Mirjam Gräve ist Lehrerin für die Fächer Pädagogik, Geschichte, Katholische Religion an einer Gesamtschule im Rheinland, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Sprecherin des Netzwerks katholischer Lesben e.V. (NkaL).
Hendrik Johannemann ist Promovend und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Er engagiert sich seit Langem in der Initiative Homo Cusanus, dem Zusammenschluss queerer Stipendiat*innen des Cusanuswerks.
Mara Klein ist Student*in an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für die Fächer Katholische Religion und Englisch (Lehramt) und U30-Mitglied der Synodalversammlung.
Die Herausgeber*innen sind Mitglieder im Forum „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“ des Synodalen Wegs.
Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Klimaneutrale Produktion.
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass bei Links im Buch zum Zeitpunkt der Linksetzung keine illegalen Inhalte auf den verlinkten Seiten erkennbar waren. Auf die aktuelle und zukünftige Gestaltung, die Inhalte oder die Urheberschaft der verlinkten Seiten hat der Verlag keinerlei Einfluss. Deshalb distanziert sich der Verlag hiermit ausdrücklich von allen Inhalten der verlinkten Seiten, die nach der Linksetzung verändert wurden und übernimmt für diese keine Haftung. Alle Internetlinks zuletzt abgerufen am 28.09.2021.
© 2021 Bonifatius GmbH Druck | Buch | Verlag, Paderborn Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden, denn es ist urheberrechtlich geschützt.
Bibelzitate wurden folgender Bibelausgabe entnommen: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe
© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München, werkstattmuenchen.com
Satz: Bonifatius GmbH, Paderborn
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-89710-915-5
eISBN 978-3-89710-969-8
Weitere Informationen zum Verlag:
www.bonifatius-verlag.de
FÜR ALLE VON
DISKRIMINIERUNG UND GEWALT
BETROFFENEN MENSCHEN
IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE,
DEREN STIMMEN (NOCH)
NICHT GEHÖRT WERDEN.
Vor dem Anfang: Eine Einladung
Teil I
Lebenszeugnisse von queeren Menschen in der katholischen Kirche
Am Anfang
1. „Das alte Gefühl, genau dort mit genau dieser Liebe richtig zu sein, ist trotzdem noch da“
2. „Ich fiel aus meiner Kirche in ein bodenloses Loch“
Katholisches Arbeits(un)recht
3. „Meine Seele hat gestreikt“
4. „Zwischen Geringschätzung und Wertschätzung“
5. „Ich weiß einfach, dass Gott mich so liebt“
6. „Die katholische Kirche forderte mich auf, die Scheidung einzureichen“
Familie
7. „Gott liebt ihn, ob getauft oder nicht!“
8. „Zuerst Vater, dann Mutter von vier katholisch getauften Kindern“
Scheinheiligkeit
9. „Wenn die Kirche so lebt, dann kann mein Leben keine schwerere Sünde sein“
10. „Gott hat Glück, dass ich ihn so trotzköpfig liebe“
11. „Ich musste meine Heimat verlassen, um lebendig zu bleiben“
Berufung
12. „Ich stand vor dem Abgrund“
13. „Ich wusste, so wie ich bin, will mich die Kirche nicht“
14. „Nie werde ich mich verleugnen!“
15. „Provozieren, um zu heilen“
Glaubensverlust
16. „Die Kirche hat mit mir Schluss gemacht“
17. „Um die göttliche Ordnung aufrechtzuerhalten, landete ich unterm Messer“
Der Bund fürs Leben
18. „Die glauben, ich sei krank“
19. „Zerbrechlich und gesegnet“
20. „Heirat mit allen Konsequenzen“
21. „Auf Euphorie folgte Ernüchterung“
Äußerer Zwang, innere Zerrissenheit
22. „Ich hatte die Wahl zwischen Tod und Coming-out“
23. „Ich gewöhnte mich an Scham und Selbstabwertung“
24. „Ich betete, dass Gott mich heterosexuell macht“
Teil 2
Perspektiven aus dem Nahbereich
Eltern homosexueller Kinder
25. „Sonntagsmesse – Wie schaffst du das?“
26. Brief an meine Tochter in unendlicher Liebe
27. „Ich war erstaunt und ein wenig erschrocken“
Eltern intergeschlechtlicher Kinder
28. „Warten auf unseren Sohn – unsere Tochter wird geboren“
29. „Mein Wunschkind“
Geschwister
30. „Ich will kein Mitglied in so einer Institution sein“
Seelsorgende
31. „Apriori-Urteile verhindern Begegnungen. Doch Begegnungen können Urteile ändern.“
32. „Ich habe gespürt, was ihnen dieser Segen bedeutet“
Aus dem Umfeld
33. „Bleibt mir Zeit, Fehler gutzumachen?“
34. „Wer es fassen kann, der fasse es“
35. Ein Interview:
Diskriminierung von Regenbogenfamilien
36. Internalisierte LGBT*-Phobie und LGBT*- Minoritätenstress: die psychischen Folgen der kirchlichen Verurteilung
Teil 3
Perspektiven von Verantwortungsträger*innen
Bischöfliche Perspektiven
37. Heinrich Timmerevers:
Wirkliche Begegnung ermöglicht neues Denken
38. Franz-Josef Overbeck:
Vorurteile überwinden
Perspektiven von Verantwortlichen in der Seelsorge
39. Martina Kreidler-Kos:
„Umarmen – lieben – bestärken“ Was Mutter Kirche von Müttern (und Vätern) lernen kann
40. Jens Ehebrecht-Zumsande: Willkommene Vielfalt? LGBTIQ+ Katholik*innen und ihr Kampf um Akzeptanz und Zugehörigkeit
Perspektiven aus den katholischen Lai*innenverbänden
41. Claudia Lücking-Michel:
Ein weiter Weg – unter den Regenbogen
42. Birgit Mock:
Segen schenken
43. Gregor Podschun:
Wir müssen besser werden! Die Auseinandersetzung Katholischer Jugendverbände mit LGBTI*Q-Personen in der Kirche
44. Ulrich Hoffmann:
Familienbilder im Wandel – Respekt und Wertschätzung für die Vielfalt, die in Familien lebt
Perspektiven aus der Theologie
45. Julia Knop:
Kurskorrektur!
