Die komplette Bestseller-Saga in einem Band

Band 1: Stuttgart, 1903: Als Tochter eines Schokoladenfabrikanten führt Judith Rothmann ein privilegiertes Leben im Degerlocher Villenviertel. Doch die perfekte Fassade täuscht. Judiths Leidenschaft gehört der Herstellung von Schokolade, jede freie Minute verbringt sie in der Fabrik und entwickelt Ideen für neue Leckereien. Unbedingt möchte sie einmal das Unternehmen leiten. Aber ihr Vater hat andere Pläne und fädelt eine vorteilhafte Heirat für sie ein – noch dazu mit einem Mann, den sie niemals lieben könnte. Da kreuzt der charismatische Victor Rheinberger, der sich in Stuttgart eine neue Existenz aufbauen will, ihren Weg ...


Band 2: Stuttgart, 1926: Die junge, abenteuerlustige Serafina zieht zu ihrem Halbbruder Victor in dessen prächtiges Familienanwesen, das alle nur »Die Schokoladenvilla« nennen. Denn die Rothmanns sind weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt für ihre feinen Schokoladenkreationen, von denen sich auch Serafina nur zu gern verführen lässt. Mit ganzem Herzen stürzt sie sich in die Verlockungen der aufregenden neuen Zeit, und als sie den attraktiven Anton kennenlernt, verliebt sie sich Hals über Kopf. Doch Anton ist im Begriff, sich mit einer anderen zu verloben. Derweil wird das Schokoladenimperium der Rothmanns durch heimtückische Sabotageakte bedroht – und Serafina von einem dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit eingeholt ...


Band 3: Stuttgart, Sommer 1936: Die junge Chocolatière Viktoria muss ihre Lehrzeit in Frankreich abbrechen, weil die heimische Schokoladenmanufaktur dringend ihre Unterstützung braucht. Die Zeiten sind unsicher, man will die Familie Rothmann aus der Leitung ihres Unternehmens drängen. Noch während sich Viktoria und ihre Mutter Judith mit allen Mitteln wehren, taucht der Schokoladenunternehmer Andrew Miller in Stuttgart auf. Der gutaussehende Amerikaner bringt nicht nur Viktorias Gefühlsleben durcheinander, er bietet den Rothmanns auch einen Ausweg an. Doch ist er wirklich der, für den er sich ausgibt? Als die Ereignisse sich überstürzen, drängt zudem ein lang gehütetes Familiengeheimnis ans Licht …

Die Autorin:

Maria Nikolai liebt historische Stoffe, zarte Liebesgeschichten und Schokolade. Mit Die Schokoladenvilla, ihrem Debüt rund um die Stuttgarter Fabrikantenfamilie Rothmann, schrieb sie sich in die Herzen ihrer Leserinnen: Alle drei Bände der opulenten Saga standen monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Maria Nikolai

Die Schokoladenvilla

Drei Romane in einem Band


Die Schokoladenvilla

Die Schokoladenvilla – Goldene Jahre

Die Schokoladenvilla – Zeit des Schicksals

Maria Nikolai

Die Schokoladenvilla

Zeit des Schicksals

DEN VERFÜHRUNGEN DIESER WELT

1. Kapitel

Die Bonbon- und Schokoladenfabrik Rothmann in Stuttgart, Ende Januar 1903

Das Glöckchen der Eingangstür gab sein vertrautes, helles Bimmeln von sich, als Judith Rothmann das Ladengeschäft der Zuckerwarenfabrikation ihres Vaters betrat. Sorgfältig schloss sie die Tür hinter sich und streifte ihre nassen Stiefel flüchtig auf dem dafür vorgesehenen Teppich ab. Das Wetter war wirklich furchtbar. Wind und Nebel, dazu kam der Regen, und das seit Tagen.

Doch kaum war die unwirtliche Außenwelt ausgesperrt, versöhnte sie der unverwechselbare Duft von Schokolade und Zuckerwerk, der sie im Laden umfing. Ihre Laune stieg. Mit raschen Schritten durchmaß sie den mit Spiegeln, Goldleisten und reichlich Stuck ausgestatteten Raum und ließ ihren Blick routiniert über die Auslagen schweifen.

Unzählige feine Köstlichkeiten präsentierten sich auf der blank polierten Verkaufstheke und in den weiß lackierten Vitrinen entlang der Wände. Wo man auch hinsah, standen Schalen und Etageren, gläserne Bonbonnieren und kunstvoll gestaltete Dosen mit verführerischem Inhalt. Schokoladeumhülltes Konfekt aus getrockneten Früchten oder Marzipan fand sich neben schokoladeüberzogenen Zuckerstäbchen, verschiedenste Sorten Tafelschokolade neben allerlei Arten von Bonbons. Eine exklusive Auswahl Rothmann’scher Leckereien wartete, sorgsam auf heller Spitze in hübsch bemalten Holzkästchen arrangiert, auf die gebotene Aufmerksamkeit.

An diesem Donnerstagnachmittag war der Laden gut besucht. Während Judith umherging und hier und da einige Schalen neu arrangierte, steckte sie sich heimlich ein Stückchen ihres Lieblingskonfekts in den Mund und genoss die herbe Süße der zart schmelzenden, dunklen Schokolade mit Beerenfüllung. Nebenbei taxierte sie unauffällig die Kundschaft.

