Zweihundert poetische Miniaturen.
Der Leser erfährt, was Brecht für notorische Dummköpfe empfahl, warum Wissen unruhig macht, weshalb Stare die Autorität eines Vaters retten können und wieso der siebente Schnaps den Postboten eifersüchtig machte. Der literarische Reiz dieser Texte liegt in jener besonderen Verschmelzung von Poesie, Weisheit und Humor, die Strittmatters Erzählkunst unverwechselbar macht. Sie zeigen Strittmatter als brillanten Meister der kurzen, komprimierten Form: von der pointierten Anekdote bis zur sensiblen Reflexion über Leben und Schreiben.
Über Erwin Strittmatter
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).
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Schulzenhofer Kramkalender
Inhaltsübersicht
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Kapitel 1 – Kalendersterne
Kapitel 2 – Vogelzug
Kapitel 3 – Die kleinen Schiffe
Kapitel 4 – Großvaters Welt
Kapitel 5 – Hasennarreteien
Kapitel 6 – Kundenerziehung
Kapitel 7 – Der Umweg der Pilze
Kapitel 8 – Großmutters Korb
Kapitel 9 – Mein Bett
Kapitel 10 – Die alte Hofpumpe
Kapitel 11 – Tod eines Hofes
Kapitel 12 – Der Giersch
Kapitel 13 – Das Teufelsmesser
Kapitel 14 – Mittags
Kapitel 15 – Die Frischlinge
Kapitel 16 – Mücke am Blatt
Kapitel 17 – Stühle flicken
Kapitel 18 – Die Brecht-Nessel
Kapitel 19 – Das Opfer
Kapitel 20 – Bienenwachs
Kapitel 21 – Storchschnabel
Kapitel 22 – Die rechte Großmutter
Kapitel 23 – Der Molch
Kapitel 24 – Der Birkenholzkäfig
Kapitel 25 – Spatzendank
Kapitel 26 – Die Heiligsprechung
Kapitel 27 – Die Macht des Wortes
Kapitel 28 – Der dunkle Weiher
Kapitel 29 – Steine und Bücher
Kapitel 30 – Die Kolkraben
Kapitel 31 – Fliegende Würmer
Kapitel 32 – Mardersuche
Kapitel 33 – Heuwetter
Kapitel 34 – Gewitternacht
Kapitel 35 – Häckselschneiden
Kapitel 36 – Die Abmachung
Kapitel 37 – Nach dem Gewitter
Kapitel 38 – Überfülle
Kapitel 39 – Eifersucht
Kapitel 40 – Das Licht
Kapitel 41 – Die Totenrose
Kapitel 42 – Fohlen im Regen
Kapitel 43 – Große und kleine Mühlen
Kapitel 44 – Veilchen
Kapitel 45 – Die Kraniche I
Kapitel 46 – Bäume
Kapitel 47 – Die Pferdebürste
Kapitel 48 – Sand
Kapitel 49 – Wandel
Kapitel 50 – Hochherbst
Kapitel 51 – Raubtiere
Kapitel 52 – Das Vogelnest im Pferdeschwanz
Kapitel 53 – Zwischen Moor und Gräsern
Kapitel 54 – Wintererwarten
Kapitel 55 – Holundersuppe
Kapitel 56 – Der Werbeunfall
Kapitel 57 – Stieglitz und Stute
Kapitel 58 – Zweiter Schnitt
Kapitel 59 – Die Kraniche II
Kapitel 60 – Wie die Erde frisst
Kapitel 61 – Der Starenbaum
Kapitel 62 – Grasmähen
Kapitel 63 – Gebrochener Stolz
Kapitel 64 – Knospen
Kapitel 65 – Krähenstreit
Kapitel 66 – Das Interview
Kapitel 67 – Die kleine Fabrik
Kapitel 68 – Die Eiskuh
Kapitel 69 – Der Sessel
Kapitel 70 – Am Ofen
Kapitel 71 – Zu früh
Kapitel 72 – Tran
Kapitel 73 – Verwirrung
Kapitel 74 – Waldweg
Kapitel 75 – Der Kuckucksspiegel
Kapitel 76 – Nebelzauber
Kapitel 77 – Bal i mal stirb …
Kapitel 78 – Die fliegende Wiese
Kapitel 79 – Die Schwäne I
Kapitel 80 – Wissen macht unruhig
Kapitel 81 – Die Ankunft der Stare
Kapitel 82 – Enten und Mond
Kapitel 83 – Voller Morgen
Kapitel 84 – Der künstliche Baum
Kapitel 85 – Was sagt der See?
