Cover

Bernhard Kellermann
 
DIE
BRÜDER
SCHELLENBERG

 

Erstes Buch

 

Schreibmaschinenschrift

der Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Wiedersehen mit Christine bis auf die letzte Minute und Sekunde auszukosten.

Ja, nun kam er also, treibend in diesem Strom hastender Menschen und jagender Wagen, und sie sah ihn nicht! Sie ahnte es nicht, daß er, Schritt für Schritt, immer näher kam. Würde sie zu Boden sinken? Er lächelte mit geweiteten Augen, ein erregtes, fast verzücktes Lächeln, aber so elend hatte ihn die Krankheit gemacht, daß sein Lächeln wie eine Grimasse des Schmerzes aussah. Er keuchte leise. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Knie zitterten ihm.

Das lange Krankenlager hatte ihn der Gegenwart entfremdet. Menschen, Stimmen, Gesichter, Gebärden erschienen ihm fremd, als sei er nach Jahrzehnten in diese Stadt zurückgekehrt, als sei er verändert in sie zurückgekehrt. Das monatelange Rauschen des fiebernden Blutes hatte seine Sinne verfeinert, so daß er Bewegung und Lärm um vielfaches verstärkt empfand. Die Straße jagte, die Straße donnerte, und fast überkam ihn eine Beklemmung.

Menschen und Gefährte schienen von einem wilden Strom fortgerissen zu werden, sie glitten und schossen vorüber, um in den Wirbel der Seitenstraßen geschleudert zu werden. Funken stoben aus den Rädern, blaues Feuer spritzte durch die nasse Luft. Omnibusse, mit Menschenleibern dicht beladen, Gesicht an Gesicht, bleich und fahl, schwankten wie Schiffe in den Strudel der Plätze, wo sie auf und ab stampften wie auf hoher See, und versanken. Der Boden zitterte und schwankte, die Luft gellte, es knallte wie von Explosionen. Wahrhaftig, es war wie in einer Schlacht.

Aus einem dicht über den düsteren Häusern hängenden lehmfarbenen Himmel fiel gleichmäßig ein feiner Sprühregen wie durch ein dünnes Sieb herab. Der Regen lag in Bläschen auf den schwarzen steifen Hüten der Herren, auf den Pelzen der Damen. Er hing auf den Schnurrbärten der Trambahnführer, und wenn man das Gesicht etwas schräg hielt, so netzte er, angenehm kühlend, Augenlider und Wangen.

Schritt für Schritt – und sie ahnte es nicht!

Würde sie einen ihrer wilden Schreie ausstoßen? Würde sie die Arme in die Luft werfen und an seine Brust stürzen, angesichts der Käufer, angesichts der Kolleginnen, angesichts der strengen Augen der Aufsichtsdame? Oh, Christine – nein, nein, sie kümmerte sich um nichts …

Die großen Scheiben des Warenhauses blendeten, drinnen schwankten Lichter und Menschen. Georgs Herz schlug: Die Stunde war da, tausendmal ersehnt und erträumt. In wenigen Minuten würde er sie sehen – würde er alles erfahren, Aufklärung erhalten über all das Unbegreifliche. Oder …? Sein geschwächter Körper bebte.

Um ganz offen zu sein, es gab ja manches, das nicht so einfach war. Er hatte nur nicht den Mut, es sich einzugestehen. Wie oft war er mitten in der Nacht aus dem Schlafe aufgefahren, um mit offenen Augen dazuliegen, bis der Tag graute? Wenn Christine etwa, nehmen wir es an, auch das war ja möglich – wenn sie nicht mehr hier sein sollte? Seit Wochen – warum betrügst du dich? – seit Monaten hatte er, seit genau drei Monaten, keine Antwort mehr auf seine Briefe erhalten …

Die trockene Wärme beruhigte, die Lichter, die Teppiche, die den Schritt dämpften. Eine Art von Wohlbehagen, ein Gefühl des Geborgenseins kroch über seinen durchfrorenen Körper, Röte überzog seine eiskalten, nassen Wangen.

Wie herrlich die Seide schimmerte! Eine Kaskade bunter Seidenstoffe stürzte aus einem hohen Brunnenbecken herunter in den Saal, funkelnd im Licht. Das Silber in den Vitrinen blitzte. Ein Verkäufer schleuderte einen Ballen Tuch auf den Ladentisch, daß er sich wie eine Schlange entrollte, die Schere blitzte in der Luft. Es roch nach feinem Leder, Juchten, nach den Parfüms der Frauen, die vorüberglitten. Die Türen der Aufzüge klirrten, Menschenbündel flogen in die Höhe, stürzten blitzschnell ins Bodenlose.

Hier war Reichtum, Luxus, Überfluß. Es sah ganz so aus, als gäbe es auf dieser Erde weder Hunger noch Kälte noch Entbehrungen. Das Riesengebäude mit seinen hundert Sälen war von oben bis unten angefüllt mit Waren. Die Waren waren bis zur Decke aufgeschichtet, sie überschwemmten die Säle, sprengten die Wände, überströmten die Wandelhallen und Treppenhäuser. Aber, war es nicht auffallend, im Vergleich zu diesen ungeheuren Warenmassen war die Zahl der Käufer nur gering. Man drängte sich nicht wie früher, stieß einander nicht an, kein Gedränge an den Kassen. Die Verkäuferinnen saßen hinter den Tischen, polierten sich die Nägel, färbten sich die Lippen, tuschelten. Glatzköpfige Herren gingen in den Gängen hin und her und blieben ab und zu stehen, um eine abgeschabte Stelle des Läufers zu untersuchen. Eine auffallende, fast bedrückende Stille herrschte in dem Warenpalast.

Nun brauchte man nur noch das Lager der Damenkonfektion zu durchqueren, an einigen gespreizten Wachspuppen vorbei, und man war in Christines Reich: Wäsche, Linnen, Spitzen für Damen.

Georg verbarg sich hinter einer dieser gezierten Puppen, die heiter glänzte und ihn mit ihren Augen verführerisch anstrahlte. Von hier aus vermochte er die Abteilung »Damenwäsche – Spitzen« unauffällig zu überblicken. Auch hier, wo früher tausend eifrige Hände erregt in den Waren wühlten, waren nur vereinzelte Käuferinnen zu sehen. Eine dicke Dame in einem rötlichen Pelz, wie ein dicker Hamster, einige halbwüchsige Mädchen mit hohen fleischroten Strümpfen.

Wie oft stand dieser Saal, glitzernd von Lichtern, wie eine Vision vor seinen Augen, während er in schlaflosen Nächten in die Ampel des Krankensaals starrte!

Plötzlich aber – plötzlich verspürte Georg einen Riß in der Brust, als sei ein Blutgefäß zersprungen: dort stand Christine!

Er hielt sich an der glänzenden Wachspuppe fest, an dem dünnen Kimono, das sie über den nackten, lackierten Beinen trug: an der Kasse lehnte, in einem blau-weiß gestreiften Kleide, ein Mädchen, das, einen Zettel in der Hand, mit der Kassiererin sprach. Beine und Arme etwas dünn, der Nacken mager, aber die Hüfte breit. Über dem Nacken ein Gewirr von Locken, schwarz, blauschwarz, lebendig bei jeder kleinen Bewegung, fliegend, und immer in Erregung. Die Damen schienen sich zu zanken. Die Kassiererin setzte den Kneifer auf und beugte sich ärgerlich über den Zettel.