Ein Herr im vornehmen Anzug hatte seinen Hut abgenommen und suchte offensichtlich ein passendes Präsent für eine nachmittägliche Visite. Möglicherweise wollte er seine Angebetete entzücken, denn er entschied sich für eine Mischung feiner Pralinés und einige filigrane, rot gefärbte Zuckerröschen. Neben ihm standen zwei Mädchen im Backfischalter und beugten sich kichernd über eine Silberschale mit bunt gemischten Dragees. Einen Tresen weiter ließen sich drei in teure Seidenkostüme gekleidete Damen eine Auswahl des Besten zeigen, was das Haus zu bieten hatte, während eine Mutter Mühe hatte, trotz der tatkräftigen Hilfe ihrer Gouvernante die lautstark geäußerten, überbordenden Wünsche ihrer vier Kinder zu zügeln.

Kommenden Sommer sollten wir Gefrorenes verkaufen, dachte Judith beim Anblick der stürmischen Rasselbande und beschloss, ihren Vater darauf anzusprechen. Sie hatte kürzlich ein gebrauchtes Rezeptbuch von Agnes Marshall erstanden und fasziniert von der darin beschriebenen Eismaschine gelesen, mit deren Hilfe Milch, Rahm, Zucker und Aromen zu einer kühlen Creme verarbeitet wurden. Die zahlreichen Zubereitungsideen der Engländerin hatte sie in ihrer Fantasie längst weiterentwickelt und sah die Firma Wilhelm Rothmann bereits als ersten Hersteller von Quitten-, Ananas-, Vanille- und vor allem Schokoladeneis in Stuttgart. Vielleicht würde ihr Vater gar zum Hoflieferanten bestellt?

Judith war stolz auf das, was ihre Familie erreicht hatte. Und es war ihr ureigenes Metier. Sobald sie in die Welt der Schokolade eintauchte, sprudelte sie vor Eifer und Einfällen. Insgeheim hoffte sie darauf, eines Tages die Geschicke der Rothmann’schen Fabrik mitbestimmen zu dürfen, auch wenn ihr Vater sämtliche dahin gehende Andeutungen stets als unsinniges Weibergeschwätz abtat. Seiner Meinung nach hatten Frauen ihren Platz im Hintergrund, sollten den Haushalt führen und die Kinder erziehen. Doch Judith war nicht entgangen, dass dies keineswegs eine unumstößliche Einstellung sein musste. In Städten wie München oder Berlin drängten Frauen mehr und mehr in kaufmännische Geschäfte. Warum sollte das nicht auch in Stuttgart möglich sein?

Unterdessen hatte sie ihren Rundgang fortgesetzt und wandte sich schließlich an eine der drei Verkäuferinnen, welche in schwarzen Kleidern und frisch gestärkten weißen Schürzen die Kunden bedienten.

»Fräulein Antonia, empfehlen Sie den Kunden heute unbedingt auch die frischen Pfefferminzplätzchen. Am besten legen Sie die Schächtelchen direkt auf den Verkaufstischen aus.«

»Sehr wohl, gnädiges Fräulein«, antwortete das Mädchen und machte sich sofort daran, den Auftrag auszuführen.

Unterdessen hatte die Mutter samt Gouvernante und Kinderschar ihren Einkauf beendet und schickte sich an, den Laden zu verlassen. In der Eingangstür kam es zu einer kleinen Rangelei, da jedes der Kinder als erstes hinauswollte. Die Gouvernante, beladen mit unzähligen kleinen Päckchen, wurde dabei unsanft gestoßen und ließ im Taumeln einen Teil ihrer Last fallen. Während sie versuchte, sich zu fangen, stolperte das kleinste der Geschwister über eine der Schachteln, schlug der Länge nach auf den gefliesten Boden und brach sofort in heftiges Geschrei aus.

»Willst du wohl still sein!«, entfuhr es der Gouvernante, während die Mutter lediglich über die Schulter sah und ungerührt den Rest ihres Trosses ins Freie schob. Das Heulen wurde lauter, der Junge lag noch immer auf dem Boden, die Gouvernante zischte eine weitere Ermahnung, rappelte sich auf und machte sich daran, die Päckchen einzusammeln.

Damit die Situation nicht weiter eskalierte, schnappte sich Judith ein Quittenbonbon, gab es dem weinenden Buben und half ihm auf. Gleichzeitig wies sie die Verkäuferin Trude an, der Gouvernante mit den am Boden liegenden Geschenkkartons zu helfen, und schloss schließlich erleichtert die Tür, als alle hinaus waren.

Die übrigen Kunden hatten das Malheur teils pikiert, überwiegend aber amüsiert verfolgt und widmeten sich nun wieder ihren eigenen Wünschen. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Judith von den Angestellten und trat durch eine Verbindungstür in ein geräumiges Treppenhaus, welches das Ladengeschäft mit der Fabrik verband.

Hier begann das pulsierende Innenleben des Unternehmens, ein Zauberreich aus Kakao, Zucker und Gewürzen, das Judith liebte, seit sie als Kind zum ersten Mal mit fasziniertem Staunen die Schokoladenfabrik betreten hatte. Zugleich spürte sie ein ungewohntes Unbehagen in der Magengegend.

Bereits beim Frühstück hatte ihr Vater anklingen lassen, am Abend etwas Wichtiges mit ihr besprechen zu müssen, und Judith fragte sich seither, worum es sich wohl handeln könnte. Derart vage Andeutungen waren untypisch für ihn, und weil ihre unruhige Neugier ständig größer wurde, hatte sie beschlossen, ihn gleich im Comptoir der Firma aufzusuchen. Vielleicht gab er ja schon etwas preis, auch wenn sie wusste, dass er private Visiten zu Geschäftszeiten nicht schätzte.

Die mahnende Stimme in ihrem Inneren ignorierend, stieg sie entschlossen die Stufen in den oberen Stock des Verkaufsgebäudes hinauf, wo sich die Büroräume des Unternehmens befanden.

