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Die neue Praxis Dr. Norden
– Box 3 –

E-Book 11-15

Carmen von Lindenau

Impressum:

Epub-Version © 2022 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74098-127-3

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Linda, Allround-Spezialistin

Oder ist es Geltungssucht?

Roman von von Lindenau, Carmen

»Stimmt etwas nicht, Valentina?«, fragte Daniel, als er aus dem Schlafzimmer in die große helle Wohnküche kam. Valentina Merzinger, die sich um seinen Haushalt kümmerte, stand mit den Händen in den Taschen ihrer rotweiß gestreiften Küchenschürze am Fenster und schaute mit nachdenklicher Miene in den Garten.

»Guten Morgen, Herr Doktor.«Mit einem liebevollen Lächeln drehte sie sich zu ihm um. »Es geht um das Vogelhäuschen«, sagte sie und deutete auf eine der Birken.

»Was ist mit dem Vogelhäuschen?«, fragte Daniel und folgte ihrem Blick. Es war Herbst geworden. Die Birken im Garten trugen goldgelbes Laub, Dahlien, Astern und Chrysanthemen blühten in leuchtend bunten Farben.

»Wir müssen es höher hinaufhängen«, sagte Valentina.

»Warum das? Soweit ich mich erinnere, hängt es doch seit Jahren an demselben Ast.« Daniel sah auf das aus Holz gefertigte Vogelhäuschen, das in einem der oberen Äste der Birke hing, die direkt vor seinem Schlafzimmerfenster stand.

Fanny Moosinger, seine mütterliche Freundin und ehemalige Patientin, die ihm dieses Haus vererbt hatte, liebte es, von dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel geweckt zu werden und sie im Winter bei der Futtersuche zu beobachten.

»Es ist wegen Ortrud«, erklärte ihm Valentina und riss ihn aus seinen Gedanken. »Diese Höhe ist für sie ganz leicht zu erreichen. Habe ich recht, Herzl?«, wandte sie sich der rot getigerten Katze zu, die auf dem Fensterbrett lag und in der Morgensonne döste.

»Wir werden den Gärtner darum bitten, das Vogelhäuschen umzuhängen, wenn er nächste Woche zum Schneiden der Hecke kommt.«

»Ja, so machen wir es, Herr Doktor. Wir wollen unsere Ortrud doch nicht in Versuchung führen«, entgegnete Valentina schmunzelnd.

»Nein, auf keinen Fall«, stimmte Daniel ihr zu und kraulte den Kopf der Katze, die diese Geste mit einem lauten Schnurren begleitete.

»Kommt außer Ortrud heute niemand zum Frühstück?«, fragte Valentina und sah hinüber zum Haus der Mais. Das Nachbargrundstück und das des jungen Arztes waren nur durch eine halbhohe Lorbeerhecke voneinander getrennt.

Die beiden Bäumchen, die im letzten Jahr einem Unwetter zum Opfer fielen, waren nie ersetzt worden. Die Lücke, die sie hinterlassen hatten, diente Daniel und den Mais als Tor zum Grundstück des anderen.

»Nein, heute sind wir allein. Ophelia hat gestern bei einer Freundin übernachtet und geht von dort aus in die Schule. Olivia und ihre Mutter nehmen heute an einem Kongress in der Stadt teil und sind sicher schon unterwegs.« Daniel wusste, wie sehr Valentina den morgendlichen Trubel liebte, wenn Olivia und Ophelia, hin und wieder auch Ottilie, zum Frühstück zu ihnen kamen. Seitdem er und Olivia ein Paar waren, trafen sie sich, falls es ihre Zeitpläne erlaubten, zum Frühstück.

»Mei, wenigstens leistet sie mir dann nachher noch ein bissel Gesellschaft«, sagte Valentina, streichelte sanft über Ortruds Rücken und ging dann zur Spüle, um sich die Hände zu waschen, bevor sie sich weiter um Daniels Frühstück kümmerte.

»In den nächsten Tagen werden Sie sich über zu wenig Gesellschaft sicher nicht beklagen müssen«, sagte Daniel, als Valentina ihm kurz darauf die Spiegeleier auf Toast servierte, die sie mit Schnittlauch und Petersilie liebevoll dekoriert hatte.

»Mei, Herr Doktor, ich freu mich auch schon recht darauf, die Cousins und Cousinen mit ihren Kindern und Enkeln mal wieder um mich zu haben«, schwärmte Valentina von dem Familientreffen, zu dem ihr Cousin, der im Allgäu einen Bauernhof mit Fremdenzimmern besaß, eingeladen hatte. »Ich hab zwar schon oft gehört, dass Familientreffen recht stressig verlaufen können, aber bei uns geht es glücklicherweise immer friedlich zu«, sagte sie und setzte sich, wie an jedem Morgen, mit einer Tasse Kaffee zu Daniel an den Tisch.

»Sollte es Ärger geben, werden Sie vermutlich die erste sein, die zwischen den Parteien vermittelt.«

»Ich bin halt harmoniebedürftig«, antwortete Valentina lächelnd.

»Das weiß ich«, sagte Daniel.

»Aber es gibt schon Leute, da kann ich auch nichts ausrichten. Die sind so von sich überzeugt, dass sie auf nichts hören wollen. Erst, wenn niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben will, kommen sie ins Grübeln. In meiner Familie gibt es so jemanden aber nicht«, erklärte Valentina vollkommen überzeugt, so als würde sie diesen Charakterzug auch niemandem gestatten.

»In meiner Familie gibt es diese Egomannen glücklicherweise auch nicht«, sagte Daniel. In meinem Bekanntenkreis allerdings schon, dachte er. Aber über diese Leute musste er sich keine großen Gedanken machen. Er traf sie nur selten oder hatte den Kontakt zu ihnen längst abgebrochen. Er vermisste sie nicht.

