Das kleine Restaurant, Ecke Boulevard St. Germain- rue des Saints Pères, war um halb neun Uhr schon beinahe ganz leer. Die Stunde des Diners dauert in Paris von halb sieben bis acht Uhr; später sitzen nur noch Wahnsinnige oder Ausländer bei Tisch. Die beiden letzten Gäste, ein amerikanisches Ehepaar, waren eben dabei, ihren Kaffee zu trinken; da machte die Kellnerin ein erschrockenes Gesicht: es kamen noch vier Leute von der Straße – zwei junge Männer, ein Fräulein und eine ältere Frau.
Einer der jungen Männer – er war auffallend bleich und mager; über seinem Gesicht, das wie aus Wachs gebildet schien, stand das schwarze harte Haar aufrecht, wie in ständigem Entsetzen gesträubt – erkundigte sich, ob man noch etwas zu essen bekommen könne. Die Kellnerin war schon im Begriff zu verneinen, als die Patronne, von der Theke her, ihre Stimme vernehmen ließ: aber gewiß doch, es seien noch zwei Portionen Poulées da, außerdem ein „Schnitzel Viennois”, und für eine der Damen könnte man ein Omelette machen. Die Vier schienen es zufrieden; während sie sich um einen Tisch in der Ecke niederließen, erklärte der junge Mann, der vorhin mit der Kellnerin verhandelt hatte: „Ich habe neue Berliner Zeitungen besorgt!” Dabei legte er den Stoß von Papieren vor sich hin. Das junge Mädchen schnitt eine Grimasse und sagte: „Pfui!”
Sie redeten deutsch – was das Ehepaar am Nebentisch aufhorchen ließ. Nun war es die Amerikanerin, die eine angewiderte Grimasse schnitt. Gleichzeitig zuckte sie die Achseln und sagte etwas zu ihrem Gatten, was sich wohl in einem kränkenden Sinn auf die Deutschen im Allgemeinen und die Vier am Nebentisch im Besonderen bezog. Der Gatte schien ihr in allen Punkten recht zu geben; er nickte empört und rief dann schallend: „L’addition, Mademoiselle!”
Die Deutschen inzwischen hatten ihre Zeitungen vor sich ausgebreitet. Das Mädchen sagte, mit einer schön sonoren, etwas grollenden Stimme: „Auch noch Geld ausgeben für das Dreckszeug! Eine Schande!” Während ihr Gesicht vor Ekel verzerrt blieb – als läge etwas Stinkendes, eine kleine Tierleiche etwa oder Erbrochenes, auf dem Tischtuch, zwischen den Gedecken – streckte sie ihre langen, unruhigen, muskulösen Hände gierig nach den Papieren aus. „Laß gleich das Scheußlichste sehen!” rief sie und lachte finster. „Die Berliner Illustrirte!” Der schwarze Hagere hielt ihr mit melancholischer Neckerei das Titelblatt der Illustrierten hin: es zeigte den Führer und Reichskanzler in idyllischem tête-à-tête mit einem kleinen blond-bezopften Mädchen, das ihm einen enormen Blumenstrauß überreichte. „Ist er nicht schön?” fragte der Bleiche, wobei sein Lächeln säuerlich war. Die ältere Frauensperson – sie fiel durch kurzgeschorenes, hartes graues Haar und ein rotbraunes Kapitänsgesicht auf – stemmte die Arme in die Hüften und machte dröhnend: „Hoho!”
Die amerikanische Dame sagte, ziemlich laut: „Disgusting!” und stand auf. Die vier Deutschen, in den Anblick des Bildes versenkt, überhörten den Ausruf; sie sahen auch nicht, was für ein furchtbar drohendes Gesicht die Amerikanerin hatte, als sie nun, vom Gemahl gefolgt, das Lokal durchquerte, um die Ausgangstür zu erreichen. „Er bekommt einen Bauch!” stellte animiert der zweite junge Mann fest, und meinte den „Führer”.
Als die Amerikaner an dem Tisch vorbeikam, wo deutsch gesprochen und das Hitler-Bild betrachtet wurde, blieb sie eine Sekunde lang stehen, und sagte sehr deutlich: „En bas les boches!” Ihr französischer Akzent war leidlich; jedenfalls viel besser, als der des Gatten, der noch breit hinzufügte: „En bas les Nazis!” Dabei hatte er sich der Türe genähert. Die Dame aber wandte sich noch einmal um, und nun spuckte sie aus. Auf eine Entfernung von mindestens zwei Metern spuckte sie recht kräftig und geschickt – man hätte es der respektabeln, keineswegs jungen Person kaum zugetraut –, sodaß eine nette, saftige Portion Speichel direkt neben den Schuhen des hageren jungen Mannes auf den Fußboden klatschte. Dann fiel die Türe hinter der Amerikanerin zu.
Die Kellnerin und die Patronne des Lokals hatten den Vorgang wortlos beobachtet; die Kellnerin mit einem kaum sichtbaren, hämischen Grinsen, die Chefin mit einem Achselzucken, als wollte sie sagen: ‚Wozu soviel Aufregung wegen dieser Deutschen? Solange sie ihre Zeche zahlen, soll mir alles andere egal sein …’
Die Vier am Tisch waren so erschrocken und derart fassungslos erstaunt, daß mehrere Sekunden lang keiner von ihnen ein Wort hervorbrachte. Die beiden jungen Männer und das Mädchen waren sehr blaß geworden, während das Gesicht der Alten leuchtend rot-braun blieb. Sie war es, die das Schweigen brach, indem sie schallend zu lachen begann. „Das ist wunderbar!” brachte sie unter großem Gelächter hervor, wobei sie mehrfach dröhnend auf die Tischplatte schlug. „Ausgerechnet uns muß das passieren! Das ist köstlich! Nein, sowas!” Die beiden Jungen versuchten mitzulachen; aber das Resultat ihrer Bemühung war kümmerlich, nur die bittere Andeutung eines Lächelns kam zustande. Das Mädchen schaute vor sich hin auf den Teller und sagte leise: „Ich finde es gar nicht komisch”. – Warum nicht komisch? Wieso nicht? – wollte die Alte wissen. Aber nun gestand der zweite junge Mann – der blond und stattlich war, mit einem hellen, großflächigen, hübschen, etwas weichen und müden Gesicht –: „Ich kann mich eigentlich auch nicht besonders darüber amüsieren. Mein Gott, bin ich erschrocken!” Dabei führte er die Hand ans Herz und blickte aus großen, entsetzten Augen, kokett um Mitleid werbend, von einem zum anderen. Der hagere Schwarze betrachtete grüblerisch den Speichelpatzen, der noch neben seinen Füßen auf dem Boden lag. „Vor zwei Wochen”, sagte er leise, „vor genau zwei Wochen hat in Berlin, auf dem Kurfürstendamm, ein S.A.-Mann mich angespuckt. Auch aus ziemlicher Entfernung. Er traf noch etwas besser als diese Lady: sein Speichel klebte an meinen Schuhen …” In eine kleine Stille hinein, die diesem Bericht folgte, sagte die Grauhaarige „Armer David …” Die Kellnerin stellte, mit einem demonstrativen Mangel an Höflichkeit, die zwei Portionen Poulées, das Schnitzel Viennois und ein Omelett auf den Tisch.