46. Interview mit Stephan Goertz:
Über den Vorrang der Liebe
47. Thomas Schüller:
Divers und doch katholisch
48. Marianne Heimbach-Steins:
Inklusive Kirche?
49. Ansgar Wucherpfennig:
„Homosexualität kauft man sich nicht einfach im Supermarkt“
Am Ende: Perspektiven für einen notwendigen Wandel in der Kirche 289
Anhang
Leseschlüssel
Glossar
Danksagung
Die folgenden Lebenszeugnisse von queeren Menschen enthalten stellenweise Beschreibungen von emotionaler, psychischer und verbaler Gewalt und spirituellem Missbrauch, Erwähnungen von sexueller Übergriffigkeit, Selbstverletzung und Suizidversuchen, sowie Wiedergaben queer-feindlicher Rhetorik. Weiterhin werden Diskriminierung auf Grundlage von sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität sowie daraus entstehende psychische Folgen beschrieben.
Um den Leseprozess zu unterstützen und zu erleichtern, werden viele Begriffe im Glossar (S. 298) erklärt. Ebenfalls im Anhang befindet sich ein Leseschlüssel, der es ermöglicht, gezielt Texte nach bestimmten Themen und Stichworten auszusuchen.
Die Herausgeber*innen
Der Funke für dieses Buch wurde entzündet, als wir drei uns im Forum „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“ im Rahmen des Synodalen Wegs kennenlernten. Von Alter, Herkunft, Beschäftigung und Geschlecht her verschieden hatten wir doch eine Gemeinsamkeit: Alle drei waren wir aufgrund unseres Engagements gegen die Diskriminierung queerer Menschen in der katholischen Kirche und aufgrund unseres eigenen Queer-Seins ins Synodalforum berufen.
„Queer“ ist ein Sammelbegriff und eine Selbstbezeichnung für Menschen, die nicht heterosexuell sind und/oder deren Geschlechtsidentität oder Geschlechtsauftreten nicht mit den gesellschaftlichen Vorstellungen, z. B. nicht mit dem bei Geburt zugeordneten Geschlecht, übereinstimmt.
Queer-Sein in der katholischen Kirche bedeutet: nicht im System vorgesehen sein.
Während die Gesellschaft in Deutschland langsam inklusiver wird und 2017 mit der „Ehe für alle“ ein klares Zeichen für Gleichberechtigung setzte, ist in der katholischen Kirche auch 2021 sogar die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ausdrücklich untersagt. Die Sakramente der Ehe und des Priesteramtes, aber auch das Sakrament der Eucharistie bleiben queeren Menschen, die ihre Sexualität leben, versagt.
Genauso verhält es sich mit dem katholischen Arbeitsrecht: viele Mitarbeiter*innen der katholischen Kirche, insbesondere in Berufen der Verkündigung und der Jugend- und Kinderarbeit sehen sich gezwungen, ihre Familie und ihr Privatleben im Rahmen des Arbeitsverhältnisses und vor Kolleg*innen und Freund*innen zu verschweigen und zu verheimlichen. Oft leben sie in ständiger Angst und Sorge, aufgrund ihrer Beziehungen ihren geliebten Beruf und ihre existenzielle Grundlage zu verlieren.
Um die schwerwiegenden Folgen dieser Diskriminierung in der Lebensrealität queerer Menschen in der katholischen Kirche für die Menschen im Synodalforum zu verdeutlichen, starteten wir 2020 einen Aufruf: Queere Menschen sollten sich bei uns mit ihren Erfahrungen in der katholischen Kirche melden. Diese Lebenszeugnisse wollten wir dann als Problemanzeigen im Forum einbringen. Aus vielerlei Gründen erwies sich die Umsetzung unseres Plans als schwierig. Aber wir wollten die bewegenden und wichtigen Zeugnisse, die auf diese Weise den Weg zu uns fanden, nicht aufgeben.
Dem Vorbild von Sr. Philippa Rath folgend, die 2020 die Berufungsberichte von 150 Frauen als Buch veröffentlichte („ … weil Gott es so will“ – Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin, Herder), entschieden wir uns mithilfe des Bonifatius Verlags Paderborn schließlich zur Veröffentlichung in Buchform.
Dabei war von Anfang an klar, dass in diesem Buch nicht zur Diskussion steht, ob Veränderung nötig und möglich ist – im Gegensatz zum Synodalen Weg, wo wir das „Ob“ über die Notwendigkeit unserer Grundrechte diskutieren müssen. Für das Konzept dieses Buches orientieren wir uns deswegen an der Idee des Wandels, die eine Problemanzeige, Forderung nach und Hoffnung auf Veränderung in sich vereint. Die drei Teile unseres Buches versuchen dabei Prozesse der Ver-Wandlung nachvollziehbar zu machen und zu ermöglichen. Mit Wandel meinen wir in erster Linie inneren Wandel, der alle drei Gruppen von Erfahrungsberichten durchzieht.
Im ersten Teil finden sich mit wenigen Ergänzungen die Lebenszeugnisse, die uns auf unseren ersten Aufruf hin erreicht haben. Lesbische, schwule, gleichgeschlechtlich liebende, bisexuelle, sowie trans, inter, nichtbinäre und andere queere Menschen berichten aus ihrem Leben, von ihren Glaubens-, Glücks- und Leiderfahrungen. Ihre Zeugnisse eröffnen Einblicke in die Situation von queeren Gläubigen in verschiedenen Bereichen der katholischen Kirche. Viele der Zeugnisse sind durchzogen von innerem Wandel – weg von den erniedrigenden Vorgaben der kirchlichen Sexuallehre hin zu Selbstannahme und Selbstliebe. Dabei bleibt auch nicht verschwiegen, dass für manche dieser Weg aus der Kirche und mitunter auch aus dem Glauben heraus führt.