*

Im Verlauf der Vormittagssprechstunde musste Daniel glücklicherweise keinem seiner Patienten eine schlimme Diagnose stellen. Die, die an diesem Tag zu ihm kamen, klagten über die üblichen Beschwerden wie Hustenreiz, Schnupfen oder Magenverstimmung. Gusti Meier, die auch gern mal einen Vormittag im Wartezimmer verbrachte, nur um Neuigkeiten mit den Nachbarn auszutauschen, war die letzte Patientin an diesem Vormittag.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Meier?«, fragte Daniel die Mittsechzigerin im hellblauen Trachtenkostüm, nachdem sie auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Ich bin beim Staubsaugen über das Kabel des Staubsaugers gestolpert. Ich konnt mich gerad noch an einer Kommode abfangen. Aber ich denk, ich hab mir den Zeigefinger und den Daumen ausgerenkt«, teilte sie ihm ihre Vermutung mit und zeigte ihm ihre rechte Hand.

»Nehmen Sie bitte dort Platz«, bat Daniel und deutete auf die Untersuchungsliege neben der Standuhr aus Ahornholz, der einzigen Antiquität in dem ansonsten ganz in Weiß eingerichteten Sprechzimmer. Offensichtlich war Gusti heute nicht nur zum Plaudern zu ihm gekommen.

»Muss ich operiert werden?«, fragte Gusti, als Daniel ihr rechtes Handgelenk umfasste und behutsam über ihren Zeigefinger strich.

»Nein, ich denke, das ist nicht nötig«, sagte er und zog, noch während er sprach, mit einem festen Ruck an ihrem Zeigefinger.

»Au!«, schrie Gusti und sah Daniel erschrocken an.

»Durchhalten, Frau Meier«, bat er sie, hielt ihr Handgelenk weiterhin fest und renkte auch die Knochen ihres Daumes mit einem festen Ruck wieder ein.

Dieses Mal unterdrückte Gusti einen Aufschrei und schüttelte nur ihre Hand, nachdem Daniel sie losließ. »Mei, die Schmerzen sind fort«, stellte sie gleich darauf erleichtert fest.

»Das hoffe ich doch«, antwortete Daniel lächelnd.

»Danke, Herr Doktor«, sagte Gusti noch immer ganz verblüfft über ihre schnelle Heilung. »Muss ich meine Finger jetzt schonen?«, wollte sie wissen.

»Nein, müssen Sie nicht. Sie sollten aber in Zukunft noch besser auf mögliche Stolperfallen im Haushalt achten«, riet er ihr.

»Ich wollt halt ganz schnell sein, und schon passiert so was. Aber meine Schwägerin hat sich für heut Nachmittag überraschend zum Kaffee angemeldet, da musst ich unbedingt noch mal die Wohnung durchwischen. Sie ist so eine ganz penible Madame, sieht sich immerzu um, ob sie irgendwo ein Staubkörnle entdecken kann, um mich dann bei der Verwandtschaft als schlechte Hausfrau hinzustellen«, erzählte ihm Gusti.

»Wäre das nicht das kleinere Übel verglichen mit einem Unfall, der sie ins Krankenhaus bringt?«

»Schon, zumal es meiner Schwägerin vermutlich nur ein abfälliges Lächeln entlockt hätte, wär ich mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus gelandet. So einer perfekten Hausfrau wie ihr passiert so etwas natürlich nicht. Aber wissen Sie was, mir reicht’s heut mit dem Putzen. Soll sie doch gehen, wenn es ihr nicht passt.«

»Gute Einstellung, Frau Meier«, sagte Daniel.

»Ich lern halt dazu, auch noch in meinem Alter«, entgegnete sie amüsiert. »Vielen Dank, Herr Doktor, ich wünsch Ihnen noch einen schönen Tag«, verabschiedete sie sich gleich darauf.

»Den wünsche ich Ihnen auch«, sagte er und begleitete sie zur Tür des Sprechzimmers.

»Einen schönen Gruß an Frau Doktor Mai.«

»Werde ich gern ausrichten«, versicherte er Gusti, die sich ihm noch einmal zuwandte, bevor sie den langen Gang in Richtung Empfangstresen durchquerte.

»Auf Wiedersehen, Frau Meier«, hörte er Lydia und Sophia, seine beiden Mitarbeiterinnen, die hinter dem Tresen standen, gleichzeitig antworten, nachdem Gusti sich auch von ihnen verabschiedet hatte.

»Falls Frau Meier irgendwann einmal nicht mehr alle vierzehn Tage hier auftaucht, dann ist sie wohl wirklich krank«, hatte Lydia neulich gesagt, und Sophia und er hatten ihr uneingeschränkt zugestimmt.

Bevor er in die Mittagspause ging, rief er noch zwei Patienten an, die erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Dennis, einem jungen Mann, der sich während eines Aufenthaltes in den Bergen ein Bein gebrochen hatte, ging es schon wieder recht gut. Da er viel Sport trieb, fiel ihm auch das Laufen an den Krücken, die er noch für einige Zeit benötigte, nicht sonderlich schwer. Auch der andere Patient, ein älterer Mann, der wegen eines Hüftleidens in der Klinik gewesen war, konnte sich schon wieder recht gut bewegen. Nachdem Daniel die Anrufe erledigt hatte, schaltete er seinen Computer aus und verließ das Sprechzimmer.

Er hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, als er hörte, wie die schwere Eingangstür zur Praxis geöffnet wurde. Sophia und Lydia, die beide türkisfarbene T-Shirts und weiße Jeans, ihre Praxiskleidung, trugen, schauten überrascht auf, da sie nicht mehr mit Patienten gerechnet hatten.

»Fall es kein Notfall ist, bitte ich Sie am Nachmittag wiederzukommen. Die Vormittagssprechstunde ist bereits vorbei«, sagte Lydia dann auch gleich.

»Kein Problem, ich will nicht in die Sprechstunde. Ich bin nur auf der Suche nach meinem Freund Daniel«, antwortete eine Frau, deren Stimme er sofort erkannte.

Auch wenn er Linda, seine ehemalige Studienkollegin, schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, ihre Stimme war ihm sofort wieder vertraut. Linda war einer dieser übertrieben selbstbewussten Menschen, die Daniel nicht besonders vermisst hatte. Er war gespannt, was dieser überraschende Besuch zu bedeuten hatte.

