehn Jahren würde Sanna ohnehin kaum ihre Mutter um Hilfe bitten.
Liv freute sich auf das Zusammensein mit ihrer kleinen Familie. Seit sie als Jugendliche schwanger geworden und von ihrem Vater verstoßen worden war, waren ihre Großmutter und sie unzertrennlich. Elise und Sanna waren die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Und nun war Sebastian dabei, in diesen Kreis aufgenommen zu werden …
Sie entschloss sich, das Handy zu ignorieren, und zog das Kajak an Land. Gleißend lag der feine Sandstrand vor ihnen. Kein einziger Fußabdruck im Spülsaum, das seichte Wasser von karibischem Blau. Nur in der Ferne waren stecknadelkopfgroß Spaziergänger und Badende zu sehen. Diese Einsamkeit war wie ein Wunder, denn die Insel war tatsächlich überfüllt. Alle Zimmer vermietet, alle Campingplätze ausgebucht, dazu die Tagesgäste: So voll hatte Liv Sylt noch nie erlebt. Die Menschen schienen ausgehungert nach dem Meer und der Weite, nach dem Savoir-vivre und der lässigen Ferienstimmung, die es auf Sylt stets gratis gab.
Ihr und Sebastian waren Freundschaft und Zufall zu Hilfe gekommen. Livs Freundin Katharina war auf Ibiza und hatte Liv ihr Haus angeboten. So nannten sie für zwei Wochen ein wunderschönes Kapitänshaus in den Lister Dünen ihr Eigen. Besser ging es nicht.
Sie zog die Rettungsweste über den Kopf, löste ihren Zopf und drückte das Meerwasser aus den langen rotblonden Haaren. Schmal und lang gezogen fiel ihr Schatten auf den Strand. Neben ihr brachte Sebastian sein Kajak an Land. Präzise Bewegungen, sportlich, gelassen, gleichzeitig ein kluger Kopf. All das mochte sie an ihm. Sie ergriff seine Hand, und ihre Finger umschlangen einander.
»Eine gute Idee, ein windstilles Dünenbett zu suchen«, murmelte sie zwischen zwei Küssen. Mit der anderen Hand tastete Sebastian jedoch im Boot nach seiner Trockentonne.
»Warte kurz, mein Handy hat geklingelt.«
»Deins auch?« Liv sah ihn an und spürte, wie die Urlaubsstimmung in einem Adrenalinstoß zerstob.
Beide wussten, was das bedeutete.
Ein Taxi blau-weiß sammelte sie am nächsten Strandaufgang ein. Die Kajaks hatten sie an der Holztreppe festgemacht. Liv trug den Wickelrock und die Leinenbluse, die sie in der Trockentonne gehabt hatte, dazu Sonnenbrille und Flipflops. Nicht gerade die geeignete Kleidung für eine Kommissarin. Aber sie würde ja ohnehin gleich Schutzanzug und Überschuhe anziehen. Außerdem wurde Sebastian zu seinem Wagen gebracht, um seine Notfallausrüstung zu holen; er würde ihr Klamotten mitbringen. Ihr VW Bulli hatte hingegen den Geist aufgegeben, und eine Reparatur war derzeit einfach nicht drin, schließlich wünschte ihre Tochter sich nun doch ein Auslandsjahr.
Wenig später hatten sie mit dem Streifenwagen das Kassenhäuschen passiert, das den Zugang zum Ellenbogen markierte, und fuhren durch Listland. Die schmale Straße aus Betonplatten war belebt, sodass sie sich vorsichtig an Fahrradfahrern und entgegenkommenden Wagen vorbeischieben mussten. Ein malerischer Flickenteppich aus Heideflächen und Dünengras erstreckte sich bis zu den weißen Flanken der Wanderdünen. Schon von Weitem sah Liv den Mannschaftswagen und die Schutzpolizisten, die am Straßenrand ein Absperrband spannen wollten und dabei die Schaulustigen zurückdrängen mussten.
Als sie anhielten, löste sich Livs alter Schulfreund und Kollege Momke aus dem Schatten eines Rettungswagens. Sein blonder Schopf war ausgebleicht, auf der Nase pellte die Haut ab. Zu türkisfarbenen Bermudashorts trug er ein fliederfarbenes Poloshirt.
