Nagasaki, zu Beginn der Fünfzigerjahre: Die Zerstörungen des Krieges sind noch immer zu sehen, doch zwischen den Ruinen entstehen schon neue, moderne Hochhäuser. In einem davon lebt Etsuko zusammen mit ihrem Mann Jiro. Während Jiro versucht, Karriere zu machen, kümmert sich Etsuko um den Haushalt und bemüht sich, ihrem ehrgeizigen Mann eine gute Ehefrau zu sein. Ihre Freundin Sachiko lebt mit ihrer Tochter in einer Holzhütte unten am Fluss und träumt von einem neuen Leben mit einem amerikanischen Soldaten. Aber über die verzweifelte Suche nach einer besseren Zukunft drohen beide Frauen, sich selbst und das Wohl ihrer Kinder zu vergessen.

Mit diesem Roman hat Kazuo Ishiguro, der selbst in Nagasaki geboren wurde, sein wohl persönlichstes Buch geschrieben – das unvergessliche Porträt zweier Frauen vor dem Hintergrund einer sich rasant verändernden Welt.

»Was Kazuo Ishiguros Bücher suchen, ist eine universelle, emotionale Wahrheit über uns Menschen.« – Benedict Wells

»Kazuo Ishiguro ist ein Meister seines Fachs.« – Margaret Atwood

KAZUO

ISHIGURO

Damals

in Nagasaki

Roman

Aus dem Englischen

von Margarete Längsfeld

Mit einem Nachwort

von Miku Sophie Kühmel

BLESSING

Titel der Originalausgabe:

A PALE VIEW OF HILLS

Originalverlag:

Faber & Faber, London

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Neuausgabe 03/2021

Copyright © 1982 by Kazuo Ishiguro

Copyright © 2021 des Nachworts by Miku Sophie Kühmel

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von Vectorbro/Shutterstock,

boreala/Shutterstock und Tendofyan/Shutterstock

Herstellung: Gabriele Kutscha

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-28072-7
V001

www.blessing-verlag.de

ERSTER TEIL

1

Niki, der Name, den wir meiner jüngeren Tochter schließlich gaben, ist keine Abkürzung. Es war ein Kompromiss, den ich mit ihrem Vater schloss. Denn seltsamerweise war er es, der ihr einen japanischen Namen geben wollte, während ich – vielleicht aus dem eigennützigen Wunsch, nicht an die Vergangenheit erinnert zu werden – auf einem englischen bestand. Er war schließlich einverstanden mit Niki, weil er fand, dieser Name habe irgendwie einen östlichen Klang.

Sie besuchte mich Anfang des Jahres, im April, als die Tage noch kalt und feucht waren. Vielleicht hatte sie länger bleiben wollen, ich weiß es nicht. Aber mein Landhaus und die Stille hier machten sie nervös, und ich merkte bald, dass sie sich nach ihrem Londoner Leben zurücksehnte. Ungeduldig hörte sie sich meine klassischen Schallplatten an und blätterte Zeitschriften durch. Sie wurde oft angerufen. Dann schritt sie, die schmächtige Gestalt in enge Kleider gezwängt, über den Teppich und schloss sorgsam die Tür hinter sich, damit ich das Gespräch nicht mithören konnte. Nach fünf Tagen reiste sie ab.

Sie erwähnte Keiko erst am zweiten Tag. Es war ein grauer, windiger Morgen, und wir hatten die Sessel näher ans Fenster gerückt, um zuzusehen, wie draußen im Garten der Regen fiel.

»Hattest du erwartet, dass ich dort sein würde?«, fragte sie. »Bei der Beerdigung, meine ich.«

»Nein, ich glaube nicht. Ich habe nicht gedacht, du würdest kommen.«

»Ich war ganz durcheinander, als ich es hörte. Ich wäre fast gekommen.«

»Ich habe nie erwartet, dass du kommen würdest.«

»Die Leute wussten gar nicht, was mit mir los war«, sagte sie. »Ich habe es keinem erzählt. Ich glaube, es war mir peinlich. Sie hätten es nicht verstanden, sie hätten nicht begriffen, wie mir dabei zumute war. Schwestern, meint man immer, stehen sich nahe, nicht wahr. Auch wenn man sich nicht besonders mag, steht man sich nahe. Aber so war es ja nicht bei uns. Ich kann mich nicht mal erinnern, wie sie jetzt aussah.«

»Ja, es ist lange her, seit du sie gesehen hast.«

»Ich kann mich nur erinnern, dass ich mich in ihrer Gegenwart immer unglücklich fühlte. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Aber ich war trotzdem traurig, als ich es hörte.«

Vielleicht war es nicht nur die Stille, die meine Tochter nach London zurückzog. Denn wenn wir auch nie lange bei Keikos Tod verweilten, so war er uns doch stets gegenwärtig, wann immer wir miteinander sprachen.

