Der berühmte Pianist Ryder ist auf Konzertreise. Bei seiner Ankunft in einem Wiener Hotel will er sich am liebsten sofort zurückziehen, aber er wird vom Hotelpagen in Beschlag genommen, der Ryder um einen sonderbaren Gefallen bittet: Obwohl er die beiden überhaupt nicht kennt, soll Ryder zwischen dem Hotelpagen und dessen Tochter vermitteln. Ryder willigt ein und macht daraufhin eine Reihe seltsamer Bekanntschaften. Er trifft Lebende und Totgeglaubte, die ihn in tiefe Verwirrung stürzen – lauter Ungetröstete, die sich von dem Künstler Hilfe oder gar Erlösung erhoffen. Ryder versucht, auf jeden einzelnen einzugehen, und bemerkt zu spät, dass er sich selbst dabei immer mehr abhandenkommt.

Die Ungetrösteten ist ein brillant erzählter Roman über einen Mann, der mit seiner Umwelt zu verschmelzen droht – ein Buch über Mitgefühl, Eigenverantwortung und unser Unvermögen, einander wirklich zu verstehen.

»Die Ungetrösteten vermittelt uns Kazuo Ishiguros Kernthema. Es geht ihm nicht um die Tragik der Verdrängung, sondern um die Komik und das Pathos der Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um andere Geschichten von uns fern zu halten.« – The New York Times Review of Books

»Die Ungetrösteten ist ein Meisterwerk.« – The Times

KAZUO

ISHIGURO

Die Ungetrösteten

Roman

Aus dem Englischen

von Isabell Lorenz

BLESSING

Titel der Originalausgabe:

THE UNCONSOLED

Originalverlag:

Faber & Faber, London

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Neuausgabe 03/2021

Copyright © 1995 by Kazuo Ishiguro

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von DenEmmanuel/Shutterstock

Herstellung: Gabriele Kutscha

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-28073-4
V001

www.blessing-verlag.de

Für Lorna und Naomi

ERSTER TEIL

1

Dem Taxifahrer war es offensichtlich peinlich, dass niemand – nicht einmal ein Angestellter an der Rezeption – anwesend war, um mich willkommen zu heißen. Er ging durch die menschenleere Halle, vielleicht in der Hoffnung, hinter einer der Pflanzen oder einem der Sessel einen Hotelangestellten zu entdecken. Schließlich stellte er meine Koffer neben den Aufzugtüren ab, brummelte ein paar entschuldigende Worte und verabschiedete sich.

Die Hotelhalle war geräumig, einige Kaffeetischchen hatte man dort aufstellen können, ohne dass es gedrängt wirkte. Aber die Decke war niedrig und hing sichtlich durch, was eine leicht klaustrophobische Stimmung verursachte, und trotz des Sonnenscheins draußen war es hier düster. Nur beim Empfang sah man einen hellen Sonnenstreifen an der Wand, der einen Teil der dunklen Holztäfelung und ein Regal mit deutschen, französischen und englischen Zeitschriften erleuchtete. Auf dem Empfangstisch sah ich außerdem eine kleine silberne Klingel, und ich wollte gerade hinübergehen, um mich bemerkbar zu machen, als sich irgendwo hinter mir eine Tür öffnete und ein junger Mann in Uniform erschien.

»Guten Tag«, sagte er gelangweilt, ging hinter den Empfangstisch und begann mit der Anmeldeprozedur. Obwohl er sich für seine Abwesenheit entschuldigte, benahm er sich noch eine ganze Weile recht schroff. Doch kaum hatte ich meinen Namen genannt, da schreckte er hoch und richtete sich auf.

»Tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, Mr Ryder. Unser Direktor Herr Hoffman hatte Sie so gern persönlich begrüßen wollen. Aber gerade eben musste er leider dringend zu einer Sitzung.«

»Das ist schon in Ordnung. Ich werde ihn dann ja später kennenlernen.«

Der Mann am Empfang ging schnell die Anmeldeformulare durch, wobei er die ganze Zeit vor sich hin brummelte, wie sehr sich der Direktor ärgern würde, meine Ankunft verpasst zu haben. Zweimal erwähnte er, wie sehr die Vorbereitungen für »Donnerstagabend« ihn unter Druck setzten und ihn öfter als sonst vom Hotel fernhielten. Ich nickte einfach nur, ich konnte die Energie nicht aufbringen, ihn zu fragen, was genau denn »Donnerstagabend« geschehen würde.

»Ach, Mr Brodsky war heute übrigens ganz großartig«, sagte der Angestellte, und sein Gesicht hellte sich auf. »Ganz einfach großartig. Heute Vormittag hat er vier Stunden ohne Unterbrechung mit dem Orchester geprobt. Und hören Sie ihn sich jetzt nur an! Er kann gar nicht genug bekommen, arbeitet immer noch für sich allein weiter.«

Er deutete ans andere Ende der Halle. Erst da wurde mir bewusst, dass irgendwo im Gebäude jemand Klavier spielte, gerade eben hörbar über dem gedämpften Straßenlärm von draußen. Ich hob den Kopf und hörte genauer hin. Jemand spielte langsam und gedankenverloren immer wieder eine einzige kurze Passage aus dem zweiten Satz von Mullerys Verticality.