Geschäftige Stille begrüßte Judith, als sie das Comptoir betrat. An Schreibpulten aus lackiertem Eichenholz arbeiteten über ein Dutzend Herren in Anzug und Krawatte. Konzentriert führten sie Buch über die Geschäfte und Waren der Schokoladenfabrik. Hier roch es nach Tinte und Papier, nach Politur, Bohnerwachs und dem Eau de Cologne der Angestellten. Als diese Judiths Anwesenheit bemerkten, eilte einer von ihnen auf sie zu.

»Was kann ich für Sie tun, Fräulein Rothmann?«

»Ist mein Vater in seinem Bureau?«

»Gewiss. Ich gebe ihm Bescheid.«

»Das ist nicht nötig. Ist er allein?«

»Im Augenblick ist niemand bei ihm, gnädiges Fräulein.«

Judith nickte. Während der Herr an seinen Platz zurückkehrte, ging sie zu einem abgeteilten Raum, der am gegenüberliegenden Ende des Comptoirs lag, klopfte an die mit buntem Glas filigran verzierte Tür und trat ein.

Ihr Vater stand am Fenster und sah hinaus auf die Straße vor der Fabrik. Als er Judith bemerkte, drehte er sich abrupt um, so, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt.

»Judith!« Er klang unwirsch. »Was willst du hier?« Rasch kehrte er hinter seinen imposanten, akkurat aufgeräumten Schreibtisch zurück, auf dessen Platte ein aufgeschlagenes Kontobuch lag. »Haben deine Brüder wieder etwas angestellt?«

»Nein, Herr Vater«, begann Judith, vorsichtig lächelnd. »Diesmal nicht.«

»Dann wäre es gut, du würdest nach ihnen sehen, bevor etwas passiert.«

»Keine Sorge, Robert hat ein Auge auf sie, Herr Vater.« Der Hausknecht der Familie hatte ihre achtjährigen, umtriebigen Zwillingsbrüder mit auf einen Botengang genommen. »Ich bin hier, weil ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte«, setzte Judith an. Sie hoffte, ihm durch ein unbefangenes Gespräch entlocken zu können, was er ihr denn so Wichtiges zu sagen hatte.

»Ich habe jetzt keine Zeit«, erwiderte ihr Vater und nahm einen Bleistift zur Hand. »Am besten gehst du gleich nach Hause. Oder hilfst beim Vorbereiten der Musterpäckchen für die Reisenden. Wir reden dann heute Abend.«

»Aber ich halte es für wichtig.« Judith ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Sie sind doch immer auf der Suche nach neuen Verkaufsartikeln, nicht wahr?«

»Und dazu hast du wieder einmal etwas beizutragen?«

Judith überhörte seinen gereizten Unterton. »Ja, wenn Sie erlauben. Es ist zwar noch ein bisschen früh im Jahr, aber manche Dinge müssen gut geplant werden. Das sagen Sie uns doch immer wieder, Herr Vater. Und deshalb habe ich mir überlegt, ob es nicht gut wäre, im Sommer Gefrorenes anzubieten.«

Ihr Vater lachte spöttisch. »Das verstehst du unter wichtig? Sei so gut, Judith, und lass mich meine Arbeit machen. Hier läuft es drunter und drüber. Da kann ich mir nicht über Gefrorenes Gedanken machen.«

»Manche Ideen kann man nicht aufschieben«, beharrte Judith. »Gerade waren Kinder im Laden, die würden so etwas mögen. Man müsste natürlich vieles bedenken, die Kühlmöglichkeiten und den Transport, aber …«

»Ach, sei doch bitte still.« Ihr Vater wurde ungeduldig. »Sie mag überlegenswert sein, deine Idee, aber mir steht hier das Wasser bis zum Hals. Mach dich auf den Weg nach Hause. Am besten, ich lasse Theo kommen, er soll dich fahren. Und über den Sommer wirst du ohnehin anderes zu tun haben, als dich um die Herstellung von Gefrorenem zu kümmern.«

Judith horchte auf. »Wie darf ich Sie verstehen, Herr Vater?«

»Da gibt es nichts zu verstehen.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Du weißt wohl selbst am besten, was ein Vater von seiner erwachsenen Tochter erwarten kann. Deshalb wirst du bald damit beschäftigt sein, deine Aussteuer zu vervollständigen.«

Einen Augenblick lang herrschte angespannte Stille im Raum, und Judith versuchte, das Gesagte zu begreifen. Schließlich fand sie stammelnd ihre Sprache wieder.

»Heißt das, ich soll …«

»Du wirst heiraten. Exakt das heißt es. Mit einundzwanzig Jahren bist du wirklich alt genug dafür. Eigentlich wollte ich es dir heute Abend mitteilen, doch sei es drum. Nun weißt du es.«

Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Aber wen soll ich denn heiraten?«, fragte Judith entsetzt. Sie konnte kaum glauben, was ihr gerade verkündet worden war, auch wenn sie seit geraumer Zeit eine leise Ahnung gehabt hatte. »Es gibt doch niemanden, oder?«

»Noch nicht, aber das wird nicht mehr lange dauern«, meinte ihr Vater nur und begann, eine Seite des Kontobuchs mit Anmerkungen zu versehen. »Ich werde dich rechtzeitig in Kenntnis setzen. Du solltest mir ein bisschen vertrauen.«

Judith zitterten die Knie. Ihr ungutes Gefühl hatte sie nicht getrogen. Das also hatte er ihr kundtun wollen. Sie sollte verheiratet werden, und das ohne jedes Mitspracherecht.

Mühsam unterdrückte sie den Impuls, etwas Unangebrachtes zu erwidern. Eine spitze Antwort würde alles nur noch schlimmer machen. So ballte sie nur die Hände zu Fäusten, drehte sich auf dem Absatz um und verließ fluchtartig das Comptoir. Mit laut klappernden Stiefeln eilte sie die Treppe hinunter, über ihr Gesicht liefen Tränen, die sie eigentlich gar nicht weinen wollte.