„Man hätte die Leute ja aufklären können,” sagte der blonde junge Mann mit dem schönen, weichen Gesicht – er hatte eine schleppend melodiöse Art zu sprechen; seine Worte kamen zögernd und einschmeichelnd daher. „Man hätte Ihnen auseinandersetzen können, daß wir zwar vielleicht ‚des sales boches’, aber sicher nicht ‚des sales nazis’ sind. Nur scheint mir ungewiß, ob die Herrschaften sich für solche Nuancen überhaupt interessiert hätten; für sie ist das alles wohl das gleiche …” Er zuckte die Achsel und lächelte resigniert. „Außerdem ließen sie uns keine Zeit zu ausführlichen Konversationen”.
Das Mädchen mit der schönen, grollenden Stimme schob die Zeitungen fort, die immer noch aufgeschlagen zwischen den Weingläsern und den Tellern lagen. „Sowas muß man sich gefallen lassen! – Ich war gleich dagegen, daß man sich mit dem Schmutzzeug” – sie gab den Papieren noch einen wütenden Stoß – „in ein öffentliches Lokal setzt. Es ist eben einfach zu kompromittierend!” Sie sah reizvoll aus in ihrer Empörung. Aus ihren Augen, die eine merkwürdig dunkelgrüne, ins Schwarze spielende Färbung hatten, schlugen schöne Flammen des Zornes. Der blonde junge Mann – er hieß Martin Korella – legte ihr den Arm um die Schulter und bat mit der schleppenden Schmeichelstimme: „Ärgere dich nicht Marion! Wir sind ja eigentlich gar nicht gemeint gewesen. Im Grunde war es doch ein recht erfreulicher kleiner Zwischenfall: er beweist, wie unbeliebt die Nazis draußen sind. In Amerika scheint ja eine nette Stimmung gegen sie zu herrschen. – Die freundlichen Herrschaften sind doch Amerikaner gewesen?” fragte er. Das Mädchen Marion indessen wollte sich nicht beruhigen lassen. „Es ist grauenvoll!” klagte sie. „Wie schrecklich schnell ist es diesem Hitler gelungen, die Deutschen in der Welt wieder derart verhaßt zu machen, daß man es riskiert, angespuckt zu werden, wenn man sich als Deutscher zu erkennen gibt!”
Martin, dessen Arm immer noch um Marions Schulter lag, sagte nachdenklich: „Die Frage ist nur, ob diese Welt-Empörung lange anhalten wird. Die Menschen vergessen so schnell, und es kommen andere Sensationen. In fünf Jahren würden wir uns vielleicht freuen, wenn die Leute noch beim Anblick von Berliner Zeitungen in Wut geraten …”
Die Grauhaarige schlug vor: „Jetzt wollen wir aber zunächst mal was essen, Kinder! Das gute Zeug wird ja kalt. Mein Schnitzel sieht wundervoll aus!” Sie sagte „mein Schnitzel”, obwohl doch noch gar nicht die Rede davon gewesen war, wie die Gerichte verteilt werden sollten. – „Mutter Schwalbe hat immer recht” konstatierte Martin Korella, und beschenkte die resolute Alte mit einem langen, zärtlich siegesgewissen Blick aus den schläfrig verhangenen Augen. „Essen wir also!” – David erklärte geschwind: „Ich bin nicht sehr hungrig und nehme das Omelett, wenn ich darf”. – Er hatte eine seltsame Manier, sich beim Sprechen mit einem schiefen Ruck der rechten Schulter seitlich zu verneigen; dabei verzerrten sich seine ungesund bläulich gefärbten Lippen zu einem liebenswürdig angstvollen Lächeln. Es war eine rührende und etwas groteske, zugleich mitleiderregende und erheiternde kleine Höflichkeitspantomime.
„Ich lasse mir den Appetit nicht verderben!” erklärte Mutter Schwalbe, schon mit ihrem Schnitzel beschäftigt. Und David, dem man das nicht sehr verlockend aussehende harte kleine Omelett überlassen hatte, bemerkte schüchtern: „Ich finde es hübsch hier … Dieses kleine Lokal gefällt mir. Und daß wir vier hier so beieinandersitzen … Ich habe es mir in Berlin oft gewünscht,” gestand er, und über sein wächsern zartes Gesicht zog eine flüchtige, helle Röte. „Manche Wünsche gehen unter recht merkwürdigen Umständen in Erfüllung – ganz anders, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte …” Seine rehbraunen, kurzsichtigen Augen wanderten zwischen Marion, Martin und der Mutter Schwalbe hin und her, ehe sie sich, bescheiden und ängstlich, senkten.
Man schrieb den fünfzehnten April 1933. Die vier Deutschen – Marion von Kammer, Frau Schwalbe, Martin Korella und David Deutsch – waren alle erst im Lauf der letzten zwei Wochen in Paris eingetroffen; zuletzt die Schwalbe, für die es nicht ganz einfach gewesen war, ihren Berliner Betrieb aufzulösen. Ihr hatte ein kleines Etablissement, halb Restaurant und halb Kneipe, gehört, in dem sie als Köchin, Empfangschef und Mädchen-für-Alles tätig war. Das Lokal „Zur Schwalbe” war nicht weit von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in einer Nebenstraße des Kurfürstendamm gelegen, und hatte sich einer starken Beliebtheit in gewissen Zirkeln der Berliner Jugend erfreut. Leute mit keinem anderen Kapital als ihrem Ehrgeiz und ihrer radikalen Gesinnung, Studenten, angehende Literaten, Maler, Schauspieler hatten sich wie in einem Klub bei „Mutter Schwalbe” zusammengefunden, um dort über Marxismus, atonale Musik und Psychoanalyse zu diskutieren und auf Kredit Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat zu essen. Die Schwalben-Wirtin war, mit einer dicken Zigarre im Mund, zwischen den Tischen umhergegangen, hatte alle gekannt, allen auf die Schulter geklopft, und zuweilen einen furchtbaren Krach geschlagen, wenn jemand es sich einfallen ließ, reaktionäre politische Tendenzen zu verteidigen, oder gar zu säumig mit dem Bezahlen seiner Schulden war. Als die Hitler-Diktatur in Deutschland sich etablierte, waren die Stammgäste der Schwalbe auseinandergestoben; viele waren emigriert, andere waren verhaftet worden; wieder andere blieben zwar in Berlin, hielten es aber nicht mehr für ratsam, sich in dem berüchtigten Lokal noch zu zeigen; manche waren sogar – die Schwalbe mußte es mit Bitterkeit konstatieren – zu den Nazis übergelaufen. Im Restaurant und in der Privatwohnung der „Patronne” – zwei Dachstuben, die sich im selben Haus wie die Kneipe befanden – hatte es Razzias gegeben; durch die Protektion eines Jungen in S.S.-Uniform, der früher zu ihrer Klientel gehört hatte, war der Braven die Verhaftung erspart geblieben. „Und jetzt singen sie jeden Abend das Horst Wessel-Lied in meiner schönen Bude”, stellte die Schwalbe wehmütig fest. David Deutsch – derartig nervös und übersensibel, daß er auf bestimmte Worte reagierte wie auf die Berührung eines eisigen Windes – schauerte zusammen und bewegte gequält die Schultern. „Das Horst Wessel-Lied!” wiederholte er und blickte hilfesuchend um sich, als erbäte er von den anderen Trost oder doch mindestens eine Erklärung.