»Natürlich, wenn der Direktor hier wäre«, sagte der Mann am Empfang, »hätte er Mr Brodsky sicher zu Ihrer Begrüßung hinzugebeten. Aber ich weiß nicht genau …« Er lachte auf. »Ich weiß nicht genau, ob ich ihn stören darf. Wissen Sie, wenn er so konzentriert arbeitet …«

»Natürlich, natürlich. Ein andermal.«

»Wenn nur der Direktor hier wäre …« Er geriet ins Stocken und dann lachte er wieder. Dann beugte er sich vor und sagte leise: »Können Sie sich vorstellen, dass einige Gäste doch tatsächlich die Frechheit besessen haben, sich zu beschweren? Weil wir jedes Mal den Salon zusperren, wenn Mr Brodsky den Flügel braucht. Kaum zu glauben, was manche Leute sich so denken! Gestern haben sich doch tatsächlich zwei Gäste unabhängig voneinander bei Herrn Hoffman beschwert. Aber sie mussten schnell klein beigeben, das können Sie mir glauben.«

»Das glaube ich gern. Brodsky, sagen Sie.« Ich dachte über den Namen nach, aber es wollte mir dazu nichts einfallen. Dann merkte ich, dass mich der Mann am Empfang verwundert ansah, und sagte schnell: »Ja, ja. Ich freue mich schon darauf, Mr Brodsky dann später zu sehen.«

»Wenn doch nur der Direktor hier wäre.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wenn das jetzt alles ist, würde ich gerne …«

»Aber natürlich. Sie müssen sehr erschöpft sein nach der langen Reise. Hier ist Ihr Schlüssel. Unser Gustav wird Sie zu Ihrem Zimmer bringen.«

Ich schaute mich um und sah, dass am anderen Ende der Halle ein ältlicher Hoteldiener wartete. Er stand vor der geöffneten Aufzugtür und starrte gedankenverloren ins Innere. Er schreckte hoch, als ich auf ihn zuging. Dann nahm er meine Koffer auf und folgte mir schnell in den Aufzug.

Während wir hochfuhren, behielt der ältliche Hoteldiener beide Koffer in der Hand, und ich sah, dass er vor Anstrengung ganz rot wurde. Die Koffer waren beide sehr schwer, und da ich mir ernstliche Sorgen machte, er könne hier vor mir zusammenbrechen, sagte ich:

»Es wäre doch wohl besser, Sie würden die Koffer abstellen.«

»Ich bin froh, dass Sie das sagen«, erwiderte er, und seine Stimme verriet erstaunlich wenig von der Anstrengung, die ihn das Ganze kostete. »Als ich in diesem Beruf anfing, das ist jetzt schon viele, viele Jahre her, habe ich die Gepäckstücke immer auf dem Boden abgestellt. Sie nur hochgehoben, wenn unbedingt nötig. Wenn ich in Bewegung war, sozusagen. Ja, ich muss sagen, dass ich während meiner ganzen ersten fünfzehn Jahre hier so gearbeitet habe. Viele junge Hoteldiener in der Stadt gehen immer noch nach dieser Methode vor. Aber mich werden Sie so etwas ganz bestimmt nicht mehr tun sehen. Wir sind übrigens gleich da.«

Schweigend fuhren wir weiter hoch. Dann sagte ich:

»Sie arbeiten also schon eine ganze Weile in diesem Hotel.«

»Siebenundzwanzig Jahre. In der Zeit habe ich einiges gesehen. Aber natürlich gab es das Hotel schon lange, bevor ich hier anfing. Im 18. Jahrhundert soll Friedrich der Große hier eine Nacht verbracht haben, und nach allem, was man so hört, war es schon damals ein Haus mit Tradition. Tja, im Lauf der Jahre haben sich hier Ereignisse von großer historischer Bedeutung zugetragen. Wenn Sie sich erst einmal ausgeruht haben, würde ich Ihnen irgendwann gerne ein paar von den Geschichten erzählen.«

»Aber Sie wollten mir gerade erklären«, sagte ich, »warum Sie es für falsch halten, das Gepäck auf dem Boden abzustellen.«