Anders als Niki hatte Keiko nur japanisches Blut in den Adern, und mehr als eine Zeitung griff diese Tatsache prompt auf. Die Engländer sind vernarrt in die Vorstellung, wir Japaner hätten eine Neigung zum Selbstmord, als machte das jede weitere Erklärung überflüssig. Denn das war alles, was sie berichteten: Dass sie Japanerin gewesen sei und sich in ihrem Zimmer erhängt habe.

Am selben Abend stand ich am Fenster und sah ins Dunkel hinaus, als ich Niki hinter mir sagen hörte: »Woran denkst du gerade, Mutter?« Sie saß drüben auf der Couch, mit einem Taschenbuch auf den Knien.

»Ich dachte an jemanden, den ich einst kannte. Eine Frau, die ich einst kannte.«

»An jemanden, den du kanntest, als du – bevor du nach England kamst?«

»Ich kannte sie, als ich in Nagasaki lebte, falls du das meinst.« Sie sah mich unverwandt an, deshalb fügte ich hinzu: »Vor langer Zeit. Lange bevor ich deinen Vater kennenlernte.«

Sie schien zufrieden und wandte sich mit einer vagen Bemerkung wieder ihrem Buch zu. Niki ist ein anhängliches Kind, was sie auf mancherlei Art beweist. Sie war nicht nur gekommen, um zu sehen, wie ich mit der Nachricht von Keikos Tod fertiggeworden war. Es gab noch einen anderen Grund für sie. In den letzten Jahren hatte sie gewisse Seiten meiner Vergangenheit schätzen gelernt, und sie wollte mir sagen, dass sich nichts verändert habe, dass ich die Wahl, die ich damals getroffen hätte, nicht bereuen solle. Kurz, sie wollte mir versichern, dass ich keine Schuld an Keikos Tod trüge.

Ich habe keine große Lust, jetzt lange bei Keiko zu verweilen. Es bringt mir wenig Trost. Ich erwähne sie hier nur, weil dies die Begleitumstände von Nikis Besuch im April waren und weil ich mich während dieses Besuchs nach all den Jahren wieder an Sachiko erinnerte. Ich habe Sachiko nie gut gekannt. Unsere Freundschaft dauerte eigentlich nicht mehr als ein paar Wochen, in einem Sommer vor vielen Jahren.

Die schlimmste Zeit war schon vorbei damals. Die amerikanischen Soldaten waren so zahlreich wie immer – denn es war Krieg in Korea –, aber in Nagasaki waren dies, nach dem, was vorangegangen war, Tage der Ruhe und der Erleichterung. Die Welt war in einem Zustand der Veränderung.

Mein Mann und ich wohnten im Osten der Stadt, eine kurze Straßenbahnfahrt vom Stadtzentrum entfernt. In unserer Nähe floss ein Fluss, und ich hatte einmal gehört, dass vor dem Krieg am Flussufer ein kleines Dorf gestanden hatte. Aber dann war die Bombe gefallen, und danach blieben nur noch verkohlte Ruinen übrig. Der Wiederaufbau hatte begonnen, und mit der Zeit waren vier Betongebäude errichtet worden, jedes mit ungefähr vierzig Wohnungen. Unser Block war als Letzter gebaut worden und markierte den Punkt, an dem das Wiederaufbauprogramm zum Stillstand gekommen war. Zwischen uns und dem Fluss lag unbebautes Gelände, etliche Morgen trockenen Lehms und Abzugsgräben. Viele Leute klagten, das sei gesundheitsschädlich, und die Entwässerungsanlage war in der Tat widerwärtig. Das ganze Jahr hindurch waren dort kraterförmige Löcher mit abgestandenem Wasser gefüllt, und in den Sommermonaten wurden die Moskitos unerträglich. Von Zeit zu Zeit sah man Beamte Messungen vornehmen oder sich Notizen machen, aber die Monate vergingen, und nichts geschah.

Die Bewohner der Häuserblocks waren meist junge Ehepaare wie wir, die Männer hatten gute Stellungen bei expandierenden Firmen. Viele der Wohnungen gehörten den Firmen, die sie zu einem annehmbaren Preis an ihre Angestellten vermieteten. Alle Wohnungen waren gleich: Die Fußböden waren mit Tatamis ausgelegt, die Badezimmer und Küchen nach westlichem Muster eingerichtet. Die Räume waren klein und in den warmen Monaten schwer kühl zu halten, doch im Großen und Ganzen machten die Bewohner einen zufriedenen Eindruck. Und doch erinnere ich mich an eine unverkennbare Atmosphäre der Flüchtigkeit, als warteten wir alle auf den Tag, an dem wir in eine bessere Bleibe umziehen könnten.

Eine einzige Holzhütte hatte sowohl die Verheerungen des Krieges als auch die Planierraupen der Regierung überlebt. Ich konnte sie von unserem Fenster aus sehen, sie stand einsam am Rand des unbebauten Geländes, fast am Flussufer. Es war eine Hütte, wie man sie häufig auf dem Land findet, mit einem fast bis zur Erde reichenden Ziegeldach. Wenn ich nichts zu tun hatte, stand ich oft am Fenster und blickte hinüber.

