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© 2021 Volker Wiskamp

Herstellung und Verlag BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7557-2814-6

Vorwort

VIELLEICHT hat jeder Mensch in seiner Jugend ein Schlüsselerlebnis, dass ihn sein Leben lang prägt. Bei mir war das 1972 der Fall, als mein Erdkundelehrer in die Klasse kam und »Die Grenzen des Wachstums« [1] mitbrachte. Das Buch – es war gerade in der deutschen Übersetzung erschienen – muss den Lehrer so beeindruckt haben, dass er es unmittelbar nach seiner Lektüre zum Lehrmaterial machte. Vermutlich waren meine Klassenkamerad*innen und ich die ersten deutschen Schüler*-innen, denen das völlig neue Gedankengut vermittelt wurde.

Ich war damals zwar erst 15 Jahre alt, doch es leuchtet mir sofort ein, dass die Erde in absehbarer Zeit keinen Platz mehr für eine exponentiell wachsende Bevölkerung bieten könne, dass fossile und andere Rohstoffe irgendwann aufgebraucht sein müssten, dass eine Wirtschaft, die nach dem Dogma „mehr, mehr, mehr …“ funktioniert, ein Irrsinn sei und dass die Müllberge wachsen und Kontaminationen von Wasser, Luft und Boden zwangsläufig steigen müssten.

17 Jahre später wurde ich Chemie-Professor an der Hochschule Darmstadt. Neben dem Unterrichten von stöchiometrischem Rechnen, Reaktionsmechanismen etc. hatte ich die Freiheit, mich in der fachdidaktischen Forschung und Entwicklung dem zu widmen, wofür ich Wissenschaftler geworden bin, nämlich die Natur zu verstehen und jungen Menschen zu vermitteln, wie die Natur da, wo sie krank ist, mit Hilfe der Chemie geheilt bzw. wie sie von vornherein gesund gehalten werden kann. Dabei war mir die Ambivalenz der Chemie bewusst, denn letztere ist ein Fluch und ein Segen zugleich: Sie kann Mensch und Natur zerstören, was zu vermeiden ist; andererseits läuft im Umweltschutz nichts ohne Chemie, da alle Wasser- Luft- und Bodenreinigungsverfahren auf chemischen Prinzipien beruhen und auch die Energiebereitstellung immer etwas mit chemischen Prozessen zu tun hat.

Ich trieb das Konzept des Praktikumsintegrierten Umweltschutzes voran, bemühte mich um ein gefahrloseres und umweltfreundliches Experimentieren in allen Stufen der Chemieausbildung und nahm industriellen Umweltschutz in die akademische Lehre auf. In den letzten sechs Jahren habe ich, von der Chemie ausgehend, den Blickwinkel in meinen Öko-Seminaren um philosophische, ethische, religiöse, wirtschaftliche, politische und rechtliche Aspekte erweitert, denn Ökologie ist ein hochgradig interdisziplinäres Fach, was gerade deshalb auch besonders interessant ist.

Diese Öko-Seminare habe ich in einem im Frühjahr 2021 im Books-on-Demand-Verlag (BoD) erschienenen Buch »Die globale Metakrise aus dem Blickwinkel der Chemie« [2] zusammengefasst. Damit möchte ich Kolleg*innen exemplarisch zeigen, wie spannend und lohnend es sein kann, sich in Projekten der Ökologie und den verschiedenen weltweiten Krisen zu widmen.

Im Sommer 2021 habe ich ein kleines Buch unter dem Titel »Geh‘ mir aus der Sonne – Das Ökologische Manifest – 95 Thesen« [3] bei BoD nachgelegt. Mit Anspielungen auf Diogenes, Marx und Luther möchte ich meine Kolleg*innen ermutigen, ökologische Themen insbesondere auch in Zusammenarbeit mit anderen Fachkolleg*innen in ihren Unterricht zu integrieren; dazu gebe ich 95 Tipps und betone – wie Diogenes –, dass die Energie für das Leben auf der Erde zum allergrößten Teil von der Sonne kommt und dass die Erde und das Leben einzigartig und deshalb besonders schützenwert sind.