»Ach ja«, erwiderte der Hoteldiener. »Das ist wirklich ganz interessant. Sie können sich sicher denken, dass es in einer Stadt wie dieser etliche Hotels gibt. Das heißt, dass sich viele Leute in der Stadt irgendwann schon einmal als Hoteldiener versucht haben. Viele hier glauben offensichtlich, sie bräuchten sich bloß eine Uniform anzuziehen, und das wär’s dann schon, dann könnten sie diese Arbeit machen. Das ist ein Irrtum, dem man in dieser Stadt besonders leicht verfällt. Eine Art allgemein verbreiteter Trugschluss, wenn Sie so wollen. Und ich will gerne zugeben, dass ich eine Zeit lang selber so gearbeitet habe, ohne groß darüber nachzudenken. Aber dann haben meine Frau und ich – ach, das ist jetzt schon etliche Jahre her – einmal einen kleinen Urlaub gemacht. Wir sind in die Schweiz gefahren, nach Luzern. Meine Frau ist inzwischen verstorben, aber immer wenn ich an sie denke, fällt mir dieser kleine Urlaub ein. Dort am See ist es wirklich sehr schön. Aber das wissen Sie sicher. Nach dem Frühstück haben wir immer herrliche Bootsfahrten gemacht. Aber um nun auf die bewusste Angelegenheit zurückzukommen – in diesem Urlaub ist mir aufgefallen, dass die Leute dort ihren Hoteldienern gegenüber eine andere Einstellung haben als die Leute hier. Wie soll ich das erklären? Dort hat man vor Hoteldienern einen viel größeren Respekt. Die besten unter ihnen genießen beträchtliches Ansehen, und die führenden Hotels wetteifern um ihre Dienste. Das hat mir wirklich die Augen geöffnet. Aber hier bei uns, na ja, da haben die Leute eben eine ganz bestimmte Meinung. Es gab Tage, da habe ich mich gefragt, ob sich so eine Meinung je ausrotten lässt. Ich sage ja nicht, dass sich die Leute uns gegenüber irgendwie schlecht benehmen. Im Gegenteil, ich bin hier immer sehr höflich und rücksichtsvoll behandelt worden. Aber wissen Sie, die Leute meinen eben immer, dass jeder diese Arbeit machen kann, wenn er nur will, wenn er es sich nur in den Kopf gesetzt hat. Das liegt wohl daran, dass jeder hier in der Stadt schon einmal die Erfahrung gemacht hat, wie es ist, einen Koffer von einem Ort zum anderen zu tragen. Und deshalb glauben sie, Hoteldiener zu sein ist im Prinzip nichts anderes. Im Lauf der Jahre hatte ich hier in diesem Aufzug Leute, die haben zu mir gesagt: ›Eines Tages gebe ich vielleicht meinen Beruf auf und fange als Hoteldiener an.‹ Ja, tatsächlich. Na, also, eines Tages – gar nicht lange nach unserem Urlaub in der Schweiz – sagt mir doch fast genau denselben Satz einer unserer prominenten Stadträte. ›Eines Tages würde ich das gerne selber mal machen‹, sagt er und deutet auf die Gepäckstücke. ›Das wäre das richtige Leben für mich. Ich müsste mir um nichts mehr Sorgen machen.‹ Ich nehme an, er wollte einfach nur nett sein. Wollte andeuten, dass ich zu beneiden wäre. Da war ich ja noch jünger, da habe ich die Koffer nicht in der Hand behalten, ich habe sie auf dem Boden abgestellt, genau hier in diesem Aufzug, und ich nehme an, dass ich damals wirklich ein bisschen so aussah. Eben sorglos, wie der Herr meinte. Na, ich kann Ihnen sagen, da hat es mir aber wirklich gereicht. Ich meine, nicht das, was er gesagt hat, hat mich so wütend gemacht. Aber als er es zu mir sagte, da wurde mir auf einmal alles klar. Über einiges hatte ich nämlich schon eine ganze Weile nachgedacht. Und dann, das habe ich Ihnen ja erzählt, war ich gerade erst aus unserem kurzen Urlaub in Luzern gekommen, wo mir erst richtig die Augen aufgegangen sind. Na, und da dachte ich mir, jetzt ist es aber höchste Zeit, dass die Hoteldiener in dieser Stadt anfangen, die hier herrschende Einstellung zu ändern. In Luzern hatte ich nämlich etwas anderes gesehen, und ich dachte, na ja, was sich hier abspielt, ist wohl nicht so ganz das Wahre. Also habe ich mir den Kopf zerbrochen und ein paar Maßnahmen beschlossen, die ich persönlich ergreifen wollte. Natürlich wusste ich wahrscheinlich damals schon, wie schwierig das werden würde. Ich glaube, ich habe wohl schon vor all den Jahren begriffen, dass es für meine Generation vielleicht schon zu spät war. Dass schon zu viel geschehen war. Aber da dachte ich eben, wenn ich auch nur meinen kleinen Beitrag leisten kann und sich auch nur ein bisschen etwas ändert, dann wäre es wenigstens leichter für alle, die nach mir kommen. Also habe ich meine Maßnahmen ergriffen, und ich halte mich daran, seit der Stadtrat das damals zu mir gesagt hat. Und ich kann voller Stolz sagen, dass eine ganze Reihe von Hoteldienern in der Stadt meinem Beispiel gefolgt ist. Das heißt nicht, dass sie ganz genau nach derselben Methode arbeiten. Aber na ja, sagen wir, dass ihre Methoden mit meiner durchaus in Einklang stehen.«

»Ah ja. Und eine Ihrer Maßnahmen besteht darin, das Gepäck nicht abzustellen, sondern in der Hand zu behalten.«

»Das ist es, Sie haben mich ganz genau verstanden. Natürlich muss ich zugeben, dass ich damals, als ich meine eigenen Regeln aufgestellt habe, wesentlich jünger und kräftiger war, und ich nehme an, ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet, mit zunehmendem Alter auch schwächer zu werden. Schon komisch, aber mit so etwas rechnet man eben einfach nicht. Den anderen Hoteldienern ist es ganz ähnlich ergangen. Aber trotzdem versuchen wir, uns an das zu halten, was wir einmal beschlossen haben. Mit den Jahren sind wir eine richtig eingeschworene Gemeinschaft geworden; wir sind zu zwölft, der Rest von denen, die damals vor all den Jahren versucht haben, etwas zu ändern. Wenn ich jetzt irgendetwas davon zurücknehmen würde, dann hätte ich das Gefühl, die anderen im Stich zu lassen. Und wenn einer von ihnen etwas zurücknehmen würde, dann würde ich mich im Stich gelassen fühlen. Denn es steht außer Zweifel, dass in dieser Stadt ein gewisser Fortschritt erzielt worden ist. Es gibt immer noch viel zu tun, natürlich, aber wir haben es oft besprochen – wir treffen uns jeden Sonntagnachmittag im Ungarischen Café in der Altstadt, Sie können ja einmal mitkommen, es wäre uns eine große Freude, Sie bei uns zu haben –, na ja, wir haben uns über diese Dinge oft unterhalten, und wir sind uns alle einig: Wir können zweifelsohne sagen, dass sich in dieser Stadt, was die Einstellung uns gegenüber betrifft, einiges deutlich verbessert hat. Die Jüngeren, die nach uns kommen, die halten natürlich alles für selbstverständlich. Aber wir zwölf vom Ungarischen Café, wir wissen, dass wir etwas bewirkt haben, und wenn es auch nur ganz wenig ist. Wir würden uns wirklich sehr freuen, Sie einmal bei uns zu haben. Es wäre mir eine Freude, Sie unserer Gruppe vorzustellen. So förmlich wie früher geht es bei uns längst nicht mehr zu, und wir sind uns einig, dass wir gelegentlich unter besonderen Umständen auch Gäste an unseren Tisch bitten. Und um diese Jahreszeit ist es draußen bei der sanften Nachmittagssonne besonders schön. Wir haben unseren Tisch im Schatten, unter der Markise, mit Blick auf den Alten Platz. Es ist wirklich sehr schön, es gefällt Ihnen bestimmt. Aber um auf das zurückzukommen, was ich gerade erzählt habe, wir haben im Ungarischen Café viel über dieses Thema gesprochen. Ich meine, über diese alten Beschlüsse, die wir vor all den Jahren gefasst haben. Keiner von uns hat sich nämlich überlegt, was werden wird, wenn wir erst älter sind. Ich nehme an, wir waren so mit unserer Arbeit beschäftigt, dass wir nicht weiter als bis zum nächsten Tag gedacht haben. Vielleicht haben wir auch falsch eingeschätzt, wie lange es dauern würde, bis sich diese tief verwurzelten Einstellungen ändern. Aber so ist es nun mal. Ich bin so alt, wie ich bin, und mit jedem Jahr wird es schwieriger.«