Nach der Aufmerksamkeit zu urteilen, die Sachikos Ankunft erregte, war ich nicht die Einzige, die zu der Hütte hinüberblickte. Man rätselte viel darüber, ob die zwei Männer, die man dort eines Tages arbeiten sah, von der Regierung waren oder nicht. Später erzählte man sich, dass eine Frau mit ihrer kleinen Tochter dort wohne, und ich sah sie selbst mehrmals, wenn sie sich ihren Weg über das von Gräben durchzogene Gelände bahnten.

Es war Anfang des Sommers – ich war damals im dritten oder vierten Monat schwanger –, als ich zum ersten Mal den großen amerikanischen Wagen sah, der, weiß und zerbeult, über das unbebaute Gelände auf den Fluss zurumpelte. Es war schon Abend, und die Sonne, die hinter der Hütte versank, leuchtete einen Augenblick auf dem Metall auf.

Eines Nachmittags dann hörte ich an der Straßenbahnhaltestelle zwei Frauen über die Frau reden, die in das baufällige Häuschen am Fluss gezogen war. Die eine erzählte ihrer Bekannten, wie sie die Frau am Morgen angesprochen und eine eindeutige Abfuhr erhalten habe. Ihre Begleiterin stimmte ihr darin zu, dass die Neue einen unfreundlichen Eindruck mache – wahrscheinlich sei sie eingebildet. Sie müsse bestenfalls dreißig sein, meinten sie, denn das Kind sei mindestens zehn. Die erste Frau sagte, die Fremde habe mit Tokioter Dialekt gesprochen und sei gewiss nicht aus Nagasaki. Sie unterhielten sich eine Weile über »ihren amerikanischen Freund«, dann sprach die eine Frau wieder davon, wie unfreundlich die Fremde am Morgen zu ihr gewesen sei.

Heute zweifle ich nicht daran, dass unter den Frauen, mit denen ich damals zusammenlebte, etliche waren, die viel gelitten und traurige, schreckliche Erinnerungen hatten. Aber als ich täglich beobachtete, wie eifrig sie mit ihren Ehemännern und Kindern beschäftigt waren, fiel es mir schwer zu glauben, dass sie die Tragödien und Albträume des Krieges erlebt hatten. Es war nie meine Absicht, unfreundlich zu erscheinen, aber es stimmt vermutlich, dass ich mir keine besondere Mühe gab, anders zu wirken. Denn zu jener Zeit wünschte ich noch, in Ruhe gelassen zu werden.

Interessiert hörte ich den Frauen zu, die von Sachiko sprachen. Ich erinnere mich sehr lebhaft an diesen Nachmittag an der Straßenbahnhaltestelle. Es war einer der ersten strahlenden Sonnentage nach der Regenzeit im Juni, und die Ziegel- und Betonflächen um uns herum trockneten langsam. Wir standen auf einer Eisenbahnbrücke, und auf der einen Seite der Schienen, am Fuß des Hügels, sah man einen Haufen Dächer, als wären die Häuser den Abhang hinuntergepurzelt. Hinter den Häusern, ein Stückchen weiter weg, standen unsere Wohnblocks wie vier Betonsäulen. Ich hatte damals Mitleid mit Sachiko und meinte, die Reserviertheit zu verstehen, die ich an ihr bemerkt hatte, wenn ich sie von Weitem beobachtete.

In jenem Sommer wurden wir Freundinnen, und ich genoss, wenigstens für kurze Zeit, ihr Vertrauen. Ich weiß heute nicht mehr, wie unsere erste Begegnung war. Ich erinnere mich aber, dass ich ihre Gestalt eines Nachmittags vor mir auf dem Weg erblickte, der aus dem Wohnbezirk hinausführte. Ich beeilte mich, aber Sachiko schritt kräftig aus. Damals mussten wir uns schon gut gekannt haben, denn ich erinnere mich, dass ich ihren Namen rief, als ich näher kam.

Sachiko drehte sich um und wartete auf mich. »Was gibt’s?«, fragte sie.

»Gut, dass ich Sie gefunden habe«, sagte ich ein wenig außer Atem. »Ihre Tochter, sie hat sich geprügelt, gerade als ich herauskam. Hinten bei den Gräben.«

»Geprügelt?«

»Ja, mit zwei anderen Kindern. Eines der Kinder war ein Junge. Es sah wie eine böse Prügelei aus.«

»Ich verstehe.« Sachiko setzte sich wieder in Bewegung. Ich ging neben ihr her.

»Ich möchte Sie nicht beunruhigen«, sagte ich, »aber es sah wie eine ziemlich böse Prügelei aus. Ich glaube, Ihre Tochter hatte einen Kratzer auf der Wange.«

»Ich verstehe.«

»Es war dahinten, am Rand des freien Feldes.«

»Und Sie meinen, sie prügeln sich immer noch?« Sie ging weiter den Hügel hinauf.

