Wo sind meine Geschwister?«

Der junge Hase, der im Dickicht unter Farnwedeln neben seiner Mutter saß, hatte das plötzlich gefragt.

Er war so klein wie ein Klümpchen Erde des Waldbodens. Er glich einem Flöckchen Wolle, doch er schien fast noch zarter als der zarteste Flaum, schier hauchartig. Er sah ganz nebelgrau aus; sein Fell hatte jenes feine Farbengemenge, das man Pfeffer und Salz nennt. Er war eigentlich so wesenlos und dabei doch so wunderbar wie der erste blasse Schimmer des frühen Morgens, der soeben herandämmerte. Auf seiner Stirn stand der weiße Stern, das Zeichen seiner Kindheit.

»Wo sind meine Geschwister?« fragte er noch einmal. Sie waren ihm gerade jetzt eingefallen. Er wußte nicht, wie, und er dachte auch nicht weiter darüber nach. Er war gewohnt zu fragen, und so fragte er.

Die Mutter schwieg.

Eine große, stattliche Häsin, saß sie völlig in sich verkauert, hatte einen schwarzen Streifen, der sich den Rücken entlang über das erdbraune Fell hinzog, hatte kleine schwarze Streifen am Bug der Löffel. Und ihre mächtigen weißen Schnurrhaare befanden sich jetzt in unaufhörlicher, leiser Bewegung. Es blieb unwahrscheinlich, daß der winzige Junge neben ihr jemals so gewaltig werden könnte wie sie.

»Mir ist doch«, fing er wieder an, »mir ist doch, als seien viele Geschwister dagewesen . . .«

Als keine Antwort kam, redete er weiter: »Brüder und Schwestern waren bei mir . . . Ich weiß nicht mehr wie viele, es ist so lange her, und ich bin noch zu klein gewesen, damals . . .«

Dieses »lange her« und dieses »damals« hatte sein eigenes Maß, denn der Junge war erst ein paar Wochen auf der Welt.

Die Mutter wandte sich zu ihm. Ganz wenig, ohne ihre Haltung zu ändern. Doch ihre Schnurrhaare spielten etwas lebhafter. »Ja, ja«, sprach sie, »mein lieber Hops, du wirst größer. Es ist zum Staunen, wie schnell du groß wirst . . .«

Der winzige Hops richtete sich auf, saß in den Hinterbeinen und stellte erfreut die Löffel hoch. »Wo sind die andern?« forschte er dringend.

Die Mutter antwortete leise: »Verschwunden . . .«

Hops legte die Löffel nieder. »Auch du verschwindest manches Mal . . . aber du kommst wieder . . .«

Die Mutter hielt die Nase fest zwischen die Vorderpfoten gepreßt und schwieg.

Dem Kleinen ahnte Schlimmes; er fragte: »Wann . . . wann kommen sie zurück . . . die andern?«

Noch fester drückte die Mutter ihren Kopf in die Vorderpfoten, noch leiser sagte sie: »Niemals . . .«

»Wo sind sie?« Hops war es bang zumute, aber er ließ nicht locker.

Ohne sich zu regen, gab die Mutter Antwort: »Verloren sind sie . . .«

Der Kleine begriff nicht ganz, was er da hörte. Gleichwohl war er erschüttert. Nach einer Pause verlangte er zu wissen: »Und ich . . .? Werde auch ich verloren sein?«

Die Mutter zuckte: »Mein Hops . . . mein lieber Hops . . .« Sie seufzte, ehe sie weitersprach: »Du mußt aufpassen, immer, immer achtgeben, immer . . . verstehst du? Und du mußt laufen können . . . schneller als alle andern Geschöpfe hier im Walde . . .«

Hops beteuerte: »Oh, Mutter . . . ich gebe ja acht . . . ich weiß eigentlich noch gar nicht, warum, aber ich geb' immer acht!«

»Du bist brav«, wurde er gelobt, »eines Tages wirst du von selbst lernen, warum wir immer auf der Hut sein müssen . . . Du bist jung, mein Kleiner . . .«

»Und laufen kann ich«, rief Hops, »schau mir zu . . .«

Er begann zu rennen, unbeholfen, kindlich, doch mit bestem Willen. Er umsprang die Mutter, rannte in immer größeren Kreisen.