Der Hoteldiener schwieg einen Augenblick, und trotz der körperlichen Anstrengung, der er ausgesetzt war, schien er ganz gedankenverloren. Dann sagte er:

»Ich sollte ganz ehrlich sein. Das ist nur fair. Als ich noch jünger war, als ich diese Regeln damals für mich aufstellte, habe ich immer bis zu drei Koffer getragen, egal wie groß oder schwer sie waren. Wenn ein Gast einen vierten Koffer hatte, habe ich den auf dem Boden abgestellt. Aber drei konnte ich immer bewältigen. Also, die Wahrheit ist, dass es mir vor vier Jahren gesundheitlich nicht so gut ging, und es fiel mir alles etwas schwer, und darüber haben wir dann auch im Ungarischen Café gesprochen. Na ja, schließlich waren sich meine Kollegen einig, dass ich so streng nun auch wieder nicht mit mir sein müsste. Meine Aufgabe wäre es doch nur, so haben sie zu mir gesagt, den Gästen einen Eindruck von dem zu vermitteln, was unsere Arbeit wirklich ausmacht. Ob nun zwei Gepäckstücke oder drei, die Wirkung wäre so ziemlich dieselbe. Ich sollte mein Minimum bei zwei Koffern ansetzen, und keinem wäre geschadet. Daran habe ich mich dann auch gehalten, aber ich weiß, es ist nicht so ganz das Wahre. Ich merke ja, dass es nicht annähernd dieselbe Wirkung hat, wenn die Leute mich jetzt beobachten. Ob man nun einen Hoteldiener sieht, der sich mit zwei Koffern müht, oder einen mit drei Koffern, Sie müssen doch wohl zugeben, dass das auch für das ungeübteste Auge ein beträchtlicher Unterschied ist. Ich weiß das, und ich sage es Ihnen ganz offen, es ist mir ganz schön schwergefallen, damit zu leben. Aber ich will noch einmal auf die eigentliche Sache zurückkommen. Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, warum ich Ihre zwei Koffer nicht abstellen möchte. Es sind ja nur zwei. Wenigstens ein paar Jahre lang werde ich zwei Koffer noch bewältigen können.«

»Na, das ist ja alles höchst lobenswert«, sagte ich. »Und den beabsichtigten Eindruck haben Sie auf mich ganz bestimmt gemacht.«

»Sie sollten wissen, dass ich nicht der Einzige bin, der gewisse Einschränkungen hinnehmen musste. Diese Dinge besprechen wir ständig im Ungarischen Café, und tatsächlich mussten wir alle gewisse Einschränkungen hinnehmen. Aber glauben Sie nur nicht, dass wir uns gestatten würden, weit von den einmal gesetzten Maßstäben abzurücken. Wenn wir das tun würden, dann wären all unsere Bemühungen während der vergangenen Jahre umsonst gewesen. Dann wären wir sehr schnell nur noch lächerliche Figuren. Die Leute auf der Straße würden sich über uns lustig machen, wenn sie uns am Sonntagnachmittag an unserem Tisch sitzen sehen. O nein, wir werden immer sehr streng mit uns sein, und Fräulein Hilde wird sicher bestätigen, dass unsere sonntäglichen Versammlungen in der Gemeinde einiges Ansehen genießen. Wie ich schon sagte, Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen. Das Café und auch der Platz sind an diesen sonnigen Nachmittagen wirklich sehr, sehr schön. Und manchmal bestellt der Besitzer des Cafés auch Zigeunergeiger, die dann auf dem Platz spielen. Auch bei dem Besitzer genießen wir übrigens allergrößte Hochachtung. Das Café ist nicht gerade groß, aber immer sorgt er dafür, dass genügend Platz da ist, damit wir bequem an unserem Tisch sitzen können. Sogar wenn einmal ganz viel Betrieb ist, sorgt er dafür, dass wir unseren Platz bekommen und ungestört sind. Sogar an den hektischsten Nachmittagen könnten wir an unserem Tisch alle gleichzeitig die Arme nach allen Seiten ausstrecken und würden niemandem in die Quere kommen. So große Hochachtung genießen wir bei dem Besitzer. Fräulein Hilde wird das alles sicher bestätigen.«

»Entschuldigung«, sagte ich, »aber wer ist denn dieses Fräulein Hilde, das Sie ständig erwähnen?«

Kaum hatte ich das gefragt, da merkte ich, dass der Hoteldiener über meine Schulter hinweg einen ganz bestimmten Punkt hinter mir fixierte. Ich drehte mich um und sah verblüfft, dass wir in dem Aufzug nicht allein waren. Eine kleine junge Frau in adretter Straßenkleidung stand hinter mir, in die äußerste Ecke gezwängt. Als sie sah, dass ich sie endlich bemerkt hatte, lächelte sie und trat einen Schritt vor.

»Tut mir leid«, sagte sie zu mir, »ich hoffe, Sie glauben nicht, dass ich Sie belauscht habe, aber ich habe natürlich mit angehört, was Gustav Ihnen da alles erzählt hat, und ich muss sagen, er war uns allen gegenüber ziemlich ungerecht. Ich meine, wenn er sagt, dass wir unsere Hoteldiener nicht achten. Natürlich achten wir sie – und unseren Gustav hier ganz besonders. Alle lieben ihn. Da ist ein offensichtlicher Widerspruch selbst in dem, was er Ihnen gerade erzählt hat. Wenn wir nämlich wirklich so wenig Hochachtung hätten, wie erklärt er dann das große Ansehen, das sie im Ungarischen Café genießen? Also wirklich, Gustav, das ist nicht sehr nett von Ihnen, dass Sie Mr Ryder ein so falsches Bild von uns vermitteln.«

Das alles war in eindeutig freundlichem Ton gesagt, aber der Hoteldiener schien wirklich beschämt. Er rückte ein wenig ab von uns, die schweren Koffer schlugen ihm dabei gegen die Beine, und verschüchtert schaute er weg.