»Hallo, Schatz, wie schön, dich zu sehen!«, rief Linda, als sie beide gleichzeitig am Empfangstresen eintrafen.

»Hallo, Linda«, begrüßte er die große schlanke Frau. Sie hatte dunkles langes Haar, trug einen hellen eleganten Hosenanzug und taxierte ihn mit ihren mandelförmigen grünbraunen Augen.

»Ich war ein wenig in Sorge, dass du möglicherweise nicht dem Bild entsprechen könntest, das ich mir all die Jahre von dir gemacht habe, aber diese Sorge war unbegründet, Daniel. Du gehörst nach wie vor zu den attraktivsten Männern, die mir jemals begegnet sind«, versicherte sie ihm. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, küsste ihn auf die rechte und die linke Wange und umarmte ihn.

»Danke, für das Kompliment, das kann ich nur zurückgeben. Aus dem hübschen jungen Mädchen ist eine schöne Frau geworden«, entgegnete Daniel.

»Vielen Dank, mein Freund, das baut mich ein wenig auf. Aber ich befürchte, ich werde bald über die erste OP nachdenken müssen, um den äußerlichen Verfall aufzuhalten«, erklärte Linda mit einem tiefen Seufzer.

Daniel musste sich das Lachen verkneifen, als er sah, wie Sophia und Lydia die Augen verdrehten. Die beiden standen nebeneinander hinter dem Tresen, hatten die Ellenbogen aufgestützt, ihren Kopf in ihre Hände sinken lassen und beobachteten ihn und Linda.

Er kannte die beiden inzwischen gut genug, um zu ahnen, was sie gerade dachten. Dass eine blendend aussehende junge Frau wie Linda sicher noch keinen Gedanken an eine Schönheitsoperation verschwenden musste.

»Ein paar zarte Fältchen werden das Gesamtbild nicht stören. Davon abgesehen, auch eine Schönheitsoperation ist ein Eingriff mit Risiken«, sagte er.

»Diese Risiken werde ich wohl auf mich nehmen müssen. In der heutigen Welt zählt perfektes Aussehen mehr als Wissen. Ich möchte allerdings in beidem glänzen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Bevor wir gehen, solltest du mich den jungen Damen vorstellen, Daniel. Es könnte sein, dass ich in nächster Zeit häufiger hier vorbeischaue«, sagte sie und wandte sich Sophia und Lydia zu.

»Heißt das, du kommst zurück nach München?«

»Wir können uns beim Mittagessen darüber unterhalten. Du hast doch Zeit für ein Mittagessen mit mir?«

»Ich kann es einrichten«, sagte er. Da er für die Mittagspause keine Hausbesuche geplant hatte und auch nicht mit Olivia verabredet war, sprach nichts dagegen, mit Linda essen zu gehen.

»Wunderbar«, antwortete sie mit einem zufriedenen Lächeln.

»Frau Doktor Linda Betmann, eine ehemalige Studienkollegin von mir, Lydia Seeger«, machte er Linda mit Lydia, einer hübschen jungen Frau mit sportlicher Figur, dunkelblondem kinnlangem Haar und hellbraunen Augen bekannt. »Falls es hier in der Nähe brennt, könntest du Lydia begegnen. Sie gehört zu den Einsatzkräften der örtlichen Feuerwehr.«

»Ersthelfer besitzen meine vollste Bewunderung. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Seeger«, sagte Linda. »Sind Sie auch bei der Feuerwehr«, wandte sie sich an Sophia, eine zarte junge Frau mit hellblondem langem Haar.

»Nein, so mutig bin ich leider nicht«, antwortete Sophia. »Sophia von Arnsberg«, stellte sie sich Linda selbst vor.

»Ich muss ihr widersprechen, was die Einschätzung ihres Mutes betrifft. Sophia war OP-Schwester, bevor sie sich entschied, zu mir zu kommen. Wir wissen alle, dass das kein Job für zartbesaitete Seelen ist«, sagte Daniel.

»Nein, ist es nicht. Allerdings ist die Arbeit im OP auch unglaublich aufregend und interessant. Was hat Sie dazu bewogen, den OP gegen eine Hausarztpraxis zu tauschen?«, fragte Linda Sophia ganz direkt.

»Meine Mutter ist an MS erkrankt. Ich will für sie da sein. Das ist mit dem Schichtdienst in einer Klinik aber nur schwer planbar.«

»Damit haben Sie allerdings recht«, stimmte Linda Sophia zu. »Also dann, wohin gehen wir? Hast du ein Stammlokal hier in der Gegend?«, fragte sie Daniel.

»In der Fußgängerzone, zehn Minuten von hier entfernt, gibt es einen Italiener mit hervorragender Küche.«

»Klingt gut, aber bevor wir gehen, zeigst du mir noch, wie du wohnst«, bat Linda ihn und hakte sich bei ihm unter. »Wir sehen uns«, verabschiedete sie sich von Lydia und Sophia.

»Bis heute Nachmittag«, sagte Daniel, nickte den beiden noch einmal zu und verschwand mit Linda an seiner Seite in dem Hausgang, der seine Wohnung mit der Praxis verband.

»Ist dir aufgefallen, wie sie ihn angesehen hat?«, wandte sich Lydia mit nachdenklicher Miene Sophia zu.

»Ja, allerdings, so, als wäre sie auf der Jagd und hätte soeben ihr Ziel entdeckt.«

»Glücklicherweise kann Daniel Menschen gut einschätzen. Er wird hoffentlich rechtzeitig ausweichen.«

»Und wenn nicht?«, fragte Sophia nachdenklich.

»Darüber denken wir erst gar nicht nach.«

*

Daniel erfüllte Linda den Wunsch und zeigte ihr das Haus. Zuerst die Wohnküche mit dem großem Esstisch und dem blauen Kachelofen, danach das Wohnzimmer mit den hellen Ledermöbeln und das Gästezimmer mit dem Klappsofa und dem schmalen Kleiderschrank, bis sie schließlich im ersten Stock in seinem Schlafzimmer mit dem Balkon zum Garten hin standen.