»Was für ein Glück, dass du auf der Insel bist!«, rief Momke bei ihrem Anblick sichtlich erleichtert. »Gut, dass wir nicht lange auf deine Kollegen aus Flensburg warten müssen!«
»Gur Dai! Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Liv buffte ihn freundschaftlich.
Für weiteren Small Talk schien er aber keinen Kopf zu haben. »Ein Stück weiter in den Wanderdünen liegt halb begraben eine Leiche. Wenn ich mich nicht irre …« Momke neigte sich zu ihr und senkte die Stimme, obwohl niemand in unmittelbarer Nähe war. »… handelt es sich bei dem Toten um Karl von Raboisen.«
Liv durchforstete ihr Gedächtnis. »Sollte mir der Name etwas sagen?«
»Das ist doch Allgemeinwissen! Die Familie gehört zu den reichsten in unserem Bundesland. Mindestens Millionäre. Alter schleswig-holsteinischer Adel«, sprudelte Momke los. »Seine Frau ist die Politikerin Charlotte von Raboisen. Du weißt schon, der aufsteigende Stern am Politikerhimmel. Auf dem Sprung in den Landtag. Sehr aktiv in Fragen der Wirtschaftsförderung, der Inneren Sicherheit und der Gleichstellung. Die Sylter würden es natürlich gut finden, eine der ihren in den obersten Rängen zu haben.«
»Sie sind aber keine alteingesessene Sylter Familie?«
»Die Freiherren von Raboisen sind vor etwa zehn Jahren zugezogen. Der Familiensitz liegt bei Glücksburg, soweit ich weiß. Allerdings habe ich Karl von Raboisen lediglich ein, zwei Mal bei Empfängen im Rathaus gesehen und bin nicht hundertprozentig sicher. Sein Gesicht … ich weiß nicht, ob die Möwen …«
Vor Livs innerem Auge stiegen Bilder hoch, auf die sie gerne verzichtet hätte. Fahrig tupfte Momke sich mit einem geblümten Taschentuch die Schweißtröpfchen von der Stirn. Obgleich es erst Vormittag war, stand die Luft zwischen den Dünen schon. Ein Trupp Fahrradfahrer mit bunten Helmen steuerte auf sie zu und fragte einen der Polizisten, was hier vor sich gehe. Einer der Radfahrer machte Fotos von ihnen. Liv bat einen Schutzpolizisten, einzuschreiten, und wandte sich wieder an Momke: »Am besten sperren wir die ganze Straße ab.«
»Bist du verrückt? Dann müssten alle Autos und Radfahrer auf die Listlandstraße ausweichen. Die Touristen drehen durch! Und die Inselverwaltung erst!«
»Willst du riskieren, dass alle Spuren zertrampelt werden?« Liv trat in den Schatten des Wagens und schob die Sonnenbrille ins Haar. »Der Tote hat keine Papiere bei sich? Oder ein anderes Erkennungszeichen? Markanten Schmuck? Tätowierungen?«
»Nichts. Nach der Kontrolle der Taschen habe ich nichts mehr angefasst. Wenn er tatsächlich Karl von Raboisen ist, könnte der Fall weite Kreise ziehen. Du weißt ja, wie das ist, wenn Adel, Politik oder Superreiche verwickelt sind. Hier hätten wir gleich alles auf einmal! Jede Entscheidung würde von der Presse breitgetreten. Da dürfen wir uns keinen Fehler erlauben.«
»Also lieber großflächig absperren, sage ich doch. Hast du mal versucht, diesen Karl von Raboisen anzurufen?«
»In seiner Villa im Mövengrund haben wir nur den Butler erreicht.« Momke sagte das, als sei es das Normalste der Welt. »Herr von Raboisen sei mit seiner Jacht unterwegs. Auf den Schiffsfunk reagiert er nicht, und bei seinem Handy springt die Mailbox an.«
»Butler?«
»Was denkst du denn, wie es in diesen Kreisen zugeht? Aber stimmt schon: Das kommt selbst auf Sylt nicht so oft vor. Allerdings habe ich gehört, dass gerade in den Sommerferien die Butler-Agenturen auch auf der Insel gut zu tun haben. Warum auch nicht, wenn man das nötige Kleingeld hat? Mit bis zu vierhundert Euro die Stunde schlägt so ein Hausdiener zu …«
»Könnte unser Toter sich nicht einfach auf Listland verirrt haben und eines natürlichen Todes gestorben sein?«, unterbrach Liv ihn.