Kapitel 86 – Der Bezirkssekretär
Kapitel 87 – Maustod
Kapitel 88 – Wildgänse I
Kapitel 89 – Der blinde Passagier
Kapitel 90 – Der Wasserhahn
Kapitel 91 – Junge Nattern
Kapitel 92 – Der Umschlag
Kapitel 93 – Der Nachschöpfer
Kapitel 94 – Der Drosselruf
Kapitel 95 – Dummköpfe
Kapitel 96 – Gänseblumen
Kapitel 97 – Eine Gespenstergeschichte
Kapitel 98 – Am See
Kapitel 99 – Roman
Kapitel 100 – Im Hofe
Kapitel 101 – Der Pelzmantel
Kapitel 102 – Sommerausklang
Kapitel 103 – Trotz verlorener Zähne
Kapitel 104 – Die Fliege
Kapitel 105 – Was trägt der Reiter?
Kapitel 106 – Rache
Kapitel 107 – Wildgänse II
Kapitel 108 – Abend am Moor
Kapitel 109 – Der Eichkätzchenschweif
Kapitel 110 – Geschonneck und ich
Kapitel 111 – Der Grasgott
Kapitel 112 – Pritzerbe
Kapitel 113 – Das Mammutschwein
Kapitel 114 – Deshalb
Kapitel 115 – Der Reiherschrei
Kapitel 116 – Mein Dorf
Kapitel 117 – Trostwind
Kapitel 118 – Olch
Kapitel 119 – Mathematik einer kleinen Kiefer
Kapitel 120 – Woher?
Kapitel 121 – Blauer Rauch
Kapitel 122 – Die Katze
Kapitel 123 – Taube und Schwein
Kapitel 124 – Nutzlast
Kapitel 125 – Der Pirol
Kapitel 126 – Die Karpfenlaus
Kapitel 127 – Zufall
Kapitel 128 – Die Angler
Kapitel 129 – Die Gluckensprache
Kapitel 130 – Der Hofhase
Kapitel 131 – Auf dem Kahlschlag
Kapitel 132 – Die Glückwunschkarte
Kapitel 133 – Wildganssuche
Kapitel 134 – Amseln
Kapitel 135 – Das torkelnde Pferd
Kapitel 136 – Septembermorgen
Kapitel 137 – Die Bremer Stadtmusikanten
Kapitel 138 – Auf dem Felde
Kapitel 139 – Die Feder
Kapitel 140 – Der Wegweiser
Kapitel 141 – November am See
Kapitel 142 – Der Heckenrosenstrauch
Kapitel 143 – Ein Hengst geht davon
Kapitel 144 – Die Holzhauer-Truthähne
Kapitel 145 – Fabel und Fohlen
Kapitel 146 – Der Rauchfresser
Kapitel 147 – Der Kohlweißling
Kapitel 148 – Windige Geschichte
Kapitel 149 – Nebel
Kapitel 150 – Mann und Maus
Kapitel 151 – Zorn und Zeit
Kapitel 152 – Holunder
Kapitel 153 – Das Birkenblatt
Kapitel 154 – Der Weidenstrauch
Kapitel 155 – Die Schwäne II
Kapitel 156 – Spuren
Kapitel 157 – Die Fuchsie I
Kapitel 158 – Das Storchentreiben
Kapitel 159 – Heidelerchen
Kapitel 160 – Feldnacht
Kapitel 161 – Scheuleder
Kapitel 162 – Maiwind
Kapitel 163 – Das Fischsterben
Kapitel 164 – Genussdressur
Kapitel 165 – Wurzeln
Kapitel 166 – Pilze suchen
Kapitel 167 – Der Entenräuber
Kapitel 168 – Warten auf was
Kapitel 169 – Die Glucke
Kapitel 170 – Die Tabakpfeife
Kapitel 171 – Knoblauchpilze
Kapitel 172 – Das fliegende Rehkitz
Kapitel 173 – Glasierter Filz
Kapitel 174 – Die Fuchsie II
Kapitel 175 – Naturrein
Kapitel 176 – Regentag
Kapitel 177 – Novembermorgen
Kapitel 178 – Mancher sieht nicht so aus
Kapitel 179 – Herbst
Kapitel 180 – Der Tausch
Kapitel 181 – Der Hahnenschritt
Kapitel 182 – Wachteln
Kapitel 183 – Nach dem Regen
Kapitel 184 – Hoffnung
Kapitel 185 – Krähengesang
Kapitel 186 – Bussarde
Kapitel 187 – Föhren
Kapitel 188 – Schneefall