»Minimalismus ist jetzt bei vielen angesagt«, stellte Linda fest und ließ ihren Blick durch den Raum mit den schneeweiß gestrichenen Wänden gleiten. Die Einrichtung beschränkte sich auf das blaue Boxspringbett, einen weißen Kleiderschrank und eine Fächerpalme im blauen Porzellankübel. »Andererseits könnte ich aus deiner eher spartanischen Einrichtung auch folgern, dass du schon länger allein lebst. So ist es doch, Schätzchen, du lebst allein in diesem Haus.« Sie setzte sich auf das Bett, lehnte sich auf ihren abgestützten Armen zurück und sah Daniel gespannt an.

»Richtig, ich wohne hier allein, aber ich bin nicht allein.«

»Ach, nein?«

»Nein, ich bin mit einer Frau zusammen, die ich liebe.«

»Das freut mich für dich, ehrlich, Daniel«, versicherte sie ihm, aber ihr Blick verriet, dass es ihr nicht wirklich gefiel, was sie gerade erfahren hatte.

»Wenn du noch essen gehen willst, dann sollten wir aufbrechen. Ich muss um drei wieder in der Praxis sein«, erinnerte er sie daran, dass er nicht den ganzen Nachmittag für sie Zeit hatte.

»Sicher, gehen wir. Ich kann mich ja nachher noch weiter hier umsehen.«

»Aber ich sagte doch, ich muss wieder in die Praxis.«

»Ich weiß, ich verspreche dir, ich werde keine Unordnung machen, während ich auf dich warte.«

»Was heißt warten?«, wunderte sich Daniel.

»Sagte ich noch nicht, dass ich morgen ein Vorstellungsgespräch in einer Klinik in der Stadt habe?«

»Nein, das sagtest du noch nicht.«

»Verzeih, es ist einfach zu aufregend, dich wiederzusehen«, entgegnete Linda und betrachtete ihn mit einem aufreizenden Blick. »Da ich davon ausgehe, dass auch du mich in guter Erinnerung behalten hast, dachte ich, ich wohne bei dir, solange ich in der Stadt bin, und wir reden ein bisschen über alte Zeiten.«

»Ich bin auf einen Übernachtungsgast gar nicht eingerichtet. Du hättest vorher anrufen sollen«, versuchte Daniel, ihr dieses Vorhaben auszureden.

»Aber du hast doch genug Platz. Ich quartiere mich einfach in deinem Gästezimmer ein und verspreche dir, dass ich deinen Tagesablauf nicht stören werde. Oder fürchtest du meine Gesellschaft?«

»Wieso sollte ich deine Gesellschaft fürchten?«, wunderte er sich.

»Dann bist du einverstanden, dass ich bleibe?«

»Das Gästezimmer steht dir zur Verfügung.« Was war schon dabei, wenn sie ein paar Tage bei ihm wohnte? Sie hatte ja nicht vor, bei ihm einzuziehen. Auch wenn er es noch immer merkwürdig fand, dass sie nach all den Jahren einfach so bei ihm auftauchte.

»Also dann, gehen wir essen«, sagte Linda und reichte ihm die Hand, damit er ihr half, vom Bett aufzustehen.

*

Eine Viertelstunde später saßen sie in dem gemütlich eingerichteten Restaurant in der Fußgängerzone, nicht weit von Daniels Praxis entfernt. Linda hatte geräucherten Lachs und einen gemischten Salat bestellt, Daniel Pasta mit Pilzrahmsauce. Während Linda ein Glas des teuersten Rotweins trank, den das Restaurant auf der Weinkarte anbot, beschränkte sich Daniel auf ein Glas Wasser zum Essen. In einer Stunde musste er wieder in der Praxis sein, da brauchte er einen klaren Kopf.

»Du bist damals gleich nach deinem Staatsexamen nach Frankreich gegangen, weil du dich in diesen Virologen aus Lyon verliebt hattest. Seid ihr noch zusammen?«, fragte Daniel.

»Es hat nicht funktioniert. Es hielt nur ein knappes halbes Jahr. Ich zog dann weiter nach Paris und habe dort meine Facharztausbildung gemacht. Es war eben nicht die große Liebe.« Linda trank einen Schluck von ihrem Wein, schaute aus dem Fenster und beobachtete die Einheimischen und Touristen, die durch die Fußgängerzone spazierten.

»Hast du dich in Paris neu verliebt?«

»Mal mehr, mal weniger. Es ist schwierig, in der Liebe habe ich wohl kein Glück. Was ist mit dir und deiner derzeitigen Beziehung? Ist es die große Liebe?«, fragte sie, als ein junges Pärchen eng umschlungen am Restaurant vorbeilief.

»Für mich schon.«

»Und für sie? Obwohl, lassen wir das. Du kannst nicht für sie sprechen. Wir sollten uns ohnehin davor hüten, für andere zu sprechen. Es ist schlicht unmöglich zu wissen, was ein anderer wirklich denkt.«

»Du klingst, als hättest du eine Enttäuschung nach der anderen erlebt. Was ich mir aber nicht vorstellen kann. Soweit ich mich erinnere, hast du zumindest früher immer gesagt, dass du nicht fürs Alleinsein geschaffen bist.«

»Stimmt, das habe ich gesagt, es waren aber auch deine Worte. Du wolltest immer eine große Familie. Wann willst du dieses Vorhaben verwirklichen?«

»Das Leben ist keine Blaupause, nach der wir planen können.«

»Klingt auch nicht besonders euphorisch.«

»Stimmt, auch ich hatte meine Tiefpunkte, aber ich habe sie überwunden.«

»Das habe ich auch geschafft. Meine letzte Beziehung hat fünf Jahre gedauert, jetzt ist sie vorbei.«

