Buch

Jade hat ein schlimmes Jahr hinter sich und ist erleichtert, ihrer Heimatstadt den Rücken kehren zu können. In New York will sie einen Neuanfang wagen und heuert in einem Café an, wo sie schließlich Olivia kennenlernt. Jade fällt es schwer, sich auf die junge Tänzerin mit den blauen Haaren einzulassen, lässt sich dann aber doch überreden, an einer ihrer Hip-Hop-Classes im Move-District-Studio teilzunehmen – ohne zu ahnen, dass sie dabei auf Austin treffen wird. Der gut aussehende Tänzer ist zwar ein Sprücheklopfer, dabei aber sympathisch und witzig. Jade und Austin merken schnell, dass es zwischen ihnen knistert, doch dann droht Jades Vergangenheit sie wieder einzuholen …

Autorin

Maren Vivien Haase wurde 1992 in Freiburg im Breisgau geboren und absolvierte dort ihr Germanistikstudium. Schon als Kind stand für sie fest, dass sie all die Geschichten zu Papier bringen muss, die ihr im Kopf herumspuken. Das Hip-Hop-Tanzen mit ihrer Crew »Dope Skit« gehört seit über zwölf Jahren ebenso zu ihr wie YouTube und Instagram, wo sie regelmäßig über Serien, Bücher und Filme spricht.

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MAREN VIVIEN HAASE

DANCE
INTO
MY
WORLD

MOVE DISTRICT BAND 1

Roman

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Maren Vivien Haase und der Blanvalet Verlag

Copyright © 2021 by Maren Vivien Haase

Dieses Werk wurde vermittelt
durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

© 2021 by Blanvalet in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Melike Karamustafa

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com
(wacomka, tomertu, Anna_Kim, Avesun, Jag_cz, Comaniciu Dan)

DN · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27097-1
V002

www.blanvalet.de

Für Mum und Dad

Playlist

Welcome To New York – Taylor Swift

Eyes Shut – Years & Years

Low Life – Future feat. The Weeknd

Pills & Automobiles – Chris Brown, Yo Gotti, A Boogie Wit da Hoodie, Kodak Black

Lookalike – Conan Gray

There You Are – Zayn

Blue Dream – Jhené Aiko

I Like That – Houston feat. Chingy, Nate Dogg, I-20

come out and play – Billie Eilish

Black and White – Niall Horan

Wild Wild West – Will Smith, Dru Hill, Kool Moe Dee

Naked – James Arthur

Conversations in the Dark – John Legend

Feels In My Body – Icona Pop

Man – JoJo

Intentions – Justin Bieber feat. Quavo

Like No One’s Watching (Acoustic Version) – Molly Sandén

Take You Down – Chris Brown

Better – Khalid

Drag Me Down – One Direction

Thursday (Jack Wins Remix) – Jess Glynne

»Die abgelaufene Milch kannst du ruhig noch nehmen. Die Kunden merken das nicht – zumindest hat sich bisher noch niemand beschwert. Lass es dir nur nicht anmerken.«

Wow.

Mir blieb der Mund offen stehen. Sollte das ein Scherz sein? Gleich am ersten Arbeitstag wurde ich dazu angestiftet, Menschen zu vergiften? Okay, das war vielleicht etwas extrem ausgedrückt, in Ordnung ging es deswegen aber noch lange nicht.

Unfähig, eine sinnvolle Antwort herauszubringen, nahm ich schnell einen großen Schluck aus der türkisfarbenen Tasse. Glücklicherweise trank ich meinen Kaffee immer schwarz – anders hatte ich das Gefühl, dass das Koffein bei mir einfach nicht wirkte –, so bestand zumindest für mich keine Gefahr potenzieller Magenprobleme.

Larry klatschte in die Hände. »Gut. Wenn du keine Fragen mehr hast, kannst du dich direkt an die Arbeit machen.« Er wandte sich ab, blieb jedoch nach einem Schritt wieder stehen und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »In welchem Restaurant sagtest du doch gleich, hast du gearbeitet?«

»In keinem«, erwiderte ich und fragte mich insgeheim, ob er mir in den vergangenen fünf Minuten – länger hatte unser Einführungsgespräch nämlich nicht gedauert – überhaupt zugehört hatte. Laut hätte ich das nie gesagt, dafür flößte mir Larry viel zu viel Respekt ein. Er wirkte nicht gerade zugänglich mit seinen hängenden Mundwinkeln, den schmierigen schwarzen Haaren und dieser Überheblichkeit im Blick. Außerdem war ich auf den Job angewiesen und konnte nicht riskieren, doch noch eine Absage zu bekommen. Als ich Larrys kritischen Blick sah, fügte ich hastig hinzu: »Aber ich habe in einem Brillengeschäft gejobbt und kann gut mit Kunden umgehen. Außerdem bin ich sehr lernfähig.« Hoffentlich überlegte er es sich nicht doch noch anders.