War es denn zu viel verlangt, mit der Ehe noch ein wenig abzuwarten? Bis sie sich selbst für jemanden entschied? Einen Mann, den sie mochte. Und der akzeptierte, vielleicht sogar schätzte, dass sie die Arbeit in der Schokoladenfabrik liebte und nicht zu Hause verkümmern wollte, so wie ihre Mutter.

Judith zog ihren Mantel enger um sich und trat hinaus in den feuchten Nachmittag. Sie spürte weder Regen noch Kälte, als sie ziellos durch Stuttgarts Straßen lief und sich schließlich vor der Station der Zahnradbahn am Marienplatz wiederfand. Sie bestieg einen der Wagen nach Degerloch, dem der Residenzstadt vorgelagerten Luftkurort, wo sie mit ihrer Familie in einem Anwesen innerhalb der neu erbauten Villenkolonie wohnte. Auf der Fahrt nach Hause wandelte sich ihre Verzweiflung in vertrauten Kampfesgeist. So leicht durfte niemand über ihr Leben und ihre Zukunft entscheiden. Auch nicht ihr Vater.

2. Kapitel

Die preußische Festung Ehrenbreitstein bei Coblenz, Ende Februar 1903

Aus einem dunstigen Morgenhimmel fiel fahles Licht, ohne die Erde wirklich zu berühren. Weder vertrieb es die Kälte der vergangenen Nacht noch ihre Schatten. In der nebligen, mit dem Rauch zahlreicher Schornsteine geschwängerten Luft verloren sich Farben und Stimmen, verschwammen die Umrisse der Zitadelle, schien selbst der große Strom verstummt, der seit Urzeiten am Fuße des steil aufragenden Felssporns mit den Wassern der Mosel zusammenfloss.

Das vertraute Zurückschnappen der Querriegel seiner Zellentür durchbrach die morgendliche Stille. Victor, der am vergitterten Fenster gestanden hatte, das den kargen Raum mit Tageslicht versorgte, wandte sich um und nickte dem eintretenden Aufseher zu.

Es war Zeit.

Ein letztes Mal flog sein Blick über die Stube mit ihrer schlichten Holzmöblierung und dem eisernen Bettgestell, dessen blau-weiß karierte Decke er sorgfältig zusammengelegt hatte. Dann schlüpfte er in seinen abgetragenen Mantel, hob seinen schäbigen Koffer auf, nahm seinen Hut und folgte dem Wärter aus der Landbastion hinaus in diesen abweisenden Morgen. Sie querten den Oberen Schlosshof und erreichten die Hohe Ostfront. Vor den vier Säulen des Portikus blieben sie einen Augenblick stehen und Victor ließ noch einmal die hellgelben Fassaden der Gebäude ringsherum auf sich wirken, deren klassizistische Architektur in einem geradezu spektakulären Gegensatz zur martialischen Erscheinung der übrigen Festung stand. Schließlich wurde er in das Dienstzimmer des Festungskommandanten im ersten Stock über der Hauptwache geführt.

Als er eine halbe Stunde später wieder ins Freie trat, bat er den Aufseher um einen kurzen Moment für sich. Dieser nickte und blieb stehen, während Victor an einer Gruppe exerzierender Soldaten vorbei über den weitläufigen Hof ging und an die halbhohe Außenmauer trat. Ruhig setzte er sein Gepäck ab und beugte sich über die massive Begrenzung.

Nur andeutungsweise ließ sich der grandiose Ausblick erahnen, der sich an klaren Tagen von hier oben auf Coblenz und die beiden Flüsse bot, die sich an dieser Stelle in einer lang gezogenen Schleife auf ihre gemeinsame Reise gen Norden begaben. Lediglich Schemen von Häusern, Wiesen und Feldern deuteten sich an. Von den fernen Gipfeln der Vulkaneifel mit ihren stillen Seen und den dunklen Wäldern war überhaupt nichts zu sehen.

Victor seufzte.

Diesen ersten Augenblick nach seiner Haftentlassung hatte er sich anders vorgestellt. Unzählige Male hatte er in Gedanken an dieser Mauer gestanden, wie ein Vogel, der seine Flügel ausspannt. Er hatte diese schiere Weite in sich aufnehmen wollen, die Welt von einer höheren Warte aus betrachten, bevor er sie neu in Besitz nahm – und sie ihn.

Die neblige Unbill des feuchten Februartages minderte den Genuss dieses Moments, aber er wollte nicht hadern. Nach den bitteren Lektionen der letzten Jahre musste ein fehlender Ausblick zu verschmerzen sein. Es war vorbei und das war alles, was zählte. Brüsk drehte er sich weg, nahm seinen Koffer und ließ sich die letzten Meter eskortieren.

Der Weg in die Freiheit führte durch die Felsentorwache zum vorgelagerten Fort Helfenstein, und von dort aus abwärts, an etlichen Wachposten und weiteren Toren vorbei bis in den Ort Ehrenbreitstein.

Mit jedem Schritt entlang des schroffen, bewachsenen Felsgesteins schaffte Victor Abstand zwischen sich und der weitläufigen, als uneinnehmbar geltenden Festung über ihm. Auf dem matschigen Untergrund verloren seine dünnen Sohlen mehr als einmal den Halt. Dass es ihm jedes Mal gelang, sich abzufangen, erfüllte ihn mit übertriebenem Stolz. Vereinzelte Windböen wehten kalte Feuchte in seinen Nacken und ließen ihn frösteln. Als er endlich in der Residenzstadt ankam, zitterten ihm vor Anstrengung die Knie.