Um das ganze Spektrum aufzuzeigen, haben wir die Lebenszeugnisse sortiert. Rubriken wie Familie, Berufung, Glaubensverlust u. a. bilden Schwerpunkte der darin enthaltenen Zeugnisse ab. Nicht alle Texte waren leicht zuzuordnen, denn viele Erfahrungen haben mehrere Schnittmengen. Die Rubriken sind deswegen mehr eine Lese- und Orientierungshilfe als eine klare Kategorisierung. Sie sollen aber auch Momente des Durchatmens ermöglichen. Denn alle Texte sind äußerst persönlich, intensiv und oft auch schmerzhaft zu lesen. Wir möchten dazu ermutigen, sie in Ruhe zu lesen und sich die Zeit zu nehmen, die beschriebenen Situationen wirklich aktiv wahrzunehmen und zu versuchen, die Tragweite bestimmter kirchlicher Strukturen für das Leben vieler Menschen zu verstehen. Dazu gehört auch, auf das zu achten, was zwischen den Zeilen steht und unaussprechbar bleibt.
Viele Berichte sind aus verschiedenen Gründen anonymisiert, etwa weil die Verfasser*innen bei der Verwendung des Klarnamens mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätten oder weil in kirchlichen Umfeldern bereits so viel Übergriffigkeit und Schmerz erfahren wurde, dass das persönliche Zeugnis geschützt werden muss.
Einige Berichte lassen Erfahrungen von Machtmissbrauch in der katholischen Kirche bewusst aus, (u. a.) um den Fokus aufs Queer-Sein zu setzen.
Auch haben es einige Lebensgeschichten nicht in dieses Buch geschafft, weil der Schmerz nicht in Worte zu fassen war. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass die beschriebenen Situationen und Strukturen zu einer besonderen Vulnerabilität queerer Menschen für Machtmissbrauch durch Amtsträger*innen in der katholischen Kirche führen. Allein die Anonymisierung aufgrund existenzieller Not verdeutlicht diesen Umstand.
Einen Perspektivwechsel enthält der zweite Teil, in dem Menschen aus dem Nahbereich queerer Personen zu Wort kommen. Geschwister, Eltern, Seelsorger*innen und weitere Personen berichten aus ihrer Perspektive von den Schwierigkeiten, mit denen ihre Lieben und Nächsten in Kirche und Glauben zu kämpfen hatten und haben. Aber sie erzählen auch von ihrem eigenen Wandel und innerem Prozess.
Der dritte Teil eröffnet die Perspektive von Menschen mit Verantwortung für Wandel und Fortschritt in der katholischen Kirche. Verantwortungsträger*innen aus Amtskirche, Theologie, Verbänden und Seelsorge berichten von Wandel auf persönlicher und institutioneller Ebene. Dabei geht es nicht nur um vollzogenen Wandel, sondern auch um Zukunftsperspektiven, Voraussetzungen und Notwendigkeiten.
Alle drei Teile des Buches sind eine Einladung, sich bewusst auf die beschriebenen Erfahrungen und Situationen einzulassen. Es soll ein Raum der Begegnung sein: mit Lebensgeschichten, mit Geschwistern im Glauben, zwischen Familien, zwischen Mitmenschen. Die Bereitschaft zu dieser Begegnung, zum Hinsehen auf die Nöte und Wirklichkeiten anderer Menschen ist für uns der erste Schritt zu Wandel und Veränderung – sowohl individuell, als auch in der Kirche.
Bewusstes Hinsehen fordert Mut und Überwindung und kann schmerzhafter sein als vermutet. Dass neben Lebenszeugnissen auch Perspektiven von Verantwortungsträger*innen genau diesen Prozess beschreiben, ist uns wichtig. Die Botschaft lautet: Du gehst diesen Weg nicht allein. Und als dieses Buch entstand, war es für uns eine unglaublich bereichernde und berührende Erfahrung zu sehen, dass Bischöfe, katholische Verbände, Einzelpersonen und Seelsorgende diesen Weg mit und für uns gehen.
Mirjam Gräve, Hendrik Johannemann, Mara Klein
Am AnfangKatholisches Arbeits(un)recht FamilieScheinheiligkeitBerufung GlaubensverlustDer Bund fürs Leben Äußerer Zwang, innere Zerrissenheit
Maria Fixemer, geb. 1991
Das erste Mal verliebt habe ich mich in der Kirche. Ich war Messdienerin, elf Jahre alt und hatte mir das Verliebtsein immer ganz anders vorgestellt. Denn als ich mich verliebte, war das so unerwartet, und es passierte an einem unwahrscheinlichen Ort: Die Messe war schon fast vorbei, wir saßen auf kleinen roten Stühlen an der Seite des Hochaltars und warteten auf das letzte Lied. Und währenddessen lehnte sich Elisabeth zu mir rüber und fragte: „Glaubst du an Gott?“
Vielleicht war ich überrumpelt, vielleicht wollte ich auch nachdenklicher oder rebellischer scheinen, als ich war, jedenfalls antwortete ich: „Ich weiß es nicht.“ Und sie sagte: „Ich mag dich.“
In dem Moment habe ich mich verliebt. Das Einzige, woran ich mich von diesem Abend noch erinnern kann, ist, wie ich in die Küche meiner Eltern stürmte, dort herumtanzte und immer wieder sagte: „Die Elisabeth mag mich, die Elisabeth mag mich!“
In den Wochen und Monaten danach nannte mich der Küster „unsere treuste Messdienerin“, und meine Mutter sagte: „Oh, oh, wenn der wüsste, warum du so oft in die Kirche gehst!“ Vielleicht war es nicht so, aber damals war mir dieser Einwand unverständlich. Ich war die treuste Messdienerin, und es gab überhaupt keinen Zweifel daran, dass diese Liebe an ihrem richtigen Ort war.