Als er mich aus zusammengekniffenen Augen ansah, bildeten sich tiefe Falten auf seiner Stirn. Die ausgeprägten Geheimratsecken und die paar grauen Strähnen, die im Licht der Spätsommersonne, das durch die Fensterfront brach, schimmerten, verrieten mir, dass er um die vierzig sein musste. Das dunkelgraue Hemd lag eng an seinem Oberkörper an und spannte ein wenig um seinen leichten Bauchansatz. »Also keinerlei Gastro-Erfahrung.« Kopfschüttelnd fuhr er sich mit einer Hand über das Gesicht. »Du wirst es nicht leicht haben. Ich brauche hier professionelles Personal und keine Anfänger, die erst angelernt werden müssen. Das hält nur den Betrieb auf. Stand in deiner Bewerbung nicht, dass du bereits in der Gastronomie gearbeitet hast?«

»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete ich vorsichtig und sah zu Boden. »Aber wie ich schon sagte, ich lerne schnell.«

»Jaja, das sagen sie alle. Dein Glück, dass ich dringend eine weitere Servicekraft brauche.« Er schnaubte abfällig und linste auf seine protzige Armbanduhr. »Nun gut, Miles und Olivia sollen dir alles zeigen.« Er deutete auf meine beiden neuen Kollegen hinter der Theke. »Aber wenn du es vermasselst, bist du raus!« Mit diesen überaus motivierenden Worten drehte er sich um und lief mit schnellen Schritten durch die Tür hinten rechts im Café, die in sein Büro führte.

»Glück gehabt«, murmelte ich und wischte mir die verschwitzten Handflächen an meiner schwarzen Jeans ab. Bevor ich mich in Larry’s Brew beworben hatte, war ich bereits von drei anderen Cafés, einer Tierhandlung und zwei Boutiquen abgelehnt worden. Hätte es dieses Mal auch nicht geklappt, hätte ich ein echtes Problem gehabt – schließlich zahlte sich eine Wohnung nicht von selbst, erst recht nicht in New York.

Nachdem ich ungefähr tausend Stunden auf Craigslist verbracht und mich durch viele Angebote geklickt hatte, war ich vor ein paar Wochen endlich fündig geworden. Ich konnte mich unfassbar glücklich schätzen, eine Wohnung in Brooklyn ergattert zu haben – ganz für mich allein und dann auch noch um die Ecke des Prospect Park, der bestimmt in ein paar Wochen, wenn sich die Blätter anfangen würden zu verfärben, ein besonders schöner Ort war, um abschalten zu können. Um die Miete für das kleine Apartment in Brooklyn zu bezahlen, brauchte ich dringend einen Job. Meine Eltern hatten zwar netterweise zugestimmt, mir ein bisschen was beizusteuern, aber mir das teure Leben in New York komplett zu finanzieren sahen sie nicht ein – zumindest nicht, solange ich noch nicht studierte.

Mein Herz pochte etwas schneller, als ich mich umdrehte, tief Luft holte und an den dunklen Holztischen vorbei zum Tresen lief, hinter dem ein schlaksiger Typ mit braunen Locken und ein Mädchen mit blauen Haaren standen; beide mussten ungefähr in meinem Alter sein. Sie fachsimpelten gerade darüber, ob der Apfelkuchen nicht doch lieber neben dem New York Cheesecake stehen sollte statt neben den Brownies.

»Aber wenn die Leute den Apfelkuchen sehen und gleich daneben die Brownies liegen, dann entscheidet sich niemand für den Kuchen. Wer nimmt denn Apfelkuchen, wenn er genauso gut einen saftigen Schoko-Brownie haben kann?« Olivia rollte mit den Augen, bevor sie sich umdrehte, um einen weißen Porzellanbecher vom Regal zu nehmen und unter den Siebträger der gigantischen silbernen Bezzera zu stellen. Kurz darauf stieg mir der aromatische Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase.

»Ich!«, erwiderte der Typ und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass die Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten und ihr Gesicht einrahmten, hin und her flogen. »Siehst du, Miles, und genau deshalb sind wir bloß Kollegen und keine Freunde.«

Trotz ihres zierlichen Körperbaus und der Tatsache, dass der Typ sie um mindestens zwanzig Zentimeter überragte, wirkte Olivia kein bisschen eingeschüchtert. Ganz im Gegenteil, sie schien den Schlagabtausch sogar zu genießen. Eine Fähigkeit, die mir vor ein paar Monaten abhandengekommen war. Sobald ich das Gefühl hatte, es könnte sich ein Streit anbahnen, machte ich einen Rückzieher und ging der Unterhaltung lieber aus dem Weg.

Ich musste schmunzeln und schaute vorsichtig zwischen den beiden hin und her. Olivia war mir sofort sympathisch. Sie hatte eine kleine Stupsnase, und mit ihrer sehr hellen Haut und den blauen Haaren sah sie fast aus wie eine gut gelaunte Version der Eisprinzessin.

»Hey, du bist die Neue, oder? Larry meinte vorhin, wir sollen dich in die hohe Kunst der Kaffeemaschinenbedienung einführen«, wandte sich Miles an mich und lächelte schief. »Ich bin Miles, und das ist Olivia.« Er lehnte sich vor und senkte die Stimme, als würde er mir ein Geheimnis verraten wollen. »Sie ist manchmal ein bisschen zickig, aber an ihren guten Tagen kann sie auch ganz nett sein.«

»Ich zeige dir gleich, wie nett ich bin, Miles«, schaltete Olivia sich trocken ein und goss etwas Milchschaum in die Tasse. Dann wandte sie sich an mich. »Schön, dich kennenzulernen. Du bist …?« Sie sah mich fragend aus ihren großen braunen Augen an.