Er war einer der treuesten Gäste der Schwalbe gewesen, während Marion und Martin, sozial entschieden höher gestellt als das eigentliche Schwalben-Publikum, sich nur zuweilen hatten sehen lassen – immer ein wenig wie große Herren, die es manchmal belustigt, in ein inferiores Milieu hinabzusteigen. Die „Patronne” hatte, trotzdem, eine entschiedene Sympathie für die Beiden; ja, sie mochte sie im Grunde lieber als den armen David, von dem sie, nicht ohne eine gewisse Verächtlichkeit, zu sagen pflegte: „Ach, der ist ja so entsetzlich gescheit! Der weiß ja alles!”
Marion und Martin waren Jugendfreunde. Marion stammte aus einer sehr guten, Martin aus einer mittelfeinen Familie, übrigens waren sowohl die alten Korellas als auch Marions Mutter, Frau von Kammer, ziemlich verarmt. (Herr von Kammer war vor Jahren gestorben). Marion hatte als Schauspielerin zwar noch keine großen Erfolge gehabt und war mit fast allen mächtigen Berliner Theaterdirektoren verkracht; aber ihre Leistungen in einigen literarischen Matinee-Aufführungen hatten doch von sich reden machen.
Viele von Marions Freunden gehörten zu den links gerichteten Schriftstellern oder Politikern, die bei den Nazis am verhaßtesten waren und eingesperrt wurden oder fliehen mußten, als, nach der Reichstagsbrand-Katastrophe, das terroristische Regime begann. Was Marion betraf, so war für sie die Emigration eine Selbstverständlichkeit. Es hätte der Überlegung gar nicht bedurft, daß nun in Deutschland ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben gefährdet waren: der Ekel, der Haß, der Abscheu trieben sie fort. „Leider sehe ich ja zu auffallend aus, und zu viele Leute kennen meine ulkige Visage, als daß ich mich unter die Illegalen hätte mischen können”, bedauerte sie. „Übrigens hätte ich in Berlin beim Anblick einer S.S.-Standarte – oder wie sie die Banden nennen – auf offener Straße einfach vor Wut gebrüllt. Das wäre mir ja dann wohl kaum sehr gut bekommen.”
Martin Korella war auch einmal Schauspieler gewesen; hatte aber mit maßvollem Bedauern feststellen müssen, daß sein darstellerisches Talent nicht hinreichend war. Er entschied sich für die literarische Laufbahn. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt, und hatte noch nichts veröffentlicht, außer ein paar Gedichten und kurzen Stücken lyrischer oder essayistischer Prosa, in Zeitschriften und Anthologien. Diesen Arbeiten aber eignete eine solche Schönheit der Form, eine so innig-seltsame Dichtigkeit und Lauterkeit des Gefühls, daß sie ihrem jungen Autor fast so etwas wie Ruhm einbrachten – einen Ruhm freilich, der nur von ein paar hundert Menschen getragen und gewußt wurde. Es gab Leser in Berlin oder in Heidelberg, in München, Wien, oder sogar in Paris, die sich in der Überzeugung einig waren, daß Martin Korella ein begnadeter Dichter sei. Martin war hochmütig genug, um ordinären Ehrgeiz gründlich zu verachten. Übrigens war er auch träge. Er schlief bis zum Mittag und verbrachte dann Stunden auf ziellosen Spaziergängen durch die Stadt. Er las wenig, und immer wieder nur die gleichen Autoren. Es gab Wochen, Monate, während derer er keine Zeile schrieb. Dafür durfte er sich rühmen: „Etwas Mittelmäßiges ist von mir niemals gedruckt worden.” Seine Eltern machten ihm, so luxuriöser Faulheit wegen, beinahe täglich die bittersten Vorwürfe; waren aber doch heimlich stolz auf ihr originelles Kind und zahlten, unter viel Klagen und Schimpfen, die Monatsrente von 200 Mark. Das war keineswegs üppig; aber es ermöglichte Martin, in einer eigenen Stube zu leben, getrennt von Herrn und Frau Korella, die ihm auf die Nerven gingen.
Als Marion ihm mitgeteilt hatte, daß sie Deutschland verlassen werde, war seine Antwort gewesen: „Natürlich komme ich mit.” Sie war erstaunt, übrigens froh im Grunde, über die nachlässige Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Entschluß äußerte – wenn vielleicht auch nicht erst im Augenblick faßte. Sie hielt es für ihre Pflicht, ihn zu erinnern: „Eigentlich sollte nur Weggehen, wer muß. Ein paar anständige Leute müssen auch hier bleiben. Du hast dich politisch nie exponiert. Glaube nur nicht, daß wir es draußen so besonders einfach haben werden.” Woraufhin er nur die Achseln zuckte. „Wenn die Deutschen verrückt werden – ich habe keine Lust, da mitzumachen. Warum sollte ich abwarten, bis es zum Schlußeffekt dieser ganzen macabren Veranstaltung kommt? Bis die berühmte ‚Apokalypse’ endlich da ist, auf die alle braven Spießer sich so herzlich zu freuen scheinen? … Übrigens wird diese ‚Apokalypse’ in der Realität genau so mittelmäßig und langweilig ausfallen, wie alles, was man uns bisher geboten hat … Das Ganze is eine Farce; leider keine harmlose. Aus einem Menschen mit so einer Fresse macht man keinen Halbgott.” Er deutete auf das Hitlerbild in einer Zeitung. „Das ist abgeschmackt. Es kann nicht gut enden.” – Das war jetzt ungefähr drei Wochen her.