»Bist du deshalb hier, um Abstand zu gewinnen?«

»Ich bin hier, weil ich mich nach meiner Heimat und den alten Freunden sehne.«

»Was ist mit deiner Familie?«

»Meine Eltern leben inzwischen in ihrem Landhaus am Starnberger See. Ich werde sie besuchen, sobald ich den Vertrag an der Klinik unterschrieben habe.«

»Du hast dich als Chirurgin beworben?«

»Herzchirurgin, ich habe mich in den letzten Jahren spezialisiert. An unserer Klinik in Paris wurden einige verbesserte Operationsmethoden entwickelt, ich war Teil dieses Teams. Die Klinik, in der ich mich morgen vorstellen werde, hat mir zugesagt, dass ich mir dort ein eigenes Team zusammenstellen kann, um weiter in dieser Richtung zu forschen.«

»Du wirst nicht im OP stehen?«

»Selbstverständlich werde ich operieren. Ich brauche die Praxis, um meine Methoden weiterzuentwickeln.«

»Es ist also dein fester Entschluss, wieder nach München zu ziehen?«

»Ja, ist es. Sobald ich mich mit der Klinik geeinigt habe, werde ich mir eine Wohnung suchen. Ich hoffe, ich kann solange bei dir bleiben. Ich habe keine Lust auf ein Hotel. Außerdem haben wir uns so lange nicht gesehen. Ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen.«

»Wo genau suchst du eine Wohnung?«

»Mein Traum wäre ein repräsentativer Altbau in der Maxvorstadt, gern etwas größer.«

»Hast du schon mit einem Makler gesprochen?«

»Das mache ich, sobald mein Anstellungsvertrag unterschrieben ist. Könntest du mir einen Makler empfehlen, der in diesem Preissegment unterwegs ist?«

»Nein, kann ich leider nicht.«

»Gut, dann werde ich mich im Internet schlau machen.«

»Hat es dir nicht geschmeckt?«, wunderte sich Daniel, als Linda den Teller beiseite schob, nachdem sie erst die Hälfte des Lachsfilets gegessen hatte.

»Im Gegenteil. Die Küche hier ist offensichtlich hervorragend, ich werde mir dieses Restaurant merken. Ich habe heute nur keinen großen Hunger. Die lange Fahrt mit dem Auto war stressig, und unser Wiedersehen nimmt mich auch ziemlich mit«, erklärte sie ihm schmunzelnd.

»Diese Aufregung wird sich doch inzwischen gelegt haben«, entgegnete Daniel. Lindas ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte schon früher dafür gesorgt, dass andere auf sie keinen allzu großen Eindruck machten.

»Ist dir eigentlich bewusst, wie viel du mir bedeutet hast und immer noch bedeutest?« Linda lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete Daniel wie einen Schatz, den sie nach einer langen Suche wiedergefunden hatte.

»Wir waren nie mehr als gute Freunde.«

»Ich weiß, ich war damals erlebnishungrig und wollte mich nicht binden. Da du mir wichtig warst, wollte ich unsere Freundschaft nicht wegen einer kurzen Affäre riskieren. Möglicherweise war das eine falsche Entscheidung. Vielleicht hätte ich die anderen gar nicht mehr gebraucht, wenn ich den Mut gehabt hätte, mich auf dich einzulassen.«

»Im Nachhinein betrachtet stellen sich viele Entscheidungen, die wir im Laufe unseres Lebens treffen, als fragwürdig dar. Aber wir haben uns aus der damaligen Situation heraus so entschieden.«

»Und da fühlte es sich richtig an«, stimmte Linda ihm zu.

»Wieso ist deine letzte Beziehung in die Brüche gegangen?«, fragte Daniel, um sie von ihren Überlegungen, was aus ihnen beiden wohl hätte werden können, abzulenken.

»Er hat mir keinen Freiraum gelassen und meine Karriere behindert. Ich habe einen Schlussstrich gezogen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Offensichtlich wollte sie nicht über diese gescheiterte Beziehung reden, deshalb fragte Daniel auch nicht weiter nach. Sie sprachen noch eine Weile über gemeinsame Freunde aus ihrer Studentenzeit und verließen um kurz vor drei das Restaurant.

Daniel war noch immer nicht von der Vorstellung begeistert, dass Linda ein paar Tage bei ihm wohnen wollte. Er konnte sich noch gut erinnern, wie einnehmend sie sein konnte, dass nur das zählte, was sie wollte. Andererseits, wenn mir etwas nicht passt, sage ich es ihr einfach, dachte er und nahm sich vor, die positiven Seiten dieses überraschenden Besuchs in den Vordergrund zu rücken. Er erinnerte sich gern an die Zeit an der Uni, und Linda war ein Teil dieser Erinnerung.

»Ich werde mich in deinem Gästezimmer einrichten und mich danach auf die Terrasse setzen, solange die Sonne noch scheint«, sagte sie, als Daniel ihr vor der Praxis den Schlüssel für den Eingang zum Wohnteil des Hauses überließ, damit sie ihr Gepäck aus dem Auto holen konnte.

»Fühle dich ganz wie zu Hause«, sagte er und hoffte, dass sie dieses Angebot nicht allzu lange in Anspruch nehmen würde.

*

»Wie war Ihre Mittagspause, Daniel?«, wollte Lydia wissen, als er auf dem Weg zu seinem Sprechzimmer am Empfangstresen vorbeikam. »Schwierigkeiten?«, fragte sie, als er vor ihr stehen blieb und sich mit den Händen auf dem Tresen abstützte.

»Linda hat beschlossen, ein paar Tage bei mir zu wohnen«, verriet er ihr.

»Es sieht nicht so aus, als würden Sie sich darüber freuen.«

»Sagen wir mal so, mit diesem Besuch habe ich nicht gerechnet. Ich habe jahrelang nichts von Linda gehört.«

»Offensichtlich hat Frau Doktor Betmann Sie nicht vergessen.«

»Nein, hat sie wohl nicht«, stimmte Daniel Lydia zu. »Schon ziemlich voll für diese Uhrzeit«, stellte er fest, als er einen Blick in das Wartezimmer mit den gelben Ledersesseln und den hochgewachsenen Grünpflanzen warf, das nur durch eine Glaswand vom Empfangsbereich getrennt war.