Georgs Herz schlug. Wie lange schon mochte sich die Kassiererin über den Zettel beugen? Die Wachspuppe, die er mit den Fingern berührte, begann zu schwanken und drohte über ihn zu stürzen.

Plötzlich aber wandte sich das Mädchen mit den schwarzen Locken ab und kam geradewegs auf ihn zu …

Es war nicht Christine. Ein flaches, ödes Gesicht, wie Insulaner sie aus Kokosnüssen schneiden, die Augen flach wie Kürbiskerne, leer, ausdruckslos. Er blieb betäubt stehen. Das hölzerne Gesicht kam immer näher, wurde größer und ging vorüber.

Aber – so sagte er sich – und er fühlte, daß er sich mit einer Hoffnung betrog, um sich zu beruhigen, sie kann ja in einer anderen Abteilung tätig sein, nicht wahr? Langsam, leise zitternd in den Knien, wanderte er durch alle Stockwerke des Warenhauses. Höhlen aus blitzenden Messern, Grotten aus funkelndem Kristall. Phonographen schrien, elektrische Sonnen glühten ihn an. Er spähte, forschte. Nirgends.

Als er wieder die Straße betrat, war es Nacht geworden. Es regnete noch immer. Die Häuser schienen geborsten, und das Licht brach aus allen Fugen und zerrann in den Asphaltseen.

Georg verkroch sich in die Ecke einer kleinen Kneipe, um sich mit einem Imbiß zu stärken. Plötzlich aber sprang er auf, bezahlte und eilte zu dem Warenhaus zurück. Es war geschlossen.

»Wie töricht!« rief er aus und schlug sich heftig die Stirn. »Du hättest doch ihre Kolleginnen fragen können. Sie hätten dir gewiß Auskunft gegeben. Einen ganzen Tag hast du verloren, du Narr! Jetzt ist es zu spät.«

2

In einer Nebenstraße fand Georg nach langem Suchen ein kleines Hotel, das ihm billig genug schien. Er kroch unter die Decke und schlief, völlig erschöpft, augenblicklich ein, obschon es noch früh am Abend war und die Treppen und Türen des Hotels (für Wochen und Tage!) unaufhörlich knarrten. Nach tiefem Schlaf erwachte er früh am Morgen, dampfend am ganzen Körper, aber erfrischt und in zuversichtlicher Laune. Selbst die mürrischen Mienen der Zimmermädchen und Kellner, die in den Einzelgästen ein schlechtes Geschäft sahen, konnten ihm die Laune nicht verderben.

Er suchte eine Kaffeeschenke auf, und während er sein bescheidenes Frühstück einnahm, entwarf er einen genauen Plan für den heutigen Tag. Es galt vor allem zu handeln, nicht eine Stunde durfte er verlieren: seine Barschaft ging zu Ende! Erstens, sagte er sich, erstens also wollte er nochmals das Warenhaus besuchen, um nach Christine zu fragen. Es gab ja keinen Grund, sich zu erregen, verstehe mich recht, er würde Christine finden, heute, morgen. Berlin war eine Stadt der Ordnung, niemand konnte sich hier verbergen.

Zweitens wollte er bei Winter & Co. vorsprechen, jener Baufirma, bei der er zuletzt als Zeichner beschäftigt war, und anfragen, ob es Arbeit für ihn gäbe. Sollte ihm bei Winter kein Erfolg beschieden sein, nun, so gab es andere Firmen, Hausmann & Brune oder Hegelström oder Feinhardt. Er war nicht verlegen, oh, keineswegs.

Wenn die Zeit reichte, so wollte er – drittens – die wenigen Bekannten und Freunde besuchen, die er in Berlin besaß. Das waren vor allem der Bildhauer Stobwasser und der Zeichner Katschinsky. Vielleicht würden sie ihm raten können, was er beginnen solle. Mein Himmel, sechs Monate waren eine Ewigkeit! Er mußte ganz von vorn anfangen.

Es regnete noch immer, feine Regenschnüre rieselten auf dieses endlose Berlin herab. Die Wasserperlen lagen auf den Haaren der Hunde und auf den Lackschuhen der Damen, die in ihre Mäntel gewickelt vorübereilten. Die Straßenkehrer fegten den gelben Schlamm mit Gummistreifen in die Gosse, und Automobile mit großen Walzen wuschen den Asphalt der Straßendämme.

Das Warenhaus war noch völlig verödet. Die Geländer wurden poliert, es wurde Staub gewischt, der Fußboden gewichst. Die glatzköpfigen Herren gingen auf den Teppichen hin und her und gähnten. In der Damenabteilung wurden die Vitrinen abgestaubt, die Wäsche zurechtgelegt.

»Christine März?« Die Verkäuferinnen kannten sie nicht.

»März?« sagten sie. »Nein. Es gab große Veränderungen im Personal. Viele Damen wurden entlassen.« Die Kassiererin mit dem Kneifer kam hinzu. Sie kannte Christines Namen. »Ich erinnere mich«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, daß Fräulein März noch bei uns ist. Es scheint mir – wenn ich mich recht erinnere, hat sie vor einigen Monaten gekündigt. Sie hatte etwas Besseres gefunden.«

»Besseres?«

»Vielleicht täusche ich mich. Fragen Sie in der Personalabteilung nach.«

Zu allem Unglück war der Chef der Personalabteilung bei einem Termin auf dem Gericht, und die Schreibdamen wagten es nicht, Auskunft zu geben. Der Chef aber würde bestimmt am Nachmittag hier sein.

Gut, also am Nachmittag.

Bei Winter & Co., wo Weidenbach zuletzt gearbeitet hatte, wurde er mit Anteilnahme empfangen. Man erinnerte sich seiner. An der Tür und den Schalterfenstern erschienen einige neugierige Gesichter. Jemand nickte ihm zu. Der stattliche und nach Pomade duftende Prokurist kam heraus und erklärte ihm höflich, daß eine Vakanz zur Zeit – leider! – nicht offen sei. »Später vielleicht. Versuchen Sie es in einigen Wochen, Herr Weidenbach. Und mit Ihrer Gesundheit geht es wieder besser?« Ein Lächeln, eine Verbeugung.

Georg empfahl sich.

Er erwog, ob es sich überhaupt lohnte, zu Hausmann & Brune zu gehen. Es war eine kleine Firma, die nicht immer mit Aufträgen versehen war. Sie baute Laden aus, Dachwohnungen. Das war ihre Spezialität. Indessen, er beschloß einen Versuch zu machen. Aber – Hausmann & Brune waren nicht mehr zu finden! In den früheren Geschäftsräumen standen, so schien es von außen, Öfen und Herde. Ein Herr, in einen Pelz gehüllt, ging hinter den angelaufenen, nassen Scheiben auf und ab, eine riesenhafte Erscheinung.

Georg klopfte. »Ist hier Hausmann & Brune?«

Ein rothaariger junger Mann, schmächtig und klein, erschien, in einen Pelz eingewickelt, im Türrahmen und putzte sich den Kneifer. »Nein, hier ist Mohrenwitz Söhne, Öfen und Heizungsanlagen.«

»Und Sie wissen nicht, wohin Hausmann & Brune verzogen sind?«

Der Rothaarige zog sich kopfschüttelnd zurück.