David Deutsch gehörte zu den Bewunderern Martins. Übrigens war es in Berlin zwischen den Beiden über eine flüchtige Bekanntschaft, die Mutter Schwalbe vermittelt hatte, nicht hinausgekommen. Der junge Philosoph und Soziologe, die Stille kleiner Universitätsstädte gewohnt, fühlte sich unsicher, gehemmt, oft sehr unglücklich im Berliner Betrieb. Es gab dort nur wenig Menschen, die ihn kannten und seine intellektuellen Gaben zu schätzen wußten. Seine Doktorarbeit hatte in Fachkreisen ein gewisses Aufsehen gemacht; aber die Berliner Literaten wußten weder von ihr, noch von den Studien über die Vorsokratiker, über Kierkegaard, Nietzsche und Marx, die David in einer Heidelberger philosophischen Revue publiziert hatte. – In Wahrheit verhielt es sich so, daß Martin den jungen Gelehrten damals ein wenig von oben herab zu behandeln pflegte. Im Exil aber begegnete man sich zunächst ohne jene Voreingenommenheiten, durch die in Berlin die verschiedenen Zirkel und Cliquen voneinander separiert worden waren. Eine neue Herzlichkeit stellte sich her, so etwa wie nach Naturkatastrophen; die Bewohner eines brennenden Hauses, die sich auf der Straße vor den Trümmern ihrer Habe zusammenfinden, oder die Passagiere eines sinkenden Schiffes im Rettungsboot, vergessen Unterschiede, die noch vor Stunden bedeutsam waren.
Bei der zweiten Flasche Rotwein wurde die Stimmung der Vier am Tisch lebhafter, beinahe munter. Die Schwalbe entwickelte ihren Plan, in der Montparnasse-Gegend ein kleines Restaurant aufzumachen –: „ganz nach dem Muster meiner Berliner Kaschemme. Dort sollt ihr anständig zu essen kriegen – nicht so ein kümmerliches ‚Schnitzèle Viennois’, wie man mir gerade eines vorgesetzt hat. Ich habe schon einen bestimmten Platz im Auge”, berichtete sie, und ihre blauen Kapitänsaugen leuchteten. „Aber ich sags noch nicht, welchen. Ich bin abergläubisch. Ehe der Mietsvertrag unterzeichnet ist, erfährt kein Mensch, wo die Schwalbe sich diesmal niederläßt!” Sie redete geheimnistuerisch und verheißungsvoll, wie zu Kindern, denen man die Herzen mit Sehnsuchts-Neugier nach den Wonnen eines Weihnachtsabend füllen will. In der Tat erreichte sie durchaus den gewünschten Effekt: die drei jungen Menschen wurden animiert und wollten mehr wissen. Wann Mutter Schwalbe ihren Laden zu eröffnen gedenke? Ob es auch Musik geben solle, und vielleicht gar etwas Platz, um nach dem Essen zu tanzen? – „Und eine Bar!”, rief Marion, plötzlich guter Laune. „Ich finde, eine Bar solltest du einrichten. Wir wollen es doch schließlich auch etwas pariserisch haben!” Sie sah vergnügungssüchtig aus und hatte schöne, wilde Gebärden. Ihre großen, jünglingshaft harten und sehnigen Hände formten etwas in der Luft, was die Konturen einer Flasche bedeuten konnte. Dabei stieß sie ein gefülltes Weinglas um. Marion hatte die Eigenheit, immer irgend etwas umzuwerfen und kleine Katastrophen anzurichten, wenn sie in Aufregung geriet. Sie war ebenso ungeschickt wie enthusiastisch. Nach malheurhaften Zwischenfällen solcher Art pflegte sie sich selbst zu beschimpfen – „dummes Ding! Mußte das sein! Grundalberne Kuh!” –; dazu schüttelte sie zornig den Kopf; die lockere Fülle ihres rotbraunen Haars, das einen Purpur-Schimmer hatte, fiel ihr in die Stirn, bis zu den Augen.
Sie beschlossen, den Kaffee in Montparnasse zu nehmen. Dort würde man bestimmt Bekannte treffen. „Ich glaube die gute Dora Proskauer ist heute aus Berlin angekommen”, sagte die Schwalbe. „Sie wird uns etwas Neues erzählen können.” Marion sagte: „Vorher muß ich noch bei den ‚Deux Magots’ vorbeischauen. Marcel hat versprochen, dort auf uns zu warten.”
Sie gingen zu viert nebeneinander, Arm in Arm, das kleine Stück des Boulevard St. Germain hinunter, das die Ecke der rue des Saints Pères vom Platz St. Germain de Prés trennt. Der Abend war milde, im glasig durchsichtigen Himmel gab es noch ein wenig Licht. Aus dem Halbdunkel, in dem die Töne eines verblichenen Rosa sich mit den unendlich vielen Nuancen des Grau vermischten, traten die Umrisse der alten, schmalen, vornehmen Häuser zart und deutlich hervor. „Wie schön Paris ist!”, sagte Martin, andächtig leise. „Man hätte sich viel früher dazu entschließen sollen, hier zu leben … Es ist, wie wenn man einen Menschen, zu dem man ganz paßt und mit dem vielleicht sehr glücklich hätte sein können, etwas zu spät, unter melancholischen Umständen kennen lernt …”
Sie standen zu dritt an der Ecke des Boulevards und des Platzes. Marion war ins Café gegangen, um Marcel zu holen. Vor einem Zeitungskiosk, der englische, amerikanische, italienische, deutsche, holländische, spanische und dänische Blätter anbot, drängten sich Menschen: Pariser Studenten, den bunten Wollschal apachenhaft um den Hals geschlungen, auf dem Kopf die kleine runde Baskenmütze; junge Engländer und Amerikaner, barhäuptig, die Zigarette im Mund, die Hände in den Taschen der weiten Flanellhosen vergraben; bunt hergerichtete Frauen, einige schon im Frühlingskostüm, andere noch im Pelz.