Kapitel 189 – Zwei Welten
Kapitel 190 – Südwind
Kapitel 191 – Der Hut
Kapitel 192 – Grünlinge
Kapitel 193 – Großvaters Tod
Kapitel 194 – Nordwind
Kapitel 195 – Der Kommissar
Kapitel 196 – Der Spuk
Kapitel 197 – Schweinebaldrian
Kapitel 198 – Die Brille
Kapitel 199 – Spörgel rupfen
Kapitel 200 – Waldmeister
Impressum
Meinem Vater
Wenn Nebel über den Feldern und über dem Dorf lag, machte Großvater ein Kreuz in den Kalender. »Nebel gibt nach hundert Tagen Regen«, behauptete er. Morgennebel, Abendnebel, Ganztagsnebel – alle wurden von Großvater zum Wettermachen verwendet.
Manchmal regnete es an einem von Großvaters angekreuzten Tagen wirklich, manchmal nicht. Dann musste Großvater sich herausreden: Das Gewitter war über der Kreisstadt niedergegangen, oder der Regen konnte nicht zu Stuhle kommen, weil das Land zu ausgedörrt war.
Großvaters Art, sich sein eigenes Wetter zu machen, beeindruckte mich und ließ mich nicht los, bis ich bei Jahren selber herzuging, etwas Ähnliches zu unternehmen: Ich versah die Sonnentage mit einem Stern im Kalender. Sonnentage sind Freudentage, und Freude zeugt Freude, hatte ich gehört, weshalb sollte mir also hundert Tage nach einem Sonnentag nicht eine Freude widerfahren!
Es klappte. Ich schien vom Großvater die Gabe ererbt zu haben, mir das Wetter zurechtzureden. Wenn die Freude an einem Sterntag im Kalender ausbleiben wollte, so kramte ich flugs in der Vergangenheit oder zwinkerte der Zukunft ein wenig zu. Auch das machte mich froh.
Schließlich schrieb ich die Freuden, die ich mir selber zugemessen hatte, in ein Zehnpfennigheft. Nun stehn sie hier in diesem Büchlein als Geschichten oder so was.
Als die Tage kürzer wurden, sattelte ich jeden Nachmittag mein Pferd und ritt in die Wälder. Ich blieb lange unterwegs und war bei jeder Witterung draußen. Es tat mir gut, den Wettern zu trotzen, und ich erholte mich von einer langen Krankheit.
An manchen Abenden sah, wer aus dem Hause trat, keinen Baum und keinen Pfahl, und alle Dinge waren für ihn in Nacht eingewoben, aber ich sah trotzdem manches, und obwohl mir Schnee und Regen wie Pfeffer und Salz ins Gesicht flogen, war ich guter Dinge; denn meine Stute trug mich durch die Dunkelheit, und ihr Rücken wärmte mich.
Es gab milde Abende, und die Käuze schrien, weil die laue Luft ihnen einen Scheinfrühling unter die Federn trieb, aber es wurde doch Winter.
Ich sah Damhirsche, Hasen und Rehe, immer wieder Rehe, und einmal sah ich einen merkwürdigen Bock, den die galoppierende Stute aus der Schonung stöberte. Es war noch hell, und der Bock stolperte verschlafen über die Schneise. Er hatte nur ein Horn, und das war verformt und lag wie eine Perücke auf seinem Kopfe.
Ach ja, ich sah auch Krähen, Häher und Spechte, und der Schwarzspecht schrie und versteckte sich. Die Ringeltauben weideten in den Fichtenkronen, und ich hörte sie mit den Flügeln klatschen, wenn sie von Wipfel zu Wipfel flogen.