»Herzinfarkt oder verdurstet, meinst du? Dachten der Rettungssani und ich auch erst. Aber dann haben wir die Kopfverletzung, die aufgekratzten Knöchel und die eingerissenen Fingernägel entdeckt.«
»Stumpfe Gewalt und Abwehrspuren.«
»Möglich«, sagte Momke, dem die Vorstellung sichtlich missfiel.
Liv fragte nach einem Schutzanzug. »Wer hat den Toten gemeldet?«, wollte sie wissen.
»Ein anonymer Anrufer um sechs Uhr fünfzig. Vermutlich eine Frau, der Kollege war aber nicht sicher. Hat aufgelegt, ehe wir nachhaken konnten.«
Liv sah sich um. »Sie hat genau diesen Ort genannt?«
Momke konsultierte seinen Notizblock. »Dritte Parkbucht rechts, von Westerland aus gesehen. Dann etwa siebenhundertfünfzig Meter ins Naturschutzgebiet hinein.« Er blickte auf. »Am nördlichen Ende der Parkbucht steht übrigens ein Straßenschild schief, und darunter liegen Glassplitter. Könnte Autoglas sein.«
»Jemand ist panisch losgerast und dagegengekracht?«
»Denkbar. Ich lasse die Spuren sichern.«
Liv schlüpfte in die Hosenbeine und wickelte den Rock ab; darunter trug sie noch immer den Badeanzug. Die Leinenbluse bauschte sich unangenehm im Overall, also weg damit. Der dünne Kunststoff klebte sofort an ihrer nackten Haut. Momke musterte sie irritiert. »Dass dein Stil ungewöhnlich ist, wusste ich ja, aber dieser Aufzug ist doch etwas unpassend, findest du nicht?«
»Wenn es dich beruhigt: Sebastian bringt mir gleich angemessenere Kleidung mit.«
Momke zog sich ebenfalls einen der weißen Plastikanzüge über. »Sebastian ist auch auf Sylt? Dann ist es also was Festes? Wer hätte gedacht, dass jemand es schafft, dein Herz zu erobern. Erster gemeinsamer Urlaub?« Ein wenig Wehmut schwang in seinen Worten mit.
Eine Zeitlang hatte Liv gefürchtet, dass Momke sich von ihr mehr als nur Freundschaft wünschte. Inzwischen war er glücklich verheiratet und frischgebackener Vater. Sie lächelte zurückhaltend.
»Nun mach’s nicht so spannend! Was sagen denn die Kollegen dazu? Musstet ihr euch schon viele blöde Sprüche anhören?«
»Geht so.« Liv bemerkte, dass der alte Freund sich abgefertigt fühlte. »Lass uns später darüber reden«, fügte sie in verbindlicherem Ton hinzu. Sie folgten dem abgesperrten Spurenpfad durch die Dünen. »Erzähl, wie geht es dir?«, lenkte sie ab.
»Ioanna und ich waren gerade auf dem Weg durch die Salzwiesen zum Watt. Wir wollten mit Ing ein wenig durchs flache Wasser toben, das liebt sie nämlich. Da kam der Anruf. Ich also zurück nach Archsum, meine Liebste mit unserer Lütten allein weiter ans Meer.« Er blinzelte in die Sonne. »Vielleicht bin ich ja rechtzeitig zur Eistorte zurück.«
Das war eher unwahrscheinlich. Selbst wenn es ein Fehlalarm war und Sebastian ungewöhnlich schnell eindeutig einen natürlichen Tod feststellen könnte, gab es viel Papierkram. Da die zuständige Mordkommission ihren Sitz in Flensburg hatte, oblag es der Kriminalpolizei Sylt, den Ersten Angriff vorzunehmen. Todesermittlungsverfahren wurden immer eingeleitet, wenn der Leichnam eines Unbekannten gefunden wurde oder Anhaltspunkte für nicht natürliche Todesfälle vorlagen.