»Das wohl nicht. Ich sah, wie Ihre Tochter fortlief.«

Sachiko blickte mich an und lächelte. »Sie sind den Anblick zankender Kinder wohl nicht gewohnt?«

»Nun ja, Kinder müssen sich zanken, nehme ich an. Aber ich dachte, ich sollte es Ihnen sagen. Und wissen Sie, ich glaube nicht, dass sie auf dem Weg zur Schule ist. Die anderen Kinder sind zur Schule weitergegangen, aber Ihre Tochter lief zum Fluss zurück.«

Sachiko gab keine Antwort und ging weiter den Hügel hinauf.

»Übrigens«, fuhr ich fort, »was ich Ihnen schon immer sagen wollte. Ich habe Ihre Tochter in letzter Zeit ziemlich oft gesehen. Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht ab und zu schwänzt.«

Oben auf dem Hügel gabelte sich der Weg. Sachiko blieb stehen. »Es ist sehr lieb von Ihnen, dass Sie so besorgt sind, Etsuko«, sagte sie. »Wirklich, sehr liebenswürdig. Sie werden bestimmt eine wunderbare Mutter.«

Ich hatte zuvor – wie die Frauen an der Straßenbahnhaltestelle – angenommen, dass Sachiko ungefähr dreißig sei. Aber ihre jugendliche Figur muss mich getäuscht haben, denn sie hatte das Gesicht einer älteren Frau. Sie sah mich mit einem etwas amüsierten Gesichtsausdruck an, und irgendetwas daran machte mich verlegen lachen.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie hinter mir hergelaufen sind«, fuhr sie fort. »Aber wie Sie sehen, bin ich in ziemlicher Eile. Ich muss nach Nagasaki.«

»Ich verstehe. Ich dachte nur, dass ich es Ihnen am besten gleich erzähle.«

Sie sah mich noch einen Moment amüsiert an, dann sagte sie: »Sie sind sehr liebenswürdig. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss in die Stadt.« Sie verbeugte sich und wandte sich dem Weg zu, der zur Straßenbahnhaltestelle führte.

»Es ist bloß, weil sie einen Kratzer im Gesicht hatte«, sagte ich mit leicht erhobener Stimme. »Und der Fluss ist stellenweise sehr gefährlich. Ich hielt es für das Beste, es Ihnen gleich zu erzählen.«

Sie drehte sich noch einmal um und sah mich an. »Wenn Sie nichts anderes zu tun haben, Etsuko«, sagte sie, »könnten Sie sich doch heute vielleicht ein bisschen um meine Tochter kümmern. Ich bin am Nachmittag zurück. Sie kommen bestimmt gut mit ihr aus.«

»Gern, wenn Sie es wünschen. Ich muss sagen, Ihre Tochter scheint mir recht jung, um den ganzen Tag sich selbst überlassen zu sein.«

»Sie sind sehr liebenswürdig«, wiederholte Sachiko. Dann lächelte sie abermals. »Ja, Sie werden bestimmt eine wunderbare Mutter.«

Nachdem ich mich von Sachiko getrennt hatte, ging ich den Hügel hinunter und durch den Wohnbezirk. Bald war ich hinter unserem Wohnblock und blickte über das freie Feld. Da ich kein Zeichen von dem Mädchen sah, wollte ich schon in die Hütte gehen, aber da nahm ich eine Bewegung am Ufer des Flusses wahr. Mariko hatte sich wohl dort hingekauert, denn jetzt konnte ich ihre kleine Gestalt ganz deutlich jenseits des schlammigen Grundes sehen. Zuerst hätte ich das Ganze am liebsten vergessen und wäre zu meiner Hausarbeit zurückgekehrt. Doch schließlich ging ich auf das Mädchen zu und achtete sorgsam darauf, den Gräben auszuweichen.

Soweit ich mich erinnere, war dies das erste Mal, dass ich mit Mariko sprach. Wahrscheinlich war ihr Benehmen an diesem Morgen gar nicht so ungewöhnlich, denn schließlich war ich für das Kind eine Fremde, und sie hatte allen Grund, mich mit Misstrauen zu betrachten. Und wenn ich damals tatsächlich ein seltsam unbehagliches Gefühl hatte, war das vermutlich nichts anderes als eine natürliche Reaktion auf Marikos Verhalten.

Der Fluss hatte an jenem Morgen nach der Regenzeit vor ein paar Wochen ziemliches Hochwasser und eine starke Strömung. Die Erde fiel steil zum Ufer ab, und der schlammige Boden unten am Abhang, wo das kleine Mädchen stand, sah ungleich nasser aus als sonst. Mariko trug ein schlichtes Baumwollkleid, das ihr nur bis zu den Knien reichte, und ihr kurz geschnittenes Haar ließ ihr Gesicht jungenhaft erscheinen. Sie blickte nach oben, ohne zu lächeln, dorthin, wo ich auf dem matschigen Abhang stand.