Die Mutter saß still und blickte ihm nach. Eine geringe Zufriedenheit durchzog warm ihr Herz. Dann murmelte sie vor sich hin: »So oder so . . . niemand behält seine Kinder . . .« Sie legte die stattlichen Löffel melancholisch und langsam nieder, während sie bekümmert wiederholte: »So oder so . . . die Kinder bleiben nie . . . sie brauchen uns eines Tages nicht mehr . . .«

Hops geriet in eine Ekstase des Laufens. Das graue Flöckchen Wolle, das von seiner Mutter Hops genannt wurde, fegte über den Boden hin, unter den Blättern von Farnkraut und Lattich, unter dem dünnen, niedrigsten Gezweig junger Hartriegel- und Brombeerstauden. Manche von den Gerten peitschten ihn, wenn sie zurückschnellten, ganz leicht. Hops empfand das angenehm und als eine Mahnung, noch rascher dahinzurennen.

Der Wald begann zu erwachen.

Eine fahle Helligkeit drang durch das frische Maiengrün der Laubwipfel in das Dickicht.

Holztauben schwangen sich mit geräuschvollem Flügelschlag von den Ästen. Laut knatternden Fittichs verließen die Fasanen ihre Schlafbäume, und ihr metallischer Balzton, abgerissen und berstend, klang überall auf. Das wirkte, als züngelten da und dort im Walde blitzende Flammen empor, um gleich wieder zu verlöschen; hörte sich an wie ein im Ausbrechen schon bereuter Schrei, gemengt aus Schmerz und Lust.

Hoch oben, auf den höchsten, dünnsten Zweigspitzen der Buchen und Linden saßen die Amseln, waren vom Erdboden gesehen nur schwarze Punkte, aber ihr andauernder, in frohen Weisen wunderbar abwechselnder Gesang strömte die Musik inbrünstiger Daseinswonne durch den Maimorgen.

Der Pirol schleuderte seinen goldgelben Leib von Baum zu Baum und jauchzte dazu, immer dieselbe begeisterte Strophe, als wäre die Sonne schon aufgegangen.

Das zornige Kreischen der Häher schrillte durch die Luft; der tanzende Lachton, in dem die Elstern schäkerten, ließ sich vernehmen. Im Buschwerk regte sich das zarte Gezwitscher der flinken Meisen, das Gezirpe der huschenden Grasmücken.

Immer wieder, fern und nah, rief der Kuckuck.

Als Hops sein Laufen einstellte und zurückkehrte, war die Mutter fort.

Er suchte sie nicht.

Viele andere Hasenkinder kamen durch das Unterholz daher. Hier, dort, ganz nah, ein wenig weiter, hoppelten sie, rannten, saßen aufrecht mit hochgestellten Löffeln, gehabten sich fröhlich und übermütig.

Hops kannte sie alle und schloß sich ihnen an.

Manche andere Morgenstunde verbrachte Hops mit den Gefährten seiner Kindheit draußen auf der Wiese.

In der langen, wunderreichen Stunde, während die Nacht versank, wie ein schwarzer Schleier sich löste, sich hinweghob, der Himmel heller und heller wurde und die Sterne verblaßten, während dieser Stunde ergötzten sich die Hasenkinder auf der Wiese.

Die Wiese lag mitten im Laubwald; sie hatte gar keine ausgesprochene Form, weder die eines Kreises noch sonst eine andere. Mit vorgestoßener Spitze drang der Wald an der einen Stelle in den Rasen, gleich einer schmalen Halbinsel. An einer anderen Stelle riß die Wiese eine tiefe Bucht in das Dickicht. So unregelmäßig und so lieblich konnte nur ein See, ein Weiher oder nur eine wilde Wiese sein. Sie war wie ein Aufatmen des großen Waldes, ein Stückchen Freiheit, Licht, Luft und . . . Gefahr.

Da tummelten sich die jungen Hasen und waren oft ganz berauscht, waren voll jener seligen Raserei, die alle Geschöpfe nur in der Kindheit erfüllt.

Sie glichen kleinen Wolkenrestchen, die noch einen Schein des Himmels an sich tragen, und denen es Spaß macht, auf der Erde zu tanzen. So körperlos, so zart sahen sie aus.

Sie jagten einander rundum. Ganz nah am Waldrand. Denn ein Etwas lag dabei immer in ihrem Kindersinn, das ihnen sagte, man könne nie wissen, was geschehen werde, und es sei vorteilhaft, mit einem Satz im Dickicht zu verschwinden.