Heute weiß ich, wie viel Kraft und Energie dafür eingesetzt wird, einen Platz für die Liebe zwischen Männern und Männern und Frauen und Frauen in der Kirche zu schaffen. Und ich verstehe diese Kirche, die irgendwie auch meine ist, oft nicht mehr in ihren winzigen Schritten und ihrer oft verletzenden und gefährlich selbstgerechten Haltung in der Frage, wer wen lieben darf. Aber das alte Gefühl, genau dort mit genau dieser Liebe richtig zu sein, ist trotzdem noch da. Das ist meine Hoffnung, für die Kirche, vor allem aber für die Menschen, die in ihr leben und sich lieben: Dass sich beide – Kirche wie Menschen – trauen, sich zu öffnen und offen sind gegenüber der Liebe zwischen Menschen egal welchen Geschlechts, für die die Kirche der Ort dieser Liebe ist – ob nun aus Zufall, weil sie es so wollen oder weil es einfach so sein soll.
Ben, geb. 1995
Mein Leben als Katholik begann in der Messe, in der auch meine Großeltern G*tt anlässlich ihrer Goldhochzeit für ihre Ehe und ihre sechs Kinder dankten, in einem weißen Kleid. Dasselbe weiße Kleid, das meine fünf Cousinen bei ihrer Taufe trugen, dasselbe weiße Kleid, das meine Schwester trug. Es war auch dasselbe weiße Taufkleid, das mein Cousin trug, nur hatte es bei seiner Taufe blaue Schleifchen und bei meiner rosafarbene.
Bei der Anmeldung zur Taufe hatten meine Eltern die gleichen Angaben gemacht wie beim Standesamt – zu dem Namen, den sie mir geben wollten, und dem Geschlecht, das vermutet wurde. Die Kirche übernahm diese Daten.
Seit meiner Taufe war ich also Katholik. In meiner Heimatkirche und um sie herum verbrachte ich viel meiner Zeit; ich fühlte mich dort zu Hause. Sie war ein Ort, an dem ich lebte und lernte. Fast alle Menschen, die mir in meinem sozialen Umfeld wichtig waren, gehörten zur aktiven Gemeinde. Kirchengemeinde und Kleinstadtgesellschaft waren stark miteinander verwoben, sodass die Kirche in die Gesellschaft um mich herum hineinwirkte. Ich besuchte eine katholische Grundschule und später ein katholisches Gymnasium. Bis zu meinem Abitur war die Kirche bei jedem wichtigen Lebensereignis dabei.
Ich wusste mich an jedem bedeutsamen Tag in meinem Leben begleitet und von G*tt geliebt, konnte mein Leben vor G*tt betrachten und für alles Gute darin danken. Auf dem Lebensweg, den die Kirche mir durch die Sakramente vorzeichnete, fühlte ich mich immer sicher. Auch wenn ich wie etwa bei der Erstkommunion für ein wenig Aufsehen sorgte, als ich mich weigerte, ein weißes Kleidchen anzuziehen als die anderen Kinder zu diesem Ereignis wie kleine Brautleute ausstaffiert wurden. Die Grenze zwischen den Erwartungen der Kirche und den Erwartungen der erwachsenen Leute, die die Kirche für mich verkörperten, zu ziehen, war manchmal schwer, doch ich sah die Kleiderfrage nie als Problematik innerhalb meines Glaubens an. Schließlich ging es in den Feiern immer um etwas ganz anderes: meine Beziehung zu G*tt.
Als sich meine Perspektive verschob und ich als Heranwachsender anfing, mich nach meinem weiteren Lebensweg und meinem eigenen Erwachsenenleben zu fragen, wurden die Dinge schwieriger. Ich wollte den Pfad meines christlichen Lebens weiterverfolgen, aber dieser hörte unvermittelt auf.
Die Kirche sah verschiedene Wege vor, wie Menschen ihr Leben verbringen sollen, doch keiner davon stand mir offen. Denn als ich mich auf die Suche begab und nach den Lebenswegen fragte, die vorgesehen waren, lernte ich nach und nach, dass das Betreten all dieser Pfade plötzlich an mein Geschlecht geknüpft sein sollte. Und ich spürte, dass ich in den Erzählungen der Kirche nicht vorkam, lange bevor ich den Begriff „Transidentität“ kennenlernte. Zwar passte ich in all die biblischen Geschichten hinein, denn ich verstand sie alle als Geschichten von Menschen, doch irgendwo war da ein Bruch zwischen dem, was ich von ihnen verstand und dem, was die Kirche aus ihnen für mein Leben ableiten wollte.
Ich fühlte mich einsam inmitten der Menschen. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, nach mir und meinem Platz zu fragen. Niemals erwähnte irgendjemand in der Kirche einen Menschen, der so war wie ich. Und so fragte ich G*tt. Immer wieder: Wer soll ich sein? Was willst du, dass ich tue? Was hast du dir dabei gedacht, mich so zu machen; mit all dieser Einsamkeit, dem Schmerz?
In der Kirche hatte ich nicht nur etwas über Gemeinschaft erfahren, dort wurde auch Leiden erhöht sowie Aufopferung und Demut. Ich versuchte mit all meiner Macht, ein gutes, ein g*ttgefälliges Leben zu führen. Ich rang mit G*tt. Jahrelang. Mal versuchte ich sehr ernsthaft mit Frömmigkeit, mal mit Rebellion, meinen Pfad wiederzufinden. Doch ich hörte immer nur ein leises Raunen: Woanders. Irgendwann dachte ich, G*tt hätte keinen Platz für mich vorgesehen; als hätte G*tt mich vergessen.