Nun, im letzten Jahr vor meiner Pensionierung kam die Idee auf, die Ökologie und die globale Metakrise in Bildern zu erzählen, nach dem Motto: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Mit einer Gruppe von Studierenden entwickelte ich eine virtuelle Ausstellung von etwas mehr als 100 Bildern, welche die wesentlichen Aspekte des Klimawandels, des Artensterbens, des Bevölkerungswachstums, der Ressourcenknappheit, der Umweltverschmutzung … thematisieren und Vorschläge unterbreiten, um „Vom Anthropozän ins Symbiozän“ – diesen Titel wählten wir für die Ausstellung – zu gelangen.

Im ersten Teil des vorliegenden Buches lade ich Sie, sehr geehrte Leser*innen, zu einem virtuellen Gang durch unser Museum ein. Vielleicht – oder besser: hoffentlich – werden Sie danach mit Ihren Schüler*innen bzw. Student*innen im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften oder Projekten eine ähnliche Ausstellung konzipieren.

Zu einer Museumsaustellung gehört ein Vortrags- und seminaristisches Rahmenprogramm. Das steht im zweiten Teil des vorliegenden Buches.

Heute schaue ich auf 33 Jahre Lehre der Chemie und Ökologie zurück. Was wurde währenddessen in der Welt erreicht? Die ökologische Bildung und das Umweltbewusstsein haben zugenommen. Viele Verfahren zum Umweltschutz wurden entwickelt und erfolgreich umgesetzt. So ist das Wasser in deutschen Flüssen und die Luft in deutschen Innenstädten heute sauberer als damals, als Dennis Meadows und sein Team »Die Grenzen des Wachstums« geschrieben haben. Aber global betrachtet hat sich die ökologische Krise in vielerlei Hinsicht und teilweise dramatisch verschärft: Das Artensterben hat ein bedrohliches Ausmaß angenommen; immer mehr Rohstoffe werden zu Konfliktstoffen; in vielen Ländern ersticken die Menschen im Smog und Abfall; die Erderwärmung rollt wie ein gewaltiger Tsunami auf uns zu …

Wir leben leider immer noch – wie bereits zu meiner Schulzeit – im Zeitalter des Anthropozäns, in dem die Menschen die Erde als ein reines Subjekt betrachten, das ihnen gehört und das sie beliebig und zunehmend rasant ausbeuten dürfen. Doch „This is so wrong!“, spricht Greta Thunberg mir aus dem Herzen. Die Menschheit muss realisieren, dass sie ein Teil der Natur ist und nur überleben kann, wenn sie im Einklang mit ihr lebt. Das wäre dann eine Symbiose.

Es ist an der Zeit – ja, es ist höchste Zeit –, dass das Anthropozän ins Symbiozän übergeht!

GRÖßTER Dank gilt meinem Projektteam. Abdellatif Hmiza hat viele der hier vorgestellten Bilder gefunden [4], und Ksenia Feklushina hat für das Ausstellungsseminar geeignete, im Internet frei verfügbare Vorträge, Interviews und Lernvideos ausgesucht [5]. Polina Campos Tumanova ist der Frage nachgegangen, warum trotz allen Fachwissens und der Notwendigkeit, den Klimawandel zu stoppen, so wenig geschieht [6]. Kristina Masalimow hat das Thema Ökosystemdienstleitungen [7] und Franziska Hirschel ökologische Aspekte aus dem neuen Buch des Nobelpreisträgers Paul Nurse »Was ist Leben?« [8] in unser Seminar eingebracht. Grigorij Gelfond hat Naturschutzkonzepte am Beispiel des Yellowstone Nationalparks vorgestellt; Sanjeep Ghimire hat das Buch »Wer wird überleben?« von Lothar Frenz [9] rezensiert [10]. Lyne-Kyssel Dongmo Zangue stellte die Hypothese auf, dass Umweltschutz nur etwas für reiche Nationen ist und dass in Schwellen- und Dritte-Welt-Ländern nach wie vor neokolonialistische Zustände unter Missachtung vieler Umweltschutz-Standards herrschen [11]. Lisa Katharina Hassel, Simon Böttcher und Kuldeep Singh haben das riesige Problem der Umweltkriminalität beleuchtet. Celine Nüchter hat die Ergebnisse der großen Klimakonferenzen zusammengefasst (vgl. [12]), und Madiha Atiq hat recherchiert, in wie weit die Justiz Einfluss auf die tatsächliche Umsetzung der Klimaabkommen nehmen kann und nimmt [13]. Yasmina Schuck hat das Vorhaben des Green New Deals kontrovers diskutiert, und Emanuela Asenova hat ausgewählte Kapitel der Ökologischen Philosophie studiert [14].