An der Schiffbrücke musste er warten, bis sich die ausgefahrenen Joche hinter einem kleinen Dampfer wieder geschlossen hatten, dann überquerte er den Rhein, entrichtete die zwei Pfennige Brückengeld und erreichte schließlich die Coblenzer Rheinanlagen.

Die Wolkendecke hatte sich gelichtet.

Victor zögerte.

Dann blickte er ein letztes Mal zurück auf das trutzige Monument hoch oben auf der Felsnase, dessen grobe, unverputzte Mauern im heraufziehenden Tag allmählich Konturen annahmen.

Zwei Jahre lang war der Ehrenbreitstein sein Gefängnis gewesen; dieses kantige Zeugnis preußischer Macht im Westen des Reichs, mit seinem weitläufigen Gewirr aus Gängen, Brücken und Versorgungswegen, den Soldatenstuben, Wohnquartieren, Arbeitsstätten und Geschützkasematten, den meterdicken Mauern, Gräben und Toren. Dort hatte er gebüßt für ein Duell, welches er gerne vermieden hätte, und dessen unglücklicher Ausgang ihn überdies in den Rang eines verurteilten Straftäters katapultiert hatte. Wenigstens war er in den Vorzug einer Ehrenhaft auf der Festungs-Stubengefangenen-Anstalt bei Coblenz gekommen, weit weg von Berlin und den erdrückenden Erinnerungen, die Victor mit dieser seiner Heimatstadt verband.

Er vernahm Rufe und Lachen, ein Schiffshorn, das Bellen eines Hundes. Die Welt hatte ihre Sprache wiedergefunden und selbst die winterlich trübe Luft empfand er als belebend.

Er schritt kräftig aus. Immer schneller schienen ihn seine Beine zu tragen, und ein jähes Glücksgefühl durchströmte Kopf und Glieder. Doch bei aller aufkeimenden Euphorie war ihm sehr wohl bewusst, dass seiner neu gewonnenen Freiheit nicht nur unendliche Möglichkeiten, sondern auch eine vage Gefahr innewohnte. Und mit demselben Willen, mit dem er seine Zukunft beginnen wollte, würde er mit seiner Vergangenheit Frieden schließen müssen.

Er erreichte das zweigeschossige, massive Steingebäude des Coblenzer Bahnhofs. Beim Laufen war ihm warm geworden, auch wenn jeder Atemzug eine neblige Wolke bildete, kaum dass er die Lippen verlassen hatte. Victor kaufte ein Billett und setzte sich auf eine Bank im Wartesaal. Bis sein Zug kam, dauerte es noch gut eine Stunde.

In einer Ecke des großen Gebäudes entdeckte er einen Automaten, an dem zwei Kinder, vermutlich Bruder und Schwester, hantierten. Eine Gouvernante saß gelangweilt daneben, die Nase in ein Buch vergraben. Derweil schienen die Geschwister einen regelrechten Kampf um den Inhalt des Automaten auszufechten, wobei das Mädchen ihrem Bruder in nichts nachstand. Schließlich hielt sie triumphierend ein kleines Täfelchen in der Hand. Schokolade, wie Victor amüsiert feststellte. Mit ihrem Schatz in der Hand lief sie dem Jungen davon, der erst ein langes Gesicht zog, dann aber entschlossen die Verfolgung aufnahm.

Victor konnte seine Neugierde nicht zügeln. Automaten hatten ihn schon immer fasziniert und dieser hier war ziemlich neu. Er stand auf und besah sich unauffällig das Gerät. Stollwerck. Das Kölner Unternehmen war seit Jahren sehr erfinderisch beim Vertrieb seiner Schokoladen und lieferte inzwischen selbst entwickelte Automaten in alle Welt. Diese boten unter anderem Seife an, aber auch Fahrkarten an den Bahnhöfen.

Der Apparat aus graublau bemaltem Gusseisen mit aufwendigen goldenen Verzierungen reichte ihm etwa bis zum Kinn. Hinter einem arkadenartig eingefassten Fenster befanden sich, gut sichtbar, mehrere Warenschächte mit Schokoladentafeln. Darüber gab es einen Schlitz für den Münzeinwurf, und auf einem emaillierten Schild wurde der Mechanismus erklärt. Zehn Pfennig kostete eine Tafel. Rasch überschlug Victor den Wert der darin befindlichen Schokoladentäfelchen und stellte fest, dass es sich hier um ein lohnendes Geschäft für Stollwerck handelte. Zwar verzichtete er darauf, sich eine Schokolade zu ziehen, aber sein Erfindergeist war geweckt. Während er an seinen Platz zurückkehrte, feilte er imaginär bereits an einer ähnlichen Konstruktion.

Sobald er sich in seiner neuen Heimat etabliert und eine Bleibe gefunden hatte, würde er sich an einem Entwurf versuchen. Bei diesem Gedanken zog er einen zerknitterten Zettel aus seiner Hosentasche, auf dem eine Adresse stand: Edgar Nold, Silberburgstraße, Stuttgart.

Victor wäre es nicht in den Sinn gekommen, nach seiner Haftentlassung ausgerechnet in Stuttgart sein Glück zu versuchen, aber als ein Mithäftling die süddeutsche Residenzstadt ernsthaft empfohlen hatte, war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Stuttgart schien aufstrebend zu sein, bot deshalb vermutlich gute Arbeitsmöglichkeiten und war weit genug entfernt von Berlin, um einen unbelasteten Anfang zu ermöglichen. Jedenfalls würde ihn dort wohl keiner vermuten.