Manchmal schrie ein Erpel auf einem der Seen, und der Wind rieb das Schilf, bis es tönte. Das Seewasser war dunkel wie Tinte, und manchmal war es bunt wie auf Märchenbuchbildern. Von welcher Farbe das Wasser war, hing vom Himmel ab, und es kam auf die Sonne an, wie der Himmel aussah, und es kam wiederum auf die Dichte der Wolken an, ob die Sonne da war oder nicht – eine Kette von Abhängigkeiten.
In einer Dämmerstunde sah ich einen Zug Vögel nach Süden fliegen. Es waren kleine Vögel, und sie zogen dahin. Ich stand unter ihnen; das Licht des Abendhimmels blendete mich, und ich konnte die Farbe ihres Gefieders nicht erkennen. Ich wünschte mir, dass es Heidelerchen waren, weil ich sie ihres Gesanges wegen liebe.
Es war ein Schlauch aus Vogelleibern. Er flog in schlangenartigen Windungen dahin und ähnelte darin jenen hohlen, vom Wind aufgeblasenen Papierdrachen, die die Chinesen in ihren Festzügen mit sich führen.
Wo die flinken Anführer des Vogelzuges aus unerkennbaren Gründen einen Bogen schlugen, tat es auch der Vogelschlauch mit einer erstaunlichen Gleichzeitigkeit aller Vögel.
Ich hielt meine Stute an, denn die Vögel zogen und zogen. Sie nahmen sich aus der Luft über den moorigen Wiesen, strebten dem Walde zu und verloren sich über den Baumwipfeln nach Süden, und es war, als ob vor meinen Augen aus dem Abendschummer immer mehr und neue Vögel entstünden.
Es war kein Laut in der Luft, und ich hörte keinen Flügelschlag, und die Stille, mit der die Vögel zogen, ließ mich an das Unwahrscheinliche in Träumen denken: Es strömte Vögel aus dem Nichts, strömte und strömte, und als der Strom nach Minuten abriss, schien mir, es müsste im Abenddunst etwas wie eine Spur zu sehn sein, ein Weg, wie ihn wandernde Landtiere hinterlassen.
Aber es war kein Weg zu sehn, obschon man annehmen muss, dass auch die Luft Sekundenteile benötigte, sich an der aufgewühlten Vogelstraße zu ordnen und zu glätten.
Kaum aber mochte das geschehen sein, da stob ein loser Schwarm der gleichen Vogelart vorüber, eine Handvoll Vögel, eine Prise – dem großen Zuge von einem zornigen Riesen nachgeworfen. Und die Hand des Riesen hatte dreimal in den Weltvogelbehälter gegriffen; denn drei Vogelprisen folgten dem großen Zuge, und der Abenddunst musste für hundertstel Sekündchen kleine Löcher aufweisen. Die drei Vogelprisen aber schlugen die gleichen Bögen wie der Schlauch aus Vogelleibern vor ihnen, obwohl der ihnen um eine Viertelminute voraus war.
Das alles sah ich, und als sich die letzten Vögel für meine groben Augen über den hohen Kiefern aufgelöst hatten, ritt ich wie einer, der in ein Geheimnis geblickt hat, weiter in die Wälder.
Mein Sohn Matthes schenkte mir zwei kleine Schiffe. Sie sind aus goldenem Stanniolpapier und haben eine besondere Eigenart: Niemand sieht ihnen an, dass sie Schiffe sind. Gekrümmte Papierblättchen. Wenn ich es nicht von Matthes erfahren hätte, so wüsste auch ich nicht, dass es zwei Schiffe sind.
»Wozu hast du die Goldpapierfetzchen auf dem Bücherregal?« werde ich gefragt.
»Lasst sie liegen; es sind zwei Schiffe!«
Die Schiffe werden auf dem Bücherbord bleiben, bis der älter gewordene Matthes mir etwas anderes dafür hinstellt.
Ich denke an mein erstes Gedicht. Es war ein Fetzchen bekritzeltes Papier, und niemand wollte es als Gedicht gelten lassen.