EINIGE der in diesem Buch geäußerten Gedanken habe ich bereits in der Zeitschrift Chemie in Labor und Biotechnik publiziert. Deshalb danke ich dem Redakteur von CLB, Rolf Kickuth, recht herzlich für sein Interesse an meinen Arbeiten und seine Unterstützung.

DIESES Buch, das meine Trilogie zur Thematisierung der globalen Metakrise im fächerübergreifenden naturwissenschaftlichen Unterricht abschließt, möchte ich – wie die beiden ersten Bücher auch – meinem Sohn Yoshiki widmen.

Darmstadt, im Dezember 2021

Volker Wiskamp

Inhaltsverzeichnis

Einleitung und didaktisches Konzept

WENN Sie, sehr verehrte Leser*innen, in ein Museum gehen, möchten Sie sich von den ausgestellten Kunstwerken inspirieren lassen. Manches Werk verstehen Sie vielleicht nicht sofort; dann ist eine Führung oder die Erklärung in einen Begleitband sinnvoll. Manche Werke schockieren Sie, bei manchen müssen Sie lachen …. Irgendetwas machen die Kunstwerke mit Ihnen, und das ist gut so.

Im Herbst 2021 kam in meiner Ökologie-Arbeitsgruppe die Idee auf, die Metakrise aus Klimawandel, Artensterben, Bevölkerungswachstum, Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung, Pandemien etc., in der sich die Welt befindet, in Form von Bildern zu erzählen. Wir wollten ein neues Narrativ schaffen und nicht, wie bislang in unseren Öko-Seminaren, fachwissenschaftliche Vorlesungen oder Referate über Solartechnik, Trinkwasseraufbereitung, Düngemittel und Pestizide usw. halten und (populär)wissenschaftliche Öko-Literatur besprechen oder rezensieren, sondern die Bilder sprechen lassen, nach dem Motto: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“

Mal betrachten wir ein Salgado-Foto von Goldgräbern und erschrecken über den Neokolonialismus, wenn es um einen Konfliktrohstoff geht. Dann schauen wir uns eine Karikatur von Donald Trump an und überlegen, wie wir Leugner des Klimawandels von ihrer falschen Meinung abbringen können. Weiter betrachten wir ein Bild der Arche Noah, fragen uns, wer den Klimawandel wohl überleben wird, und ob das Nachzüchten von Tieren, die vom Aussterben bedroht sind, in zoologischen Gärten oder die Kryo-Konservierung ihrer Stammzellen moderne Formen von Noahs Arche sind. Schließlich erleben wir anhand der Keeling-Kurve, wie die Erdatmosphäre jahreszeitlich bedingt Kohlenstoffdioxid ein- und ausatmet, sowie den leicht exponentiellen Anstieg der CO2-Konzentration seit über mehr als dem letzten halben Jahrhundert. Diese vier Beispiele sollen reichen, um Sie neugierig auf den Museumsbesuch zu machen.

Wir haben über 100 Gemälde, Fotografien, Cartoons, Karikaturen und Graphiken zusammengetragen und beschriftet. Unsere „Ausstellung“, für die wir den Titel „Vom Anthropozän ins Symbiozän“ wählten, ist virtuell, d.h. sie ist eine Power-Point-Präsentation, die ich Ihnen gerne auf Anfrage per E-Mail (volker.wiskamp@h-da.de) zur Verfügung stelle. Im vorliegenden Buch sind die Bilder gar nicht abgedruckt, sondern lediglich über Hyperlinks aufrufbar. (Das Buch ist also interaktiv mit dem Internet.) Das war zunächst aufgrund des Copyrights nicht anders möglich, hat aber auch einen fachdidaktischen Grund: Wir möchten Sie nämlich dazu ermutigen, in Arbeitsgemeinschaften oder Projekten selbst ähnliche Ausstellungen zu konzipieren und Ihnen dazu mit unserer Sammlung lediglich einen Vorschlag unterbreiten.