»Jade«, gab ich lächelnd zurück und strich mir eine hellblonde Strähne hinters Ohr. »Freut mich auch.«

»Super. Dann kriegst du hier schon mal dein Namensschild und deine Schürze. Du kannst damit anfangen, die Tische abzuräumen und sauber zu wischen. Danach zeigen wir dir alles andere.« Olivia kritzelte meinen Namen mit einem schwarzen Filzstift auf ein kleines Schild, auf dem das Logo von Larry’s Brew zu sehen war. Es bestand aus einer kleinen Tasse, auf der in verschnörkelter Schreibschrift der Name des Cafés zu lesen war.

»Danke«, entgegnete ich lächelnd, schnappte mir ein Tablett und einen Lappen und machte mich auf den Weg zu meinem ersten Tisch.

Abräumen und wischen sollte ich, ohne eingelernt zu werden, hinbekommen. Vorsichtshalber sandte ich trotzdem ein Stoßgebet zum Himmel, dass mir nichts herunterfiel. Das würde sonst ziemlich peinlich – aber leider typisch Jade – werden. Ich war vielleicht nicht so tollpatschig wie Donald Duck, aber das hielt mich nicht davon ab, alle naselang gedankenverloren gegen verschlossene Türen zu knallen und so ziemlich jedes gefüllte Glas, das vor mir stand, umzustoßen.

Glücklicherweise liebte ich Kaffee über alles, denn der gesamte Raum roch nach Cappuccino. Bestimmt hatte Larry in den Ecken ein paar Kaffee-Duftkerzen deponiert, um die Kunden noch süchtiger nach seinem »Brew« zu machen. Um neun Uhr morgens war noch nicht allzu viel los, sodass ich mich in Ruhe um die vollgekleckerten Tische kümmern konnte. Aus den Lautsprechern drang leise Musik – »Mirrors« von Justin Timberlake. Eines meiner absoluten Lieblingslieder, aber ich widerstand dem Drang, meinen Kopf mit dem Beat zu bewegen, sonst hätten mich die Kunden nur dumm angestarrt. Ich nahm ein paar benutzte Tassen vom Tisch und stapelte sie sorgsam auf meinem kleinen Tablett.

Das Café war genau mein Fall: Zwischen Greenwich Village und dem Flatiron District am Anfang einer Querstraße der Fifth Avenue gelegen, war es mit antiken Holztischen und modernen Stühlen im Industrial-Stil ausgestattet. Eine lange Holztheke vor der verglasten Fensterfront war mit dick gepolsterten Barhockern, die auf drei Füßen aus geschwärztem Eisen standen, bestückt und lud dazu ein, bei einem Latte Macchiato und einem Blaubeermuffin den Menschen zuzusehen, die hektisch vorbeieilten, dabei telefonierten oder sich zwischen den anderen Leuten hindurchdrängelten. Hier konnte man sich mit Freunden unterhalten oder an seinem Laptop arbeiten, ein Buch lesen oder einfach nur die anderen Gäste beobachten. Die Kundschaft schien hauptsächlich aus Studierenden zu bestehen, aber auch viele Geschäftsleute, die in der Gegend arbeiteten, hatten Larry’s Brew anscheinend zu ihrem Lieblingscafé auserkoren. Im hinteren Teil des Cafés standen in jeder Ecke Pflanzen, und an den Wänden waren Regale angebracht, die bis zur Decke reichten. Darauf standen antiquarische Bücher neben Schallplatten und jeder Menge Krimskrams, der keinen besonderen Zweck zu erfüllen schien, aber sehr nett anzuschauen war. Wohin man auch blickte, gab es etwas zu entdecken: eine goldene Elefantenfigur, kleine Bierkrüge, eine Kuckucksuhr. Eine Sammlung aus Fundstücken von überall auf der Welt, von denen jedes eine magische Geschichte erzählte. Zwischen den Regalen und Pflanzen warteten drei Samtsofas in unterschiedlichen Grüntönen darauf, dass es sich jemand mit einer Tasse heißer Schokolade darauf gemütlich machte, sich eines der Bücher schnappte und darin versank.

Nach ein paar Minuten hatte ich alle Tische abgeräumt und abgewischt und wandte mich wieder an Olivia, die entspannt am Tresen lehnte, Kaugummi kaute und zwischendurch an einer Tasse nippte, in der sich, dem Duft nach zu urteilen, Chai Latte befand. »Ich bin mit den Tischen fertig. Was kann ich jetzt tun?«

Sie nahm einen weiteren Schluck und stellte die Tasse anschließend auf die Arbeitsfläche hinter sich. Dann kam sie lächelnd auf mich zu. »Hast du schon mal in einem Café gearbeitet? Oder sonst irgendwo in der Gastronomie?«

Ich schüttelte den Kopf und legte den Lappen in die Spüle. »Leider nicht, aber ich kann das sicher schnell lernen.«

»Das solltest du auch, Larry ist ziemlich kritisch und regt sich leicht auf, wenn etwas nicht läuft. Er kann manchmal supernervig und penibel sein, vor allem am Anfang, wenn jemand neu hier ist. Na ja … um ehrlich zu sein, ist er das eigentlich immer.« Olivia kicherte und zuckte mit den Schultern. »Ich hab mich mittlerweile an seinen besonderen ›Charme‹ gewöhnt.«

»Ich denke, dass ich das schaffe«, entgegnete ich hoffnungsvoll und strich meine Schürze zurecht. Kaffee kochen und Kunden bedienen war ja schließlich keine Kernphysik, und irgendwann hatte doch jeder mal angefangen.