»Welche Maßnahmen hast du organisiert?«, fragte Liv.
»Natürlich weiß der Rest vom K1 Bescheid, das sagte ich ja schon am Telefon. Auch die Chefin Hilke Hasselbrecht und der Staatsanwalt haben sich auf den Weg nach Sylt gemacht. Hennes ist mit Andreas ebenso unterwegs hierher.«
»Super.« Liv freute sich, dass Hennes zu ihr stoßen würde. Der alte Querkopf und sie waren gute Teampartner und im Laufe der Zeit sogar Freunde geworden. Mit ihrem Kollegen Andreas war es etwas anderes. Früher war sie mit dem draufgängerischen Kommissar öfter aneinandergeraten. Dann war er bei einer Geiselbefreiung verletzt worden und anschließend in der Rehabilitationsklinik gewesen. Als Hennes und sie ihn in der Reha besucht hatten, war Andreas ruhig gewesen, beinahe in sich gekehrt. Er hatte ausführlich nach ihren aktuellen Fällen gefragt und viel von seiner Freundin und deren zwei kleinen Kindern gesprochen. Er wollte sich verloben, was ebenfalls unerwartet kam, da Andreas’ Freundinnen früher so oft gewechselt hatten, dass man sich ihre Namen kaum hatte merken können. Auch hatte er von seinen Eltern erzählt, die er normalerweise mehrmals in der Woche besuchte. An diesem Tag hatte Liv einen anderen Andreas aufblitzen sehen, jemanden, der Halt bei seiner Familie suchte. Sie war gespannt, wie er mit dem Wiedereinstieg zurechtkommen würde.
»Die KTU ist ebenfalls unterwegs. Ich fasse die Leiche garantiert nicht mehr an, das überlasse ich den Kriminaltechnikern. Ich will mich doch nicht mit Botersen-Evers anlegen! Außerdem habe ich die Rettungs- und Suchhundestaffel angefordert.«
Sie durchschritten eine Dünensenke. Der Blick öffnete sich auf die Häuser am Ortsrand von List und die Wattseite der Insel. Auf der Listlandstraße ließ die Sonne die Blechdächer der Autos wie die Glieder einer Kette aufscheinen. In den Dünen standen zwei Beamte etwas ratlos mit einer Rolle Absperrband. Wo sollte man in dieser weiten Landschaft eine Grenze ziehen? In ihren weißen Anzügen waren sie in den kargen Dünen ein unwirklicher Anblick. Wie Astronauten auf einer Weltraummission, dachte Liv.
Sie zupfte an dem Schutzanzug. Es kam ihr vor, als würde der Schweiß schon in ihre Schuhe sickern. Sie nahm das Gespräch wieder auf. »Wie ist es mit Verstärkung?«
»Sieht schlecht aus«, meinte Momke zerknirscht. »Dies ist eines der beliebtesten Wochenenden auf Sylt. Wir haben Einsätze beim Poloturnier in Keitum, dem Hafenfest Hörnum und der Sailing-Week. Überall werden die Bäder- und Schutzpolizisten gebraucht, und selbst wenn es auf Sylt grundsätzlich friedlich ist, hat auch die Kripo genug zu tun.« Momke sah sie von der Seite an. »Wenn es sich nicht um Karl von Raboisen handelt, sondern um einen verirrten und verdursteten Wanderer, der die Düne runtergestürzt ist, dann reicht unser Team ja auch.«
Aus sicherem Abstand nahm Liv den Leichenfundort in Augenschein. Es war wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen, ehe sie sich den Details zuwandte. Der Tote lag halb begraben am Fuß einer Düne. Das Rot der Schädelverletzung konnte sie auch von hier aus erkennen. Falls es Fußspuren gegeben hatte, die erklären würden, ob er dorthin gewandert oder von der Dünenkuppe gestürzt war, schienen diese verschwunden zu sein. Eine Wanderdüne war immer in Bewegung, auch wenn man es nicht sah. Hoffentlich würden Karlpeter Botersen-Evers, der Leiter der Kriminaltechnik, und sein Team noch Spuren ausfindig machen. Soweit Liv erkennen konnte, trug der Tote eine Leinenhose und ein Hemd, dazu Halbschuhe.