Bei der Firma Hegelström hatte Georg vor zwei Jahren, als er nach Berlin gekommen war, als Volontär begonnen. Diese Firma machte alles: Häuser, Kirchen, Theater, Läden, Innenausstattungen, was man wollte. Hegelström war einer der begabtesten und meistbeschäftigsten Architekten Berlins. Er hatte jahraus, jahrein gegen zwanzig Zeichner sitzen.

Georg aber fand die Bureaus verödet. In dem kleinen dunklen Vorzimmer saß ein älterer Herr, der Prokurist. Georg erkannte ihn wieder.

»Mein Name ist Weidenbach«, sagte er, indem er seiner Stimme einen mutigen Klang gab und ungeniert näher trat, »ich habe bei Ihnen vor zwei Jahren sechs Monate lang als Volontär gearbeitet und frage an, ob Sie Beschäftigung für mich haben.«

Der Prokurist drehte ihm erstaunt den grauen Kopf zu und lächelte hämisch. Er war schlecht rasiert und sah verwahrlost und ungemütlich aus, wie ein verärgerter zottiger Hofhund, der auf Streit wartet. »Beschäftigung?« keuchte er, »Sie wollen Beschäftigung? Sie glauben wohl, daß wir nur auf Sie gewartet haben, Herr Weidenbach? Oder sind Sie hierher gekommen, um sich einen Scherz zu erlauben?« Er stand auf, schob die Hände in die weiten Hosentaschen und weidete sich an Georgs Verlegenheit. »Sie sollten also nicht wissen, daß Hegelström bankerott gemacht hat?«

»Hegelström – bankerott?«

»Ja, junger Mann, und ich sitze hier und verwalte die Masse, das ist meine Beschäftigung. Wir haben umgeworfen. Die Zehlendorfer Terrainkäufe haben Hegelström ruiniert. Ich war immer dagegen gewesen, aber Hegelström hörte ja nicht auf mich. Seine Gläubiger haben ihm ohne Gnade die Kehle zugezogen. Und Sie wissen das nicht? Wo in aller Welt steckten Sie, daß Sie das nicht wissen?«

Georg entschuldigte sich, er sei lange Zeit krank gewesen.

Der Prokurist ächzte: »Ich sitze hier noch bis zum Ersten. Dann liege auch ich auf der Straße. Sie wissen also nicht, was mit Hegelström geschehen ist? Ganz Berlin sprach wochenlang von nichts anderem.«

»Nein, wie sollte ich es wissen?«

»Er hat sich vergiftet, junger Mann. Uns allen wird schließlich nichts anderes übrig bleiben, als Arsenik zu fressen. Die Zeiten sind miserabel. Hegelströms Sozius ist Antiquitätenhändler geworden, wie viele Architekten. Er hat einen kleinen Laden in der Kantstraße. Besuchen Sie ihn. – Ja, nun erinnere ich mich wieder an Sie, Herr Weidenbach. Sie haben seiner Zeit die kleinen Villen entworfen, die Hegelström so gut gefielen, nicht wahr?«

»Es waren kleine Landhäuser für Zehlendorf.«

»Ja, richtig. Und Sie waren krank, sagen Sie? Warten Sie einmal – es ist mir so, als habe man mir etwas von Ihnen erzählt? Oder habe ich über Sie etwas in den Zeitungen gelesen?«

Georg wurde blutrot.

Der Prokurist aber gab es gottlob sofort auf, in seinem Gedächtnisse nachzuforschen. »Es sind schwere Zeiten für das Baugewerbe, Herr Weidenbach«, fuhr er fort. »Es gibt keine Aufträge, und die meisten Neubauten wurden eingestellt. Raten? Nein, ich kann Ihnen keinen Rat geben, ich wüßte nichts.«

Georg war schon in der Türe, als ihm der Prokurist hämisch lachend nachrief: »Vielleicht gehen Sie zu Schellenberg! Versuchen Sie es doch einmal bei ihm!«

»Schellenberg? Wer ist Schellenberg?«

»Schellenberg, das ist ein Unternehmer, der den Arbeitslosen zwanzig Pfennig die Stunde bezahlt, und dazu verspricht er ihnen eine Villa auf dem Monde. Ich sehe schon, Sie haben nicht übel Lust, zu ihm zu gehen – hahaha. Aber nun leben Sie wohl, Herr Weidenbach.«

Bestürzt verließ Georg das Haus.

Er hatte heute nicht mehr den Mut, bei anderen Firmen sein Glück zu versuchen. Kurz entschlossen sprang er auf eine Elektrische, um nach Charlottenburg zu fahren, wo sein Freund Stobwasser wohnte.

3

Karl Stobwasser sah nicht aus wie ein Bildhauer, eher wie ein Schneider. Es war ein kleiner schmächtiger Bursche mit einem schmalen Kopf, etwas schiefem Mund und auffallend spitzer, langer Nase. Auf der Baugewerbeschule in der Provinz – wo Weidenbach sein Mitschüler war – hatten seine vorzüglichen Steinmetzarbeiten und Holzschnitzereien die Bewunderung der Mitschüler und selbst der Lehrer erweckt. Vor zwei Jahren war Stobwasser nach Berlin gegangen, fest entschlossen, seinen Weg als Bildhauer zu machen. Er hatte auch bald Erfolge, wenn auch nur geringe. Ein angesehener Kunstkritiker hatte lobend auf seine Holzplastiken hingewiesen.

Stobwasser hatte seine Werkstatt im Hofe einer Charlottenburger Mietskaserne in einer Art Remise oder Stall aufgeschlagen. Dieses kleine Loch nannte er sein Atelier. Neben der Werkstatt befand sich ein wirklicher Stall, aus dem ununterbrochen eine Ziege in den kleinen finsteren Hof hinausjammerte, sooft sich nur ein Schritt vernehmen ließ.

Stobwasser war zu Hause, Gott sei Dank! Eine heisere, krächzende Stimme antwortete auf Georgs Klopfen. Als er in den kleinen, eisigkalten, halbdunklen Raum eintrat, fuhr ein verwilderter Kopf aus den Decken einer kleinen Eisenbettstelle empor. Eine lange, spitze Nase war das einzige, was Georg klar erkennen konnte.

»Wer ist es?« fragte die heisere Stimme des Bildhauers, und Nebel dampfte aus seinem Munde.

»Ich bin es, Georg.«

Der Bildhauer fuhr noch höher aus den Decken empor und richtete seine spitze Nase auf Georg. Er bewegte den wilden Haarschopf hin und her und vermochte kein Wort hervorzubringen.

»Wie? Wer?« rief er dann erschrocken aus.

»Georg!«

»Aber ist es möglich?« Stobwasser warf erregt die Arme in die Luft. »Du? Weidenbach? Ist es denkbar? Aber – verstehe mich – du siehst, daß ich es nicht fassen kann! Man hat mir doch gesagt, daß du – gestorben seist!«

»Nein, ich lebe noch«, entgegnete Georg mit einem leisen, bitteren Lachen.