Olivia grinste mich aufmunternd an. »That’s the spirit! Und, bist du neu in New York? Wie alt bist du eigentlich?«

»Im Juni bin ich neunzehn geworden. Ich hab dieses Jahr meinen Highschoolabschluss gemacht; danach bin ich nach New York gezogen – um genau zu sein vor drei Wochen und in das mit Abstand kleinste Apartment der Welt.«

»Oh, glaub mir, das kenne ich. Die Mieten in New York sind scheißteuer.«

»Und wie! Deshalb bin ich umso dankbarer, dass ich die Stelle hier bekommen habe. Auch wenn meine Wohnung einem Schuhkarton gleicht – ich bin echt froh, hier in New York zu sein.«

»Oh, ja. Ich liebe diese Stadt. Wo wohnst du denn genau?« Sie legte den Kopf schief und blickte mich neugierig an.

»Brooklyn, in der Nähe des Prospect Park«, entgegnete ich. »Und du?«

»Ach, wie cool! Ich wohne auch in Brooklyn, allerdings ein wenig weiter oben Richtung Bushwick.«

Ich nickte, und ein leichtes Lächeln umspielte meine Mundwinkel, doch bevor ich etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: »Und warum bist du hergekommen? Zum Studieren?«

Beim Gedanken an meine Heimat und den Grund, aus dem ich vollkommen überstürzt nach New York gekommen war, zog sich mein Magen zusammen. Ich blinzelte ein paarmal, bevor ich stammelte: »Ähm … ja … mehr oder weniger.«

Olivia hob fragend eine geschwungene, dunkle Augenbraue, aber ich kannte sie bei Weitem noch nicht gut genug, um ihr mehr über mich zu verraten. Klar, sie machte einen netten Eindruck, aber wie ich aus bitterer Erfahrung wusste, konnte der Schein in dieser Hinsicht trügen.

Sie schien zu merken, dass ich nicht noch mehr erzählen wollte, und nickte nur. Dann breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus, und sie trat näher an mich heran, um mir eine Hand auf die Schulter zu legen.

Unwillkürlich spannte ich mich unter ihrer Berührung an. Ich hoffte, dass es ihr nicht auffiel.

»Ich glaube, ich mag dich, Jade. Und ein bisschen frischen Wind können wir hier immer gebrauchen. Miles ist manchmal eine echte Schlaftablette, und von Larry will ich gar nicht erst anfangen. Und ich mag deine Augenbrauen. Die sind so schön buschig.«

»Ähm. Danke?«, entgegnete ich unsicher grinsend und fuhr mir mit einem Finger über meine dunkelbraunen Brauen, auf die ich öfter angesprochen wurde. Vermutlich, weil sie in krassem Kontrast zu meinem hellblonden Haar standen. »Wie lange arbeitest du hier schon?«

»Fast zwei Jahre. Ist nicht der anspruchsvollste Job, aber die Bezahlung ist nicht schlecht, und manchmal macht es sogar Spaß.« Sie nahm die Hand von meiner Schulter und trat einen Schritt zurück, um sich wieder an die Theke zu lehnen. »Eigentlich bin ich professionelle Tänzerin, aber dabei springt momentan noch nicht genug Geld raus, als dass ich hier kündigen könnte.«

»Du tanzt? In Broadway Musicals?«

Sie lachte. »Nein, nein. Nachdem ich als Kind mit meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern aus Pittsburgh hergezogen war, habe ich mich für Ballettstunden angemeldet. Das hat mir dann irgendwann nicht mehr gereicht, ich wollte auch andere Stilrichtungen ausprobieren. Darüber kam ich zum Hip-Hop, und das ist das, was ich bis heute am liebsten tanze. Na ja, und damit verdiene ich mittlerweile auch ein bisschen Geld … also mit dem Unterrichten oder wenn ich für irgendwelche Musikvideos, Workshops oder Auftritte gebucht werde. Mein großer Traum … mein Ziel ist es, für große Touren von Künstlern dauerhaft gebucht zu werden und nahezu jeden Abend auf einer Bühne zu stehen.«

Wow. Das klang total bewundernswert. Wenn ich alleine in meinem Zimmer war, tanzte ich auch gerne, aber ich war alles andere als gut, und ich hoffte inständig, dass mich bloß nie jemand dabei beobachten würde. Allein bei der Vorstellung hätte ich bereits im Erdboden versinken können.

»Hört sich cool an«, entgegnete ich, und sie grinste.

»Und woher kommst du ursprünglich?«

Meine Handflächen begannen zu schwitzen, und ich starrte sie an, ohne einen Ton von mir zu geben. Erst als sich die Stille zwischen uns in die Länge zog und sie mich verwirrt musterte, holte ich tief Luft und presste hervor: »Ähm, aus so einem Kaff südlich die Ostküste runter. Kennst du bestimmt nicht.«

Anscheinend hatte sie verstanden, dass ich nicht weiter darüber reden wollte, also nickte sie nur aufmunternd und wechselte schnell das Thema. »Und jetzt die Frage aller Fragen, Jade, die darüber entscheidet, ob wir Freundinnen werden können oder nicht. Schaust du gerne Serien?« Sie hatte die Hände in die schmale Taille gestemmt und sah mich mit übertrieben erwartungsvoll aufgerissenen Augen an.

Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Olivia schien zwar nett zu sein, aber ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt auf der Suche nach neuen Freundschaften war. Ich zuckte mit den Schultern. »Wer schaut denn nicht gerne Serien?«

»Bing-Bing. Der Kandidat hat hundert Punkte«, lachte sie und klatschte vergnügt in die Hände. »Okay, dann zähl mir mal deine Top drei auf.«

Ohne lange zu überlegen, sagte ich: »This Is Us, Modern Family und The Bold Type. Aber es gibt noch viele mehr, die ich gerne mag.«

»Okay, okay.« Sie kniff die Augen zusammen und nickte anerkennend. »Das Mädel weiß, wie der Hase läuft. Und ja, ich sehe ein, dass die Frage echt fies war. Aber jetzt weiß ich zumindest, dass du Geschmack hast.«

Gerade als ich sie fragen wollte, welche Serien sie gerne mochte, sah sie sich im Raum um und signalisierte einem der Gäste, dass sie gleich zu ihm kommen würde. Dann schenkte sie mir noch ein warmes Lächeln und eilte zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen.

Ich atmete tief durch und schnappte mir ein Tablett, um die Tische abzuräumen, die inzwischen verlassen worden waren.

Den Rest meiner ersten Schicht erklärte mir Olivia, wie das Kassensystem funktionierte und wie man die Kaffeemaschine bediente und reinigte. Ich durfte sogar schon die ersten Kunden bedienen. Olivia war ein echter Wirbelwind, aber obwohl mich ihre offene Art ein wenig überforderte, war sie mir sympathisch. Vielleicht waren dieses Café und die Leute hier genau das, was ich brauchte, um all den Mist, der im letzten Jahr passiert war, endlich hinter mir zu lassen. Es war mein erster Tag im Larry’s Brew. Ich sollte wahrscheinlich keine allzu hohen Erwartungen haben, aber ich wünschte mir nichts mehr, als neu anfangen zu können und meinen Job gut zu machen. Denn abgesehen davon, dass ich damit Geld verdiente, hegte ich die leise Hoffnung, hier nach langer Zeit jemanden getroffen zu haben, der weder etwas Schlechtes von mir dachte, noch mein Leben ruinieren wollte.

Am späten Nachmittag stapfte ich die kleine Steintreppe zu meinem Wohngebäude hinauf und schloss die schwere Eingangstür auf. Ich huschte hinein und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Der Weg in den dritten Stock kam mir von Tag zu Tag kürzer vor. Nach meinem Einzug vor inzwischen fast drei Wochen hatte ich beim Erklimmen der knarzenden Holzstufen jedes Mal schwer geschnauft, und oben angekommen, hätte ich ein Sauerstoffzelt gut gebrauchen können. In den letzten Monaten zu Hause hatte ich so gut wie keinen Sport getrieben, sondern mich nur in meinem Zimmer vergraben. Das Treppensteigen schien meiner Kondition gutzutun. Heute war ich zwar auch ein wenig aus der Puste, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich jede Sekunde zusammenklappen würde.

Mein erster Arbeitstag im Café war vorbei, und ich war wirklich stolz auf mich. Dafür, dass ich noch nie in der Gastronomie gearbeitet hatte, hatte ich mich ziemlich gut geschlagen, und vor allem in Olivias Gegenwart fühlte ich mich erstaunlich wohl. Sie hatte sich zwar immer wieder mit Miles gezofft, aber irgendwann hatte ich verstanden, dass das eine Art Spiel zwischen ihnen war und es ihr einfach Spaß machte, ihn zu provozieren.

Ich schloss meine Wohnungstür auf, schlüpfte hinein und verriegelte die Tür hinter mir. Das riesige, düstere Haus mit den vielen Wohnungen, deren Bewohner ich nicht kannte, machte mir immer noch ein wenig Angst. In Beckhaven, neunhundert Meilen von hier weiter unten an der Ostküste, hatte ich bei meinen Eltern gewohnt, in einem großen Einfamilienhaus in einer guten Wohngegend. Etwas wie das hier kannte ich damals nur vom Hörensagen, dabei war das Viertel, in dem ich jetzt lebte, weder besonders heruntergekommen noch als gefährlich verschrien. Aber die Anonymität der Großstadt war etwas, an das ich mich erst noch gewöhnen musste – auch wenn ich genau die in New York gesucht hatte.

Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus und stopfte beides in den schmalen Garderobenschrank direkt neben der Tür. Dann schlurfte ich über den dunklen Holzboden zu meinem Schreibtischstuhl, der nur ein paar Meter weiter rechts vor meinem geliebten alten Sekretär stand – ein Erbstück von meiner Grandma –, und schnappte mir meine Jogginghose, die über der Rückenlehne hing. Nachdem ich sie gegen meine Jeans getauscht hatte, trat ich vor die spartanische Küchenzeile, die sich neben dem Schreibtisch in der Ecke befand, und machte mir eine Tasse Schwarztee.

Mit dem dampfenden Becher setzte ich mich an den Sekretär und band mir die schulterlangen Haare zu einem lockeren Zopf, um es beim Arbeiten gemütlich zu haben. Die wirkliche Arbeit begann nämlich erst jetzt.

Puh!