»Hast du einen Rucksack entdeckt? Oder eine Mütze?« Beides würde auf einen Wanderer hindeuten.
Momke schüttelte den Kopf. »Könnte höchstens noch im Sand vergraben sein.«
»Kennt einer deiner Kollegen Karl von Raboisen vielleicht besser, sodass er ihn identifizieren könnte? Ansonsten sollten wir vorsichtshalber den Zahnstatus anfordern.«
»Ich habe deshalb schon mit dem Staatsanwalt gesprochen.«
Sie hörten ein Rascheln: Sebastian kam im Schutzanzug den Spurenpfad entlanggeeilt, seinen Tatortkoffer in der Hand. Momke und er begrüßten sich; Liv sah Sebastian an, wie konzentriert er war. Alles Leichte, Spielerische war aus seinem Gesicht verschwunden. Er ist ein großartiger Rechtsmediziner, nicht nur in fachlicher Hinsicht, sondern auch, weil er nie vergisst, dass er es mit Menschen und nicht mit Forschungsobjekten zu tun hat, dachte Liv, schob ihre aufwallende Verliebtheit dann aber weg.
»Ich habe mit meinen Kollegen am Institut für Rechtsmedizin in Kiel abgesprochen, dass ich die Leichenschau vornehme. Bis die KT eintrifft, mache ich nur das Nötigste. Wurde an dem Leichnam etwas verändert?«
Knapp informierte Momke ihn. Kaum hatte er seinen letzten Satz beendet, ging Sebastian auch schon los.
»Das war’s dann wohl mit eurem Urlaub«, meinte Momke.
»Ich hoffe, nicht. Elise und Sanna kommen auch nach Sylt.«
»Ach ja, die Lesung. Wir haben schon Tickets. Herr Harksen hat es mir erzählt.« Ihr ehemaliger Lehrer, Heimatkundler auf der Insel, würde mit Livs Großmutter die Lesung gestalten.
»Da wird Elise sich freuen«, meinte Liv, war mit den Gedanken jedoch bereits wieder woanders.
***
Sebastian begutachtete die Heidefläche, um nicht versehentlich Spuren zu zerstören, dann stellte er seinen Koffer ab. Er war vollkommen fokussiert. Normalerweise hätte er den Kriminaltechnikern den Vortritt gelassen, aber wer wusste schon, wann diese eintreffen würden? Bis dahin konnten wertvolle Anhaltspunkte verloren gehen.
Zunächst nahm er das Bild des Toten in sich auf, dann kniete er sich neben ihn. Wie es seine Art war, erwies er dem Toten im Geiste die Ehre. Dieser Mann war geboren worden, er hatte geliebt, gelacht, gelitten, und jetzt würde der verwesende Körper wieder in den ewigen Kreislauf der Natur eingehen.
Er bestimmte die Umgebungstemperatur, um die Todeszeit besser berechnen zu können, was ohnehin schwierig werden würde, da bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und über 35 Grad die Ergebnisse stark von der Norm abwichen. Der Leichnam strömte bereits einen deutlichen Geruch aus, auch zeichneten sich Leichenflecke ab. Die kleinen Inseln der Livores auf der Haut waren dabei, zu größeren Arealen zu konfluieren, was dafür sprach, dass der Eintritt des Todes zwei bis sechs Stunden zurücklag. Der Tote war zwischen vierzig und fünfzig, weiß, mittelgroß, schlank. Er sah nicht wie ein Wanderer aus, sondern trug teure Kleidung und handgenähte Deckschuhe, wie sie von Seglern geschätzt wurden. In der Gummilaufsohle klebte Erde, die deutlich dunkler war als der Dünensand. Vielleicht hatte er zu einem Segelausflug aufbrechen wollen, als der Tod ihn ereilte.
Wieder einmal vergegenwärtigte Sebastian sich eine der wichtigsten Lektionen seines Berufs: nichts von Bedeutung sollte man aufschieben – das Leben konnte schnell vorbei sein …
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gesicht. Gepflegt, sonnengebräunt, die Zähne für das Alter sehr weiß, möglicherweise gebleicht. Die Oberlippe des Mannes war teilweise vernarbt, es handelte sich allerdings um eine alte Verletzung.