David Deutsch sagte: „Ich habe wirklich ein wenig Herzklopfen, weil ich Marcel Poiret kennen lernen soll.” Daraufhin Martin, verwundert: „Haben Sie ihn denn in Berlin nie getroffen?” Die Frage war ihm gleich etwas peinlich; er vergaß immer wieder, daß David in Berlin ja nicht ganz zum gleichen ‚Sett’ gehört hatte wie er selber und Marion. – David versetzte, nicht ohne Hochmut: „Ich habe in Berlin nur sehr wenig Menschen gekannt. – Aber ich habe alle Bücher von Poiret gelesen”, fügte er hinzu. Diese Bemerkung ließ die alte Schwalbe ein wenig gehässig werden. „Natürlich! Freilich!” rief sie aufgebracht. „Von wem hätte er denn nicht alle Bücher gelesen?!” – Wirklich war die literarische Bildung des jungen Deutsch lückenlos in einem erstaunlichen Grade. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er acht oder zehn mit Lektüre. Sein Gedächtnis war von einer fast krankhaften Stärke; er litt unter seiner Zuverlässigkeit wie unter einem Fluch. – „Besonders mag ich die ersten kleinen Bücher von Poiret”, sagte er jetzt und lächelte seiner mütterlichen Freundin zu, gleichsam um Verzeihung bittend. „Das sind traurige, reine Dichtungen. Als er seine große Ratlosigkeit noch zugab, fand er die rührendsten Töne. Die Begegnung mit der Politik kann für junge Dichter gefährlich werden …” – Martin sagte – schnell und leise; ganz ohne die schleppend-kokette Manier, in der er sich sonst gefiel –: „Aber ist es denn besser, wenn man der Politik ausweicht? … Wie man es auch immer anfaßt, und wie man sich auch entscheidet: die Zeit ist gefährlich für junge Dichter …”
Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, daß man ihn ‚auf der anderen Seite des Rheins’ irrtümlich für einen französischen Dichter halte, während man in Paris sehr wohl wisse, daß er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die à tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstößigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten.
Poiret gehörte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern – sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen –, die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ihrem Stil und in ihrer Gesinnung einen konsequenten, aggressiven Marxismus mit einem extremen Romantizismus zu vereinigen suchten. In den artistischen Manifestationen dieser Gruppe, der es wirklich gelang, das Juste Milieu sensationell vor den Kopf zu stoßen, begegneten sich die politischen Symbole von Hammer und Sichel mit allerlei geisterhaft Holdem und spuckhaft Gräßlichem: widrig eiternden Wunden, zauberischen Blumen, flatternden Damen im Kostüm der Neunziger Jahre, obszönen Traum-Gebilden, verrenkten Gliedern, sonderbarsten Fratzen. Es war ein Kult des Häßlichen, Schokierenden und Grauenhaften, den die Gruppe trieb – eine Art von pervertiertem Ästhetizismus, dem es jedoch an moralischem Pathos nicht fehlte. Sie stellten die Welt auf den Kopf, verzerrten ihre Formen, trieben Schabernack mit ihren Gesetzen: weil sie den Zustand der Welt mißbilligten; weil sie sich für die totale Veränderung des Weltzustandes revolutionär einsetzen wollten. Hinter all dem Hexensabbath aus Traum und Polemik, aus Bitterkeit, rüdem Ulk, Trauer und Obszönität, verbarg – oder offenbarte sich die revolutionäre Hoffnung; ein fast naiver – und vielleicht mehr gewollter als eigentlich geglaubter materialistischer Optimismus; die mit religiöser Inbrunst krampfhaft festgehaltene Zuversicht, daß der Spuk vergehen, Qual, Angst und Fluch sich gnädig lösen werden, wenn das Wunder der wirtschaftlichen Um-Organisierung erst vollbracht, die Tat der sozialistischen Veränderung Ereignis geworden sein wird …
In dieser Gruppe, die mit dem ganzen Rest des literarischen Frankreich in Fehde lag – in einer Fehde übrigens, die sich oft in nächtlichen Raufereien, im Beschmieren von Hauswänden oder in Skandalszenen bei Theaterpremieren manifestierte –, zu dieser zugleich verzweifelten und munteren, stolz abseitigen und lärmend vordringlichen Gruppe bekannte sich Marcel Poiret. Er hatte seine literarische Laufbahn in einer Atmosphäre begonnen, die grundverschieden von derjenigen war – oder doch zu sein schien –, die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionär-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunächst nur als bissig-melancholische Aufsässigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu bohèmehaften Exzentrizitäten geäußert. „Mein Vater,” pflegte Marcel zu konstatieren, „war ein degeneriertes Schwein. Nach außen der gute Patriot, le bon citoyen, ehrbar, allgemein respektiert; in Wahrheit: versoffen, faul, lasterhaft. Er haßte meine Mutter. Das dürfte der einzige menschliche Zug an ihm gewesen sein, und übrigens das einzige Gefühl, das ich mit ihm gemeinsam hatte. Leider fehlen mir die Beweise dafür, daß der Herzschlag den alten Schurken im Bordell der reichen Spießer, rue Chabanais, getroffen hat. Madame Poiret behauptet, er sei nach einem Diner mit Geschäftsfreunden bei Larue vom Tode ereilt worden, was übrigens eine mindestens ebenso unappetitliche Vorstellung ist. Madame Poiret ist eine Hyäne. Sie hat alle schlechten, niederträchtigen Eigenschaften. Sie ist frömmlerisch; pathologisch geizig; grausam bis zum Sadistischen; intellektuell minderbegabt bis zum Idiotischen; boshaft, hysterisch, ohne einen Funken Humor, ohne eine Spur von echter Sympathie für irgendein lebendes Wesen. Madame Poiret,” sagte Marcel abschließend, „ist ein Scheusal.”