Der Bildhauer schüttelte fassungslos den Kopf. »Wie ist es denkbar?« rief er aus. »Wer erzählte es denn nur? Katschinsky? Die Jenny Florian? Ich verstehe es nicht, wie konnte man es denn erzählen, wenn es nicht wahr war? Oh, mein armer Kopf, ich kann gar nicht denken! Nun, einerlei, wie das Gerücht aufkam – du lebst!« schrie Stobwasser mit heiserer Stimme. »Du lebst also noch! Ach Gott sei Dank! Dreimal war ich im Krankenhaus, um dich zu besuchen, aber man hat mich nicht vorgelassen! Und dann also – dann erzählte man es im Café! Lieber Himmel, was für Dinge geschehen können!« Er streckte Georg beide Hände entgegen. »Nun, Gott sei gelobt! Umarme mich, Bruderherz! – Oder bist du aus dem Jenseits gekommen, um mir einen Besuch abzustatten? Wie?« Der Bildhauer lachte und hustete. Glühendheiß brannten seine Hände. Er schwieg eine Weile, während er Georg mit großen, glänzenden Augen betrachtete. »Laß dich ansehen, alter Freund«, sprudelte er dann außer sich vor Freude hervor. »Wie wunderbar ist es doch! Und ich trauerte schon um dich. Und manchmal, es ist wahr, da habe ich dich beneidet. Nein, wie wunderbar ist es doch! Und da kommt er also plötzlich herein …!«

Georg sah sich in der kahlen Werkstatt um. »Wo sind deine Tiere?« fragte er, um von dem Thema abzulenken, das ihn peinigte. Früher war Stobwasser stets von einer Menge von Tieren umgeben gewesen: Papageien, Katzen, Kakadus, Mäusen.

»Meine Tiere?« Der Bildhauer ließ den Kopf sinken. »Meine lieben Tiere? Ach, es war zu kalt für sie hier, ich habe keine Kohlen. Eine Dame, eine barmherzige Seele, hat sie in Kost und Logis genommen. Seit Wochen bin ich nicht wohl. Selbst ein Hund würde in diesem Loch krank werden. Setze dich doch, Georg. Ich war eben aufgestanden, um etwas Tee zu kochen. Auf dem Wandbrett dort steht eine Tasse, nimm diese Tasse für dich und gib mir das Glas.«

Der Bildhauer nahm das heiße Glas in die Hände und wurde von Frost geschüttelt. »Schade, schade. Auch nichts kann ich dir anbieten, nicht einmal einen Kognak. Es ist zu ärgerlich!«

»Und wie ging es dir, seit wir uns nicht sahen, Stobwasser?«

Stobwasser führte das Glas mit zitternden Händen zum Munde und versuchte, den heißen Tee zu schlürfen. »Ich kann es immer noch nicht fassen, liebster Kamerad – aber sprechen wir nicht mehr davon. Ja, du fragst, wie es ging? Gut und schlecht. Es war nicht so einfach durchzukommen«, sagte er heiser, »aber ich verlor den Mut trotz allem nicht. Du weißt ja, ich hatte damals drei Figuren zu modellieren für die Villa eines Seifenfabrikanten. Nun, die Figuren mißfielen leider der Madame und wurden wieder heruntergeschlagen, und ich bekam keinen Pfennig. Ich konnte ja klagen, siehst du, so sind sie, die reichen Leute. Aber ich konnte ja nicht einmal den Anwalt bezahlen. Dann verkaufte ich eine kleine Holzschnitzerei, aber der Käufer zahlte nur eine geringe Summe an, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Reichen können sich nicht in die Lage des Armen versetzen. Sie können sich nicht vorstellen, daß man dasitzt und auf jeden Schritt horcht. Dann hatte ich Aussichten, die sich nie verwirklichten. Und nun bin ich krank und liege hier. Aber nun erzähle du«, schloß der Bildhauer, indem er das Glas abstellte und sich in die Decken hüllte. »Das Sprechen strengt mich an.«

»Ich? Es gibt nichts zu erzählen von mir«, wich Georg aus.

Stobwasser blickte ihn mit großen, fiebernden Augen an. »Nichts zu erzählen, sagst du? Man sollte doch meinen! Höre, Weidenbach, wir haben ja stundenlang über dich diskutiert und sind uns doch nicht klar geworden.«

»Worüber wolltet ihr euch denn klar werden?« unterbrach ihn Georg verlegen, mit leiser, hilfloser Stimme.

»Es war uns allen unerklärlich«, flüsterte der Bildhauer und streckte den Kopf so nahe wie möglich an Georg heran. »Es ist mir noch wie heute! Zwei Tage vorher waren wir alle zusammen in Potsdam, Katschinsky und Jenny Florian, du und die kleine Christine, und wir waren ja in solch ausgelassener Laune. Oh, du meine Güte!! Und zwei Tage später, da kommt Katschinsky zu mir hereingestürzt, hier herein in mein Atelier und sagt: ›Weißt du schon – Weidenbach …?‹ Und ich sagte: ›Unmöglich, wie soll das nur möglich sein!‹« Der Bildhauer brach ab, neigte sich vor und fragte noch leiser, während seine Augen doppelt so groß wurden: »Sage mir doch, Weidenbach, weshalb hast du es getan?«

Weidenbach erhob sich hastig und stammelte irgend etwas.

Augenblicklich versuchte Stobwasser ihn zu beruhigen. Beschwörend streckte er die Hand aus. »Setze dich wieder, Weidenbach, ich bitte dich! Ich will nicht mehr davon sprechen. Es gibt Dinge, die man selbst seinen Freunden nicht sagen kann. Aber, wie gesagt, es war uns unerklärlich, denn wir waren doch alle in solch vorzüglicher Laune, damals. Nun, ich verstehe, man tut manches, und später …« Der Bildhauer hustete.

»Wie geht es Katschinsky?« unterbrach ihn Georg.

»Katschinsky?« Stobwasser lachte leise. Irgend etwas Lustiges war ihm eingefallen beim Klang dieses Namens. Er streckte die spitze Nase zur Decke. »Ich weiß es nicht. Du kennst ja Katschinsky, man sieht ihn oft wochenlang nicht. Er brachte mir den Kunden, der mir die kleine Holzplastik abkaufte und bis heute nicht bezahlte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Es soll ihm nicht schlecht gehen. Er ist elegant und vornehm geworden, verkehrt in Tanzdielen und Spielklubs. Soviel ich weiß, ist er beim Film angekommen. Höre, Weidenbach, eben denke ich daran, was wirst du beginnen? Hast du schon eine Beschäftigung?«

»Ich suche etwas. Ich fragte heute da und dort an.«

»Schön. Höre. Gehe sofort zu Katschinsky. Er hat ja Verbindungen in allen Kreisen, und ohne Verbindungen ist heute schwer etwas zu machen. Vielleicht kannst du auch beim Film ankommen?« Ein Hustenanfall unterbrach Stobwasser, dann fuhr er lebhaft fort: »Und Christine, Georg, wie geht es Christine?«

Pause. Stille.

»Ich habe Christine im Warenhaus gesucht, aber sie scheint nicht mehr dort beschäftigt zu sein.«

Der Bildhauer richtete sich erstaunt auf. »Scheint? Scheint? Aber stehst du denn nicht in Verbindung mit Christine?« schrie er vor Erregung.