Vor wenigen Tagen hatte ihm der Mitgefangene schließlich noch die Anschrift eines entfernten Verwandten gegeben, eben jenes Edgar Nold, bei dem er sich nach seiner Ankunft melden könne. So sollte es ihm leichter fallen, in der fremden Umgebung Fuß zu fassen.

Schließlich fuhr laut pfeifend Victors Zug ein und kam mit kreischenden Bremsen zum Stehen; ein stählerner Koloss, umgeben von Dampf und Rauchschwaden. Reisende entstiegen den Coupés der ersten Klasse. Sie waren eingehüllt in wärmendes Tuch oder lange Mäntel, die Herren zogen ihre Hüte tief ins Gesicht. Einige Damen trugen wertvollen Pelz und hatten ihre Hände in fellbesetzten Muffs vergraben, während Bedienstete sich um ihr Gepäck kümmerten und eilig Schirme aufspannten, um ihre Herrschaft vor der ungemütlichen Witterung zu schützen. Aus den restlichen Waggons stiegen die weniger Begüterten, die ihre Taschen und Koffer mit klammen Fingern selbst schleppten. Eilig strebten sie dem Ausgang zu.

Victor verließ das Bahnhofsgebäude und betrat den Bahnsteig. Er wartete geduldig, bis sich die Traube der Fahrgäste auf die Waggons verteilt hatte. In einem Abteil der dritten Klasse verstaute er sein Gepäck, setzte sich auf die hölzerne Bank und beobachtete durch das beschlagene Fenster das Kommen und Gehen auf dem Bahnsteig.

Schließlich schlugen die Türen. Mit einem schrillen Pfiff setzte sich der Zug schwerfällig in Bewegung.

Sein neues Leben hatte begonnen.

3. Kapitel

Stuttgart, die Stadtvilla der von Brauns, an einem Märzabend 1903

Die grüne Flüssigkeit schimmerte verlockend. In jedem der drei kelchförmigen Kristallgläser auf dem Tisch verfingen sich die Reflexionen des Absinths und erzeugten im schummrigen Licht der herunterbrennenden Kerzen die einzigartige Stimmung einer französischen heure verte.

Entsprechend gelöst war daher die Laune der drei jungen Männer, die sich an diesem frühen Abend zusammengefunden hatten, um ein aufwendiges Ritual zu pflegen, welches sie seit Langem verband.

Es war der schlanke Edgar Nold gewesen, der die erste Flasche des Wermutgetränks von einer Reise nach Paris mitgebracht hatte; schwer beeindruckt von der gepflegten Nachlässigkeit, mit der die intellektuellen Franzosen ihre Grüne Stunde zelebrierten. Seither erlag seine sensible Künstlerseele allzu gern dem Charme des Kräutertrunks, dessen Genuss nicht nur einen gehörigen Rausch versprach. Stets ergriff ihn das Gefühl, auf eigenartige Weise über den Dingen zu schweben, frei von Ärger und Verdruss. Und den gab es wahrlich, dachte er nur an den ausbleibenden Erfolg seiner Malerei. Fiele es ihm nur nicht so schwer, naturgetreue Landschaften auf Leinwände zu bannen oder auch Porträts zu malen. Beides wurde von den angesehenen Familien Stuttgarts nachgefragt und gut bezahlt, doch sein Talent lag weder im bloßen Abbilden der Wirklichkeit noch in der Herstellung schmeichelhafter Spiegelbilder einer selbstgefälligen Oberschicht. Stattdessen hatte er eine Zeitlang mit filigranen Mustern und verspielten Blumenmotiven gearbeitet, die lebensfroh und leicht wirkten statt schwerfällig und überladen. Geld freilich hatte er damit kaum verdient, doch Edgar glaubte an sein Talent. Einige Male war er in München gewesen, wo sich gerade eine neue Künstlergeneration erfand, hatte Gleichgesinnte getroffen und versucht, sich bei der Jugend als Illustrator zu verdingen. Das Blatt erschien bereits seit sieben Jahren und gab der ästhetischen Kunst ein populäres Forum. Es hatte ihn hart getroffen, als er eine freundliche, doch unmissverständliche Absage erhalten hatte: Seine Bilder seien zu althergebracht. Edgar verstand die Welt nicht mehr. Für Stuttgart war er zu modern, für München zu konservativ.

Dann, vor wenigen Monaten, hatte es ihn noch einmal in die französische Hauptstadt gezogen. Widerwillig hatte sein Vater die Fahrkarte spendiert und Edgar beleidigend vorgehalten, mit beinahe achtundzwanzig Jahren noch von seinen Zuwendungen abhängig zu sein. Doch genau diese Reise war das entscheidende Mosaiksteinchen gewesen; endlich sah Edgar seine Zukunft deutlich vor Augen. Denn auf seinen ausgiebigen Spaziergängen durch Paris hatte er die Reklameplakate studiert, welche überall an Mauern und Plakatsäulen hingen und für alles Mögliche warben – Zigarren oder Likör, einen Herrenausstatter, eine Buchhandlung, Oper, Theater oder die Etablissements der leichten Unterhaltung wie das Moulin Rouge. In Kunsthandlungen hatte er sich Plakate vergangener Jahre zeigen lassen, fasziniert von der reduzierten Formensprache des verstorbenen Henri de Toulouse-Lautrec und den farbgewaltigen Entwürfen eines Jules Chéret.

Als er nach einigen anstrengenden Tagen und Nächten wieder zu Hause angekommen war, hatte er eine Entscheidung getroffen. Sein Metier würde das der Plakatkunst und Verpackungsgestaltung werden. Inzwischen war ihm ein Exemplar von Bruno Volgers Lehrbuch der modernen Geschäftspropaganda in die Hände gefallen. Seither versuchte er, die Illustrationen darin nachzuarbeiten und einen eigenen Stil zu entwickeln, in der Hoffnung, auf dem Gebiet der Reklame Fuß zu fassen und endlich seine monetäre Misere zu beenden. Irgendwann musste der Durchbruch einfach gelingen.