Großvater wurde neunzig Jahre alt, und ich sah ihn nie mutlos, nie kraftlos. Auf seinem Totenbett prügelte er sich noch mit einem jungen Mann, der ihn zu zeitig beerben und ihm die Uhr wegnehmen wollte. Die Uhr und der Kalender waren Großvaters Navigationsgeräte durchs Leben.
Wenn im Frühling der Kopfsalat im Garten einwuchs und der Wind mit den zartgrünen Blättern spielte, so hieß es bei Großvater: »Vorwärts geht’s, der Salat spielt schon mit den Ohren!«
Die Tiere hatten für ihn eine ins Menschliche übersetzte Sprache:
Der Kater vor dem Scheunentor sagte zur Katze auf dem Heuboden: »Katharina, komm mal raus, komm mal raus!«
Der Hengst rief der Stute zu: »Hiiier bin ich, hiiier!«, und die Kohlmeise sang: »Hier sitz ich fein, hier sitz ich fein!«
Die Krähen ermunterten im Winter einander: »Knoche dürr, Knoche dürr. – Klaube ab! Klaube ab!«, und die Schwalbe sang im Sommer am Hausgiebel: »Hosen flicken, Hosen flicken? Kein Zwirrn, kein Zwirrn.«
Der Grünspecht schrie nach Großvaters Auslegung im Frühling: »Weib, Weib, Weib!« und im Herbst: »Strick, Strick, Strick!«
Der Täuber gurrte: »Heb den Rock hoch, heb den Rock hoch!«, und der Goldammerhahn sang im Birkenwipfel: »Wie, wie, wie hab ich dich lieb!«
Manchmal mein ich, Großvater sei ein Dichter gewesen, einer, dem sein hartes Leben nicht Zeit ließ, aufzuschreiben, wie er die Welt sah.
Man irrt, wenn man glaubt, ein Hase sei ein Hase und nichts weiter als das Stück einer Gattung; denn auch Hasen haben Charakter, und es ist sicher nicht falsch, wenn ich sage: Soviel Hasen – so viele Charaktere.
Einer hat sein Lager am Rande der großen Waldwiese unterm Schirm einer kleinen Fichte. Manchmal passt es ihm nicht davonzulaufen, wenn ich vorüberreite. Er hält die Ohren steif, starrt die Stute an und verfolgt ihre Bewegungen. Ich versteh das: Er hat keine Lust, er denkt über etwas nach, und ich kümmere mich nicht um ihn, denn wenn ich allein bin, benötige ich seine Anwesenheit nicht. Wenn ich aber mit Besuch durch den Wald reite, kann’s heißen: »Hasen habt ihr hier wohl nicht?«
Dann reite ich an der Waldwiese geradewegs auf das Lager meines Vertrauenshasen zu, und er springt heraus, und die Besucher schrein: »Herrlich, ein Hase!«
Ich weiß natürlich, wo sich mein Hase nun versteckt hat, stöbere ihn auch dort auf, und die Besucher sind entzückt: »Da, wieder einer!«
Und wenn ich den Hasen aus seinem dritten und vierten Versteck scheuche, heißt’s: »Noch einer!« und: »Noch einer!«
Dann wird’s dem alten Hasen zu albern. Er schlägt einen großen Kreis und rennt zum ersten Lager zurück. Meine Besucher aber sind zufrieden und sagen: »Na, Hasen habt ihr hier noch und noch.«
»Soviel wir wollen«, antworte ich schmunzelnd.
Die Schriftsteller Berlins veranstalteten den jetzt traditionellen Mai-Buchbasar zum erstenmal. Ich sollte Brecht überreden, daran teilzunehmen. Ich überredete ihn nicht, und er nahm teil.
Die Schriftsteller bildeten Gruppen, und jede Gruppe erhielt einen Lastkraftwagen. Man bot Brecht an, in der Fahrerkabine des Lastwagens Platz zu nehmen. Er lehnte ab, obwohl er solche Bequemlichkeiten liebte, doch er wollte stets einen Bekannten bei sich haben, auf den er zurückgreifen konnte. Allein gelassen, schien er schmal wie ein Kind in der Fremde.