In ersten Teil des vorliegenden Buches übernehme ich die Funktion eines Museumsführers, der Ihnen die Bilder beschreibt und im Sinne der Ökologie und globalen Metakrise interpretiert. Wenn Sie die elektronische Form dieses Buches besitzen, reicht ein Klick auf den Link in einem Kasten, der quasi ein „Bilderrahmen“ ist, und – voilá – haben Sie das Bild aus dem Internet auf Ihren Bildschirm gezaubert. Wenn Sie die gedruckte Version dieses Buches haben, ist es natürlich etwas mühsamer, die Quellenangabe erst noch in einen Browser einzutippen. Die Hyperlinks sind mit dem Stand vom 11.12.2021 aktiv; Sie kennen aber das Problem, dass die Verfügbarkeit von Daten im Internet manchmal nur von begrenzter Dauer ist. Doch das macht nichts, denn wenn Sie eine eigene Ausstellung kreieren möchten, müssen Sie ja nicht unbedingt unsere Bilder von Goldgräbern, Donald Trump und der Arche Noah wählen, sondern ähnliche – wovon es viele gibt. (Das wäre dann so, als ob auf der Welt gleichzeitig 100 Ausstellungen impressionistischer Malerei stattfinden sollten – kein Problem: impressionistische Bilder existieren genug.)

ZU den meisten Museumsausstellungen gibt es ein Rahmenprogramm in Form von Lesungen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Dokumentarfilmen etc. So auch zu unserer Öko-Ausstellung. Im zweiten Teil des vorliegenden Buches wird Ihnen ein zehnteiliges Seminar angeboten, das Sie ganz oder teilweise besuchen können und in dem zahlreiche Themen der Ausstellung von Expert*innen reflektiert werden. In der Tat haben wir für unser Seminar sehr bekannte und renommierte Personen als „Lehrbeauftragte“ gewinnen können. Der Terra X-Moderator Harald Lesch erklärt uns, wie sich die Menschheit abschafft, während die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez den Green New Deal vorschlägt, mit dem die Welt vielleicht doch noch zu retten ist. Der Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari zeichnet die Entwicklung der Menschheit hin zum Homo deus auf, unterstützt durch die Warnung der Chemie-Nobelpreisträgerin Jennifer Doudna vor dem gefährlichen Missbrauch der von ihr erfundenen CRISPR-Technologie. Schließlich appelliert der Philosoph Andreas Weber daran, dass wir sehr viel von indigenen Völkern lernen können, um ein gesundes Verhältnis zur Natur zu finden, und die Transformationsforscherin Maja Göpel ermutigt uns, die Welt neu zu denken. Nun, Sie ahnen es bereits, dass unsere „Lehrbeauftragten“ nicht live da sind, sondern dass wir im Seminar lediglich die im Internet verfügbaren Videos ihrer Vorträge bzw. Interviews abspielen. Die Hyperlinks stehen wieder in Kästen, die jetzt die „Vortragsbühne“ darstellen. Ich selbst führe in alle Vorträge, Interviews und Dokumentarfilme ein, stelle sie in einen Zusammenhang mit den Themen (Lehrinhalten) der „Ausstellung“ und gebe weitergehende Informationen und Buchempfehlungen.

IM Sommersemester 2022 können Studierende der Chemie- und Biotechnologie an der Hochschule Darmstadt im Rahmen ihres Wahlpflichtprogramm auf Basis des vorliegenden Buches unsere Ausstellung „Vom Anthropozän ins Symbiozän“ als ppt-Präsentation im Hörsaal besuchen. Die im Internet verfügbaren Materialien zum Begleitseminar schauen sie sich zuhause an, die Diskussionen darüber führen wir in einem Präsenzseminar, wobei den Teilnehmer*innen einzelne Seminarthemen zur Einführung und Gesprächsleitung zugewiesen werden. (Diese gewählte Lehr- und Lernform reiht sich in unsere durch die Corona-Zeit initiierten Bestrebungen ein, exzellente Filmmaterialen aus dem Internet in die Lehre zu integrieren [15].)