Hops war einer der Vorsichtigsten von allen. Oft trieb es ihn, drauflos, mitten in die Wiese zu rennen und weiter, immer weiter. Er hielt sich zurück. Hie und da gewaltsam, ohne daß er recht wußte, warum. Immer blieb er ganz nah am Rande der Dickung, immer war er bereit, zu flüchten und sich zu verstecken.

Die kleine Plana vertraute sich seiner Führung an. Das war von ungefähr so gekommen, ganz von selbst.

Plana war lustig, war übermütig, doch ohne jede Selbständigkeit.

Wenn die andern sich überkugelten, weil sie so schnell dahinschossen, war die kleine Plana mitten drunter. Wenn alle von dem unfreiwilligen Purzelbaum entzückt in die Höhe sprangen und erst recht anfingen wie verzückt zu rennen, war Plana die Tollste.

Dann klapperte Hops mit den Löffeln und rief nach ihr.

»Plana . . .«

Sie kam sogleich.

»Bleib bei mir . . .« sagte Hops.

Und sie blieb. Sie hockte neben ihm und sah ihn fröhlich an. Er schwieg.

Sie war hold, die kleine Plana. Und sie hatte etwas Rührendes in ihrem Wesen, etwas von hilfloser Ergebenheit.

Hops konnte das noch nicht so deutlich empfinden. Doch er fühlte es wohl, wenn Plana bei ihm saß.

Manchmal gerieten die Hasenkinder außer sich vor Entzücken über sich selbst, über die starke, belebende Morgenluft, über den Hauch der Gräser und Blumen.

Da sprangen sie hintereinander drein, so blitzschnell, daß es unmöglich blieb, zu erkennen, wer den Verfolger spielte und wer den Verfolgten. Sie hätten selbst nicht vermocht das zu entscheiden.

Auch Plana fiel regelmäßig in diese Ekstase, der sich sogar Hops nicht entziehen konnte. Er sauste mit Plana auf und nieder, hin und her. Aber stets nah der Dickung, immer die schützenden Sträucher entlang.

Wollte Plana übermütig gegen die Wiese ausbrechen, dann kam Hops sogleich zur Besinnung, hockte nieder und rief: »Nicht so weit!«

Plana kam herbei, setzte sich zu ihm und sagte nur: »Ach . . . du!«

Über den Rasen schritten feierlich Fasane: farbenprächtig, stolz, nickenden Hauptes. Sie waren Familienväter auf Ferien. Denn drinnen, im lockeren Dickicht, führten die Hennen ihre junge Brut spazieren. Und die Mütter, umwimmelt von den winzigen Küchlein, hatten ein demütig-selbstbewußtes Gehaben und vermochten sich vor lauter Wachsamkeit nicht zu fassen.

Draußen, auf der Wiese, hob da und dort ein Reh sein Haupt, bewegte anmutig die Lauscher und äugte zu den spielenden Hasenkindern hinüber.

Manchmal blieb denen der Atem weg vor Laufen und Springen. Dann saßen sie still und nahmen ernste, ja bekümmerte Mienen an. Der Schatten des schweren, künftigen Schicksals schien während solcher Sekunden über sie alle hinwegzuhuschen.

Sie saßen da, regten sich nicht, indessen ihre Lungen flogen und ihre Pulse jagten.

Aber so junge Hasen brauchen nicht lange, um sich zu erholen.

Da fing einer von neuem an, hockte sich in die Hinterbeine und blinzelte pfiffig umher; der zweite hoppelte zu ihm, stieß ihm die Nase in die Flanke; ein dritter tat so, als wäre die ganze Schar hinter ihm drein, und rannte wie gehetzt.

Worauf die ganze Bande nun sofort wieder ins Kreiseln geriet.

Heute jedoch wurde die allgemeine Heiterkeit durch ein ernstes Ereignis gestört.

Ein kleiner, ein winzigkleiner Hase wurde vor sinnloser Freude so närrisch, daß er weit fortrannte. Mitten hinein in die Wiese. Er war ein netter Junge, der tollste, der lustigste von allen. So rannte er drauflos, zutraulich, neugierig, unerfahren und berauscht von seiner Fröhlichkeit.

Ein paar Krähen, die feldwärts strichen, erblickten den kleinen Hasen, wie er allein auf der Wiese umherlief.