»Guten Tag«, sagte ich. »Ich habe eben mit deiner Mutter gesprochen. Du musst Mariko-San sein.«

Das kleine Mädchen starrte weiter zu mir herauf, ohne etwas zu sagen. Was ich zuvor für eine Wunde auf ihrer Wange gehalten hatte, entpuppte sich als ein Schmutzfleck.

»Müsstest du nicht in der Schule sein?«, fragte ich. Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Ich gehe nicht in die Schule.«

»Aber alle Kinder müssen zur Schule gehen. Magst du sie nicht?‹

»Ich gehe nicht in die Schule.«

»Schickt deine Mutter dich denn nicht hier zur Schule?«

Mariko antwortete nicht. Stattdessen trat sie einen Schritt zurück.

»Vorsicht«, sagte ich. »Sonst fällst du noch ins Wasser. Es ist sehr rutschig.«

Sie starrte weiterhin vom Fuß des Abhangs zu mir herauf. Ich sah ihre kleinen Schuhe neben ihr im Schlamm liegen. Ihre nackten Füße waren, wie ihre Schuhe, mit Schlamm bedeckt.

»Ich habe eben mit deiner Mutter gesprochen«, wiederholte ich und lächelte ihr begütigend zu. »Sie hat gesagt, du kannst ruhig mit mir kommen und bei mir auf sie warten. Es ist das Haus gleich da drüben. Du kannst ein paar Kekse probieren, die ich gestern gebacken habe. Hättest du Lust dazu, Mariko-San? Und du könntest mir ein bisschen von dir erzählen.«

Mariko musterte mich weiterhin sehr genau. Dann bückte sie sich, ohne mich aus den Augen zu lassen, und hob ihre Schuhe auf. Zuerst hielt ich das für ein Zeichen, dass sie mit mir gehen wolle. Aber als sie weiter zu mir heraufstarrte, begriff ich, dass sie ihre Schuhe in der Hand hielt, um schnell weglaufen zu können.

»Ich tue dir nichts«, sagte ich mit einem nervösen Lachen. »Ich bin eine Freundin deiner Mutter.«

Soweit ich mich erinnere, war das alles, was sich an jenem Morgen zwischen uns abspielte. Ich wollte das Kind nicht noch mehr ängstigen und wandte mich bald darauf um und ging über das freie Feld zurück. Es ist wahr, die Reaktion des Kindes hatte mich etwas beunruhigt, denn in jenen Tagen waren solche Kleinigkeiten geeignet, alle möglichen Ängste vor der Mutterschaft in mir zu wecken. Ich sagte mir, der Vorfall sei bedeutungslos, und in den nächsten Tagen werde sich sicher noch genügend Gelegenheit ergeben, mit dem kleinen Mädchen Freundschaft zu schließen. Aber es fügte sich, dass ich erst etwa vierzehn Tage später wieder mit Mariko sprach.

Vor jenem Nachmittag war ich noch nie in der Hütte gewesen, und ich war ziemlich überrascht, als Sachiko mich hereinbat. Ich hatte sogleich gespürt, dass sie damit eine bestimmte Absicht verband, und wie sich zeigte, hatte ich mich nicht geirrt.

Die Hütte war sauber und ordentlich, aber ich erinnere mich an eine irgendwie totale Ärmlichkeit. Die Holzbalken an der Decke sahen alt und morsch aus, und über allem hing ein schwacher Dunst von Feuchtigkeit. Die Schiebewände vorn an der Hütte standen weit offen, um über die Veranda das Sonnenlicht hereinzulassen. Trotzdem blieb ein großer Teil des Häuschens im Schatten.

Mariko lag in der Ecke, die am weitesten vom Sonnenlicht entfernt war. Ich sah, wie sich neben ihr im Schatten etwas bewegte, und als ich näher kam, sah ich eine große Katze zusammengerollt auf der Tatami liegen.

»Guten Tag, Mariko-San«, sagte ich. »Kennst du mich noch?«

Sie hörte auf, die Katze zu streicheln, und blickte hoch.