Sebastian wandte sich zu Momke um. »Die Zähne sind sehr hell. Es wäre denkbar, dass nach einem Unfall eine Sanierung nötig gewesen ist.«
»Dann war es ja gut, dass ich jemanden losgeschickt habe, um mehr über den Zahnstand Karl von Raboisens herauszufinden«, meinte Momke erleichtert.
Auf der Gesichtshaut des Toten fielen Sebastian merkwürdige Flecken auf, denen er sich mit besonderer Sorgfalt widmete. Behutsam löste er etwas von dem schorfartigen Belag und diktierte seine Beobachtungen. Anschließend betrachtete er die Schädelverletzung. Wundränder wie von Tierfraß. Hämatome, die auf einen Schlag oder einen Sturz hindeuten konnten. Wenig Hornhaut an den Händen des Toten. Weiße Streifen, als hätte er normalerweise Ringe getragen. Aufgeplatzte Knöchel. Abgebrochene, eingerissene Fingernägel. Keine mechanische Erregbarkeit der Muskulatur mehr, dafür aber Pupillenreaktion auf pharmakologischen Reiz. Vorsichtig bewegte Sebastian die Gelenke. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Da der Rigor Mortis auch von der Umgebungstemperatur abhängig war, würde er diese bei der späteren Berechnung des möglichen Todeszeitpunkts berücksichtigen müssen.
Als er den Körper bewegte, um die tiefe Rektaltemperatur zu ermitteln, quoll auf einmal Flüssigkeit aus dem Mund des Toten. Sebastians Anspannung steigerte sich noch. Sofort nahm er eine Probe aus der Mundhöhle.
»Ist eine Trinkflasche oder ein Rucksack gefunden worden?«, forschte er nach.
»Bislang nicht.«
Könnte es sich bei den Gesichtsflecken um getrockneten Schaumpilz handeln? Dann könnte der Mann ertrunken sein. Was für ein Widerspruch zu dem Fundort! Andererseits konnte Schaumpilz auch bei Gewebswassersucht der Lungen sowie bei einer Betäubungsmittelvergiftung auftreten. Dann war er allerdings meist eher rötlich.
Sebastians Sinne waren bis zum Äußersten geschärft. Jeder Leichenfund war ein Rätsel für ihn, und wenn es tatsächlich mysteriöse Umstände gab, spornten diese ihn nur noch mehr an. Er hatte täglich mit Toten und – in der Rechtsmedizinischen Ambulanz – den Abgründen der menschlichen Gesellschaft zu tun, aber ein vorzeitig beendetes Leben forderte ihn besonders heraus. Die Mutmaßung, dass dieser Mann sich verlaufen hatte, gestürzt oder verdurstet war, wurde zunehmend unwahrscheinlich. Nein, so wie es aussah, könnte dieser Mann noch leben. Und er würde herausfinden, ob und wie ihm jemand den Lebensfaden abgeschnitten hatte. Je besser er arbeitete, desto leichter würde es Liv und ihren Kollegen fallen, zu ermitteln, was dem Toten zugestoßen war. Wer ihm möglicherweise etwas angetan hatte. Und was.
Ein warmes Gefühl erfüllte ihn. Er bewunderte Liv für die Arbeit, die sie leistete. Liv und er waren in gleicher Weise gerechtigkeitsliebend und professionell. Die Auseinandersetzung mit Tatverdächtigen und Tätern erforderte besonderen Mut und Entschlossenheit. Auch er sah das, was Menschen einander anzutun im Stande waren. Aber er nahm es durch die wissenschaftliche Brille wahr, die Distanz schuf. Liv war den Emotionen unmittelbar ausgesetzt. Kurz gestattete er sich eine Erinnerung an die schönen Stunden, die er mit Liv verbracht hatte. Sie war ganz anders als Larissa, die er so sehr geliebt hatte. Und doch …
Sebastian rief sich zur Ordnung. Der präfrontale Cortex seines Gehirns übernahm, und seine ganze Aufmerksamkeit galt wieder dem Toten.