Leise antwortete Georg: »Christine schrieb zuletzt nicht mehr. Meine Briefe, meine letzten Briefe«, schaltete er ein, da er sich vor dem Freunde schämte, »kamen als unbestellbar zurück.«

Stobwasser erwiderte nichts. Er lag lange still, und sein Atem pfiff. »Die Frauen sind merkwürdig«, sagte er dann, mit einem neuen Hustenanfall kämpfend. »Sonderbar. Ich hätte es nicht für möglich gehalten«, fuhr er fort, während er Georg mit seinen großen, fiebernden Augen aufmerksam betrachtete. »Und du hast dir doch ihretwegen – es ist doch ganz gewiß, sonst wäre es ja überhaupt unverständlich – du hast dir doch Christines wegen eine Kugel in die Brust geschossen, Weidenbach?«

Wiederum erhob sich Weidenbach. Er trat einen Schritt zurück, schwieg, blickte zu Boden. Dann erwiderte er ganz leise, so daß Stobwasser ihn kaum verstehen konnte: »Sprich nicht mehr davon, Stobwasser, ich bitte dich herzlich. Was geschehen ist, ist geschehen. Es gab eine Szene zwischen Christine und mir, es gab immer Szenen und immer heftigere, und schließlich wußte ich nicht mehr, was ich tat.«

Stobwasser drückte Georgs Hand. Nach langem Schweigen sagte er: »Welch ein Satan, diese Christine! Und dabei ist sie noch kleiner als ich! Ach, und sie hörte auf, dir zu schreiben. Ja, die Frauen! Der Teufel soll sie holen, alle zusammen. Weißt du, Weidenbach, ich glaube, diese periodischen Störungen machen die Frauen völlig verrückt. Sie wissen nicht, was sie tun. Nun wohl, Christine hin, Christine her. Vergiß sie, Weidenbach – es gibt hundert Christinen!«

Georg schüttelte den Kopf. »Du täuschst dich, es gibt nur eine«, entgegnete er.

Stobwasser saß keuchend in den Decken und sah Georg lange an. »Also – trotz alledem?« rief er überrascht aus. »Nun, sie war ja ein wundervolles Mädchen, diese Christine, zugegeben. Sie war ein herrliches Geschöpf, gütig und wild in einem und voll toller Einfälle. Aber gehe jetzt, Weidenbach«, keuchte er, »das Sprechen tut mir weh. Die Brust schmerzt mich. Ich bin so glücklich, daß ich dich wiedersah, alter Freund. Und komme bald wieder, ich liege hier tagelang. Du kannst auch bei mir wohnen, wenn du willst. Wir können recht gut zu zweien hier hausen. Und der Kaufmann kann ja jeden Tag bezahlen, ich habe ihm geschrieben. Lebe wohl, Weidenbach, und vergiß nicht zu Katschinsky zu gehen, er weiß stets Rat.«

Schon im Hofe hörte Georg Stobwasser noch husten. Aus dem Ziegenstall schob sich zwischen Lumpen der Kopf der hungrigen Ziege, die Georg kläglich nachmeckerte.

4

»Heißes Wasser nennen Sie das?« rief Katschinsky unwillig der Wirtin zu. Noch immer tyrannisierte er die alte gutmütige Frau. Sie ließ sich alles von ihm gefallen. Er mochte bezahlen oder nicht, sie scharrte ihre letzten Groschen für ihn zusammen, denn sie hatte sich in den hübschen Jungen vergafft.

Katschinsky war eben dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen. Während er sich mit dem Apparat den weichen, kaum sichtbaren blonden Flaum von Wangen und Kinn schabte, unterhielt er sich mit Georg. Es war warm und hell in seinem Zimmer.

»Stobwasser? Natürlich werde ich Karl besuchen«, sagte er mit seiner immer etwas spöttisch und hochmütig klingenden Stimme. »Aber ich will Ihnen etwas sagen, Weidenbach. Dieser Stobwasser ist ein kurioser Bursche. Ich bringe ihm einen Käufer, er kauft ihm eine Plastik ab, macht eine Anzahlung, und nun schreibt ihm dieser unglückselige Stobwasser fortgesetzt Mahnbriefe.«

»Es geht ihm nicht gut, zur Zeit, Katschinsky«, warf Georg ein.

»Nun, wem geht es gut, frage ich? Man tut so etwas nicht, es verstimmt den Käufer. Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er Karl die Plastik zurückgeschickt.«

»Stobwasser ist krank. Er hat nicht einmal Geld, um zu heizen.«

»Trotzdem, trotz alledem, Sie müssen zugeben, Weidenbach …«

Katschinsky hatte offenbar ganz vergessen, daß sie sich früher geduzt hatten. Er hatte augenblicklich einen um eine Nuance förmlicheren Ton gewählt, als sein Blick Georgs abgetragene Kleidung streifte. So schien es Georg wenigstens.

Für Kurt Katschinsky, den Maler und Zeichner, hatte er immer Bewunderung empfunden und sich ihm ganz von selbst untergeordnet. Einige Karikaturen Katschinskys waren in Witzblättern erschienen. Katschinsky hatte in der Juryfreien mit Erfolg ausgestellt, und es bestand für Georg kein Zweifel, daß Katschinsky den Weg zum Ruhm betreten hatte.

Katschinsky war ein ungewöhnlich hübscher junger Mann. Er war blond und trug das Haar peinlich genau gescheitelt. Er wirkte größer, als er tatsächlich war, und auch schlanker. Er hatte große graue Augen und das etwas zarte und blasierte Gesicht eines verwöhnten Muttersöhnchens. Er war der Sohn einer Beamtenwitwe in Hamburg, die ihren letzten Pfennig für ihn opferte. So kam es, daß Katschinsky stets etwas Geld hatte und es sich leisten konnte, Jenny Florians Freund zu sein, einer jungen Schauspielerin, die zu den schönsten Frauen Berlins zählte. Wenn diese beiden jungen Menschen sich auf der Straße oder in einem Restaurant zeigten, so richteten sich stets alle Augen voller Bewunderung auf sie.

»Darf ich eine Frage an Sie richten?« fragte Katschinsky, während er sich mit einem heißen Tuch, das die alte Wirtin gebracht hatte, das Gesicht abtrocknete und Georg durch den Spiegel mit seinem schönsten, liebenswürdigsten Lächeln zulächelte.

»Fragen Sie ruhig.«

»Ich meine, Weidenbach« – der Maler puderte Wangen und Kinn mit einer zarten flockigen Quaste – »es interessiert mich: tut es weh – das, Sie verstehen mich?«

Georg antwortete nicht. Das Blut stieg ihm in die Wangen.

Da begann Katschinsky zu lachen. »Ach, es fehlte noch, daß Sie mir böse sind, lieber Freund. Es interessierte mich. Ich werde es ja nie tun, ich hätte gar nicht den Mut dazu. Und einer Frau wegen – ach, du lieber Himmel!« Er goß eine Essenz ins Haar und zog sorgfältig den Scheitel. Dann legte er den Kragen an und knüpfte mit großer Sorgfalt die Binde. Er schien für eine Weile die Anwesenheit Georgs ganz vergessen zu haben.

Katschinsky war stets gut gekleidet gewesen, und doch staunte Georg über die Eleganz des modischen Anzugs, den er heute trug. Die Hosen, an den Hüften weit geschnitten, waren tadellos gebügelt. Dazu trug Katschinsky Seidenstrümpfe und Lackschuhe. Die Krawatte war aus schiefergrauer schwerer Seide.

»Ich freue mich, daß es Ihnen gut geht, Katschinsky«, sagte Georg – und er schämte sich des heimlichen Gedankens, daß Katschinsky ihm vielleicht aus der Verlegenheit helfen könnte. Die Wärme des Zimmers hatte Georg aufgetaut. Seine Stimme wurde leichter, sein Benehmen freier.