»Wir sind uns neulich begegnet«, fuhr ich fort. »Erinnerst du dich? Du warst am Fluss.«

Das kleine Mädchen gab kein Zeichen des Wiedererkennens. Sie sah mich eine Weile an, dann begann sie wieder, ihre Katze zu streicheln. Hinter mir hörte ich Sachiko an dem Ofen, der mitten im Raum stand, den Tee bereiten. Ich wollte gerade zu ihr gehen, als Mariko plötzlich sagte: »Sie bekommt Junge.«

»So? Wie nett.«

»Möchten Sie ein Kätzchen?«

»Das ist sehr lieb von dir, Mariko-San. Vielleicht. Aber ich bin sicher, dass sie alle in gute Hände kommen.«

»Warum nehmen Sie kein Kätzchen?«, fragte das Kind. »Die andere Frau hat gesagt, sie nimmt eins.«

»Warten wir’s ab, Mariko-San. Was war das für eine andere Dame?«

»Die andere Frau. Die Frau vom anderen Flussufer. Sie hat gesagt, sie nimmt eins.«

»Aber ich glaube nicht, dass da drüben jemand wohnt, Mariko-San. Dort sind nur Bäume und Büsche.«

»Sie hat gesagt, sie nimmt mich mit zu sich nach Hause. Sie wohnt drüben am Fluss. Ich bin nicht mitgegangen.«

Ich sah das Kind einen Moment an. Dann kam mir ein Gedanke, und ich lachte.

»Aber das war ich, Mariko-San. Erinnerst du dich nicht mehr? Ich habe dich eingeladen, mit mir zu kommen, als deine Mutter in der Stadt war.«

Mariko sah wieder zu mir hoch. »Nicht Sie«, sagte sie.

»Die andere Frau. Die Frau von drüben am Fluss. Sie war gestern Abend hier. Als Mutter weg war.«

»Gestern Abend? Als deine Mutter weg war?«

»Sie hat gesagt, sie nimmt mich mit zu sich, aber ich bin nicht mitgegangen. Weil es dunkel war. Sie hat gesagt, wir können die Laterne mitnehmen«, sie wies auf eine Laterne, die an der Wand hing, »aber ich bin nicht mitgegangen. Weil es dunkel war.«

Hinter mir hatte sich Sachiko erhoben und sah ihre Tochter an. Mariko verstummte, wandte sich ab und begann wieder, ihre Katze zu streicheln.

»Gehen wir auf die Veranda hinaus«, sagte Sachiko zu mir. Sie hielt ein Tablett mit dem Tee und Geschirr in den Händen. »Draußen ist es kühler.«

Wir gingen hinaus und ließen Mariko in ihrer Ecke. Von der Veranda aus war der Fluss selbst dem Blick verborgen, aber ich konnte sehen, wo der Boden abfiel und der Schlamm nasser wurde, je näher er dem Wasser kam. Sachiko ließ sich auf ein Kissen nieder und schenkte den Tee ein.

»Hier wimmelt es von streunenden Katzen«, sagte sie. »Ich bin nicht sehr zuversichtlich, was diese Kätzchen betrifft.«

»Ja, es gibt so viele herrenlose Tiere«, sagte ich. »Es ist wirklich ein Jammer. Hat Mariko ihre Katze hier irgendwo gefunden?«

»Nein, wir haben das Tier mitgebracht. Ich hätte sie lieber zurückgelassen, aber Mariko wollte nichts davon wissen.«

»Sie haben sie den ganzen Weg von Tokio hierher mitgebracht?«

»O nein. Wir leben jetzt schon fast ein Jahr in Nagasaki. Wir haben auf der anderen Seite der Stadt gewohnt.«

»Tatsächlich? Das habe ich nicht gewusst. Haben Sie dort bei – Freunden gewohnt?«

Sachiko hielt mit Einschenken inne und sah mich, die Teekanne in beiden Händen haltend, an. In ihrem Blick sah ich etwas von jener Amüsiertheit, mit der sie mich schon früher einmal betrachtet hatte.

»Weit gefehlt, fürchte ich, Etsuko«, sagte sie schließlich. Dann fuhr sie fort, Tee einzuschenken. »Wir haben bei meinem Onkel gewohnt.«

»Ich versichere Ihnen, ich wollte bloß …«

»Ja natürlich. Kein Grund, verlegen zu werden, nicht wahr?« Sie lachte und reichte mir meine Teetasse. »Verzeihen Sie, Etsuko, ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Übrigens, ich möchte Sie um etwas bitten. Eine kleine Gefälligkeit.« Sachiko schenkte sich selbst Tee ein, und während sie das tat, wurde sie etwas ernster. Sie stellte die Teekanne hin und sah mich an. »Wissen Sie, Etsuko, bestimmte Pläne, die ich gemacht habe, entwickeln sich nicht so wie erwartet. Infolgedessen befinde ich mich in Geldschwierigkeiten. Nicht in großen, verstehen Sie. Nur eine kleine Summe.«

»Ich verstehe«, sagte ich mit gesenkter Stimme. »Sie haben es sicher sehr schwer, wo Sie auch noch für Mariko-San sorgen müssen.«

»Etsuko, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«

Ich verbeugte mich. »Ich habe ein paar eigene Ersparnisse«, sagte ich beinahe flüsternd. »Es würde mich freuen, wenn ich Ihnen behilflich sein könnte.«

Zu meinem Erstaunen lachte Sachiko laut auf. »Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte sie. »Aber ich wollte mir wahrhaftig kein Geld von Ihnen leihen. Ich dachte an etwas anderes. Sie erwähnten neulich eine Freundin, die ein Nudelrestaurant hat.«