Ein leises Klirren unterbrach seine trüben Gedanken und holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Rasch fuhr er sich mit der Hand durch seine hellbraunen Locken und sah zu Max neben ihm, der einen geschlitzten Silberlöffel über eines der Gläser gelegt hatte und nun ein Stück in Würfelform gepressten Zuckers darauf platzierte.

Sie kannten sich von Kindesbeinen an, Söhne wohlhabender Unternehmer, deren Familien einander seit jeher freundschaftlich verbunden waren. Max, Erbe des erfolgreichen Maschinenfabrikanten Ebinger, Albrecht von Braun, Sprössling des derzeit einflussreichsten Bankiers in Stuttgart, und er selbst, der Maler und Bohemien, dessen Vater eine Seifenfabrik besaß, die in letzter Zeit nicht mehr so gut lief – und der den künstlerischen Ambitionen seines Sohnes mit demütigendem Unverständnis begegnete.

Max zwinkerte ihm zu.

Edgar zog ebenfalls Glas und Absinthlöffel heran und griff nach einem Zuckerstück. Zeit für ein paar entspannende Frotzeleien unter Männern.

»So, Ebinger. Ich hab gehört, du darfst bald deinen alten Kerl beerben?«, fragte er seinen Freund und präparierte den Silberlöffel auf die gleiche Weise wie dieser kurz zuvor.

»Nicht in hundert Jahren!«

»Das nicht, aber vielleicht in einem halben?«

»Lass es gut sein, Nold«, meldete sich der joviale Albrecht zu Wort, ebenfalls mit seinen Absinth-Requisiten beschäftigt. »Wir wissen, dass Max keinen Sinn für Strickmaschinen besitzt. Und dass sein alter Herr die Fabrik ohnehin erst im Sarg verlassen wird.«

»Du könntest es dir bequem machen, Ebinger«, fuhr Edgar fort. »Lass dir einen Schreibtisch einrichten und deinen alten Herrn weiterschaffen. Derweil vögelst du dich munter durch die Stuttgarter Dienstmädchenschaft.«

»Da ist er doch schon durch«, gab Albrecht zu bedenken und schob sein präpariertes Glas unter einen der vier Metallhähne der gläsernen Absinthfontäne, die in der Mitte des Tisches stand.

»Schon lange!«, entgegnete Max ironisch.

»Dann solltest du darüber nachdenken, in Berlin oder München dein Glück zu versuchen«, riet Edgar. »Ich empfehle dir München. Dort sind die Mädchen drall, derb und willig.«

»Ich werde nach Italien gehen«, meinte Max.

»Wegen der Mädle?«, fragte Albrecht ernsthaft erstaunt.

»Natürlich wegen der Mädchen!«, gab Max sarkastisch zurück.

»Das ist wirklich interessant, Ebinger«, sagte Edgar. »Italien. Lässt dich dein alter Herr denn gehen?«

»Das ist meine Entscheidung, nicht seine.«

»Wie lange wirst du unterwegs sein?«

»Ich weiß nicht. Mehrere Wochen, einige Monate.«

Edgar pfiff anerkennend. »Sieh an, das wusste ich nicht. Dein Vater erzählt doch gerade jedem, dass du in die Geschäftsführung sollst. Von einer längeren Reise war nicht die Rede.«

»Er weiß es noch gar nicht.«

Albrecht gab einen erstaunten Laut von sich, während Max sein Glas ebenfalls unter die Absinthfontäne schob und vorsichtig einen der kleinen Hähne öffnete.

Gemächlich tröpfelte eiskaltes Wasser auf das Zuckerstück und rann durch die Aussparungen des Silberlöffels in den darunter stehenden Kelch mit dem hochprozentigen Absinth. Kurz darauf setzte der Louche ein und verwandelte die grünliche Ausgangsfarbe des Kräutertrunks in eine milchig-weiße Flüssigkeit.

»Die Grüne Fee erwacht!«, rief Albrecht fasziniert. »Sie ist eindeutig sehr hübsch und sie ist eindeutig weiblich, Ebinger. Das ist halt deine Welt!«

Damit öffnete auch er den Hahn über seinem Glas und beobachtete genüsslich, wie darin die Grüne Fee lebendig wurde. »Aber glaubt nicht, dass ich die Hoffnung auf ein Weib aufgegeben habe«, setzte er bedeutungsvoll hinzu. »Ganz im Gegenteil.«

Er blickte in die Runde.

»Nur zu, erzähl!«, ermunterte ihn Edgar, der gerade seinen Hahn zudrehte.

»Kennt man die Dame?«, fragte Max, der erleichtert schien, dass sich das Gespräch nun nicht mehr um seine Zukunftspläne drehte.

»Rothmanns Tochter«, erklärte Albrecht mit einem triumphierenden Unterton.

»Judith Rothmann? Allen Ernstes?« Max sah Albrecht verblüfft an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wer hätte das gedacht.«

Albrecht nippte zufrieden an seinem Glas.

»Hübsches Ding«, stellte Edgar fest. »Goldblonde Locken und klarblaue Augen. Eine Mischung aus Kobalt und Ultramarin. Und ihre Figur ist beachtenswert …« Er deutete eine wellenförmige Handbewegung an, während Max sich einen Seitenhieb auf den wenig attraktiven Albrecht nicht verkneifen konnte: »Wenn’s um Geld geht, sind die Weiber nicht wählerisch.«

»Ihr Vater ist selbst vermögend, darum geht es nicht«, erwiderte Albrecht gekränkt.