Der Haß gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie repräsentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Ausländer für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als „les sales boches” sprach, und der Ansicht war, daß die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte, und die Namen der starken angelsächsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hätte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre Freundinnen zu schokieren, indem er seine Konversation mit Unflätigkeiten würzte, und, soweit dies irgend anging, den Jargon der Pariser Unterwelt kopierte. Er kleidete sich halb rowdyhaft, halb im Stil der Oxford-Studenten: in grellfarbige, übrigens kostbare Stoffe. Der Zwanzigjähre wurde zum deklarierten Liebling einer fragwürdig-bunt zusammengesetzten Gesellschaft, die in Paris des ersten Nachkriegs-Jahrzehntes ihr seltsames Wesen trieb; zum umworbenen Enfant Terrible jener zugleich exklusiven und phantastisch gemischten Zirkel, in denen whiskysüchtige Halb-Genies aus New-York sich mit brasilianischen Abenteurern, hemmungslos gewordenen Aristokratinnen sich mit den Stars der russischen oder schwedischen Balletts, mit opiumrauchenden Lyrikern, Neger-Boxern und reichen Berliner Snobs trafen. Marcel Poiret amüsierte sich ein wenig in dieser „monde”; verachtete sie; wurde von ihr verhätschelt; schilderte und verhöhnte sie schließlich in seinem ersten Roman. Vielleicht war es vor allem seine schlechte Gesundheit, die ihn davor bewahrte, sein Talent und seine rebellischen Instinkte auf die Dauer an eine Existenz zu verschwenden, die ihm nur reizvoll schien, weil sie seiner Mutter ein Greul war, und deren wesentliche Inhalte die Cocktails und die mannigfachen Formen des Beischlafes waren. Mit seiner Lunge war nicht alles in Ordnung. Er fieberte; die Nächte in den raucherfüllten Atelierwohnungen und in den Bars bekamen ihm nicht. Aus bitterem Trotz, aus Traurigkeit, Ratlosigkeit und verspieltem Zynismus wütete er gegen den eigenen Körper. Er war drauf und dran, sich zugrunde zu richten. Immerhin hatte er vitalen Selbsterhaltungstrieb genug, um Schluß mit der abwechslungsreich-macabren Daseinsform zu machen, als er in den Cafés von Montparnasse und den Studios seiner New-Yorker Freundinnen mehrfach Blut zu spucken begann. Die Ärzte rieten ihm zu Davos. Er mußte nun jedes Jahr ein paar Monate dort sein. Dort lernte er die Einsamkeit kennen. Sie machte ihn vertraut mit anderen Freuden, anderen Wonnen, Beängstigungen, Erkenntnissen, Zweifeln, Qualen und Ekstasen als die Cocktailsparties und komplizierten Orgien. – Im Jahre 1929 kam Marcel Poiret zum erstenmal nach Berlin, um für eine literarische Gruppe Vorträge über den Marquis de Sade, Baudelaire und Rimbaud zu halten. Er hatte Marion gleich am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft gesagt: „Wenn du mich nicht mit Brutalität und Geschicklichkeit abschüttelst, bleibe ich bei dir. Ich brauche einen Menschen wie dich. Aber ich kann dir gar nichts bieten. In meinem Kopf sieht es furchtbar wüst aus. Oft habe ich so große Angst davor, daß ich verrückt werden muß. Vielleicht bin ich es schon. Ich habe zu hassen gelernt, ehe ich zu lieben gelernt habe …”
Marion und Marcel kamen durch die Drehtüre des Cafés. Zwischen sich hatten sie einen jungen Menschen, der kleiner und schmaler war als Marcel und ihm übrigens auffallend ähnlich sah. Marcel sagte: „Et voilà Kikjou – mon petit frère.” David Deutsch war einen Augenblick lang recht erschrocken über die Tatsache, daß Marcel einen Bruder präsentierte – ‚und aus seinen Büchern scheint doch hervorzugehen, daß er keine Geschwister hat’, dachte er. – „Il est beaucoup plus gentil que moi”, sagte Marcel, einen Arm um die Schulter des Jungen gelegt, den er Kikjou nannte. Dann umarmte er die Schwalbe, wobei er sie ausführlich auf beide Wangen küßte. Marion und Martin lachten. „Idiot!” sagte Marion – und Martin, erklärend zu David Deutsch: „Er hat natürlich nie einen Bruder gehabt. – Aber sie sehen sich wirklich ähnlich”, fügte er hinzu und schaute, mehrere Sekunden lang, schläfrig-neugierig, aufmerksam und zärtlich den Fremden an.
Kikjou, der kleine Bruder Marcels: warum nicht? Sie hatten gemeinsam: vor allem den hohen, dunklen, kühn und reizvoll gespannten Bogen der Brauen über den weit geöffneten, hellen Augen; die etwas zu dicken, ein wenig aufgeworfenen, stark roten Lippen, die in der Blässe ihrer Gesichter wie geschminkt wirkten; die breite, niedrige Stirn, in die das Haar üppig wucherte. Kikjous Haar hatte einen mattgoldenen, fast honigfarbenen Ton; Marcels dickes Gelock war von fahl nachgedunkeltem Blond. Marcels Augenbrauen waren stark und etwas buschig, während diejenigen Kikjous wie mit einem Kohlestift gezeichnet schienen.
Sie hatten beide die rundgeschnittenen, weitgeöffneten Augen von unbestimmbarer Farbe, aber in Marcels Augen gab es das stärkere Leuchten. Es waren erstaunliche Augen, kindliche Augen, etwas wahnsinnige Augen, verführerische, rührende, unschuldige und, auf eine geheimnisvolle Art, furchtbare Augen, von einer hoffnungslos traurigen und sinnlichen Glut. Die Augen des Jüngeren wirkten sanfter, blasser und weicher. Alles wirkte sanfter, blasser und weicher an Kikjou, le petit frère de Marcel. In seinem Gesicht gab es nur helle Farben. Es war schmaler und empfindlicher geformt und viel glatter als Marcels Gesicht, welches grobknochig schien, mit breiten Wangen und Falten in der Stirn – viel zu tiefen für den Siebenundzwanzigjährigen. Die Mischung aus Kindlichkeit und Ramponiertheit charakterisierte das Aussehen Marcels; eine wüste Kindlichkeit war ihm eigen. Er wirkte sechzehnjährig und unendlich alt; unberührt und vielfach gezeichnet von den abenteuerlichsten, tiefsten und wirrsten Erfahrungen. Kikjous Stirne war wie aus Perlmutter geformt, sie hatte ein mattes Leuchten. Kikjou war auffallend hübsch, – zu hübsch, anstößig hübsch für einen jungen Mann –; Marcel beinahe häßlich, aber reizbegnadet in einem bestürzenden, fulminanten, wahrhaft sensationellen Grade. Die Kellnerin, die ihm den Tee servierte, konnte sich diesem Charme, der durch seine Heftigkeit beinahe weh tat, ebenso wenig entziehen wie der Arzt, der seine Lunge untersuchte, oder der alte Literaturkritiker, der dem exzentrischen Dichter mit der felsenfesten Absicht entgegentrat, ihn unausstehlich zu finden. Nun stellte sich heraus, daß er unwiderstehlich war … Marion, Martin, David Deutsch und die Schwalbe empfanden alle drei genau dasselbe, als sie Marcel Poiret wiedersahen: ‚Mein Gott – ich hatte doch bis zum gewissen Grade vergessen, wie schön er ist. Er ist schön.’ –
Poiret hatte die Schwalbemutter, in deren Berliner Lokal er oft gewesen war, seit ihrer Ankunft in Paris noch nicht gesehen. Er versuchte deutsch mit ihr zu reden; es kam ein konfuses Kauderwelsch dabei zu Stande, durchsetzt mit englischen Brocken –: Marcel neigte dazu, die beiden Sprachen miteinander zu vermischen. „Poor Berlin!” rief er aus – sie waren vom Boulevard St. Germain in die lange traurige rue de Rennes eingebogen und gingen nun Richtung Gare de Montparnasse, in zwei Dreierreihen: voran Marcel, David und die Schwalbe; hinter ihnen Marion und Martin mit dem „petit frère”. „Poor Berlin!” sagte Marcel. „So schöne Stadt, ganz verdorben! Ganz verdorben – very sorry for you, meine süße Schwalbe, very sorry!” Die Grauhaarige, rüstig neben dem jungen Dichter einherstapfend, nickte und brummte: „Große Schweinerei! Na, wird ja nicht lange dauern …” – Mit so viel biederem Optimismus war Marcel nicht einverstanden. Mühsam jedes Wort suchend, – um es dann abenteuerlich falsch zu betonen –, riskierte er es, zu widersprechen. „Ah, ma pauvre Hirondelle – keine Illusionen! Schluß mit Illusionen, ma pauvre! Hitler ist, was bourgeoisie will. Wird sich lange halten, weil genau ist, was bourgeoisie gerne mag. Bourgeoisie will häßliche kleine Mann: bißchen Bauch schon –”, er deutete pantomimisch die leichte Leibeswölbung des deutschen Kanzlers an –, „und kleine moustache – garstig moustache, kommt wie schwarze Schmutz aus Nase gelaufen – oh, so verry ugly! Le bel Adolphe –: häßlichste Mann von die Welt. Häßlische Nase, und abscheulich Haar – so gemein in die Stirn coiffiert! Very sorry for you, Hirondelle, ma pauvre –: Deine Führer, häßlischte Mann von die Welt!” Er klopfte ihr mitleidig die Schulter, während David Deutsch, nervös amüsiert, von krampfhaftem Gelächter geschüttelt wurde und sich das verzerrte Gesicht mit den Händen bedecken mußte. Die Schwalbe wiederholte, gutmütig den französischen Akzent karikierend: „Mein Führer, häßlichste Mann von die Welt!” – Marcel sah, wenn er lachte, wie ein vergnügter Handwerksbursche aus. Alles was an ihm proletarisch-bäuerlich war, – und seine Physiognomie hatte volktümlich-derbe Züge neben den dekadenten – kam im herzhaften Gelächter zum Ausdruck und schien, solange die Freude anhielt, dominierend zu werden. Das Lachen verjüngte ihn und machte ihn gesund.