Wir fuhren auf die Vergnügungsplätze. Unsere Bücher wurden ausgeladen, und wir eröffneten einen fliegenden Verkaufsstand. Die Rummelplatzbesucher starrten uns an. Es fiel schwer, sie davon zu überzeugen, dass es modern sei, zwischen Schiffschaukeln und Drehorgeln Bücher zu kaufen. Unser Anreißer verhieß eventuellen Buchkäufern die Autogramme der Schriftsteller wie Zugabebonbons.
Schließlich entschlossen sich einige Vergnügungsplatzbesucher, mit der Geste des Erbarmens, näher zu treten. Einige mochten Brecht von Zeitungsporträts her kennen und dachten wohl an einen Rummelplatzschwindel, als man ihnen einen Mann in einem immer ein wenig zerknautscht aussehenden Mantel, mit einer etwas fleckigen Schiebermütze und einem nicht gerade frischrasierten Gesicht als echten Brecht unterschieben wollte. Schließlich probierten sie es mit einem Autogramm, gewissermaßen, um die Echtheit zu prüfen.
Ich stand neben Brecht, um ihm gegebenenfalls behilflich sein zu können. Mich kannte niemand, denn ich war frischgebacken und hatte soeben meinen ersten Roman mit dem abschreckenden Titel Ochsenkutscher herausgebracht. Brecht aber hatte sich in den Kopf gesetzt, mich bekannt zu machen, und wenn jemand ein Autogramm von ihm wünschte, sagte er: »Sie gestatten, dass ich mir zunächst selber ein Buch kaufe.«
Die Leute wollten natürlich sehn, was für ein Buch der zweifelhafte Brecht kaufen würde, und seine Echtheit wurde wieder in Frage gestellt, als er ein Buch über Ochsen kaufte. Ich musste Brecht eine Widmung hineinschreiben, und ich schrieb In Dankbarkeit hinein, und die Leute kauften mein Buch trotzdem nicht.
War Brecht jetzt entmutigt? Niemals. – Wir fuhren auf den nächsten Vergnügungsplatz, und wir packten unsere Bücher wieder aus, und Brecht kaufte wieder ein Buch von mir, und ich musste ihm wieder etwas hineinschreiben, und ich schrieb wieder In Dankbarkeit hinein, und die Leute kauften mein Buch trotzdem nicht, aber Brecht ließ nicht nach. Er kaufte an jenem Maitag auf verschiedenen Rummelplätzen wohl an sechs, sieben Bücher von mir und nannte das Kundenerziehung, und er betrieb sie mit der gleichen Intensität wie die Zuschauererziehung in seinem Theater.
Zum Schluss lächelten wir uns an wie Kinder, deren Versuch, Fische mit der Hand zu fangen, fehlschlug.
Wenn ich heute auf dem Maibasar beim Büchersignieren zum Aufschauen komme, denke ich an Brecht und an unseren ersten Buchbasar, und ich weiß nicht genau, was Früchte trägt, seine Kundenerziehung oder die Tatsache, dass er mich eine Weile erzog.
Aus dem Hochwald hüpften Kiefernkinder auf unser Brachland, wo die Ponys jedes Jahr das dürre Queckengras abweiden. Erst waren es nur einzelne Jungkiefern, die dort wie Zwerge in der Steppe standen, aber dann wurden es mehr, jedes Jahr mehr, und ehe wir’s uns versahen, entstand eine Schonung.
Bevor die Kiefern angeflogen kamen, wuchsen im Sommer auf dem Ponymist Champignons, und die Ponys lieferten uns auf diese Weise zu ihrer Arbeitskraft noch essbare Nebenprodukte. An den Wurzeln der Kiefern siedelten sich mit der Zeit Geflechte anderer Speisepilze an. Zuerst waren es Täublinge, dann Butterpilze und Blutreizker, und dieses Jahr fand unser Matthes, der die Ponys besuchen ging, dort den ersten Steinpilz.
Ich ging die Ponys tränken und sammelte Blutreizker in meine weiße Sommermütze. Die Mütze bekam rote Flecke vom Reizkersaft, und jedermann verzog entsetzt das Gesicht, wenn er mich mit blutiger Mütze daherkommen sah.