Teil I:

Ein virtuelles Museum

Begrüßung

HERZLICH willkommen in der Ausstellung „Vom Anthropozän ins Symbiozän“!

Im Eingangsbereich unseres Museums hängt ein einziges Bild, und zwar ein Gemälde des bekannten spanischen Malers Francisco José de Goya (1746-1828). Warum haben wir gerade dieses als Begrüßungs- und damit als Leitbild der Ausstellung gewählt? Dargestellt ist ein Duell mit Knüppeln. Eine meiner Studentinnen, die aus Spanien kommt, sagte mir, dass das Bild in einem ihrer Schulbücher abgedruckt war, um im Unterricht die ständigen Rivalitäten zwischen verschiedenen Volksgruppen auf der iberischen Halbinsel seit der Zeit nach Napoleon bis heute zu thematisieren. Vor einem düsteren Hintergrund prügeln sich zwei Männer. Das sieht man auf den ersten Blick. Wenn man das Bild etwas länger betrachtet, nimmt man noch etwas anderes wahr. Die beiden Kämpfenden stecken nämlich bereits bis zu den Knien im Untergrund, vermutlich Schlamm oder Treibsand. Und in ihrem Hass und Zorn merken sie gar nicht, dass sie immer mehr versinken, je heftiger sie aufeinander einschlagen. Beim Beobachter kommt das bange Gefühl auf, dass letztlich beide Männer von der Erde verschlungen werden.

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Begrüßungsbild: Duell mit Knüppeln … und die Natur ist der dritte Akteur. (Francisco José de Goya)

Für den französischen Philosophen Michel Serres (1930-2019) ist Goyas Bild eine Allegorie des Denkens im Anthropozän – und damit sind wir beim Thema unserer Ausstellung: Beim Kampf (Krieg) um Land und Rohstoffe merken die Menschen gar nicht, dass die Erde mitstreitet; denn sobald das Land unfruchtbar geworden ist und die mengenmäßig limitierten Rohstoffe verbraucht sind, droht der Menschheit das Ende. Serres schlägt deshalb vor, einen Naturvertrag zu schließen [16].

Um diesem Begriff zu verstehen, müssen wir etwas weiter ausholen und beim englischen Staatstheoretiker und Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) beginnen. Dieser hat zwei berühmte Sätze formuliert: Im Naturzustand herrscht ein „Krieg aller gegen alle“ und „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Um nun ständiges Hauen und Stechen, Mord und Totschlag zu vermeiden, schlug Hobbes einen Gesellschaftsvertrag vor. Der wurde im Laufe der Geschichte nie als solcher schriftlich formuliert und unterschrieben, meint aber – und das ist für das Verhältnis von Mensch und Natur wichtig –, dass Besitzverhältnisse geregelt werden müssen: Dem einen gehört dieses Stück Land, dem anderen jenes. Wenn unter dem einen Boden Erdöl lagert, darf es von seinem Landbesitzer abgepumpt, selbst genutzt oder verkauft werden; wenn auf dem anderen Land Gold vorkommt, kann der entsprechende Landlord damit reich werden. Die Besitzverhältnisse auf Basis des Gesellschaftsvertrags müssen bedingungslos akzeptiert werden und garantieren freien Handel und Frieden. – Selig werde, wer daran glaubt!

In dem Gesellschaftsvertrag geht es ausschließlich um die Beziehung der Menschen untereinander. Das Land und die dortigen Rohstoffe gehören den Menschen. Diese können damit machen, was sie wollen. Die Erde und alle nicht-menschlichen Lebewesen werden zu reinen Besitzobjekten abgestempelt. Das ist das Wesen des Anthropozäns – der Mensch steht über der Natur.