»So, jetzt haben wir es ihm aber gezeigt«, sagte die junge Frau lächelnd. »Aber er ist wirklich einer der besten. Wir alle lieben ihn. Er ist unwahrscheinlich bescheiden, und deshalb würde er es Ihnen von allein nie sagen, aber die anderen Hoteldiener in der Stadt schauen alle zu ihm auf. Ja, wahrscheinlich wäre es nicht einmal übertrieben zu sagen, dass sie alle gewaltigen Respekt vor ihm haben. Manchmal sieht man sie sonntags nachmittags an ihrem Tisch sitzen, und wenn Gustav noch nicht eingetroffen ist, warten sie immer, ehe sie anfangen zu reden. Sie würden es nämlich respektlos finden, ohne ihn mit ihren Beratungen zu beginnen. Oft sieht man sie zu zehnt oder elft schweigend über ihrem Kaffee sitzen und warten. Allenfalls flüstern sie gelegentlich miteinander, als wären sie in der Kirche. Aber erst wenn Gustav da ist, entspannen sie sich und fangen an, sich zu unterhalten. Nur um Gustavs Ankunft zu erleben, lohnt es sich schon, zum Ungarischen Café zu gehen. Der Unterschied zwischen vorher und nachher ist wirklich verblüffend, das können Sie mir glauben. Den einen Moment sitzen sie alle noch stumm mit ihren mürrischen alten Gesichtern um den Tisch herum. Doch kaum erscheint Gustav, geht ein Geschrei und Gelächter los. Sie geben sich freundschaftliche Klapse, schlagen sich gegenseitig auf den Rücken. Manchmal tanzen sie sogar, ja tatsächlich, und zwar auf den Tischen. Sie haben einen besonderen ›Hoteldiener-Tanz‹, stimmt’s, Gustav? Sie haben richtig Spaß zusammen. Aber erst, wenn Gustav erschienen ist. Aber das würde er Ihnen von allein natürlich nie sagen, dazu ist er viel zu bescheiden. Wir alle hier in der Stadt lieben ihn.«

Während die junge Frau sprach, muss sich Gustav wohl immer weiter weggedreht haben, denn als ich wieder zu ihm hinsah, stand er mit dem Rücken zu uns vor der gegenüberliegenden Ecke des Aufzuges. Unter dem Gewicht der Koffer sackte er in den Knien ein, und auch seine Schultern zitterten. Den Kopf hatte er so tief nach vorn gebeugt, dass er für uns hinter seinem Körper praktisch versteckt war, doch ob das nun auf seine Verschämtheit oder die schiere körperliche Anstrengung zurückzuführen war, ließ sich schwer sagen.

»Entschuldigen Sie, Mr Ryder«, sagte die junge Frau. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Hilde Stratmann. Ich soll dafür sorgen, dass während Ihres Aufenthaltes hier bei uns alles reibungslos verläuft. Ich bin so froh, dass Sie es schließlich doch noch geschafft haben. Alle haben hier heute Vormittag so lange wie möglich gewartet, aber viele hatten wichtige Termine, und so musste einer nach dem anderen gehen. Also ist es meine Aufgabe, Ihnen als kleine Angestellte des Städtischen Kulturvereins zu sagen, wie sehr wir uns alle durch Ihren Besuch geehrt fühlen.«

»Und ich habe mich sehr über die Einladung gefreut. Aber wegen heute Vormittag. Sagten Sie gerade …«

»Ach, machen Sie sich wegen heute Vormittag bitte keine Gedanken, Mr Ryder. Das hat niemand übel genommen. Hauptsache, Sie sind jetzt hier. Worin ich Gustav übrigens voll und ganz zustimme, Mr Ryder, ist in dem, was er über die Altstadt gesagt hat. Dieser Teil der Stadt ist wirklich sehr sehenswert, und ich empfehle allen Touristen einen Besuch dort. Die Atmosphäre ist überwältigend, es gibt eine Fülle von Straßencafés, Handwerksbetrieben, Restaurants. Man kommt bequem zu Fuß von hier aus hin, die Gelegenheit sollten Sie also wahrnehmen, sobald Ihr Terminplan es erlaubt.«

»Das werde ich mir bestimmt nicht entgehen lassen. Ach übrigens, Miss Stratmann, was den Terminplan betrifft …« Ich redete absichtlich nicht weiter, weil ich hoffte, die junge Frau würde eine Bemerkung über ihre Vergesslichkeit machen, vielleicht in ihren Aktenkoffer greifen und ein Blatt Papier oder eine Mappe hervorziehen. Doch obwohl sie recht schnell das Wort ergriff, sagte sie nur:

»Es ist wirklich ein sehr straffer Terminplan. Aber ich hoffe doch, es ist zu bewältigen. Wir haben versucht, ihn auf das Notwendige zu beschränken. Natürlich hat es sich nicht vermeiden lassen, dass wir völlig überrannt wurden – von den Gesellschaften und Vereinen der Stadt, von den Medien, von allen. Sie haben eine riesige Anhängerschaft bei uns, Mr Ryder. Viele hier sind überzeugt, dass Sie nicht nur einer der besten Pianisten der heutigen Zeit sind, sondern vielleicht sogar der größte des Jahrhunderts. Aber wir denken, wir haben es schließlich geschafft, die Termine auf das absolute Minimum zu beschränken. Ich hoffe, es findet alles Ihre Zustimmung.«

Genau in dem Moment öffneten sich die Aufzugtüren, und der ältliche Hoteldiener machte sich auf den Weg den Korridor hinunter. Unter dem Gewicht der Koffer schlurfte er mit den Füßen über den Teppich, Miss Stratmann und ich hinter ihm her, und wir mussten langsam gehen, um ihn nicht zu überholen.