»Die meisten sind wieder Opfer der Gartensaison«, klärte Lydia ihn schmunzelnd auf.

»Wir haben hoffentlich genug Verbandsmaterial.«

»Keine Sorge, wir sind gut ausgestattet, auch was die Tetanusauffrischungen betrifft«, versicherte ihm Lydia.

»Dann fangen wir am besten gleich an«, sagte Daniel und ging den Gang entlang zu seinem Sprechzimmer.

»Sie will also bleiben«, sagte Sophia, die aus dem Laborraum kam, den sie für die Sprechstunde vorbereitete. Sie hatte die kurze Unterhaltung zwischen ihrem Chef und ihrer Kollegin von dort aus verfolgen können.

»Eine Entwicklung, die zu unserer Vermutung passt.«

»Ja, allerdings. Ich denke, Daniel sollte ihr möglichst schnell Olivia vorstellen, damit diese Frau Doktor Betmann gleich weiß, woran sie ist.«

»In diesem Punkt können wir ganz zuversichtlich sein. Bei dieser räumlichen Nähe ist es so gut wie unmöglich, Olivia nicht über den Weg zu laufen.«

»Das stimmt, und außerdem, was machen wir uns überhaupt solche Gedanken? Daniel ist glücklich mit Olivia. Egal, was Frau Doktor Betmann vorschweben mag, Daniel wird da ganz sicher nicht mitmachen.«

»Nein, auf keinen Fall«, pflichtete Lydia Sophia bei und wandte sich dem Telefon zu, um den nächsten Anruf entgegenzunehmen.

So wie Lydia es ihm angekündigt hatte, kamen die meisten Patienten an diesem Nachmittag mit kleineren Blessuren zu ihm, die sie sich bei der Gartenarbeit zugezogen hatten. Seit Beginn der Apfel- und Birnenernte hatte er es ständig mit Hobbygärtnern zu tun, die sich während des Obstpflückens verletzten.

Auch Ariane Stegner, eine pummelige Frau Anfang fünfzig, hatte sich bei der Gartenarbeit verletzt. Sie hatte Äste an ihrem Apfelbaum geschnitten und war mit der Schere abgerutscht, die ihr daraufhin aus der Hand fiel und mit der Spitze auf ihrem Fuß landete.

»Es hat nicht arg geblutet, Herr Doktor, aber ich wollte sicher gehen, dass sich die Wunde nicht entzündet«, sagte sie, nachdem sie auf der Untersuchungsliege im Sprechzimmer Platz genommen hatte und den Rock ihres grünen Dirndls sorgfältig über ihre Knie zog, während Daniel den Verband abnahm, den sie sich um den linken Fuß gewickelt hatte.

»Haben Sie die Wunde desinfiziert?«, fragte Daniel. Der Schnitt, den die Schere an der Innenseite des Fußes hinterlassen hatte, war nicht sehr tief und würde schnell verheilen.

»Ich habe ein Wundspray benutzt.«

»Wann hatten Sie die letzte Tetanusimpfung?«

»Es könnte schon zehn Jahre her sein, aber ich kann nachschauen. Ich habe meinen Impfpass dabei.« Sie kramte ihn aus ihrer Handtasche hervor, die neben ihr auf der Liege stand, und gab ihn Daniel.

»Ihre letzte Impfung gegen Tetanus war vor elf Jahren«, stellte er nach einem kurzen Blick in den Impfpass fest.

»O Gott, muss ich mir jetzt Sorgen machen?«, fragte Ariane erschrocken.

»Nein, das müssen Sie nicht. Nach der Grundimmunisierung in der Kindheit besitzen wir bereits einen guten Schutz. Eine Auffrischung mit einer Spritze reicht deshalb auch jetzt noch völlig aus.«

»Dann kann ich mich wieder beruhigen? Mir wird durch diese Wunde nichts Schlimmes passieren?«

»Es ist alles gut, Frau Stegner«, versicherte er seiner Patientin.

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte sie und seufzte erleichtert.

Nachdem er Lydia über das Haustelefon gebeten hatte, Frau Stegner gegen Tetanus zu impfen und ihre Wunde noch einmal zu desinfizieren und zu verbinden, rief er Susanna Lohmeier, seine nächste Patientin, auf. Die zierliche junge Frau, die gleich darauf in sein Sprechzimmer kam, war schon ein paar Mal bei ihm gewesen.

»Was ist passiert, Frau Lohmeier?«, fragte er, als Susanna auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nahm, ihre Hände ineinander verschränkte, den Pony ihres kurzen hellbraunen Haares aus dem Gesicht strich und ihn mit ihren großen dunklen Augen unruhig anschaute.

»Gerald, mein Verlobter, plant eine Bergtour in den Anden. Ich würde ihn gern begleiten. Denken Sie, dass ich dazu in der Lage bin?«

»Nein, das sind Sie nicht, Frau Lohmeier. Das wäre zu riskant für Sie«, antwortete er ihr ohne Umschweife.

»Wegen des geringen Sauerstoffgehalts in den Hochlagen?«

»Richtig.«

»Gibt es wirklich keine Möglichkeit für mich, meinen Verlobten zu begleiten?«

»Hören Sie, Frau Lohmeier, Sie können ein normales Leben führen, trotz Ihres angeborenen Herzfehlers. Abgesehen von Extremsportarten und Ausflüge in ein Hochgebirge gibt es nichts, worauf Sie verzichten müssten.« Daniel war bisher davon ausgegangen, dass die junge Frau, die Griechisch und Latein an einer Abendschule unterrichtete, sich mit den wenigen Einschränkungen, die ihr das Leben abverlangte, abgefunden hätte. »Warum müssen es denn die Anden sein?«, fragte er.