»Frau Fujiwara meinen Sie?«

»Sie sagten, sie könnte eine Hilfe brauchen. Eine solche kleine Beschäftigung käme mir gerade recht.«

»Ja«, meinte ich unsicher, »ich könnte mich erkundigen, wenn Sie es wünschen.«

»Das wäre sehr liebenswürdig.« Sachiko sah mich einen Moment an. »Aber es scheint Ihnen ziemlich ungewiss, Etsuko.«

»Aber nein. Ich erkundige mich, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Ich habe mich nur gefragt«, wieder senkte ich die Stimme, »wer sich tagsüber um Ihre Tochter kümmern würde.«

»Mariko? Sie könnte im Nudelrestaurant helfen. Sie kann sich ganz gut nützlich machen.«

»Davon bin ich überzeugt. Aber sehen Sie, ich weiß nicht, wie Frau Fujiwara darüber denkt. Außerdem sollte Mariko eigentlich tagsüber in der Schule sein.«

»Ich versichere Ihnen, Etsuko, Mariko wäre überhaupt kein Problem. Außerdem schließen die Schulen nächste Woche. Ich passe bestimmt auf, dass sie nicht stört, da können Sie sicher sein.«

Ich verbeugte mich wieder. »Ich werde fragen, wenn ich sie das nächste Mal sehe.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Sachiko trank einen Schluck aus ihrer Teetasse. »Vielleicht darf ich Sie bitten, Ihre Freundin in den nächsten Tagen aufzusuchen?«

»Ich werde mich bemühen.«

»Sie sind zu liebenswürdig.«

Wir schwiegen einen Augenblick. Zuvor schon war mir Sachikos Teekanne aufgefallen, offenbar ein edles kunsthandwerkliches Stück aus hellem Porzellan. Die Teetasse, die ich jetzt in der Hand hielt, war aus demselben feinen Material. Als wir dasaßen und Tee tranken, wunderte ich mich nicht zum ersten Mal über den merkwürdigen Gegensatz zwischen dem Teeservice und der Ärmlichkeit der Hütte mit dem matschigen Boden unterhalb der Veranda. Als ich aufblickte, merkte ich, dass Sachiko mich beobachtet hatte.

»Ich bin gutes Geschirr gewöhnt, Etsuko«, sagte sie. »Sie müssen wissen, ich lebe nicht immer so«, sie wies mit einer Hand auf die Hütte, »wie hier. Natürlich macht es mir nichts aus, wenn es ein bisschen an Komfort fehlt. Aber bei bestimmten Sachen bin ich ziemlich anspruchsvoll.«

Ich verbeugte mich, sagte aber nichts. Sachiko betrachtete nun ebenfalls ihre Teetasse. Sie besah sie sich sehr genau und drehte sie vorsichtig in ihren Händen. Plötzlich sagte sie: »Ich nehme an, man kann mit Recht behaupten, dass ich dieses Teeservice gestohlen habe. Doch ich glaube nicht, dass mein Onkel es sehr vermisst.«

Ich sah sie erstaunt an. Sachiko stellte die Teetasse vor sich hin und verscheuchte ein paar Fliegen.

»Sie haben bei Ihrem Onkel gelebt, sagen Sie?«, fragte ich.

Sie nickte langsam. »Ein wunderschönes Haus. Mit einem Teich im Garten. Ganz anders als die Umgebung hier.«

Einen Moment lang blickten wir beide in die Hütte hinein. Mariko lag in ihrer Ecke, genau so, wie wir sie verlassen hatten, mit dem Rücken zu uns. Sie schien leise mit ihrer Katze zu sprechen.

»Ich wusste gar nicht«, sagte ich, nachdem wir beide einige Zeit geschwiegen hatten, »dass auf der anderen Seite des Flusses jemand wohnt.«

Sachiko drehte sich um und sah zu den Bäumen am anderen Ufer hinüber. »Ich habe niemanden dort gesehen.«

»Aber Ihr Babysitter – Mariko hat gesagt, sie komme von drüben.«

»Ich habe keinen Babysitter, Etsuko. Ich kenne hier niemanden.«

»Mariko erzählte mir von einer Dame …«

»Bitte, schenken Sie dem keine Beachtung.«

»Sie meinen, sie hat es sich nur ausgedacht?«

Einen Augenblick wirkte Sachiko nachdenklich. Dann sagte sie: »Ja. Sie hat es sich nur ausgedacht.«

»Nun ja, ich nehme an, so etwas tun Kinder oft.« Sachiko nickte. »Wenn Sie Mutter werden, Etsuko«, sagte sie lächelnd, »werden Sie sich an derlei gewöhnen müssen.«

Daraufhin gingen wir zu anderen Themen über. Es war die erste Zeit unserer Freundschaft, und wir sprachen vornehmlich von Kleinigkeiten. Erst einige Wochen später hörte ich Mariko eines Morgens wieder von einer Frau sprechen, die sich ihr genähert habe.