Nicht meine Mütze war’s, über die ich mir den Kopf zerbrach; es waren die Umwege, die sich die Natur leistet, wenn sie sich selbst überlassen bleibt: Für die Champignons, die mit der aufgeschlossenen Zellulose von Gräsern auskommen, brauchten wir nur ein Häufchen Pferdemist, aber für Reizker und Steinpilze benötigten wir auf dem Brachland erst einen Wald.
Um Butter aus Gras zu machen, braucht man Kühe. Aber kürzlich las ich, es wäre den Wissenschaftlern gelungen, Pilze ohne Wald zu züchten. In einer anderen Zeitschrift las ich, die Wissenschaftler wären dabei, Butter ohne Kühe aus Gras herzustellen. Sehr einverstanden; wo die Wissenschaft Umwege aus unserem Leben merzt, bin ich sehr einverstanden mit ihr; denn das Leben ist kurz, und Umwege zehren die Lebenszeit auf. Aber kürzlich las ich, dass die Wissenschaft daran arbeitet, Literatur ohne Schriftsteller herzustellen. Das macht mich gespannt.
Gestern, als ich im Keller aufräumte, fand ich ihn – Großmutters Korb. Es ist ein rechteckiger Henkelkorb aus steifen Weidenruten, der sich zum Boden hin verjüngt, den oben zwei Klappdeckel abschließen. Ich säuberte ihn, denn er war von silbergrünen Schimmelpilzen überzogen, und ich sah Großmutter Steinpilze, Pfifferlinge, Blaubeeren oder Preiselbeeren im weißgescheuerten Korb in die fünfzehn Kilometer entfernte Kreisstadt tragen.
Wenn Großmutter müde aus der Stadt kam, enthielt der Korb zuweilen etwas für mich: eine Leckerei, als ich klein war, und später, als mir das Lesen zur Leckerei wurde, ein billiges Büchlein.
Als ich auszog, um das Gruseln zu erlernen, verwahrte Großmutter in diesem Korb die kleinen Sachen, die mir lieb waren: ein Tüchlein von der ersten Geliebten, mein Dorfschulzeugnis, merkwürdige Steine, eine weiße Kornblume und die gepresste Zwillingsblüte einer Heckenrose. Wenn ich zu Besuch heimkam, holte Großmutter die kleinen Dinge hervor: »Du weißt wohl nicht, was du alles noch hast?«
Nun ist Großmutter in die Fremde gegangen und weiß wohl nicht, dass sie diesen Korb noch hat, der jetzt in meiner Arbeitsstube steht.
Mein breites Bett ohne Kopfteil und Fußteil steht unter der Dachschräge. Beim Schlafen stemm ich die Füße gegen den Giebel. Am Giebel hängt außen ein Starenkasten. Am Morgen, wenn die Stare erwachen, plustert das Weibchen sich über der Brut. Geräusch und Rumor wie vom Essenkehrer. Das Klappern im Kasten teilt sich der Giebelwand mit. Meine Füße erwachen. Ich werde wach. Mein Tag beginnt beim Ausflug der Stare.
Sie suchen nach Würmern; ich suche nach Worten.
Eine Wasserleitung wurde gebaut. Man riss der alten Hofpumpe das Gestänge und das Kolbenherz heraus: Da lag sie und war nichts als ein hohler Baumstamm.
»Soll man die Alten nicht ehren?« fragten meine Söhne. Sie trugen die Pumpe in den Garten, stellten sie auf und gruben sie ein.
Als die Obstbäume ringsum blühten, schlüpfte ein Meisenpaar durch das Mundrohr in den hohlen Pumpenstamm. Es legte ein Nest an. Fünf junge Meisen schlüpften und wuchsen. Sie flogen aus und piepten leise. Im nächsten Frühling sangen die jungen Meisenhähne, und die Weibchen zwitscherten.
Das neue Herz unserer Hofpumpe flog umher und sang.
Es liegt ein Großbauernhof dorfab in der Feldmark, und der vergeht, obwohl er breit wie ein gut verwurzelter Baum aus der Erde wächst. Die Winde rennen wie gescheuchte Hasen über die blachen Felder, und in den Gräsern ist ein beständiges Wehn. Drei Feldwege kriechen auf Spinnenbeinen von Ginsterhecken zum Horizont und verlieren sich hinter den Ackerbuckeln.