»Es ist Geralds Traum, durch die Anden zu wandern. Ich meine, es geht nicht um den Mount Everest. Wir wollen nur in die Anden, nicht in den Himalaya.«

»Einige Berge in den Anden erreichen fast siebentausend Meter.«

»So hoch wollen wir gar nicht hinauf. Fünftausend Meter sind Geralds Ziel.«

»Eine Höhe, die für Sie mit dieser Verengung zwischen ihren Herzkammern gefährlich werden könnte.«

»Schade, ich hatte gehofft, es würde irgendwie gehen«, sagte Susanna und schaute enttäuscht zur Seite.

»Ihr Verlobter weiß, was er Ihnen mit dieser Reise zumuten würde?«, fragte Daniel.

»Er weiß nur, dass ich einen kleinen Geburtsfehler habe, der mich aber nicht weiter belastet. Jetzt werde ich ihm wohl sagen müssen, dass aus seinem Traum, mit mir in die Anden zu fahren, nichts wird. Könnte sich denn an meinem Zustand inzwischen etwas verändert haben? Ich meine, dass ich mir vielleicht doch mehr zutrauen könnte? Oder möglicherweise gibt es inzwischen eine Operation, die mir hilft, ganz gesund zu werden.«

»Selbst wenn es die gäbe, würde ich Ihnen nicht dazu raten. Eine Operation ist immer ein Risiko. Niemand sollte sich diesem Risiko aussetzen, wenn es nicht sein muss.«

»Ja, ich weiß, ich sollte froh darüber sein, dass es mir so gut geht, aber manchmal sind die Träume mächtiger als die Vernunft«, seufzte sie.

»Wissen Sie was, Frau Lohmeier, wir machen einen neuen Status. Ich überweise Sie zu einem Radiologen. Sie lassen sich dort untersuchen, danach besprechen wir das Ergebnis«, schlug Daniel ihr vor.

»Vielen Dank, Herr Doktor.«

»Kein Problem, ich verstehe sehr gut, dass Sie gern Gewissheit haben möchten, was genau Sie sich zutrauen dürfen«, sagte er und begleitete sie zur Tür. Sollte sich an ihrem Gesundheitszustand nichts verändert haben, würde er ihr auf keinen Fall eine dieser riskanten Operationen empfehlen.

Nachdem Susanna sich verabschiedet hatte, ging er zum Fenster und schaute hinüber zum Haus der Mais. Olivia erwartete ihn um sieben zum Abendessen. Noch hatte er ihr nichts von seinem Besuch erzählt und dass aus dem gemeinsamen Abend vielleicht nichts werden würde. Das wollte er gleich nach der Sprechstunde nachholen. Da er nicht vorhatte, während Lindas Besuch auf seine Treffen mit Olivia zu verzichten, hoffte er, dass die beiden Frauen einander sympathisch genug fanden, um die Abende mit ihm gemeinsam zu verbringen. Ich werde es bald wissen, dachte er und rief seinen nächsten Patienten auf, einen älteren Mann, der beim Unkrautjäten in einen Rechen getreten war.

*

»Was willst du hier?! Verschwinde, du Virenschleuder!«, hörte Daniel Linda aufgeregt rufen, als er nach der Sprechstunde in seine Wohnung kam. Die Terrassentür war geöffnet, und er konnte Linda im Garten stehen sehen. Sie war leicht nach vorn gebeugt und schien auf etwas herunterzusehen.

»Was ist los?«, wollte Daniel wissen, als er auf die Terrasse hinausging, um herauszufinden, worüber sie sich aufregte.

»Gut, dass du da bist. Würdest du bitte dafür sorgen, dass dieses Tier deinen Garten verlässt?«, forderte sie ihn auf und drehte sich zu ihm um.

»Sprichst du von Ortrud?«, fragte er, als die rot getigerte Katze in diesem Moment ins Haus jagte, so als müsse sie einer Gefahr entkommen.

»Ortrud? Du gibst diesen Streunern Namen?«, wunderte sich Linda, als Daniel zu ihr kam.

»Ortrud ist keine streunende Katze, sie gehört meinen Nachbarinnen«, klärte er sie auf.

»Deinen Nachbarinnen? Lass mich raten. Wir sprechen von älteren Damen mit schlohweißem Haar, die behaupten, in ihren Glaskugeln die Zukunft zu sehen.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte er und folgte Lindas Blick, der dem Haus der Mais galt.

»Um das herauszufinden, musste ich mich nicht groß anstrengen. Türkisfarbene Fensterläden, türkisfarbene Türen, die rosafarbenen Rosen in den Blumenschalen auf der Terrasse, der wildromantische Garten mit seinen Obstbäumen. Wer sonst, außer ältlichen selbsternannten Wahrsagerinnen mit rot getigerten Katzen, könnte sich in einem derart kitschigen Umfeld wohlfühlen?«

»Kitschiges Umfeld? Ich glaube, Ihnen fehlt der Sinn für Romantik«, stellte das Mädchen fest, das plötzlich auf dem Balkon des Nachbarhauses stand und offensichtlich Lindas Mutmaßungen über ihr Zuhause mitangehört hatte.

»Reg dich nicht auf, junge Dame. Es ging nicht gegen dich. Ich nehme an, du bist bei deiner Großmutter oder Großtante zu Besuch«, entgegnete Linda und sah das Mädchen mit den langen roten Haaren und den hellen blauen Augen amüsiert an.

»Offensichtlich wissen Sie es noch nicht, aber ich denke, Sie werden überrascht sein, wenn Sie erfahren, wer hier wohnt.«

»Linda, das ist Ophelia Mai, die Tochter von Olivia, der Frau, die ich liebe. Ophelia, das ist Linda Betmann, wir haben zusammen studiert«, machte Daniel die beiden miteinander bekannt.

»Ich wusste gar nicht, dass du so romantisch veranlagt bist, Schätzchen«, stellte Linda schmunzelnd fest, während sie Ophelia beobachtete. Sie schätzte das Mädchen auf vierzehn oder fünfzehn Jahre, schon zu klug und zu erwachsen, um ihr etwas vorzumachen.