Während ich immer mehr zu mir selbst fand und kennenlernte, wer ich war; als ich gesehen habe, dass ich nicht anders leben konnte als als Mann, wusste ich nicht, ob ich noch nah bei G*tt war. Aber ich vermisste es, mich in der Musik, in der ich die Heimat meiner Kirche immer bei mir trug, ihm nah zu fühlen. Und in der Musik, in einem Konzert, durch „RUAH“ (hebräisch: Geist/Lebensatem), was auch der Titel eines Albums von Michael Patrick Kelly ist, fand ich meine Nähe zu G*tt schließlich wieder. Aber ich schämte mich und fühlte mich fremd. Ich spürte, dass ich unaufrichtig vor mir selbst lebte.
Als ich ein Wort für mich gefunden hatte („trans“) – eines, nach dem ich fragen und suchen konnte –, las ich alles, was die Kirche dazu zu sagen hatte. Nirgendwo stand ein Wort von G*tt. Es ging um Ehefähigkeit, um Priester:innentum, darum, ob ein Mensch, der „in objektiver Sünde verharrt“ einem Kind ein Vorbild im Glauben, ein:e Pat:in sein kann und sogar darum, ob jemand wie ich überhaupt die Eucharistie empfangen durfte.
Während ich also an meinem Schreibtisch saß, in der Uni, in der Bahn; überall, wo ich nach Antworten suchte, fiel ich aus meiner Kirche in ein bodenloses Loch. Denn als ich alles gelesen hatte, stellte ich fest, dass es in der ganzen schriftlichen und für mich erreichbaren Kirche offensichtlich niemanden gab, der:die mir etwas Liebendes zu sagen hatte. Da lief ich im Regen nach draußen unter den freien Himmel, an den Ort, wo ich gern betete. Dort war ich äußerlich endlich so einsam wie innerlich und wo ich allein war mit G*tt. Ich weinte und schrie zu G*tt.
Dann ließ ich meine Kirche los. Ich ließ alle Schilde fallen. Ich ließ die Erwartungen der Menschen los. Ich fuhr alle Ansprüche herunter, die ich an mich selbst hatte, bis zu den Grundfesten meines Glaubens. Dort fand ich die Sendung, die ich in mir trage: den Menschen Gutes zu tun.
Ich betete, ließ alle Pläne ziehen und fand am Tiefpunkt meines Lebens einen neuen Weg. Und ich versprach G*tt: Wenn das der Mensch ist, der ich sein muss, um Gutes in der Welt tun zu können, dann werde ich dieser Mensch sein, auch wenn ich den Weg, den ich betrete, nicht kenne, und wenn ich ihn ohne meine Kirche gehen muss.
Ich wusste, ich würde keine Hilfestellung haben, denn dieser Weg war nicht vorbereitet. Und auch, dass ich G*tt zwischendurch missverstehen könnte, aber es gab nichts außer meiner Vereinbarung mit G*tt.
Ich versuche jetzt, stets offen zu bleiben. Nachzufragen. Hinzuhören. Damit eines Tages, wenn ich vor G*tt stehe, mein Gewissen klar ist.
Ich bin jetzt im Reinen mit G*tt.
Ich bin verletzlich, weil ich aus meiner Kirche herausgefallen bin und weil die mittlerweile vielen Menschen, die Kirche mit mir zusammen sein wollen, so oft nicht sichtbar sind.
Ich habe keinen sicheren Platz in meiner Kirche. Ich bin oft dort und solange ich nützlich erscheine oder namenlos bin, bin ich geduldet. Aber im Angesicht lehramtlicher Kirche, wenn sie diese Seite von sich hervorkehrt, hört spontan ein jedes Mal meine Existenz auf. Ich entschwinde mir. Dann muss ich hinausgehen und mich suchen. Vielleicht komme ich noch mal zurück.
Mir wird nicht getraut. Schon nicht bei meiner Existenz, wo denn dann? Manchmal höre ich auf zu sprechen.
Doch selbst, wenn ich mich ganz vergrabe, muss ich doch immer wieder hervorkommen. Denn G*tt hat so viele wunderbare queere Menschen gemacht. Und ich will nicht, dass davon auch nur eine Person ihren Glauben verlieren muss, weil wir so kleingläubig sind und kein Vertrauen in G*tt haben.
Manuela Sabozin-Oberem, geb. 1969
Ich bin 51 Jahre alt und lebe gemeinsam mit meiner Frau in Bochum. Ich wurde als Kind katholisch getauft und bin zur Erstkommunion gegangen, obwohl ich in einer kirchenfremden Familie aufgewachsen bin. Das „machte man eben so“.
Später wurde ich dann noch als junge Erwachsene gefirmt, weil ich seinerzeit als Jugendliche aus dem Firmunterricht geflogen bin. Meine Firmung „benötigte“ ich aber für mein Studium als Religionspädagogin im Essener Seminar für das Bistum Essen.
Ich beschreibe meinen Werdegang so genau, da ich in der Reflexion festgestellt habe, dass mein Glaube groß war und ist, meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche aber eine eher zufällige darstellt.
Nach dem Studium habe ich dann 20 Jahre als Gemeindereferentin gearbeitet, zuerst in der Gemeinde und dann als Krankenhausseelsorgerin.
Beruflich war ich am richtigen Ort angekommen!
Ich habe mich immer in Frauen verliebt. Das hat sich immer gut und richtig angefühlt. Im Studium, Ende der 80er-Jahre, wurde ich dann mit der katholischen Morallehre konfrontiert. Überall habe ich nachgelesen, was die Kirche zu Homosexualität sagt. Da fing auch der Schmerz an. Ein Schmerz, über den ich mit niemandem sprechen konnte, denn schnell habe ich verstanden: Über manche Dinge spricht man am besten nicht in der katholischen Kirche.