Ich atmete einmal tief ein und aus. »Dann mal los.«

Abgesehen davon, dass ich es in Beckhaven einfach nicht mehr ausgehalten hatte, war ich nach Brooklyn gezogen, weil ich hier meinen Traum verwirklichen wollte. Schon als Kind hatte ich für mein Leben gern gezeichnet und gemalt. Später war mein großes Interesse für Mode hinzugekommen – und damit der Traum, irgendwann die New Yorker Laufstege zu erobern und eine eigene Boutique zu eröffnen. Jetzt war ich neunzehn, saß an einem winzigen Schreibtisch und versuchte, Kleider zu entwerfen – in einer Pinguin-Jogginghose. Was für eine Ironie. Ich musste unbedingt die Entwürfe für mein Portfolio fertigstellen, mit dem ich mich an der Parsons School of Design hier in New York bewerben wollte, einer der renommiertesten Universitäten, wenn es um Modedesign ging. Jetzt war es Anfang September, und wenn ich es schaffte, die Bewerbung und die Essays bis Mitte Januar fertigzustellen, hieß es Daumen drücken und hoffen, dass sie sich für mich entschieden und ich nächsten Herbst dort anfangen konnte zu studieren.

Ich war mir immer sicher gewesen, dass ich es schaffen würde. Meine Tante, die eine Boutique in meinem Heimatort besaß und genauso ein Faible für Mode hatte wie ich, war von vielen meiner Entwürfe begeistert gewesen. Doch in letzter Zeit – um genau zu sein, seit diese verdammte Party Anfang des Jahres mein ganzes Leben um hundertachtzig Grad gedreht hatte – war ich zunehmend unzufrieden mit meinen Designs. Alles, was ich zu Papier brachte, wirkte in meinen Augen langweilig, mir fehlten die Ideen. Ich hatte die Hoffnung gehegt, dass in New York, weit weg von meinen Problemen, die Inspiration zurückkommen würde, doch bei dem Frust mit der Jobsuche hatte sie sich bisher noch nicht wieder gezeigt. Das bedeutete, dass ich nun erst recht die Zähne zusammenbeißen und hart arbeiten musste. Jede. Einzelne. Sekunde. Zumindest jede, in der ich nicht gerade Apfelkuchen und Karamell-Kaffee servierte.

Es würde nicht leicht werden, in New York Fuß zu fassen, zumal ich hier niemanden kannte – von meinen beiden Kollegen einmal abgesehen – und mir gerade nur schwer vorstellen konnte, neue Menschen in mein Leben zu lassen. Aber lieber wohnte ich allein in einer mir vollkommen fremden Stadt, als auch nur einen weiteren Tag dort verbringen zu müssen. Es war nicht ganz einfach gewesen, Mom und Dad zu vermitteln, dass ich nach New York ziehen wollte, obwohl ich noch keinen Studienplatz hatte, ohne ihnen die wahren Gründe dafür zu verraten – und das wollte ich auf keinen Fall. Am Ende hatten sie zähneknirschend zugestimmt, die Miete für eine kleine Wohnung zu übernehmen, wenn ich mir möglichst schnell einen Job suchte und meine sonstigen Lebenshaltungskosten zumindest bis zum Beginn meines Studiums selbst bestritt. Ein Kompromiss, mit dem ich definitiv leben konnte. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. So schnell wie möglich. Und ich wollte hinter mir lassen, was passiert war. Den Schmerz, die Enttäuschung und das Gefühl der Hilflosigkeit. Ich wollte wieder nach vorne schauen, und ich war mir sicher, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand. Zumindest hoffte ich es inständig.

Den restlichen Abend verbrachte ich damit, an meinen Designs zu feilen. Wenn sie schon nicht besonders ausgefallen waren, sollten sie zumindest technisch perfekt sein – und heute fielen mir tatsächlich noch ein paar schöne Details ein. Mit meinem Bleistift fuhr ich über das Papier und skizzierte erst einen Rock, dann eine passende Bluse mit weiten Ärmeln. Irgendwann schienen die Designs geradezu aus mir herauszufließen, und ich konnte nichts anderes tun, als dem Drang, sie zu Papier zu bringen, nachzugeben. Nach langer Zeit fühlte ich mich, zumindest für ein paar Stunden, wieder freier und leichter. Doch nicht nur das Zeichnen, auch die Tatsache, dass ich einen Job gefunden hatte, ließ die Anspannung, die mich seit Wochen beherrschte, ein wenig schwächer werden.

Als sich meine Finger um den Bleistift bereits verkrampften, machte ich mir ein Schinken-Käse-Sandwich und kuschelte mich damit unter meine beige Lieblingsdecke, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Sie begleitete mich schon seit zehn Jahren, meine Grandma hatte sie mir damals geschenkt, und verlieh dem tristen Raum mit den kahlen weißen Wänden, die an manchen Stellen schon leicht vergilbt waren, zumindest einen Hauch von wohligem Zuhausegefühl. Dann klappte ich meinen Laptop auf und sah mir ein paar Fashion Shows von Marc Jacobs, Valentino und Burberry an. Ich bildete mir ein, dass mir, wenn ich mich kurz vor dem Einschlafen mit Modenschauen oder Modeblogs beschäftigte, neue Ideen für meine eigenen Entwürfe einfach so im Schlaf zugeflogen kommen würden. Früher hatte das manchmal geklappt, doch in letzter Zeit immer seltener. Sie wurden überlagert durch düstere Träume von dunklen Gestalten, die mich nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht heimsuchten.

Während die Models noch über die Laufstege der Pariser Fashion Week stolzierten, fielen mir immer wieder die Augen zu. Der Tag war anstrengend gewesen. Was früher vollkommen normal für mich gewesen war – mich mit so vielen verschiedenen Menschen zu unterhalten –, fiel mir inzwischen unglaublich schwer. Soziale Kontakte hatte ich in den letzten Monaten um jeden Preis gemieden, jetzt musste ich mich erst wieder daran gewöhnen.