Momke riss sich die Sonnenbrille herunter und starrte Sebastian so fassungslos an, dass es schon komisch wirkte. Überhaupt bot Momke inzwischen einen knallbunten Anblick. Sein Gesicht leuchtete mit Polohemd und Basecap um die Wette, und über dem Nacken baumelte ein geblümtes Taschentuch, das er an seiner Kappe befestigt hatte. »Wie bitte? Ertrunken? Der Tote liegt doch in der Wüste … ich meine, auf der Düne«, sagte Momke ungläubig.
»Du weißt, dass ich nichts von Spekulationen halte. Über das Wie kann ich also nicht viel sagen. Bislang deuten jedoch alle Anzeichen darauf hin.«
»Der Mann könnte also auch in den Dünen ertränkt worden sein? Mit Hilfe einer … Wasserschale? Oder man hat ihn woanders ertränkt und dann hierhergetragen?« Momke überlegte, aber es klang durch, wie unwahrscheinlich ihm dies erschien.
»Wie gesagt: Die erste Untersuchung legt nahe – ich betone: noch ist es nicht erwiesen –, dass der Mann ertränkt worden sein könnte. Genaueres muss die Obduktion ergeben, die meine Kollegen in Kiel vornehmen werden.«
»Du gibst den Fall also ab?«, fragte Momke, sichtlich verwundert über Sebastians mangelnde Einsatzbereitschaft.
»Auch ohne mich wird im Institut ausgezeichnete Arbeit geleistet. Meine Kollegin Doktor Paans vertritt mich. Ich habe Urlaub.«
Sebastians Blick wanderte zu Liv. Erwartete er von ihr, dass sie ebenfalls diesen Fall sausen ließ? Liv glaubte kaum, dass sie ihr kriminalistisches Gehirn nun, da es schon mal getriggert worden war, zur Ruhe bringen könnte – Urlaub hin oder her. Auf jeden Fall nicht, solange sie nicht abgelöst werden konnte.
Sebastian fuhr fort: »An Mund- und Nasenöffnung des Toten finden sich anscheinend Schaumpilz-Antragungen. Dazu möglicherweise retrograde Ertrinkungsflüssigkeit im Rachen. Keine Waschhautbildung an Händen und Füßen.«
»Er hat also nicht längere Zeit im Wasser gelegen«, konstatierte Liv.
»Das ist nicht wahrscheinlich, nein. Bei der Obduktion wird der Tote sicherheitshalber aber auch noch auf Gewebswassersucht oder eine Betäubungsmittelvergiftung überprüft.«
Urs, ein Schutzpolizist, den Liv schon von früheren Fällen kannte, trat zu ihnen. Das Haar klebte an seiner schweißbedeckten Stirn. Er reichte Momke einen Umschlag. »Der Zahnarzt hat seine Praxis glücklicherweise im Souterrain seiner Villa. Er musste also nur die Füße aus den Eiskübeln nehmen und in sein Patientenarchiv steigen.«
Momke gab den Umschlag an Sebastian weiter, während Urs diskret seinen Uniformkragen weitete. »Im Auto ist mir das Hirn geschmort worden. Wir sollten definitiv Polizei-Cabrios beantragen …«
»Blausilberne Cabrios wären in der Tat standesgemäß. Am besten noch Luxusschlitten, damit ihr mit den restlichen Syltern mithalten könnt, was?«
Die spöttische Stimme ließ Liv herumfahren. Schon bei Hennes’ Anblick geriet Liv ins Schwitzen. Ihr Kollege trug wie immer ein Jeanshemd zur Jeanshose. Die Hosenbeine hatte er einmal umgekrempelt, sodass man die geringelten Socken sehen konnte, das Hemd stand einen Knopf weiter auf als nötig, aber die Ärmel reichten bis zu den Handgelenken. »Gib’s ruhig zu, davon träumst du doch auch schon lange«, begrüßte sie ihren Team-Partner grinsend.
»Wenn schon, dann einen Polizei-Käfer-Cabrio von 1951«, meinte Hennes. Er nickte grüßend in die Runde.