Ich habe es nicht miteinander vereinen können: auf der einen Seite die Lehre der Kirche. Die Kirche, die mich als Angestellte beschäftigte, meine Arbeit für gut befand und für mich ein Zuhause und eine Heimat geworden war. Und auf der anderen Seite meine Identität, meine Gefühle und Gedanken. Ich habe mich nicht schuldig und sündig gefühlt, weil ich die war, die ich bin. Ich fühlte mich von Gott so gewollt und geliebt. Dieser Schmerz war immer da, aber oft im Hintergrund des Alltagsrauschens.
Ich hatte mich „gut“ eingerichtet, mein Doppelleben zu führen. In der Gemeinde war ich die Seelsorgerin und zu Hause die Partnerin.
Der Wendepunkt war meine Verabschiedung aus der Gemeinde. Ein großes Fest, ein großer Gottesdienst. Es war fast perfekt, aber eben nur fast. Denn meine Frau und eine ihrer Töchter saßen nicht da, wo sie hingehörten: neben mir! Sie saßen ein paar Reihen hinter mir und ab diesem Moment brach der Schmerz sich Bahn.
Fast täglich stellte ich mir selbst die Frage: Warum ist das so? Warum kann ich nicht so sein, wie ich bin und meinen Beruf ausüben? Von da an hatte ich auch eine große Angst, geoutet zu werden und meinen Beruf zu verlieren. Mein „nicht kirchliches“ Umfeld konnte diese Angst kaum verstehen. „Was ist denn daran so schlimm, dass du lesbisch bist?“ – „Hat doch den Arbeitgeber nichts anzugehen!“ Doch in meinem beruflichen Umfeld, wo ich nicht geoutet war, konnte ich über diese Angst nicht sprechen.
In den darauffolgenden Jahren fand ich einige Kolleginnen und Mitarbeiterinnen, denen ich mich anvertrauen konnte. Sie nahmen mich an; es ging gut. Die Angst blieb trotzdem und vor jedem Gespräch wuchs sie ins Unermessliche. Was ist, wenn die Kollegin mich nun doch beim Bischof anzeigt? Und jede Äußerung der Kirche über Homosexualität traf mich bis ins Innerste!
In vielen Gottesdiensten saß ich und dachte, was mache ich, wenn der Priester etwas gegen Homosexualität in seiner Predigt sagt? Ich träumte davon, dann aufzustehen und allen zu sagen, wer ich bin.
Mein Heimathafen war und ist seit 1998 das Netzwerk katholischer Lesben (NkaL)! Hier lernte ich Frauen kennen, die lesbisch und gläubig sind. Das, was nicht miteinander vereinbar schien, ging doch zusammen, und es war gut so! Ich traf dort andere Frauen, die die gleichen Ängste und Nöte kannten, die ich jahrelang erlebt hatte! Ich wurde aufgefangen und konnte auch andere Frauen auffangen.
Beim NkaL und auch in den anderen christlichen schwullesbischen Netzwerken wird gelebt, was uns ausmacht: Wir sind christliche gleichgeschlechtlich liebende Menschen und wir sind Kinder Gottes!
Mit den Jahren und meiner Tätigkeit im Bistum lernte ich immer mehr Menschen kennen. Auch erfuhr ich mehr interne Informationen. Ich lernte beispielsweise Priester kennen, die eine Freundin hatten. Doch viel öfter hatten Priester einen Freund.
Das war der Punkt, an dem ich mit einer anderen Realität meiner Identität konfrontiert wurde: Ich bin eine Frau!
Schon bei meiner Sendungsfeier 1996 war mir bewusst, bereits am Ende meiner beruflichen Karriere angekommen zu sein. Über mir war die gläserne Decke des geweihten Amtes.
Viele denken, dass homosexuelle Menschen solidarisch sind. Wir Homos auf der einen und drüben auf der anderen Seite die Heteros. Ja, es gibt sie. Doch die Solidarität, die ich im NkaL und in dessen Umfeld erlebt habe, erlebte ich oft nicht, wenn es um schwule Priester ging. Diese waren zuerst Priester und genossen damit ihre Privilegien. Ihr Schwul-Sein, das zum Teil sehr offen gelebt wurde, wurde von „den Oberen“ toleriert.
Meine Zweifel an der katholischen Kirche wurden immer größer: Warum hatte ich fast täglich Angst, dass meine Liebe zu meiner Frau entdeckt wird und ich meinen geliebten Beruf verliere, während es schwulen Priestern möglich war, so sicher zu leben? Warum bin ich als Frau in der katholischen Kirche weniger wert als ein Mann?
Es war ein langer Prozess. Über 20 Jahre hat er gedauert. Dann hat meine Seele gestreikt: Ich wurde krank.
Nach langen Monaten mit Therapie und Klinikaufenthalt wurde mir klar: Ich will leben, und zwar so, wie Gott mich erschaffen hat: als Frau, die eine Frau liebt. Das bedeutete für mich, die katholische Kirche zu verlassen, meinen Beruf aufzugeben und auszutreten. In dieser Zeit hatte ich existenzielle Ängste: Angst vor der Zukunft und vor allem Angst, Gott zu verlieren.
Ich habe daraufhin die Kirche, die Menschen darin und den Glauben getrennt. Ich bin Christin und das bin ich nun als Teil der evangelischen Kirche. Meine Frau und ich haben kirchlich geheiratet, es war uns beiden wichtig, uns vor Gott und der Gemeinde zu verbinden.
Was bleibt?
Es bleibt der Schmerz, mich in über 20 Jahren in der Kirche nicht ganz eingebracht zu haben, es fehlte immer ein Teil von mir. Ich bin traurig, verletzt und wütend über die Erfahrungen, die ich mit einzelnen Menschen im Bistum gemacht habe. Und ich bin entsetzt über die Schere, die sich in der Kirche auftut zwischen der Lehre und dem, wie die Menschen konkret leben. Ich bin wütend darüber, dass die Kirche mir vorschreiben will, wie ich zu leben habe und dass dieselben Menschen, die dies zum Teil von der Kanzel verkündigen, genauso „sündig“ leben!