Meine Lider wurden immer schwerer und schwerer und schwerer ...

Lügnerin. Schlampe. Verräterin.

Panisch schnappte ich nach Luft und presste mir eine Hand auf die Brust. Mir war heiß und kalt zugleich, und ich spürte, wie mein T-Shirt schweißnass an meinem Rücken klebte. Hektisch schaltete ich meine Nachttischlampe an und versuchte, tief durchzuatmen. Ich schloss für ein paar Sekunden die Augen und krallte meine Fingernägel in die Bettdecke. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und drohte, mir die Luft zum Atmen zu nehmen.

Wann enden diese verdammten Albträume endlich?

Zitternd versuchte ich die Tränen wegzublinzeln und starrte an die Decke. Erst nachdem ich stumm bis hundert gezählt hatte, wagte ich es, mich vorsichtig im Raum umzusehen.

Ich war allein.

Ich wollte endlich hinter mir lassen, was geschehen war, doch während sich mein Körper hier, in der Gegenwart, befand, steckte mein Kopf immer noch in den Albträumen der Vergangenheit fest, die ich einfach nicht loswurde. In der Nacht verfolgten mich die Dinge, die ich tagsüber zu vergessen versuchte. Die Party, Kyle, der Streit mit Tara und Beth.

Flittchen. Schlampe.

Selbst wenn ich einen guten Tag gehabt hatte, konnte ich mich vor den Gedanken nachts nicht in Sicherheit bringen. Aber ich hoffte, dass sie hier mit der Zeit immer leiser werden und irgendwann vielleicht ganz verstummen würden.

Nach einer Weile musste ich doch wieder eingeschlafen sein – als mich wenige Stunden später der Alarm meines Handys weckte, brannte meine Nachttischlampe noch immer. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, stand langsam auf und streckte mich in alle Richtungen. Die Sonne schien durch den winzigen Spalt am Rand der Jalousien und erhellte den Raum.

Jeden Morgen, wenn ich die Rollos hochzog, fühlte ich mich ein bisschen wie ein Vampir, der vom Sonnenlicht geblendet wurde. Dass ich einer war, konnte ich allerdings relativ sicher ausschließen, da ich nachts wirklich gerne schlief. Mein Bett war mir heilig. Auch wenn ich früher gerne auf Partys gegangen war, war ich nie diejenige gewesen, die bis zum Morgengrauen durchtanzte – kurz nach Mitternacht war für mich meistens Schluss gewesen. Doch seit der Sache in Beckhaven hätten mich sowieso keine zehn Pferde mehr auf eine Party kriegen können. Was nicht zwingend dazu führte, dass ich mehr schlief. Die meiste Zeit lag ich in meinem heiligen Bett wach, starrte an die Decke und dachte über all die Dinge nach, die nie wieder so sein würden, wie sie einmal gewesen waren.

Nachdem ich mich angezogen und einen Joghurt mit Müsli gefrühstückt hatte, machte ich mich für meine zweite Schicht in Larry’s Brew fertig und verließ die Wohnung. Von Brooklyn aus zum Café brauchte ich mit der U-Bahn ungefähr eine halbe Stunde, um acht Uhr sollte ich anfangen.

Obwohl es erst kurz nach sieben war, schien ganz New York bereits auf den Beinen zu sein. Überall wuselten Menschen umher und gaben mir das Gefühl, zur Abwechslung nicht ganz alleine zu sein. Zwar kannte ich all diese Leute nicht, aber die Hektik tat mir gut, vor allem am frühen Morgen. In solchen Momenten realisierte ich es – ich war in New York, und ich hatte einen Job!

Eine Viertelstunde vor Schichtbeginn öffnete mir Olivia die Glastür zum Café und winkte mich hektisch herein, wobei sie den Leuten, die bereits Schlange standen und dabei auf ihren Handys herumtippten, misstrauische Blicke zuwarf.

»Jade, mach schnell, sonst denken die Geier, sie könnten schon früher reinkommen.«

»Und was sagt Larry dazu, dass du unsere Kunden wie Bittsteller draußen warten lässt?«, erkundigte ich mich schmunzelnd, während ich mir wenig später meine Schürze umband und den ersten Kaffee des Tages aus der Maschine ließ.

»Larry? Ach, der soll froh sein, dass ich für ihn arbeite und es mit Miles aushalte. Und jetzt, wo du hier bist, hab ich außerdem noch eine weibliche Verbündete. Bei so viel Frauenpower wird selbst Larry, der Macho-Griesgram, kleinlaut, glaub mir.« Sie zwinkerte mir zu und band sich die hellblauen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz.

»Ich wünschte, ich würde mich so was trauen.«

»Was meinst du?« Sie schaute mich verwundert an.

»Na, deine Haare. Megacool. Erinnert mich an Lady Gaga bei den Golden Globes.«

Ihre Haarfarbe hatte mich von Anfang an fasziniert. Dass ich das Hellblau abends noch in eines meiner Designs hatte einfließen lassen, erwähnte ich jedoch lieber nicht. Ich wollte keinen seltsamen Eindruck erwecken. Aber als ich mir die Entwürfe heute Morgen noch mal angesehen hatte, war ich selbst überrascht gewesen, wie gut sie mir gefielen.