»Ich kann nur hoffen«, sagte ich zu ihr, während wir weitergingen, »dass sich niemand gekränkt gefühlt hat, ich meine, weil ich nicht für alle Zeit haben werde.«

»O nein, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wir alle wissen, warum Sie gekommen sind, und es will sich keiner nachsagen lassen, er hätte Sie irgendwie abgelenkt. Von zwei wirklich bedeutenden gesellschaftlichen Ereignissen abgesehen, haben übrigens alle Punkte Ihres Programms mehr oder weniger direkt mit Donnerstagabend zu tun. Aber Sie haben ja inzwischen Gelegenheit gehabt, sich mit Ihrem Terminplan vertraut zu machen.«

Es war etwas an der Art, wie sie diesen letzten Satz sagte, das es für mich schwierig machte, offen und ehrlich zu antworten. Deshalb brummelte ich: »Ja, natürlich.«

»Es ist wirklich ein vollgepackter Terminplan. Aber für uns war Ihr Wunsch ausschlaggebend, so viel wie möglich aus erster Hand zu erfahren. Was ich sehr lobenswert finde, wenn ich das sagen darf.«

Der ältliche Hoteldiener vor uns blieb bei einer Tür stehen. Endlich stellte er meine Koffer ab und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Als wir bei ihm waren, nahm Gustav die Koffer wieder auf, ging schwankend in das Zimmer und sagte: »Bitte, treten Sie ein.« Das wollte ich gerade tun, als mich Miss Stratmann mit der Hand am Arm berührte.

»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte sie. »Aber ich möchte mich bei dieser Gelegenheit doch noch vergewissern, ob es in Ihrem Terminplan irgendetwas gibt, mit dem Sie nicht so ganz einverstanden sind.«

Die Tür schlug zu, und wir standen davor auf dem Korridor.

»Also, Miss Stratmann«, sagte ich, »im Großen und Ganzen scheint es mir … ein sehr ausgewogenes Programm zu sein.«

»Gerade weil uns daran gelegen war, Ihre Wünsche zu berücksichtigen, haben wir ein Treffen mit der Bürgerselbsthilfe arrangiert. Die Mitglieder dieser Organisation sind ganz normale Leute aus allen Gesellschaftsschichten, die das Bewusstsein zusammengeführt hat, dass sie Opfer der gegenwärtigen Krise sind. Sie werden von den Betroffenen selbst hören können, was manche durchmachen mussten.«

»Aha. Das wird bestimmt sehr hilfreich sein.«

»Und wie Sie sicher gesehen haben, konnten wir auch Ihrem Wunsch entsprechen, mit Herrn Christoff persönlich zusammenzutreffen. Unter den Umständen haben wir vollstes Verständnis für diesen Wunsch. Herr Christoff seinerseits ist hocherfreut, wie Sie sich ja denken können. Er hat sich dieses Treffen mit Ihnen natürlich auch gewünscht, wofür er seine ganz eigenen Gründe hat. Ich meine, er wird mit seinen Freunden alles nur Erdenkliche tun, um Sie von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Das ist natürlich alles Unsinn, aber ich bin sicher, es wird Ihnen dabei helfen, sich einen ungefähren Eindruck von dem zu verschaffen, was sich hier im Augenblick tut. Sie sehen sehr erschöpft aus, Mr Ryder. Ich will Sie auch gar nicht weiter aufhalten. Hier ist meine Karte. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Fragen oder Probleme auftreten.«

Ich bedankte mich und sah ihr hinterher, als sie den Korridor wieder hinunterging. Als ich mein Zimmer betrat, war ich in Gedanken immer noch bei dem Gespräch und bei der Frage, wie ich das Ganze wohl zu verstehen hätte, deshalb dauerte es auch eine Weile, bis ich Gustav wahrnahm, der neben dem Bett stand.

»Ah, da sind Sie ja.«

Nach der dunklen Holztäfelung überall im Gebäude überraschte mich der helle, moderne Eindruck des Zimmers. Die Wand mir gegenüber bestand vom Boden bis zur Decke fast ganz aus Glas, und Sonnenstrahlen drangen freundlich durch die Lamellen der vertikalen Jalousie, die vor dem Fenster hing. Meine Koffer standen nebeneinander beim Schrank.

»Also wenn Sie mir noch einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit schenken«, sagte Gustav, »dann kann ich Ihnen noch einiges hier erklären. Damit Ihr Aufenthalt hier so bequem wie nur möglich wird.«

Ich ging mit Gustav im Zimmer umher, während er mich auf Schalter und andere Einrichtungen hinwies. Dann führte er mich auch noch ins Badezimmer, wo er seine Erklärungen fortsetzte. Ich hatte ihn schon unterbrechen wollen, so wie ich das immer mache, wenn mir ein Hoteldiener das Zimmer zeigt, doch etwas an der Eilfertigkeit, mit der er sich seiner Aufgabe widmete, etwas an seinen Bemühungen, einer Sache einen persönlichen Anstrich zu geben, die er viele Male am Tag erledigte, rührte mich sehr, und so brachte ich es nicht fertig, ihm einfach ins Wort zu fallen. Und dann, während er mit seinen Erklärungen fortfuhr und mit der Hand auf Verschiedenes im Zimmer deutete, ging mir durch den Kopf, dass bei all seiner Routiniertheit und bei all seinem Bemühen, es mir bequem zu machen, etwas wieder die Oberhand gewonnen hatte, was ihn schon den ganzen Tag beschäftigen musste. Mit anderen Worten, er machte sich wieder einmal Sorgen um seine Tochter und ihren kleinen Sohn.