Was fehlt?
Mir fehlt eine katholische Kirche, die authentisch ist. Mir fehlt eine Kirche, die im Hier und Jetzt lebt und das hier Beschriebene als Realität wahrnimmt. Ich will eine Kirche, die die Männermacht aufgibt und Menschen nach ihren Gottesgaben einstellt und bezahlt. Und ich wünsche mir eine Kirche, die ihre dunklen Seiten offenlegt und über ihren Missbrauch spricht.
Gerhard Wachinger, geb. 1966
Aufgewachsen bin ich im Münchner Umland. Dort habe ich wiederholt eine homophobe Welt erlebt. Ich kann mich erinnern, dass ich in der vierten Klasse zu einem Mitschüler zärtlich war. Da wurde ich vor der Klasse bloßgestellt. Dass man nicht schwul sein darf, war also nicht nur in der Kirche so, sondern in der ganzen Gesellschaft. Später dann nach München zu ziehen und dort zu studieren, war für einen 20-Jährigen eine vielversprechende Aussicht.
Im Priesterseminar habe ich viel unterschwellige Homosexualität erlebt, die sich mir aber oft erst in der Reflexion erschloss. Explizit habe ich nichts erlebt. Mein Coming-out habe ich dann zum Anlass genommen, das Seminar zu verlassen und erst im Zivildienst, anschließend im Hauptstudium meine Identität zu entwickeln. Nachdem dies vorläufig geklärt war, habe ich die Ausbildung zum Pastoralassistenten abgeschlossen. Und während dieser erhielt ich bereits vereinzelt Unterstützung, zum Beispiel vom Ausbildungsleiter, der mich bestärkt hat, mit meinem Weg weiterzumachen. Der christliche Glaube hat mich immer in meinem „So-Sein“ bestärkt; homophobe Äußerungen hingegen haben mich nie vom Gegenteil überzeugt.
In den ersten Dienstjahren war es mir sehr wichtig zu spüren, dass ich auch als schwuler Mann willkommen bin. Deshalb habe ich Signale ausgesendet, die manche richtig gedeutet haben. Zum Beispiel hat ein Jugendlicher sich mir gegenüber geoutet, weil er sich von mir verstanden fühlte. Gleichzeitig wurde mir klarer, dass ich im kirchlichen Dienst nicht die Anerkennung finde, die ich brauchte. Ich musste und wollte sie mir dort suchen, wo dies ohne Verletzungen möglich war. Es brauchte integrierende Erfahrungen, die mich überhaupt im kirchlichen Dienst gehalten haben.
Seit meiner Aussendung 1994 bis zu ihrer Auflösung etwa sechzehn Jahre später war ich in einer Gruppe schwuler pastoraler Mitarbeiter, größtenteils Priester. Für mich war es sehr gut, dort zu spüren, wie das Ganze geht, welche Grenzen und Nöte es gibt. Das war immens wichtig, ein Teil dieser Gruppe zu sein. Ich habe die großen Ängste der Priester gespürt, einige sind sogar psychisch krank geworden. Mich hingegen hat diese Erfahrung ermutigt, einen queerGottesdienst zu gründen.
Im August 2000 war ich begeistert von der Queergemeinde in Münster und suchte bald darauf Mitstreiter für ein Projekt in München. Nach einigem Anklopfen wurde ich fündig, und so bereiteten wir 2001/02 vor, was im März 2002 zum ersten queerGottesdienst in München führte.
Dass anfangs um die 60 Leute, größtenteils schwule Männer, monatlich an den Stadtrand pilgerten, um an einer Abendmesse teilzunehmen, obwohl uns die Möglichkeiten fehlten, sie groß zu bewerben, war überaus ermutigend. Daneben war für mich die Erfahrung sehr wertvoll, wie die Kirchenleitung mit dem Thema umging. Statt Verboten gab es Gespräche mit Vertretern der Bistumsleitung, die ohne diesen konkreten Anlass wohl mit mir und mit uns nie stattgefunden hätten. Ich persönlich habe da eine Wertschätzung erlebt, die manches von der erlittenen Geringschätzung kompensiert hat.
Als nach sieben Jahren der queerGottesdienst infolge des räumlichen Zusammenlegens mit einer homophoben Nachbargemeinde aus dem Stadtteil vertrieben wurde, erlebten wir den Umzug in die Innenstadt als eine Aufwertung unseres Projekts. Die Gastfreundschaft in St. Paul und die „Approbation“ des Namens queerGottesdienst sind weitere Schritte zur Integration von LSBTI-Menschen in der Kirche.
Mittlerweile fühle ich mich als schwuler Mitarbeiter schon fast akzeptiert. Ich fremdele selbst noch etwas damit, wie sehr ich meine geschlechtliche Identität zum Thema machen soll. Noch immer fehlen mir Vorbilder. Ich schwanke zwischen „das ist mir zu persönlich“ und „alle dürfen es wissen“. So gehe ich einen etwas krummen Weg, von dem ich noch nicht recht weiß, was er noch bringen wird. Diese Unsicherheit ist aber eine wichtige Triebfeder, weiterzuarbeiten an einer Kirche, in der das Schwulsein zwar nicht „normal“, aber akzeptiert ist.
Eva, geb. 1977
Ich habe immer viel Glück gehabt. Meine Eltern haben mir das Gefühl gegeben, dass sie mich lieben, egal, wie gut ich in der Schule bin, egal, was für Spielkamerad*innen ich nach Hause bringe, egal, wie ich meine Freizeit verbringe, egal, welche Ausbildung ich wähle, … Das hat sicherlich meine Gottesbeziehung am meisten beeinflusst. Ich habe bis heute das Gefühl, dass Gott den Menschen liebt, egal, was er tut (solange er niemandem schadet) und dass Gott sich wünscht, dass jeder Mensch glücklich ist, mit sich glücklich ist.