»Aber damit wäret ihr kaum so schnell hier gewesen. Das ist ja wohl Rekordzeit«, sagte Liv anerkennend mit einem Blick auf die Uhrzeit; noch nicht mal Mittag.
»Wir haben alles stehen und liegen gelassen und sofort einen Autozug bekommen.« Auch ihr Kollege Andreas war zu ihnen getreten.
Liv reichte ihm die Hand. »Gut, dass du wieder im Einsatz bist.«
»Ich bin auch froh darüber. Ein Mann braucht eine Aufgabe. Bin meiner Familie in den letzten Wochen schon ganz schön auf die Nerven gegangen.« Andreas lächelte schief und rieb sich dabei über sein Haar, das er neuerdings kurz rasiert trug, was seinem Gesicht eine ungewohnte Verletzlichkeit gab. Die Narbe von seiner Kopfwunde war als rosafarbener Fleck zu erkennen. Auch seine übliche Haltung, breitbeinig, das Kreuz durchgedrückt, wirkte bemüht. »Also her mit der Arbeit. Zur Not löse ich den Fall auch im Alleingang. Energie genug habe ich.«
»Das ist ja mal eine Ansage.«
Ein Vogel schrie durchdringend. Liv sah auf. Ein Schemen zeichnete sich im tiefen Blau ab. Für einen Augenblick war ihr, als ob Geier über ihnen kreisten, aber es waren natürlich nur Möwen. In einiger Entfernung rief ein bulliger Mann, dessen Hemd am Rücken klebte, lautstark Anweisungen. Botersen-Evers, der Chef der kriminaltechnischen Abteilung, übernahm resolut das Kommando. Sie waren ein gutes Team, das hatten sie schon mehrfach bewiesen. Auch die Rettungs- und Suchhundestaffel war gerade eingetroffen.
Jetzt stürmte Botersen-Evers auf sie zu; Schweißperlen glitzerten auf seiner Oberlippe. »Ist das Spurenvernichtungskommando am Fundort gewesen? Wer war dort? Die Rechtsmedizin etwa?«, wollte Botersen-Evers in einem scharfen Ton wissen; üblicherweise gebührte der KT der Vortritt.
»Ehe Sie hier angekommen sind, habe ich schon einen wichtigen Teil meiner Arbeit erledigt«, meinte Sebastian ruhig.
»Wer ist hier wichtig? Ohne die Spuren ist ein Kriminalist nichts!«
»Und ohne rechtsmedizinisches Gutachten ebenso wenig. Sie sollten wissen, dass ich mich stets vorschriftsmäßig und spurenschonend verhalte.«
Abwägend blickte Botersen-Evers ihn an.
»Wir hatten die Leiche vorher bereits abgeklebt«, warf Momke ein.
»Das ist ja wohl auch das Mindeste«, gab Botersen-Evers widerwillig nach.
Hennes und Sebastian besprachen sich mit dem Kriminaltechniker, dann begaben sich Sebastian und Botersen-Evers zu dem Toten.
»Wird Zeit, dass die Leiche abtransportiert wird, die stinkt ja schon bis hierher«, meinte Andreas. Obgleich es stimmte, dass sich der Körper bei dieser Hitze schnell zersetzte, spürte Liv einen heftigen Widerwillen gegen den respektlosen Ton ihres Kollegen.
»Die Bestatter warten auf dem Parkplatz«, berichtete Momke.
Hennes hakte ein. »Apropos Parkplatz: Ich habe mich als Teamleiter von meiner besten Seite gezeigt und jemanden zum Supermarkt geschickt. Im Mannschaftswagen wartet eine große Kühltasche mit Kaltgetränken und Eis. Lasst uns doch die Lagebesprechung dorthin verlagern.«
Sie gingen zurück. Gegen eine Abkühlung und etwas Schatten hatte Liv nichts einzuwenden; der Schutzanzug schien sich an ihrem Körper festgesaugt zu haben, soviel sie auch daran zupfte.
Neben dem Mannschaftswagen war inzwischen ein Faltpavillon aufgestellt worden. Liv öffnete den Overall und krempelte ihn bis zur Hüfte herunter; im Badeanzug war es angenehm luftig.
Andreas pfiff anerkennend. »Sexy, Lammers! Solltest du jetzt immer tragen.«