Da senkten sich die schwarzen Vögel rasch zu ihm herab, und ehe der Arme sich zu besinnen vermochte, fühlte er grimmigen Schmerz in beiden Augen. Die schöne grüne Welt verschwand ihm, wurde schwarz und finster. Wühlende Pein fuhr durch sein Hirn. Und alles war vorbei.

Das Klagen des sterbenden Jungen, der noch kaum gelebt hatte, blieb ungehört. Es klang zu leise, und es verstummte zu schnell.

Nichts blieb übrig als umhergestreute Flöckchen zarter Wolle und ein bißchen Blut, das in Rubintropfen an den Gräsern hing oder im Erdboden bald versickerte.

Manche von den Hasenkindern hatten den Zwischenfall gar nicht bemerkt. Einige andere hatten die Krähen, die herniederstießen, erblickt. Während der kurzen Sekunde, in der sie sich mit hochgeschnellten Löffeln aufrichteten, hatten sie den Mord, der dort draußen an einem der Ihren begangen wurde, mehr erraten als mitangesehen.

Verstört duckten sie sich und flüchteten, mitten aus dem Spiel, ins Dickicht.

Aber keiner redete zum andern auch nur eine Silbe über das Geschehnis.

Ein stilles Grauen zerrte an ihnen, verblaßte bald wieder und zwang sie doch zu schweigen.

Hops saß unter einer niedrigen, dichten Holunderstaude am Wiesensaum und hatte Plana bei sich. Über Holunder und anderem Buschwerk ragte riesenhaft eine uralte Esche und breitete prächtig ihren Wipfel.

Zwei Eichhörnchen jagten einander baumauf, baumab. Ihre roten Standarten fegten durch das hellgrüne Laub.

»Es ist gefährlich, so drauf loszurennen«, sagte Hops leise. – Plana seufzte nur.

Sie saßen beide ganz still. Hin und wieder bewegten sie ihre Löffel. Und ihre Schnurrhaare bebten.

Als dann die Sonne emporstieg und ihre ersten Strahlen wie hingeschleuderte goldene Speere niederblitzten, krochen die Hasenkinder in das schattenkühle Dickicht. Sie blieben nicht beisammen. Einzeln schlüpfte jedes zu seiner Mulde, die es sich unter dem überhängenden Geäst eines Strauches zurechtgekratzt hatte. Jedes allein und für sich drückte den kleinen, schmalen Leib in die warme Scholle, blieb ohne Regung liegen und gab sich dem dünnen Hasenschlummer hin.

Nur Hops und Plana waren nahe beieinander. Die Vögel sangen, zwitscherten, pfiffen, jauchzten ein paar Stunden noch, bejubelten den blauen Morgen, beschwatzten ihre Liebesangelegenheiten, ihre Sorgen, Freuden und Zerwürfnisse. Dann breitete der Mittag sein brutheißes Schweigen über den Wald.

»Wie schön!« sagte Plana, manchmal aus ihrem Halbschlummer erwachend.

»Schön . . . und schwer«, antwortete Hops jedesmal. Und fügte jedesmal die Mahnung hinzu: »Halt dich still.«

Nicht immer war Plana geneigt, auf diese Mahnung zu achten. Sie hatte solche Worte zu oft gehört, dachte sich nichts mehr dabei, ja sie fühlte sich mitunter dadurch einfach gereizt. So geschah es hie und da, daß sie, gerade wenn Hops ihr zugeflüstert hatte: »Halt dich still«, aufsprang und im Kreise herumzurennen begann.

»Du bist toll!« murrte Hops.

Und Plana entgegnete: »Toll vor Freude!«

Hops warnte: »Du wirst schon sehen . . . aber dann ist es zu spät.«

Plana duckte sich sogleich. »Es ist ja nichts geschehen«, meinte sie begütigend.

»Jeden Augenblick kann etwas geschehen«, erwiderte Hops.

»Ich bin schon still«, versicherte Plana und lag ohne sich zu regen in ihrer Mulde. – –

Eines Nachts jedoch wurden sie beide Zeugen eines Ereignisses, das sie zittern machte.

Groß, unhörbar und majestätisch schwebte die Eule im Gehölz umher. Manchmal hoch oben, längs der Baumwipfel, manchmal ganz nah am Boden.