Marion, die den kleinen Kikjou schon ein paar Tage vorher mit Marcel getroffen hatte, versuchte Martin klar zu machen, was für eine Art von Geschöpf man da vor sich hatte; es störte sie kaum, daß der Geschilderte dabei war und sogar etwas deutsch verstand. „Er gehört zu diesen Jungens, wie man sie in Paris manchmal trifft, die alle Sprachen können und gar keine”, sagte sie. „Ich glaube, ursprünglich kommt er aus Brasilien; aber das ist alles etwas zu kompliziert für mein Fassungsvermögen. Jedenfalls ist er mit seiner Familie böse, und seine Familie ist wohlhabend und lebt teilweise in Rio, teilweise in Lausanne, der Wichtigste ist aber ein alter Onkel, und wir können ihn nicht ausstehen, weil er kein Geld schickt, oder beinah kein Geld, jedenfalls nicht genug.” – „Marion! Sie sind schrecklich!” unterbrach Kikjou sie lachend; aber er sah dabei nicht das Mädchen an, sondern Martin, aus sehr sanft strahlenden Augen. – Marion, unbeirrbar, fuhr fort: „Marcel behauptet, daß Kikjou manchmal recht schöne Gedichte macht. Aber der liebe Gott kommt zuviel in ihnen vor. Marcel ist doch so besonders gegen den lieben Gott.” – „Marion, du bist wirklich schrecklich!” Jetzt sagte es Martin, und auch er sah an der Angeredeten vorbei; es gelang ihm aber nicht mehr, Kikjous Blick einzufangen.
Marcel wandte sich um und rief über die Schulter: „Der liebe Gott? Toujours le Bon-Dieu? Merde, alors! On se dispute toute la soirée sur le Bon-Dieu – il parait que le petit Kikjou aime beaucoup ce type-là. Voilà notre petit Kikjou tout à fait furieux parceque je dis, tout simplement, que cet espèce de Bon-Dieu est un salaud, une cochonnerie, une vacherie, une connerie – une … je ne sais pas quoi …” – „Marcel!” bat Kikjou, mit einer ganz leisen, aber merkwürdig innigen, fast metallisch tönenden Stimme. „Marcel! Je t’en pris!” Dabei hob er mit einer priesterlich runden, sanft warnenden, beschwörenden Geste die flach geöffnete Hand. Aber der andere redete weiter, mit Akzent und Haltung eines streitsüchtigen Taxichauffeurs. „Eh quoi – alors! Sans blagué! merde alors! Tu ne comprends pas que c’est encore une espèce de politesse – par pitié – qui me fait dire que ton Bon-Dieu soit un salaud, puis’que, en vérité, il n’existe pas, tout simplement. Et je crois qu’il vaudrait toujours mieux d’exister comme un salaud que de n’exister du tout … Et quoi alors?!” – Seine Stimme klang böse, die Augen hatten ein schlimmes Funkeln. Er wartete Kikjous Antwort nicht ab, sondern drehte ihm wieder den Rücken und ging schnell weiter, so schnell, daß David Deutsch und die Schwalbe nun wirklich Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Kikjou sagte, und lächelte etwas fahl: „Sie müssen es entschuldigen … Aber Sie kennen ihn ja. Sie wissen, warum er diese fürchterlichen Dinge sagen muß.” Sie blieben mehrere Minuten lang stumm, bis Martin fragte: „Aus welcher Sprache stammt eigentlich das Wort Kikjou? Es klingt wie ein Vogelname … Heißen Sie wirklich so?” Der Fremde schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: „Als ich ganz klein war, in Rio drüben, hat mich eine indianische Kinderfrau so genannt. Und dann Marcel wieder.” – Martin nickte.
Sie hatten die Gare de Montparnasse erreicht und bogen links in den Boulevard ein. Die Schwalbe schlug vor, man solle einen Rundgang durch die großen Cafés machen: „um die Freunde zu sammeln –”, als gälte es, einen feierlichen oder kriegerischen Umzug zu organisieren. In der „Coupole” fanden die Deutschen keinen ihrer Bekannten; nur Marcel wurde von ein paar jungen Leuten begrüßt, es waren französische Literaten, sie paßten nicht ganz in den Kreis. Im „neuen” Café du Dôme – einer erst seit einigen Jahren eröffneten, etwas eleganteren Dépendance des alten, schon klassisch ehrwürdigen Etablissements – trafen sie Professor Samuel, den Maler: ein betagter Herr, würdig, väterlich, aber immer noch unternehmungslustig, nicht ohne verschmitzte, leicht diabolische Züge; Professor Samuel – Schüler der großen Pariser Impressionisten, von den internationalen Kennern und Sammlern seit Jahrzehnten respektiert; seit Jahrzehnten in den Montparnasse-Cafés ebenso intim beheimatet wie in den Berliner Lokalitäten gleichen Stils –: er rief mit seinem wunderbaren, orgeltiefen Baß: „Da seid ihr ja, meine Kinder!” – und zog einen nach dem anderen ans Herz; zuerst Marion, dann Marcel, dann Martin, David, die Schwalbe, und sogar Kikjou, den er gerade erst kennen lernte. Der „Meister” war stets gerne dazu bereit, junge Leute, männlichen oder weiblichen Geschlechtes, zu umarmen und ein wenig zu liebkosen. Er hatte, unter dem breitrandigen Schlapphut, ein großes, kluges, altes, blasses Gesicht; die Augen verschwanden hinter geheimnisvoll spiegelnden Brillengläsern; das Lächeln des feingeschnittenen Mundes war sowohl gütig als schelmisch und von einer gleichsam verklärten, väterlich-allumfassend gewordenen Sinnlichkeit. „Der Meister! Le maître lui-même!” riefen die jungen Leute durcheinander. Sie kannten ihn alle, und sie waren angenehm berührt, seine schöne Orgelstimme wieder zu hören. Er genoß großes Vertrauen bei den jungen Leuten, die oft ratlos waren. Man beichtete ihm, klagte bei ihm, erbat Rat, er hatte für alles Verständnis, es überraschte ihn nichts, er hatte viel gesehen, auch selber viel mitgemacht, er war alt und klug.