»Der Schein trügt«, erwiderte Katschinsky, indem er kokett den Kopf über die Schulter drehte und spöttisch lächelte.

»Sie haben gewiß Erfolge? Stobwasser deutete es an.«

Katschinsky prüfte mit einem Handspiegel die Zähne, wobei er das Gebiß von den Lippen entblößte. Seine Zähne waren vorbildlich schön, regelmäßig, schneeweiß. »Erfolge!« rief er aus und lachte leise. »Es ist eine sonderbare Art von Erfolgen!«

»Haben Sie viel gearbeitet?«

Katschinsky schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, erwiderte er und polierte sorgfältig die Nägel, »ich habe fast nichts gearbeitet, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben. Es ist eine Müdigkeit über mich gekommen, eine ungeheure Müdigkeit. Ich bin wohl stets ehrgeizig gewesen, Weidenbach, aber ich hatte nie eine große Energie. Wozu auch? Im übrigen habe ich nicht die geringste Begabung.«

»Sie sollten keine Begabung haben, Katschinsky!« rief Georg erstaunt aus und lachte, seit langer Zeit zum erstenmal.

Katschinsky sah einen Augenblick auf. Der bedingungslose Glaube an sein Können, der so deutlich aus Weidenbachs Lachen klang, hatte seiner Eitelkeit geschmeichelt. Er errötete leicht. »Nein, nein«, sagte er, »ich habe es einmal geglaubt, aber ich sehe jetzt ein, daß ich kein Talent habe. Ich kann nur nachahmen, was andere vorgemacht haben. Ich müßte arbeiten, viel arbeiten, aber dazu fehlt mir die Energie.«

»Was tun Sie also?«

Katschinsky zog die Schultern hoch. »Sie sind ein ehrlicher Junge, Weidenbach«, sagte er, während er die Hände mit Puder einrieb. »Es ist möglich, daß Sie einmal ein großer Künstler werden, gerade weil Sie so einfach und aufrichtig empfinden. Ich will Ihnen nichts vormachen. Meine Mutter ist gestorben, und ich habe die Möbel, die sie mir hinterließ, verkauft. Für den Erlös habe ich mir Garderobe angeschafft. Ich tat das nur aus Eitelkeit, aber es stellte sich heraus, daß es das Vernünftigste war, was ich tun konnte. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, Weidenbach, daß es hier in Berlin Hunderte von jungen Männern gibt, die elegant gekleidet sind – Bügelfalten, Monockel, elegante Schuhe – und man weiß nicht, wovon sie leben. Aber sie haben das Aussehen der Sorglosen, ihre Gesichtsfarbe ist gut, die Hände sind gepflegt. Auf den Kleidern auch nicht ein Stäubchen. Sie gehen auf dem Kurfürstendamm spazieren und trinken in den Hallen der vornehmen Hotels um fünf Uhr Tee. Wovon leben all diese jungen Leute, Weidenbach? Nun, sie werden es Ihnen nicht verraten. Sie bilden eine Klasse für sich. Und erst, wenn Sie sich so kleiden wie diese jungen Männer, haben Sie die Möglichkeit, in ihre Geheimnisse einzudringen.«

»Also wovon leben sie denn?« unterbrach Georg den Maler ungeduldig und sah ihn mit einem neugierigen Blick an.

»Wovon wir leben?« antwortete Katschinsky, und ein eitles, zynisches Lächeln umspielte seinen schönen Mund. »Das ist nicht so leicht gesagt. Nun, wir leben, und wir leben nicht schlecht. Können Sie tanzen, Weidenbach, gut tanzen? Nun, so kommen Sie mit mir in eine Tanzdiele, um fünf Uhr. Ich führe Sie ein. Sie tanzen ein paar Schritte, man wird Ihnen Tee, Gebäck, Zigaretten und Liköre servieren, und wenn Sie besonders gute Figur machen, wird man Sie noch honorieren. Sie werden erfahren, daß es elegante Restaurants gibt, wo man mit einer hübschen Dame, die natürlich ebenfalls ohne jeden Tadel gekleidet ist, ganz umsonst zu Abend speisen kann.«

»Ist es möglich?« fragte Georg.

»Ja, es ist möglich«, erwiderte Katschinsky, dem die Verblüffung dieses armen, abgehetzten, bleichen, vom Regen zerweichten Weidenbach Vergnügen bereitete. Er schlüpfte in das Jacket und strich es mit den Händen am Körper glatt. Dann begann er mit leisen Schritten auf und ab zu gehen, und in seinem Gang drückten sich Befriedigung über die tadellose Kleidung und jenes Wohlbehagen aus, das eine sorgfältige Toilette bereitet. Sein schönes Gesicht strahlte von einem leichtsinnigen Lächeln, während er plauderte. »Man macht Bekanntschaften, knüpft Beziehungen an. Zuweilen trifft man auch da und dort eine hübsche Dame, die einen in ihr Haus einlädt. Man ißt und trinkt und läßt es sich wohl sein. Und dann, das ist das Allerwichtigste, gibt es eine ganze Menge von Spielklubs, die sich erkenntlich zeigen, wenn man ihnen zahlungskräftige Mitglieder zuführt. Man kann auch spielen, wenn man es versteht. Aber, um ehrlich zu sein, Weidenbach, darin bin ich noch Dilettant. Ich habe einen Freund, früherer Offizier der russischen Garde. Oh, der versteht zu spielen! Nimmt er nur die Karten in die Hand, so ist das Glück auf seiner Seite. Sie sehen, Weidenbach, so lebt man also. Und wenn man so leben kann, weshalb soll man sich anstrengen? Kunst – wer will heute in diesem Lande etwas von Kunst wissen, wer versteht etwas von Kunst. Diese Zeiten sind vorläufig vorüber.« Plötzlich hielt Katschinsky inne. Er blieb stehen und blickte Georg nachdenklich an. »Es gibt übrigens noch etwas, womit man mühelos Geld verdienen kann!« rief er dann lebhaft, von seinem Einfall begeistert, aus. »Hören Sie, Weidenbach, vielleicht wäre dies etwas für Sie!«

In Weidenbachs Augen erwachte Hoffnung.

»Ja, mein lieber Junge, ich glaube, ich habe es gefunden! Am Ende sind Sie zu mir gekommen, weil Sie Geld brauchen und sich sagten, Katschinsky hat vielleicht etwas. Aber Weidenbach, Sie brauchen nicht zu erröten, um Himmelswillen. Ich kann Ihnen nur dies sagen«, Katschinsky zeigte lächelnd seine schönen Zähne, »es gibt in der Welt nichts Törichteres, als vor einem Katschinsky zu erröten. Aber, um es nicht zu vergessen. Diese eine Sache, die vielleicht etwas für Sie wäre! Kokain!«

»Kokain«, flüsterte Georg enttäuscht.

Katschinsky lachte laut auf. »Ja, Kokain!« rief er aus. »Sie scheinen wenig begeistert zu sein, und die Sache ist doch so einfach. Sie versuchen Kokain aufzutreiben. Sie werden schon Leute finden, die Kokain haben, und wir könnten dann zusammen arbeiten. Für die Abnehmer sorge ich. Was sagen Sie dazu?« Katschinsky lachte laut und fröhlich.