Noch nie hatten die zwei solch ein zauberhaftes Wesen erblickt. Doch Hops wurde mißtrauisch; diese Erscheinung war ihm unheimlich, ohne daß er wußte, weshalb. Er rührte sich nicht. So leise er konnte, schickte er dringende Warnung zu Plana hinüber, die sich aufrichten wollte.

Sie erschrak und gehorchte.

Aber ein anderes Hasenkind, etwa zwanzig Sprünge von ihnen entfernt, hatte den wunderbaren schwebenden Schatten sehen wollen und hatte sich bewegt, kaum merkbar, nur ganz leise.

Schon war es von den breiten Schwingen der Eule gedeckt, war umfangen von dem lautlosen und wie zärtlichen Gefieder. Wäre nicht der kurze, schwache Schmerzensschrei gewesen, der Hops und Plana ans Ohr drang, sie hätten geglaubt, das sei eine Liebkosung.

Gleich scharfen Dolchen fuhren die Krallen der Eule dem armen Hasenkind durch den schmalen, mageren Leib. Ein paar Schnabelhiebe, und es war schon tot, als es aufgehoben und durch die Nachtluft fortgetragen wurde.

»Furchtbar . . .« flüsterte Plana. Das Grauen schüttelte sie. Hops verharrte in Schweigen.

Plana begriff jetzt die Mahnung, die ihr von Hops immer wieder zuteil wurde. Nun hatte sie es erlebt, wie man Neugier, wie man Leichtsinn büßen mußte. Sie empfand Dankbarkeit für Hops. Und sie hörte jetzt selbst in ihrem eigenen Blut die ängstliche Stimme, die ihr zuraunte: »Halt dich still.«

Am Morgen kamen ein paar Mütter, um nach den Kleinen zu sehen.

Auch Hops saß wieder einmal bei seiner Mutter und erzählte ihr von der Eule.

»Ja, ja«, sagte die Mutter nachdenklich vor sich hin, »uns bedrohen alle . . . alle verfolgen uns . . . und wir verfolgen keinen . . .«

»Wo ist mein Vater?« fragte Hops plötzlich. Er hatte Sehnsucht nach einem Beschützer.

Die Mutter erschrak. »Was fällt dir ein?« rief sie, und ihre Löffel schnellten entsetzt in die Höhe. Ihre schönen Schnurrhaare bebten erregt, während sie fortfuhr: »Was hast du für verwegene Wünsche? Laß es dir nicht einfallen, ihm in den Weg zu kommen!«

Hops überwand die Scheu, die ihn sogleich durchdrang. »Warum denn nicht?« forschte er.

»Aber Kind!« rief die Mutter, »er würde dich umbringen!«

Hops war erschüttert. Es dauerte eine Weile, bis er sich fassen konnte. »Umbringen . . .?« stammelte er.

»Laß dich vor ihm nicht blicken«, bat die Mutter, »jetzt nicht, solange du so klein bist . . .«

»Weshalb haßt er mich?« wollte Hops wissen.

»Ach, er haßt dich ja gar nicht«, die Mutter seufzte ein bißchen, »er hat mich nur so schrecklich lieb. Immer soll ich bei ihm sein, immer . . .«

Hops saß verblüfft da. Er verstand kein Wort.

Die Mutter begann zu erklären: »Siehst du, ich will doch mit meinen Kindern sein . . . wie jetzt mit dir . . . denn ich hab' jetzt nur noch dich . . . aber das begreift er nicht, das duldet er nicht! Wenn er eins von den Kleinen erblickt, wird er zornig. In seiner Eifersucht, in seiner Wut kennt er sich nicht mehr.«

»Hat er schon einmal . . .?« Hops stockte.

»Beinahe«, gab die Mutter Bescheid, »beinahe . . . den Schrecken vergess' ich nie. Aber ich hab' das Kleine damals noch gerettet.«

Hops saß still und grübelte. Das war eine schwierige Sache, die er nicht ganz verstehen konnte. Es war schmerzlich, das zu hören; zugleich war es auch auf eine seltsame Weise schön und spannend. »Mutter«, sagte er dann, »ist das der Grund, warum ich dich so selten sehe?«

Sie antwortete sofort: »Du darfst deinem Vater nicht böse sein, Hops.«

Er lag ganz eng an den Boden gedrückt, hielt die Löffel glatt auf dem Rücken und sprach: »Nein, ich bin ihm nicht böse. Ich kann ihm gar nicht böse sein . . . nur . . . daß ich jetzt auch vor ihm Angst haben muß . . . auch vor ihm!«

»Nicht mehr lange«, tröstete die Mutter, »nicht mehr lange. Bald bist du groß genug, bald ist der weiße Stern auf deiner Stirne verschwunden. Dann darfst du dich ihm ruhig zeigen, und er wird nett zu dir sein.«

»Ich werde warten«, sagte Hops.