»Also zunächst mal will ich klarstellen, dass Gaga sich das mit Sicherheit von mir abgeguckt hat.« Sie grinste und zwirbelte eine Strähne zwischen den Fingern. »Und außerdem falle ich einfach gerne auf. Irgendwie muss ich das schließlich auch.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schief. »Du musst auffallen?«

»Na ja, ich bin Tänzerin. Den Job hier mache ich doch nur, weil das Tanzen alleine momentan noch nicht zum Leben reicht.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie auf den Tresen. »Und wenn du aufgrund deines Aussehens herausstichst, hast du bessere Chancen, bei einer Audition genommen zu werden. Je auffälliger du aussiehst, desto eher behalten sie dich im Gedächtnis.« Schnell fügte sie hinzu: »Natürlich sollte ich besonders wegen meiner tänzerischen Leistung auffallen, aber die bunten Haare lenken in den meisten Fällen eben schnell die Blicke auf mich.«

Ich fand das Thema wahnsinnig spannend. So ein Leben kannte ich bisher nur aus Tanzfilmen. Ich trank noch einen Schluck aus meiner Tasse und überlegte. Dann räusperte ich mich verlegen. »Dann tanzt du echt in Musikvideos mit?«

»Ab und zu, ja. Dazu kommen viele, meist leider noch relativ kleine Auftritte. Bisher waren keine so krassen Stars dabei, eher Newcomer. Aber sobald ich von einer Audition höre, die interessant ist, bin ich am Start und versuche, den Job zu bekommen. Die Konkurrenz ist krass, aber ich kämpfe einfach weiter. Bis ich irgendwann mit Usher auf einer Bühne stehe«, fügte sie lachend hinzu.

Nickend lächelte ich. Ich liebte Musik, und auf Partys hatte ich früher immer gerne und ausdauernd getanzt, aber heute drehte sich mir bereits bei der Vorstellung, mich sexy zu bewegen, während mir andere zusahen, der Magen um.

»Hast du schon mal getanzt?«, fragte sie und legte den Kopf schief.

»Klar, also, irgendwie. Ich hatte nie Unterricht, aber auf Partys und zu Hause vor dem Badezimmerspiegel natürlich schon. Wie jeder, denke ich.« Ich holte tief Luft. »Aber gut bin ich nicht. Ganz im Gegenteil.«

Olivia grinste diabolisch und klatschte in die Hände. »Dann wird es wohl Zeit, dass du es mal richtig versuchst. Du darfst dich glücklich schätzen, liebe Jade, ich werde dich in die wunderbare Welt des Tanzens einführen. Das wird toll! So kannst du auch ganz leicht neue Kontakte knüpfen und meine Freunde kennenlernen. Komm doch morgen einfach mit, da unterrichte ich ein paar Blocks weiter in einer Tanzschule eine Hip-Hop-Class für Anfänger, da lernst du die wichtigsten Schritte.«

»Äh, ich weiß nicht …«

Sie wollte, dass ich mitkam. Warum in Gottes Namen wollte sie das? Mir wurde heiß. Das ging mir alles zu schnell. Viel zu schnell. Olivia war zwar nett, aber ich kannte sie kaum. Ich wollte unter keinen Umständen vor anderen Menschen tanzen oder deren Aufmerksamkeit auf mich ziehen, sie dazu bringen, über mich zu urteilen oder Schlimmeres. Mein Atem ging stockend, und ich versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Ich spürte ein drückendes Gefühl in der Magengegend und …

»Jade?« Olivia schaute mich mit großen Augen an und berührte mich sanft am Arm. »Alles in Ordnung?«

Ich sog scharf die Luft ein. »J-Ja … aber … n-nein. Ich glaube … ähm … das ist keine gute Idee.« Rasch wandte ich den Blick ab, richtete ihn durch die Scheibe nach draußen. Vor der Tür hatten sich noch mehr Menschen angesammelt.

»Wieso denn nicht? Das macht wahnsinnig viel Spaß, und die Leute sind echt nett.«

Ich bekam kein Wort heraus. Und was sollte ich ihr auch sagen?

Ich kenne dich nicht.

Nein, keine gute Idee. Das klang viel zu abweisend, immerhin arbeiteten wir zusammen. Und irgendwie war es auch schön, jemanden in New York zu haben, mit dem ich etwas unternehmen konnte. Ohne Bekanntschaften würde es mir um einiges schwerer fallen, mich von den Erinnerungen abzulenken, die sich nicht mehr aus meinem Kopf lösten. Das hatten mir die letzten Monate deutlich gemacht. Trotzdem vertraute ich ihr noch nicht, und außerdem wollte ich nicht, dass etliche Augenpaare auf mich gerichtet waren, während ich mich zur Musik bewegte.

»Ich kann nicht.«

Sie legte den Kopf schief. »Tanzen? Das macht doch nichts, das lernst du dann.«

Ich trat von einem Bein aufs andere und blickte mich nervös um. Wann konnten wir endlich aufschließen?

»Ich … Ich habe gerade einfach wenig Zeit. Vielleicht ein anderes Mal.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen lächelte sie mich an und entgegnete: »Na klar, verstehe ich.« Dann nahm sie den Schlüssel vom Tresen und lief an mir vorbei zum Eingang. Kurz vor der Tür blieb sie allerdings noch einmal stehen und drehte sich beschwingt zu mir um. »Du weißt aber schon, dass ich nicht lockerlassen werde, oder?«