Als ihm das Arrangement vor einigen Wochen vorgeschlagen worden war, hatte Gustav mit nichts anderem gerechnet, als dass das Ganze für ihn ein reines Vergnügen sein würde. An einem Nachmittag in der Woche sollte er mit seinem Enkel spazieren gehen, sodass Sophie ein bisschen Zeit für sich hätte. Tatsächlich hatte sich das Arrangement von Anfang an als großer Erfolg erwiesen, und innerhalb weniger Wochen hatten Großvater und Enkel zu einer für beide Seiten höchst angenehmen Gewohnheit gefunden. An den Nachmittagen, an denen es nicht regnete, begannen sie ihre Runde stets im Park bei den Schaukeln, wo Boris seinen neuesten Wagemut unter Beweis stellen konnte. Wenn es regnete, fingen sie ihren Spaziergang beim Schiffsmuseum an. Dann gingen sie durch die engen Straßen der Altstadt, schauten in verschiedene Geschenkartikelläden hinein und blieben vielleicht auf dem Alten Platz stehen, um einem Pantomimen oder Akrobaten zuzusehen. Da man den ältlichen Hoteldiener in der Gegend recht gut kannte, waren sie nie lange unterwegs, ohne dass sie jemand grüßte, und Gustav bekam viele Komplimente zu seinem Enkel zu hören. Als Nächstes gingen sie dann zu der alten Brücke, um zuzuschauen, wie die Boote darunter hindurchfuhren. Der Rundgang endete dann immer bei einem ihrer Lieblingscafés, wo sie Kuchen oder Eis bestellten und auf Sophies Rückkehr warteten.

Anfangs hatten diese kleinen Ausflüge Gustav mit immenser Genugtuung erfüllt. Doch da er Tochter und Enkel nun weit häufiger sah, musste er bald gewisse Dinge zur Kenntnis nehmen, die er sonst wohl immer weiter verdrängt hätte, bis es ihm nicht mehr möglich gewesen wäre, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Da war zunächst einmal das Problem von Sophies Stimmungslage. Während der ersten Wochen ihres Arrangements hatte sie sich fröhlich von ihnen verabschiedet und war zum Einkaufen ins Stadtzentrum geeilt oder zu einem Treffen mit Freunden. Doch in letzter Zeit schlich sie immer so lustlos davon, als sei sie sich ganz fremd geworden. Außerdem gab es deutliche Anzeichen dafür, dass sich die Probleme, welcher Art sie auch sein mochten, allmählich auf Boris auszuwirken begannen. Zwar war sein Enkel meistens so gut gelaunt wie eh und je. Doch dem Hoteldiener war aufgefallen, dass dann und wann, besonders wenn die Rede aufs Familienleben kam, eine Wolke den Gesichtsausdruck des kleinen Jungen verdüsterte. Vor zwei Wochen war dann plötzlich etwas geschehen, was dem ältlichen Hoteldiener nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Er ging gerade mit Boris an einem der zahlreichen Cafés der Altstadt vorbei, als er plötzlich seine Tochter in dem Café sitzen sah. Wegen der Markise lag die Glasfront ganz im Schatten, und so konnte er ungehindert bis in den hinteren Teil des Lokals schauen, und da sah er Sophie ganz allein sitzen, eine Tasse Kaffee vor sich, einen Ausdruck tiefster Niedergeschlagenheit auf dem Gesicht. Die Erkenntnis, dass sie nicht einmal die Kraft aufgebracht hatte, die Altstadt zu verlassen, ganz zu schweigen von ihrem Gesichtsausdruck, hatte den Hoteldiener schwer erschüttert – und zwar so sehr, dass eine ganze Weile verging, ehe ihm einfiel, dass er Boris ablenken sollte. Es war schon zu spät: Boris war dem Blick des Hoteldieners gefolgt und hatte seine Mutter klar und deutlich gesehen. Der Junge hatte sofort wieder weggeschaut, und sie hatten ihren Spaziergang fortgesetzt, ohne die Sache auch nur einmal zu erwähnen. Nur Minuten später hatte Boris wieder gute Laune, aber dennoch hatte der Zwischenfall den Hoteldiener sehr beunruhigt, und er hatte seitdem viele Male daran denken müssen. Tatsächlich war die Erinnerung an diesen Vorfall der Grund für seinen gedankenverlorenen Ausdruck in der Hotelhalle und der Grund dafür, dass er sich auch jetzt, während er mir das Zimmer zeigte, wieder Sorgen machte.

Der alte Mann war mir inzwischen sehr sympathisch, und ich verspürte eine Welle des Mitgefühls für ihn. Offensichtlich hatte er über allerlei Dinge lange Zeit gegrübelt und lief jetzt Gefahr, seine Sorgen unberechtigte Ausmaße annehmen zu lassen. Ich zog in Erwägung, die ganze Angelegenheit mit ihm zu besprechen, doch als Gustav mit seinem üblichen Vortrag am Ende war, überkam mich wieder die Müdigkeit, die ich mit einigen Unterbrechungen schon gefühlt hatte, seit ich aus dem Flugzeug gestiegen war. Ich beschloss, später mit ihm über die Sache zu reden, und entließ ihn mit einem großzügigen Trinkgeld.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da fiel ich, so wie ich war, auf das Bett und starrte eine ganze Weile mit leerem Blick an die Decke. Zuerst kreisten in meinem Kopf nur die Gedanken an Gustav und seine diversen Probleme. Doch während ich so dalag, wurde mir bewusst, dass ich wieder an das Gespräch mit Miss Stratmann dachte. Ganz offensichtlich erwartete diese Stadt mehr von mir als nur ein schlichtes Konzert. Doch als ich versuchte, mich an einige grundlegende Einzelheiten dieser Tournee zu erinnern, wollte mir das nicht gelingen. Mir wurde klar, dass es sehr dumm von mir gewesen war, nicht viel offener mit Miss Stratmann gesprochen zu haben. Wenn ich meinen Terminplan nicht erhalten hatte, dann war das ihr Fehler, nicht meiner, und ich hatte mich ganz ohne Grund so entschuldigend und vorsichtig verhalten.