In der Gesellschaft des Meisters gab es einen munter und adrett wirkenden kleinen Herrn mit auffallend schönem, soigniertem weißem Haar über einer rosig appetitlichen Miene. Marion und Martin schienen mit ihm intim zu sein, auch Marcel und die Schwalbe kannten ihn, David hatte ihn nie gesehen. Er hieß Bobby Sedelmayer und war der Manager der Knickerbocker-Bar in Berlin gewesen, – eines Etablissements, in dem die arriviertesten von den Stammgästen der Schwalbe sich mit dem eigentlichen Kurfürstendamm-Publikum, den Snobs und den hochbezahlten Künstlern, begegneten. Der kleine Sedelmayer und die Schwalbe standen in einem neckisch-gespannten Verhältnis, jedoch überwog die schalkhafte Nuance; denn im Grunde waren sie nie Konkurrenten gewesen, da bei der Schwalbe die Erbsensuppe dreißig Pfennige, bei Bobby der Cocktail fünf Mark kostete. Nun hatten sie Beide ihre Pforten schließen müssen, und begegneten sich auf der Terrasse des „Dôme” – beide übrigens durchaus optimistisch, bei allem Ernst der Situation, und den Kopf voller Pläne. Bobby hatte in seinem Leben mindestens schon fünfundzwanzig verschiedene Professionen gehabt, hinter ihm lagen vielerlei Abenteuer, es war erstaunlich, daß er immer noch ein so rosig-adrettes Aussehen zeigte. Er war vermögend und er war bettelarm gewesen. Er hatte in einem großen Kunst-Salon in Frankfurt am Main Picassos verkauft, und zu Berlin heiße Würstchen, nachts, auf der Friedrichstraße. Er war Fremdenführer in New-York gewesen, und Schauspieler in München, Journalist in Budapest, und der Empfangschef eines Institut de Beauté an der Tauentzienstraße in Berlin. Er war einfallsreich, tapfer, immer guter Laune, intelligent und unverwüstlich. Marion küßte ihn auf beide Backen, er zog sie sofort beiseite, um ihr mitzuteilen: „Jetzt mache ich natürlich in Paris ein Lokal auf, der alte Bernheim wird mir das Geld geben, du kommst doch zur Eröffnung, ich will es diesmal ganz schick machen – Avenue de l’Opéra, große Negerband –, der alte Bernheim scheint ziemlich viel money im Ausland zu haben …”
Außer Bobby fand sich ein verschüchtert wirkender Jüngling an Samuels Tisch: ährenblondes, artig gescheiteltes Haar, das hübsche, glatte Gesicht etwas entstellt durch mehrere Pickel auf der Stirne und um den Mund; dunkel und nicht ohne Feierlichkeit gekleidet, mit breiter, schwarzer Krawatte, im Stil lyrisch gestimmter Heidelberger Studenten. – Martin zwickte Samuel in den Arm: „Wo hast du den aufgegabelt?” Der Meister schmunzelte: „Ach, er saß so einsam und bekümmert hier auf der Terrasse, mit seiner deutschen Zeitung auf den Knieen. Ich habe es für meine Christenpflicht gehalten, ihn anzusprechen. Er ist ein ungeheuer braver Junge, soviel habe ich schon heraus. Übrigens scheint er dort drüben, in Deutschland, arge Sachen erlebt zu haben.”
Dann wendete der Meister sich wieder an die ganze Gesellschaft, und erklärte, gegenüber, im „Select”, sitzte der reiche Bernheim mit noch ein paar Leuten. „Wollen wir nicht hinüber gehen? Er bezahlt uns die Drinks.” Alle waren dafür, aber die Schwalbe sagte: „Ich muß nur erst noch ins alte ‚Dôme’ und in die ‚Rotonde’ schauen, ob nicht die arme Proskauer irgendwo sitzt. Sie kommt direkt aus Berlin und wird sicher etwas Interessantes zu erzählen haben.”
Samuel, mit Marion, Martin, Kikjou und dem schüchternen Studenten ging schon ins „Select” hinüber, wo der reiche Bernheim die Drinks bezahlen würde; während die Schwalbe sich von Marcel und David ins alte ‚Dôme’ begleiten ließ. Dort fanden sie gleich das Mädchen, welches sie suchten; sie saß in einem kleineren Nebenraum in der Nähe der Theke. Die Proskauer, mit einer ungewöhnlich langen, stark gebogenen Nase, an der die dunkeln, sorgenvollen Augen behindert vorbeiblickten, präsentierte sich als eine sehr häßliche, aber Vertrauen einflößende, sympathische Person. Sie hielt sich schlecht; ihr schräg gehaltener Kopf mit tief sitzendem, unordentlich geflochtenem schwarzem Haarknoten, steckte zwischen den zu hohen Schultern. Ihre Worte kamen wie das leise, undeutlich-sonore verständige Plätschern einer kleinen Quelle unter der Felszacke ihrer Nase hervor. Man hätte sie recht gerne als milde Schwester um sich gehabt, wenn man fiebrig zu Bette lag. Marcel empfand angesichts dieses Typs von Mädchen ein Mitleid, das an Zärtlichkeit grenzte. „Pauvre enfant.” dachte er und schaute die Proskauer leuchtend aus den Sternenaugen an.
Bei ihr am Tisch saßen zwei Männer, beide hatten fast drohend ernste, unrasierte Mienen, und sie wirkten, als versteckten sie hohe, derbe, kotbespritzte Stiefel. Die Proskauer stellte sie als Theo Hummler und Dr. Mathes vor: „zwei sozialdemokratische Genossen,” murmelte sie verständig. Die Beiden hatten einen erschreckend festen Händedruck. Als sie mit Marcel bekannt wurden, sagten sie: „Enchanté”,