Goyas Bild zeigt etwas, das Hobbes nicht bedacht hatte, nämlich dass das, was die Menschen als ihre Umwelt bezeichnen, zu einem Akteur geworden ist. Immer mehr Menschen haben die Umwelt – langsam, aber sicher – immer mehr umgestaltet; sie haben in bestehende Ökosysteme eingegriffen, und zwar so stark, dass sie diese veränderten und weiterhin drastisch verändern. Ein Ackerboden, der Jahr für Jahr mit Pestiziden behandelt wird, ist irgendwann vergiftet. Ein Ozean, der immer mehr menschenverursachtes CO2-Abgas aufnimmt, ist früher oder später versauert. In beiden Beispiel droht der Exitus eines Ökosystems – und damit der Menschen, die davon leben.

Serres Vorschlag überzeugt: In den bestehenden Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen muss die gesamte Ökosphäre partnerschaftlich eingebunden werden. Der Mensch muss sich als Teil der Natur verstehen und endlich damit aufhören, sich als ihr Besitzer und Beherrscher aufzuführen. Wenn der Naturvertrag erfüllt würde, hätten wir einen Zustand, der in der Biologie als Symbiose bezeichnet wird.

Wir werden im Laufe des Museumsbesuches und des begleitenden Seminars öfters auf diesen Gedanken zurückkommen. Das Zeitalter des Symbiozäns kann kommen; das liegt einzig und allein in der Hand der Menschheit. Ob es schnell genug kommt, um eine Apokalypse abzuwenden …?

Saal 1: Macht euch die Erde untertan

DER erste Saal unserer Ausstellung greift die in der Bibel stehende Forderung auf, dass der Mensch sich die Erde untertan machen solle – womit durchaus ein Ansatz für eine Religionskritik gegeben ist.

UNSER Blick fällt zunächst auf einen Cartoon (Bild 1.1), der die Evolution des Menschen zeigt: von links nach rechts der Hominide, des Erectus, der Sapiens … und dann ein deutlich übergewichtiger Zeitgenosse, der mit einer Keule auf die Erdkugel einschlägt und sie schon kräftig demoliert hat. Ist der moderne Mensch eine Fehlentwicklung der Evolution?

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Bild 1.1: Die kürzeste Geschichte der menschlichen Evolution.

WIR wenden unseren Blick auf das Foto eines Käfers (Bild 1.2). Der Sinn des Bildes erschließt sich uns, wenn wir nahe herantreten und die Unterschrift lesen können: „Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.“ Diesem Spruch von Arthur Schopenhauer (1788-1860) ist nichts hinzuzufügen.

https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4fer

Bild 1.2: „Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.“ (Arthur Schopenhauer)

DAS dritte Bild im ersten Ausstellungssaal stammt von Íris Lilja Jóhannsdóttir (Bild 1.3). Die Jugendliche hatte 2021 den Jugendpreis beim Fotowettbewerb „Climate Change PIX“ der Europäischen Umweltagentur gewonnen. Das Foto zeigt einen jungen Menschen, der ein Eis schleckt. Das Besondere daran ist, dass die Eiskugel auf dem Hörnchen aussieht wie unsere Erde aus dem Weltall betrachtet (vgl. die „Blue Mumble“ in Bild 13.1b). Die junge Fotografin hat ihr Werk „Süße Zerstörung“ genannt und kommentiert: „Ich möchte den Menschen mit einer einfachen Analogie zeigen, was wir mit der Erde machen. Wir lecken die Erde und ihre süßen Ressourcen auf wie Eis. Lasst uns unsere süße und schöne Erde verantwortungsvoll genießen!“

https://www.umweltbundesamt.at/news210927-1

Bild 1.3: Süße Zerstörung. – Jugendpreis beim Fotowettbewerb „Climate Change PIX“ der Europäischen Umweltagentur, 2021. (Íris Lilja Jóhannsdóttir)

Saal 2: Höher, schneller, weiter, mehr

GLEICH nach dem Betreten des zweiten Saals unserer Ausstellung stehen wir vor einem Gemälde von Lukas Cranach dem Älteren (1472-1553), das die Apfelszene im Paradies zeigt (Bild 2.1).

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adam-und-Eva-1513.jpg

Bild 2.1: Die Gier nach mehr – Adam und Eva mit dem Apfel. (Lucas Cranach der Ältere)

Gier