»Das ist nichts für mich«, stammelte Georg. »Ich bin nicht für solche Dinge geschaffen. Ich habe dazu nicht die geringste Begabung.«

Katschinsky betrachtete ihn mit einem leisen Bedauern in den grauen Augen. »Schade, sehr schade«, sagte er dann leise. »Ich befürchte, daß Sie es nicht leicht haben werden, Weidenbach. Nein, Sie sind nicht für solche Dinge geschaffen, das sehe ich. Sie sind nur für die Arbeit geschaffen. Sie werden ewig arbeiten, und die anderen werden den Nutzen von Ihrer Arbeit haben und Sie auslachen?«

»Nun, so lassen Sie sie lachen. Meinetwegen, wenn ich nur Arbeit habe«, antwortete Georg, indem er sich erhob. Der Zynismus Katschinskys widerte ihn plötzlich an. »Sie sind nicht böse, Katschinsky, daß ich Sie besuchte?«

»Böse, wieso? Ich versäume ja nichts. Ich gehe hier auf und ab und warte auf einen telephonischen Anruf. Ich muß wissen, wo heute abend gespielt wird, und dann, sehen Sie, habe ich eine Verabredung im Bristol.«

»Und Jenny, Jenny Florian?« fragte Georg, schon den Hut in der Hand. »Wie geht es Jenny Florian? Ist sie noch in Berlin?«

Katschinsky erbleichte. Er blieb augenblicklich stehen. Seine Augen schillerten böse, und sein hübscher, knabenhafter Mund wurde plötzlich hart und herrisch. Dieses Gesicht würde Georg nie vergessen. Es war hochmütig und kalt und verriet allzu deutlich, daß Katschinskys freundliches und liebenswürdiges Benehmen nur Verstellung war.

»Sie sollen Jennys Namen nie mehr aussprechen!« herrschte Katschinsky Georg an, und wie ein eigensinniges Kind stieß er mit dem Schuh auf den Boden. Sofort aber sah er ein, daß er Georg verletzt hatte, und er versuchte es wieder gutzumachen. »Verzeihen Sie«, sagte er mit ruhigerer Stimme, obwohl die Worte noch zitterten. »Vergeben Sie mir, daß ich erregt wurde. Aber sooft ich an Jenny denke, könnte ich rasend werden. Sie hat Karriere gemacht, Weidenbach. Sie fährt in einem wunderbaren Mercedeswagen, und Sie sollten einmal sehen, wie sie lächelt, wenn sie mich grüßt, ganz als sei ich ihr einmal auf einer Gesellschaft so nebenbei vorgestellt worden. Jenny Florian, ich will Ihnen eines verraten, Weidenbach, ist eine Frau, die es weit bringen wird! Sie ist die gewandteste Schauspielerin auf der Bühne des Lebens, die es gibt. Auf der Bühne versagte sie. Sie wissen, daß sie es versuchte. Sie versucht es jetzt mit dem Film, wir werden ja sehen, wie weit sie kommt. Allerdings – in diesem Falle steht eine Finanzmacht hinter ihr. Im Leben aber, das muß man zugeben, spielt sie ihre Rolle wunderbar! Sie spielt nur gegen sehr hohe Gage. Und sie wird jedes Engagement sofort brechen, wenn Sie ihr mehr bieten können.« Katschinskys Gesicht war während der letzten Worte – er deklamierte etwas – wieder erbleicht. Seine Lippen bebten. In seinen hellgrauen Augen funkelte ein kalter böser Glanz.

In diesem Augenblick schrillte das Telephon.

»Hier ist der Anruf«, sagte Katschinsky erregt und reichte Weidenbach flüchtig die kühle Hand.

»Leben Sie wohl, Weidenbach«, sagte er, ohne Georg anzusehen, und eilte an den kleinen Schreibtisch, wo das Telephon stand.

5

Georg stieg langsam die Treppe hinab. Er hat sich ja sogar die Lippen gefärbt! dachte er. Er roch nach Essenzen, Puder und Zahnwasser des Malers.

Das also war Katschinsky, vor dem er sich neigte, dachte Georg, während er, verwirrt von dem Besuch, zur Station der Untergrundbahn eilte. Wenn er mit den Zügen Glück hatte, so konnte er noch vor Geschäftsschluß am Alexanderplatz sein. Enttäuschung und Traurigkeit bemächtigten sich seiner. Was war aus Katschinsky geworden? Was machte diese Zeit und diese Stadt mit den Menschen? Ein Verräter, ein Abtrünniger, ein Schamloser. Er wollte es sich nicht eingestehen, daß er Katschinsky geliebt hatte und zwei Jahre lang um seine Freundschaft warb. Und wie erregt er wurde, als er Jennys Namen nannte? Wie er sie sofort beschimpfte. Was war geschehen? Nun, er würde ihn nicht wiedersehen, lebe wohl!

Gerade noch zur rechten Zeit erreichte Georg das Warenhaus. Die Verkäufer und Verkäuferinnen, erschöpft von der trockenen verbrauchten Luft, warfen schon Blicke auf die Zeiger der Uhren. Der Chef der Personalabteilung aber, ein kleiner runder Herr, hatte eigentlich schon Schluß gemacht und empfing Georg mit einer verdrießlichen Miene. Er zog die Brauen zusammen und sah nun wahrhaft vergrämt und verzweifelt aus.

»Ich bin ja eigentlich kein Auskunftsbureau, junger Mann«, rief er aus, »aber immerhin – Christine März, sagen Sie? Nun, einen Augenblick. März, Christine – sie hat vor drei Monaten die Firma verlassen und wohnte damals …« Er schrieb die Adresse nieder und reichte Georg den Zettel mit den Fingerspitzen, als klebe Schmutz daran. Es war eine etwas verrufene Straße.

Georgs Gesicht aber leuchtete. Augenblicklich machte er sich auf den Weg, und blitzschnell, wie ein Mensch, dem die Verfolger auf den Fersen sind, schoß er durch die Menge, die in der Zeit des Geschäftsschlusses die Straßen überschwemmte. Außer Atem und mit Schweiß bedeckt erreichte er das bezeichnete Haus. Er blieb stehen und sah sich dieses Haus an. Sofort schüttelte er, enttäuscht und niedergeschlagen, den Kopf.

Die Adresse war vom August, und jetzt war man im November. Es war recht gut möglich – ja es war sicher, er fühlte es – daß Christine nicht mehr in diesem Hause wohnte. Immerhin, vielleicht würde man ihm Auskunft geben können.

Und während er langsam und etwas zaghaft auf das Haus zuging, quälten ihn wiederum die alten Gedanken, die ihn seit drei Monaten marterten: Weshalb hatte sie plötzlich keine Nachricht mehr gegeben? Hatte sie Berlin verlassen? O nein, er fühlte, daß sie in der Stadt war! War sie gestorben? O nein, er fühlte, daß sie lebte! War sie krank? Lag sie in irgendeinem Krankenhaus? Vielleicht. Unmöglich, gänzlich unmöglich war es ja, daß sie ihn verlassen haben könnte, ohne ein Wort. Hatte er nicht Beweise ihrer Liebe und Leidenschaft, wie? Gab es größere Beweise als das, was Christine getan hatte?

Wie eine gewöhnliche Mietskaserne im Osten sah das Haus aus, ebenso verwahrlost, dunkel und finster wie die Häuser ringsum. Neben dem Toreingang war eine Kneipe. Zwei bezechte Kutscher standen darin, kleine Schnapsgläschen in der Hand. Hier trat Georg ein und fragte nach der Adresse des Schlossers Rusch. Rusch? Das sei richtig hier. Im dritten Hof, parterre.