Ihr Plan, mit Daniel in Erinnerungen zu schwelgen und das nachzuholen, was sie beide vor Jahren versäumt hatten, würde sich unter den stets wachsamen Augen eines Teenagers nicht so leicht verwirklichen lassen. Frauen in ihrem Alter fühlte sich Linda gewachsen. Kinder und Heranwachsende mit ihren wankelmütigen Gemütern konnte sie nur schwer durchschauen.

»Ist deine Mutter zu Hause, Ophelia?«, fragte Daniel.

»Sie ist mit Oma einkaufen. Ich denke, sie werden in einer halben Stunde zurück sein. Du kommst doch nachher zum Essen zu uns, richtig?« Ophelia sprach zwar mit Daniel, behielt dabei aber Linda fest im Blick.

»Ich denke, das wird nicht klappen. Daniel und ich haben für heute Abend schon eigene Pläne«, kam Linda dem jungen Arzt mit der Antwort zuvor.

»Welche Pläne haben wir denn?«, wunderte sich Daniel, und überhaupt, wie kam Linda dazu, seine Verabredung zum Essen ohne Rücksprache mit ihm abzusagen?

»Wir sprechen gleich über unsere Pläne, mein Schatz«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

»Du kommst also nicht zu uns?«, fragte Ophelia erstaunt nach.

»Wir besprechen das nachher. Ich komme zu euch, sobald Olivia zurück ist«, antwortete er dem Mädchen. Er musste Linda erst einmal klar machen, dass sie sich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen hatte.

»Ich bin schon auf Mamas Reaktion gespannt«, entgegnete Ophelia. »Falls Ortrud bei dir ist, bringe sie nachher bitte mit. Wir machen gerade eine Wurmkur mit ihr, sie muss ihre Tablette nehmen.«

»Diese Katze, die hier durch den Garten schleicht, gehört also dir?«, fragte Linda.

»Sie ist die beste von uns im Glaskugellesen.«

»Werde nicht unverschämt, Kind.«

»Das mit den Glaskugeln war doch Ihre Idee«, entgegnete Ophelia.

Gut so, lass dich von ihr nur nicht einschüchtern, dachte Daniel. Solange sich Ophelia zu wehren wusste, würde er nicht eingreifen.

»Ich hoffe, dir ist bewusst, dass Katzen einige Krankheiten auf Menschen übertragen können. Besonders dann, wenn ihre Besitzer sie draußen herumstreunen lassen«, setzte Linda ihre Unterhaltung mit Ophelia fort.

»Wir gehen mit Ortrud regelmäßig zum Tierarzt. Die meisten Katzenkrankheiten sind für Menschen mit einem intakten Immunsystem allerdings ungefährlich.«

»Ganz so einfach ist das nicht«, widersprach Linda dem Mädchen. »Toxoplasmose zum Beispiel …«

»Ist nur für Schwangere gefährlich, die noch nie mit diesem Erreger in Kontakt gekommen sind«, unterbrach Ophelia Daniels Gast.

»Sieh an, sieh an, ein ganz schlaues Kind, aber eben nur ein Kind. Ich bin Ärztin, Kleine, du darfst mir ruhig zutrauen, dass ich über die Gefahr, die von Katzen ausgeht, weitaus besser Bescheid weiß als du«, sagte Linda und musterte Ophelia mit einem zurechtweisenden Blick.

»Komm jetzt, Linda, du wolltest doch mit mir reden«, unterbrach Daniel das Gespräch. Er wollte Ophelia Lindas Rhetorik nun nicht mehr länger aussetzen. Er wusste nicht, wie sie sich inzwischen verhielt, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, wie verletzend sie früher werden konnte, sobald ihr die Argumente ausgingen.

»Gehen wir, viel Glück beim Lesen der Zukunft, Kleine«, sagte Linda und winkte Ophelia mit gönnerhafter Miene noch einmal zu, bevor sie sich bei Daniel unterhakte und mit ihm zur Terrasse ging.

Ganz schön arrogant, dachte Ophelia, als sie Linda nachschaute, die auf ihren hohen Schuhen Schwierigkeiten hatte, über den Rasen zu laufen. Es hatte am Abend zuvor geregnet, ihre Absätze bohrten sich in den noch feuchten Boden, und sie musste die Beine immer wieder anheben, um sich aus der Erde zu befreien. Das sieht aber gar nicht elegant aus, dachte sie und lächelte in sich hinein.

*

»Würdest du bitte dafür sorgen, dass sie geht«, bat Linda Daniel, während sie auf Ortrud starrte, die auf der Fensterbank im Esszimmer lag und den Garten beobachtete.

»Hier ist ihr zweites Zuhause. Ich werde sie nicht vertreiben«, sagte Daniel, der in der Küche stand und den Wasserkocher anschaltete, um eine Kanne Ingwertee zuzubereiten, den er abends gern trank.

»Und ich bin dein Gast. Du solltest ein Interesse daran haben, dass ich mich bei dir wohlfühle.«

»Hast du eine Katzenallergie?«

»Nein, das nicht«, antwortete Linda wahrheitsgetreu, weil sie wusste, dass sie ihm in dieser Hinsicht nichts vormachen konnte. Als Allgemeinmediziner kannte er die Symptome einer Allergie.

»Bist du schwanger?«

»Nein, glücklicherweise nicht.«

»Dann hast du auch nichts zu befürchten. Ophelia hat recht, von Katzen geht für uns Menschen kaum Gefahr aus.«

»Falls Sie uns nicht das Gesicht abschlecken oder uns kratzen.«

»Wenn du Ortrud in Ruhe lässt, wird dir nichts passieren. Sie hat ohnehin ein gutes Gespür, wem sie sich nähern sollte und wem nicht. Aber damit du beruhigt bist, ich nehme sie nachher mit, wenn ich zu Olivia gehe. Verrätst du mir jetzt, welche Pläne du für heute Abend hast?«

»Ich würde gern einen Spaziergang an der Isar machen, und danach in der Stadt in einem hübschen Restaurant essen gehen.«

»Ich habe einen anderen Vorschlag. Wir essen bei mir, und ich werde Olivia bitten, nach dem Abendessen zu mir zu kommen, damit ihr euch kennenlernt.«