2

Wenn ich in jenen Tagen in den Stadtteil Nakagawa zurückkam, rief das in mir immer noch ein Gefühl der Trauer und der Freude hervor. Es ist eine hügelige Gegend, und jedes Mal, wenn ich die steilen, engen Straßen zwischen den zusammengedrängten Häusern hinaufstieg, ergriff mich ein starkes Gefühl der Verlassenheit. Zwar ging ich nie spontan dorthin, aber ich konnte auch nie lange fortbleiben. Der Besuch bei Frau Fujiwara erweckte in mir dieselbe Mischung von Gefühlen, denn sie hatte zu den engsten Freundinnen meiner Mutter gehört. Frau Fujiwara war eine gütige Frau, deren Haar allmählich grau wurde. Ihr Nudelrestaurant lag in einer belebten Nebenstraße. Es hatte einen betonierten Vorplatz unter einem vorspringenden Dach, und dort, an hölzernen Tischen mit Bänken, aßen ihre Gäste. Während der Mittagspause machte sie ein gutes Geschäft mit Büroangestellten, und dann noch einmal, wenn diese nach Hause gingen, aber zu anderen Tageszeiten war die Kundschaft spärlich.

Ich war ein wenig aufgeregt an diesem Nachmittag, denn es war das erste Mal, dass ich das Restaurant aufsuchte, seit Sachiko dort arbeitete. Ich war – der beiden wegen – besorgt, zumal ich nicht sicher war, wie dringend Frau Fujiwara eine Hilfe gesucht hatte. Es war ein heißer Tag, und die kleine Nebenstraße war voller Menschen. Ich war froh, als ich in den Schatten trat.

Frau Fujiwara freute sich, mich zu sehen. Sie hieß mich an einem Tisch Platz nehmen und ging Tee holen. An diesem Nachmittag waren nur wenige Gäste da – vielleicht gar keine, ich weiß es nicht mehr –, und Sachiko war nicht zu sehen. Als Frau Fujiwara zurückkam, fragte ich sie: »Was macht meine Freundin? Kommt sie gut zurecht?«

»Deine Freundin?« Frau Fujiwara blickte über die Schulter zur Küchentür. »Sie hat gerade Garnelen ausgepult. Ich denke, sie wird bald herauskommen.« Dann, als besänne sie sich eines anderen, stand sie auf und ging ein paar Schritte auf die Küchentür zu. »Sachiko-San«, rief sie. »Etsuko ist da.« Ich hörte von drinnen eine Stimme antworten.

Als sie sich wieder hinsetzte, strich mir Frau Fujiwara über den Bauch. »Man sieht es schon«, sagte sie. »Von nun an musst du dich schonen.«

»Ich tue ohnehin nicht viel«, sagte ich. »Ich führe ein sehr geruhsames Leben.«

»Das ist gut. Ich weiß noch, als ich das erste Mal schwanger war, gab es ein Erdbeben, ein ziemlich starkes. Ich erwartete damals Kazuo. Er kam aber trotzdem heil und gesund auf die Welt. Du musst versuchen, dir nicht zu viele Sorgen zu machen.«

»Ich bemühe mich.« Ich blickte zur Küchentür. »Fühlt meine Freundin sich hier wohl?«

Frau Fujiwara folgte meinem Blick zur Küche. Dann wandte sie sich mir wieder zu und sagte: »Ich denke schon. Ihr seid gute Freundinnen, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe dort, wo wir wohnen, nicht viele Freundinnen gefunden. Ich bin sehr froh, dass ich Sachiko kennengelernt habe.«

»Ja. Das war ein Glück.« Sie blickte mich ein paar Sekunden an. »Etsuko, du siehst heute ziemlich müde aus.«

»Das glaube ich gern.« Ich lachte leise. »Das ist wohl nicht anders zu erwarten.«

»Ja natürlich.« Frau Fujiwara sah mir unverwandt ins Gesicht. »Aber ich meine, du siehst ein bisschen – elend aus.«

»Elend? Ich fühle mich aber gar nicht elend. Ich bin nur ein bisschen müde, aber sonst bin ich so glücklich wie noch nie.«

»Das ist gut. Du musst jetzt an glückliche Dinge denken. An dein Kind. Und an die Zukunft.«

»Ja, das will ich. Der Gedanke an das Kind macht mich froh.«

»Fein.« Sie nickte, den Blick immer noch auf mich gerichtet. »Es kommt nur auf deine Einstellung an. Eine Mutter kann sich noch so sehr körperlich schonen, sie braucht eine positive innere Einstellung, um ein Kind aufzuziehen.«

»Oh, ich freue mich schon sehr darauf«, sagte ich lachend. Ein Geräusch ließ mich wieder zur Küche blicken, aber Sachiko war noch nicht zu sehen.