Die Höfe waren klein und eng, eigentlich nur Lichtschächte. Es brannten winzige Laternen, und die Wände sahen wie mit Schimmel bedeckt aus. Da und dort glomm ein trübes Licht, der Geruch schlechten Fettes, mit dem gekocht wurde, drang aus den Türen. Aus dem dritten Hof kam eine kleine Frau, ein Tuch über den Kopf geschlagen. Georg beugte sich vor, um unter das Tuch blicken zu können: das kleine bleiche Gesicht einer älteren Frau, die still und lautlos weinte.

Der dritte Hof war der kleinste. Er war ganz dunkel, und das Regenwasser plätscherte aus irgendeiner durchlöcherten Rinne mitten auf den Hof herab. Zwei Parterrefenster des Hofes zeigten hinter herabgelassenen fleckigen Vorhängen mattes Licht.

Diesen Vorhängen tastete sich Georg entgegen. Sofort roch er, daß er an der rechten Stelle war. Er roch die Werkstatt eines Schlossers. Noch einen anderen Geruch unterschied er – den Geruch von Kerzen.

Die Türe zur Wohnung des Schlossers war nur angelehnt, und Georg lugte durch den Spalt. Sein Herz schlug so sehr, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, jetzt irgendein Wort zu sprechen. Drinnen glitzerte es – was war es doch? – Kerzenlicht, wie ein Christbaum. Er hatte in der Erregung die Tür berührt, so daß der Spalt sich vergrößerte. Da sah er, daß in der Stube, der Werkstatt des Schlossers, die Leiche einer dicken, behäbigen Frau aufgebahrt lag. Zu beiden Seiten des fahlen, gutmütig lächelnden Gesichts standen zwei flackernde Kerzen. Er hörte ein gurgelndes Schluchzen und dann ein lautes Räuspern. Ein Schatten reckte sich über Wände und Decke, und eine laute, rauhe Stimme sagte: »Ist jemand hier?«

»Ich bitte zu verzeihen, daß ich störe«, stammelte Georg, und schon näherte sich die Gestalt der Türe.

Ein großer breitschultriger Mann stand vor Georg. Seine Augen waren verweint. Er hatte sich offenbar mit den schmutzigen Fäusten die Augen ausgerieben, so daß dicke schwarze Ringe um die Augen lagen, wie eine phantastische Brille.

»Was wollen Sie?« fragte der Mann unwirsch und heftete den Blick scharf und funkelnd auf Georg.

»Ich komme sehr ungelegen«, erwiderte Georg leise. Der Blick dieses Mannes erschreckte ihn. »Ich wollte eine Auskunft haben.« Er fragte, ob Christine März noch hier wohne?

Das Gesicht des Schlossers nahm einen verächtlichen Ausdruck an. »Die!« knurrte er. Oh, die sei schon lange, lange nicht mehr hier. »Aber was wollen Sie von ihr, junger Mann? Wollen Sie etwa die Schulden bezahlen, die diese Person hinterlassen hat? Sie ist noch zwei Monate Miete schuldig.«

Georg stammelte eine Entschuldigung und wich zurück.

Der Schlosser Rusch trat aus der Türe und rief ihm nach: »Es ist noch eine Pappschachtel von dieser Person hier, mit alten Lumpen! Vielleicht wollen Sie die Pappschachtel haben? Ich werde sie Ihnen bringen.«

»Ich will nichts«, erwiderte Georg, indem er in den Torweg eilte.

»Nun, so warten Sie doch!« polterte Rusch. »Weshalb gehen Sie so rasch. Warten Sie doch! Es ist ja alles nicht so schlimm gemeint. He, Sie!«

Bei der Kneipe, die am Ausgang des Torwegs zur Straße lag, holte ihn der Schlosser ein. Nun erst bemerkte Georg, daß der Schlosser mit dem beschmutzten Gesicht betrunken war.

»Sie wollten nach Christine fragen?«

»Ja.«

»Nun, ich werde Ihnen von Christine erzählen.«

»Sie wollten?«

»Ja, kommen Sie.« Er drängte Georg mit dem Eigensinn eines Betrunkenen in die Kneipe. »In aller Gemütlichkeit«, fuhr er fort, indem er Georg auf einen Stuhl schob, »in aller Gemütlichkeit wollen wir sprechen. Bringe zwei Kognak, Anton!« schrie er dem hemdärmeligen Wirt zu. »Ja, Christine – ein feines Kerlchen, ein apartes Kerlchen, aber …«

»Ich wollte Sie ja nicht erschrecken und beleidigen, mein Herr«, wandte er sich wieder an Georg und schob ihm ein Glas Branntwein hin. »Es war nicht meine Absicht. Sie haben gesehen, daß meine Frau dahinten tot liegt, und aus diesem Grunde bin ich bei jeder Gelegenheit gleich so außer Rand und Band.« Er goß sich den Kognak in die Kehle und nötigte Georg zu trinken. »Trinken Sie, junger Mann, damit Sie Farbe bekommen. He Anton! Auch Christine liebte es, zuweilen ein Gläschen zu trinken. Sie war garnicht so zimperlich.«

»Christine?« unterbrach ihn Georg verwundert.

»Ja, Christine. Am Abend, da tranken sie zuweilen ein Gläschen zusammen, Ihre Christine und sie, die nun dahinten liegt.« Rusch deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Einmal nun, sehen Sie, da stieg sie in eine Droschke ein – und hast du nicht gesehen – auf der anderen Seite fiel sie wieder hinaus. Und wir lachten, hahaha! Alles lachte. Was ist dabei, wir haben alle unsere Schwächen.«

»Christine fiel aus der Droschke?«

»Aber nein, nein. Sie fiel aus der Droschke, sie, die nun dahinten liegt. Trinken Sie doch, trinken Sie aus, damit ich sehe, daß Sie mir nichts nachtragen.«

Georgs Augen brannten. Seit wann Christine nicht mehr bei ihm wohne?

Der Schlosser dachte nach. Er kniff das beschmierte Gesicht zusammen. »Seit wann?« erwiderte er. »Lassen Sie mich nachdenken? Ja, seit wann? He, Anton, erinnerst du dich? Diese kleine Schwarze, weißt du, die soviel lachen konnte.«

»Verkehrte sie auch hier, in diesem Lokal?« fragte Georg, bemüht, sein Erstaunen zu verbergen.

»Ja, gewiß. Sie verdarb niemand den Spaß, lachte, scherzte, erzählte Schnurren. Ein feines wildes Kerlchen. Sie wollte ja zum Theater gehen. Sie erzählte immer Großes von einer Schauspielerin, die einen Millionär zum Freund hatte. Mit ihr zusammen wollte sie zum Theater gehen. Oder zum Kino.«

Das sind alles Phantasien, dachte Georg. Er ist ja betrunken. »Auch Sie wissen nicht, wo Christine hingezogen ist?« fragte er.

Der Schlosser kniff wieder das beschmierte Gesicht nachdenklich zusammen. Es sah aus, als begänne er zu weinen. »Lassen Sie mich nachdenken, mein Herr«, antwortete er. »Mir scheint – eines Tages verschwand sie – ich weiß es nicht. Lassen Sie mich nur nachdenken.«

Abermals brachte der Wirt zwei neue Gläschen Kognak.