Bis zum sechsten Schuljahr war ich auf katholischen Schulen; weniger weil mein Elternhaus besonders religiös ist, sondern weil es die Schulen mit dem kürzesten Schulweg waren.
In der 5. Klasse wurde das Wort „schwul“ von Mitschülern als Schimpfwort benutzt. Das war das erste Mal, dass ich das Wort gehört habe. Meine Eltern haben mir in Ruhe die Begriffe heterosexuell, lesbisch, schwul und bi erklärt und zwar so, dass ich es als „normal“ verstand, eins davon zu sein. Die Klassenlehrerin hat ähnlich gesprochen. Damals habe ich mir noch keine großen Gedanken über meine Sexualität gemacht.
In Klasse 11 hatte ich dann evangelischen Religionsunterricht. Bei uns wurde nicht immer streng nach Konfessionen getrennt. Eine Unterrichtseinheit beschäftigte sich mit Liebe und Partnerschaft. In einer Doppelstunde hatte die Lehrerin junge Leute von der HuK und der LuK (Homosexuelle und Kirche bzw. Lesben und Kirche) eingeladen. Zu dem Zeitpunkt war mir schon klar, dass ich lesbisch bin. Ich fand die Stunde sehr positiv.
Von der 4. Klasse an war ich Messdienerin und das bis zum Abitur. Ein Mitministrant (ein Jahr älter) war der erste homosexuelle Mensch, den ich persönlich kannte (abgesehen von den Buchhändlerinnen im Frauenbuchladen, die ich eher nur vom Sehen kannte). Trotzdem habe ich mich ihm gegenüber nicht wirklich geoutet. Ich wollte mit meinem Outing warten, bis ich meine erste Freundin hatte. Das hat bedauerlicherweise etwas länger gedauert. Aber indirekt habe ich mich schon geoutet, da ich beispielsweise ins schwule Café ging. Es war aber nicht wirklich Thema. Durch meinen Mitministranten habe ich Homosexualität weiter als etwas Normales kennengelernt.
Ein für mich und meine Beziehung zum Thema Homosexualität prägendes Ereignis war der Fastenbrief des Bischofs. (Ich denke, es war etwa 1994, vielleicht aber auch nicht der Fastenbrief, vielleicht auch nicht vom Bischof, aber irgendetwas in der Art). In diesem wurde Homosexualität (zumindest ihr Ausleben) als schlecht und nicht den katholischen Werten entsprechend bezeichnet. Das Schreiben sollte vom Pfarrer in der Messe vorgelesen werden. Ich hatte schon vorher von seinem Inhalt mitbekommen und mir war zu dem Zeitpunkt bewusst, dass die vorherrschende katholische Lehre Homosexualität ablehnt. Das passte natürlich überhaupt nicht zu meinem Verständnis, dass Homosexualität ganz normal ist. Ich war an dem Sonntag Messdienerin und hatte mir vorgenommen, dass das mein Ende mit der katholischen Kirche bedeuten würde, sollte der Pfarrer den Brief vorlesen und die Meinung des Bischofs vertreten. Mein Plan sah vor, dass dies mein letzter Einsatz als Messdienerin sein und dass ich der Kirche den Rücken zuwenden würde.
Doch dann passierte etwas Überraschendes: Statt den Brief vorzulesen, sagte unser Pfarrer, dass er diesen zwar vorlesen solle, dass er aber sicher sei, dass es in unserer Gemeinde viele schwule und lesbische Mitglieder gäbe und dass diese es oft ohnehin schon schwer hätten, akzeptiert zu werden, nur weil sie jemanden lieben würden, und dass er es einfach nicht richtig fände, sie jetzt auch noch weiter zu verurteilen. Deswegen werde er diesen Brief nicht vorlesen. Ich weiß noch, wie ich dachte: Na toll, jetzt muss ich also doch in der Kirche bleiben!
Dass ich lesbisch bin – damit habe ich eigentlich nie schlechte Erfahrungen gemacht. Diskutieren musste ich nur mit meiner polnischen Austauschschülerin. Sie ist sehr streng katholisch (kein Sex vor der Ehe, keine künstliche Verhütung usw.) und wollte von mir wissen, warum ich glaube, Homosexualität sei keine Sünde.
Bei diesem Gespräch habe ich gemerkt, welches Glück ich habe: Ich weiß, dass es keine Sünde ist, und dieses Wissen habe ich vielleicht gerade, weil ich lesbisch bin. Ich weiß einfach, dass Gott mich so liebt. Ich habe quasi durch mein Lesbischsein einen Wissensvorsprung.
Nach meinem Lehramtsstudium absolvierte ich mein Referendariat an einer katholischen Mädchenschule. Dort habe ich mich vor den Schülerinnen zwar nicht geoutet, aber später haben mir einige Schülerinnen erzählt, dass es Gerüchte gab. Zugegeben, ich sehe vielleicht schon ein wenig aus wie eine „Klischee-Lesbe“, aber ich hatte den Eindruck, dass die Schülerinnen das eher als positiv aufnahmen. Jedenfalls habe ich auch dort keine negativen Erlebnisse gehabt. Einzig im Lehrer*innenzimmer empfand ich es als komisch, dass Sexualität überhaupt noch ein Thema war. Dass Kolleg*innen überhaupt denken konnten, das Sexualleben könne den Job gefährden, fand ich absurd. Schließlich ging es dabei ja nicht um etwas Verwerfliches wie Sex mit Kindern oder Schüler*innen, sondern um einvernehmliche Beziehungen unter gleichberechtigten Erwachsenen.
Entsprechend entspannter fand ich dann meinen anschließenden Start an einer „normalen“ staatlichen Schule. Hier war Sexualität im Lehrer*innenzimmer kein Thema mehr.