Mir fiel der Name Brodsky wieder ein, und jetzt hatte ich das deutliche Gefühl, dass ich vor gar nicht allzu langer Zeit etwas über ihn gehört oder gelesen haben musste. Und dann kam mir plötzlich eine kurze Szene wieder ins Gedächtnis, die sich während des langen Fluges zugetragen hatte, den ich gerade hinter mir hatte. Ich hatte in dem abgedunkelten Flugzeug gesessen, und während die anderen Passagiere um mich herum schliefen, hatte ich unter dem schwachen Strahl der Leselampe den Terminplan für diese Tournee studiert. Einmal war der Mann neben mir aufgewacht, und nach ein paar Minuten hatte er einige witzige Bemerkungen gemacht. Tatsächlich hatte er sich sogar, so fiel mir jetzt wieder ein, zu mir herübergelehnt und mir eine kleine Quizfrage gestellt, irgendetwas über die Fußballweltmeisterschaft. Ich wollte mich von der Analyse meines Terminplans nicht ablenken lassen, und so fertigte ich ihn recht kühl ab. An all das erinnerte ich mich jetzt ganz deutlich. Ich erinnerte mich sogar an die Struktur des dicken grauen Papiers, auf das der Terminplan gedruckt war, an den trüben gelben Fleck, der von der Leselampe auf das Papier geworfen wurde, an das Dröhnen der Flugzeugmotoren – doch sosehr ich mich auch bemühte, ich wusste nichts mehr von dem, was auf dem Blatt gestanden hatte.

Kurze Zeit später spürte ich dann, wie mich meine Müdigkeit überwältigte, und ich entschied, dass es keinen Zweck hatte, mir weiter Sorgen zu machen, bevor ich nicht ein wenig geschlafen hatte. Denn aus Erfahrung wusste ich ganz genau, wie viel klarer man die Dinge sieht, wenn man sich etwas ausgeruht hat. Danach könnte ich dann Miss Stratmann aufsuchen, das Missverständnis aus dem Weg räumen, eine Kopie meines Terminplans in Empfang nehmen und mit ihr alles klären, was noch einer Klärung bedurfte.

Ich war gerade dabei einzudösen, als mich plötzlich etwas veranlasste, die Augen noch einmal zu öffnen und wieder an die Decke zu starren. Eine ganze Weile musterte ich die Decke sehr aufmerksam, dann setzte ich mich im Bett auf und sah mich um, das Gefühl des Wiedererkennens wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Das Zimmer, in dem ich mich befand, so erkannte ich, war haargenau dasselbe Zimmer, das mir während der zwei Jahre, die ich mit meinen Eltern im Haus meiner Tante an der englisch-walisischen Grenze verbracht hatte, als Schlafzimmer gedient hatte. Ich sah mich noch einmal in dem Zimmer um, dann legte ich mich wieder hin und starrte weiter an die Decke. Sie war vor Kurzem frisch getüncht und gestrichen worden, sie war jetzt größer, die Kranzleisten waren entfernt worden, die Verzierungen um die Deckenleuchte herum waren ganz andere. Aber es war unverkennbar dieselbe Decke, an die ich damals von meinem schmalen quietschenden Bett aus so oft gestarrt hatte.

Ich drehte mich auf die Seite und schaute hinunter auf den Fußboden neben dem Bett. Genau dort, wo ich mit den Füßen aufkommen würde, hatte das Hotel einen dunklen Bettvorleger platziert. Mir fiel ein, dass damals dasselbe Stückchen Fußboden ein abgenutzter grüner Vorleger bedeckt hatte, auf dem ich mehrmals in der Woche in sorgfältiger Formation meine Kunststoffsoldaten aufzubauen pflegte – insgesamt über einhundert, die ich in zwei Keksdosen aufbewahrte. Ich streckte meine Hand aus und ließ meine Finger über den Hotelvorleger gleiten, und dabei kam mir ein Nachmittag ins Gedächtnis, als ich in meine Kunststoffsoldaten-Welt versunken war und unten plötzlich ein lauter Streit ausbrach. Die Stimmen waren so laut und erbost, dass sogar ich als sechs- oder siebenjähriges Kind begriff, dass dies kein gewöhnlicher Streit war. Doch ich hatte mir eingeredet, es sei weiter nichts, und so legte ich meine Wange wieder auf den grünen Vorleger und ließ meine Schlachtpläne weitergedeihen. Ungefähr in der Mitte dieser grünen Matte befand sich ein Riss, der für mich immer Anlass beträchtlicher Verärgerung gewesen war. Doch an dem Nachmittag, als die Stimmen unten weiterwüteten, kam mir zum ersten Mal in den Sinn, dass dieser Riss als eine Art Dickicht dienen könnte, durch das sich meine Soldaten schlagen müssten. Diese Entdeckung – dass nämlich der Schönheitsfehler, der meine Fantasiewelt immer zu gefährden drohte, in das Spiel einbezogen werden könnte – war für mich außerordentlich aufregend, und dieses »Dickicht« sollte ein Schlüsselelement in den vielen Schlachten werden, die ich danach noch inszenierte.

All dies fiel mir wieder ein, während ich weiter an die Decke starrte. Natürlich war mir die ganze Zeit vollkommen bewusst, dass überall im Zimmer gewisse Dinge verändert oder entfernt worden waren. Doch die Erkenntnis, dass ich mich nach all der langen Zeit wieder in meinem Kindheitsrefugium befand, führte dazu, dass sich ein tiefes Gefühl des Friedens über mich senkte. Ich schloss die Augen, und für einen Augenblick war mir so, als sei ich wieder von all den alten Möbeln umgeben. In der Ecke hinten zu meiner Rechten der große weiße Schrank mit dem zerbrochenen Türknauf. Das Bild meiner Tante mit der Kathedrale von Salisbury an der Wand am Kopfende meines Bettes. Das Nachttischchen mit seinen zwei winzigen Schubladen, in denen meine kleinen Schätze und geheimen Besitztümer lagen. Die ganze Anspannung des Tages – der lange Flug, das Durcheinander wegen meines Terminplans, Gustavs Probleme – schien zu weichen, und ich spürte, wie ich in einen tiefen und erschöpften Schlaf sank.