»Darum geht es immer«, entgegnete Max.

»Hör nicht auf den Ebinger«, meinte Edgar versöhnlich und hob sein Glas. »Darf man auf diese Kunde mit Absinth anstoßen?«

»Mit Absinth trinken wir auf unser Junggesellendasein, Freunde«, sagte Max mit Nachdruck.

»Ja, für dich ist die Ehe nichts, Ebinger«, entgegnete Albrecht, noch immer leicht beleidigt. »Eine Dame allein würde dir höchstens eine Woche lang reichen.«

»Na, die kleine Rothmann vielleicht auch zwei«, konterte Max grinsend.

Albrecht schnaubte.

»Wann ist es denn soweit?«, fragte Edgar, um die Lage zu beruhigen.

»Das wurde noch nicht festgelegt.« Albrecht stürzte den Inhalt seines Glases hinunter.

»Aber du hast doch schon um sie angehalten, oder?«, hakte Edgar nach.

»Nicht persönlich. Mein Vater hat mit ihrem Vater gesprochen. Und damit ist es beschlossen.«

»Na, dann sollte dem Ganzen nichts mehr entgegenstehen. Wir sind dabei!« Edgar freute sich aufrichtig für den Freund.

»Hat die Braut in dieser Angelegenheit überhaupt etwas zu sagen gehabt?« Max’ Stimme hatte plötzlich einen beißenden Unterton.

»Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, Ebinger?«, fragte Edgar erstaunt und sah zwischen dem dunklen, athletischen Max und dem farblosen, dicklichen Albrecht hin und her.

Max hob lediglich eine Augenbraue.

»Wisst ihr«, konstatierte Albrecht, »solch wichtige Dinge regeln die Männer. Und das schon zu allen Zeiten. Eine Frau überblickt das nicht, ihr Geist ist nicht gemacht für so … so weitreichende Entscheidungen.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte Max.

»Judith Rothmann gilt als eigensinnig und anspruchsvoll. Da ist das letzte Wort vielleicht wirklich noch nicht gesprochen«, gab nun auch Edgar zu bedenken.

Albrecht, dem das zweite Glas Absinth allmählich zu Kopfe stieg, fing unvermittelt an zu lachen. »Ach, Freunde. Diesmal bin ich dran, auch wenn ihr mir nicht zutraut, die kleine Rothmann heimzuführen! Ihr Alter wird seine Tochter schon den nötigen Gehorsam gelehrt haben. Und euch bleiben ja noch die anderen Stuttgarter Damen. Dir, Max, gar eine rassige Italienerin, wenn aus deinen Reiseplänen etwas wird.«

Max rührte noch in seinem Glas und tat, als habe er die Bemerkung nicht gehört.

»Ist schon gut, Albrecht. Judith Rothmann lässt den Max sicher kalt, der hat andere Möglichkeiten«, versuchte Edgar das Gespräch zu befrieden. »So dumm wäre er doch gar nicht, einer Jungfer zu nahe zu kommen. Da würde er riskieren, im Handumdrehen verheiratet zu sein. Und das ist für dich der Vorhof zur Hölle, nicht wahr, Ebinger?«

»Allerdings«, antwortete Max lakonisch, während er den Löffel abtropfen ließ und zur Seite legte.

»Übrigens, ich habe seit Neuestem einen Mitbewohner«, erzählte Edgar, um das Thema zu wechseln. »Einen ehemaligen Häftling vom Ehrenbreitstein.«

»Wo soll denn das sein?«, fragte Albrecht, den neuen Gesprächsgegenstand neugierig aufnehmend.

»Bei Coblenz am Rhein«, antwortete Edgar. »Man hatte ihn wegen eines Duells dort eingesperrt, aber so genau weiß ich es nicht. Viel hat er nicht erzählt.«

»Wenn man ihn wegen eines Duells inhaftiert hat, dann war er vermutlich beim Militär«, meinte Max. »Sonst gibt es Duelle kaum mehr, jedenfalls soweit ich weiß.«

»Das kann sein. Er stammt irgendwo aus dem Preußischen, hat er gemeint«, sagte Edgar nachdenklich. »Meine Adresse hat er von einem meiner Onkel bekommen, der zeitgleich auf dem Ehrenbreitstein einsaß. Das kann nur der verrückte Poet sein, ein Bruder meiner Mutter aus Coblenz. Der hat sich schon immer um Kopf und Kragen gedichtet. Meine Mutter ist, glaube ich, die Einzige, die ihm noch ab und zu schreibt.«

»Also hast du einfach so einen ehemaligen Strafgefangenen bei dir aufgenommen«, stellte Albrecht fest. »Du hast Mut.«

»Er kam mir vertrauenswürdig vor. Und er hat schon Arbeit gefunden bei der Brauerei Dinkelacker. Ich denke nicht, dass er lange bei mir wohnen wird«, gab Edgar zurück.

»Wie dem auch sei«, erklärte Albrecht gutmütig. »Ich für meinen Teil hab jetzt Hunger. Sollen wir nach Degerloch rauffahren und im Löwen etwas essen?«

»Und bei den Rothmanns vorbeischauen?«, scherzte Edgar.

Albrecht grinste.

Max leerte sein Glas. »Wir könnten doch auch hier etwas essen.«

»Ja, bleiben wir besser hier unten im Kessel. Aber ein paar Schritte an der Luft sollten uns nicht schaden. Was haltet ihr vom Adler?«, schlug Edgar vor.

»Meinetwegen.« Max stand auf.

»Auf das Essen, das Duell und die Weiber«, feixte Edgar, als sie die Bankiersvilla verließen und sich auf den Weg machten.