Als dann die Mutter fort war, hockte er sich wieder zu Plana. Doch er verschwieg ihr das Gespräch, das er mit seiner Mutter geführt hatte. Wozu sollte er davon reden? Plana war doch so kindisch. Und überdies: Hops schämte sich zu erwähnen, daß der Vater die Mutter so sehr liebte.

Was war ein Abenteuer! Es riß den munteren Hops weg aus der Schar seiner Spielkameraden. Er lernte sich selbst und das große, gefährliche Leben einmal kennen.

Während etlicher Wochen hatten sie alle eine herrliche Zeit verbracht. Hie und da schien die Sache freilich nicht geheuer. So zwischendurch gab es den entfernten Hauch einer Gefahr. Doch sie kannten ja nun die Warnsignale von Tag zu Tag besser, mochten diese auch nicht gerade ihnen selber gelten.

Wenn ein Häher zeterte, wenn eine Elster zu schakern begann, horchten sie auf. Sie wußten natürlich schon, daß Häher und Elster jetzt zu den Feinden zählten; allein sie wußten zugleich und wußten es von Tag zu Tag genauer, daß Elster und Häher mit ihren Rufen das Herannahen stärkerer Feinde verrieten.

Das helle Murren der Eichhörnchen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie begriffen das Wispern und Fegen von Grasmücken und Meisen, die durch das Astwerk der Büsche schlüpften. Und sie verstanden zu flüchten.

Nichts auf dieser Erde vollbrachten sie mit solcher Meisterschaft wie die Kunst, zu entwischen und sich unauffindbar zu verbergen.

Und nichts in der Welt war ihnen so notwendig.

Der Trieb, sich irgendeinem lebenden Geschöpf zu widersetzen, sich zu verteidigen oder gegen einen noch so geringen Widersacher gar zu kämpfen, regte sich niemals in ihren kleinen Hasenherzen.

Ihre Verteidigung bestand in Wachsamkeit, ihr Widerstand war das schnell erregte Angstgefühl, das sie durchzuckte, und die Flucht, diese kunstvolle, listenreiche, im Augenblick ergriffene Flucht, war ihre Art, zu kämpfen.

Nun kam dieses Abenteuer, das Hops dahinfegte.

Er saß auf einer engen Blöße an der Salzlecke, die er und die andern gerne aufsuchten.

Dickicht, das schier undurchdringlich, doch nicht sehr geräumig war, trennte diesen Platz von der Wiese.

Beinahe alle erquickten sich zu dieser frühen Morgenstunde an der Lecke.

Indessen die andern, Rino und Olva, Murk und Lugea, Trumer, Plana, Klipps und wie sie alle hießen, am nackten, ockerfarbigen Lehmboden hockten und mit dem Tau der Frühe das köstlich erfrischende Salz schlürften, saß Hops mitten auf dem Trog, der, in die Erde gerammt, den puren Salzstein enthielt, den der helle Lehm eng umschloß.

Hops saß ganz am Stein und gab sich schrankenlosem Genießen hin.

Die andern unternahmen manchmal ein kurzes Haschenspiel, saßen dann wieder still und schleckten. Einige hoppelten ins Gras, das gerade hier noch einmal so üppig aufgeschossen war und besonders würzig schmeckte.

Nur Hops saß mitten auf dem Trog.

Ein munterer Bursche war dieser Hops jetzt geworden, und soweit seine Möglichkeiten reichten, dreist, dazu gierig; er liebte es, aus der Fülle zu schlemmen. Er konnte in Schwelgerei gerade versinken und sogar das oberste Daseinsgebot der Hasen, die ängstliche Vorsicht, gelegentlich für Augenblicke außer acht lassen.

Das geschah ihm auch jetzt.

Plötzlich merkte er, daß alle seine Kameraden auseinanderstoben und gleich darauf verschwunden waren.

Ihm fuhr's durch den Sinn, daß er die Alarmsignale von Häher und Eichhörnchen überhört hatte. Jetzt, da sie schon verstummt waren, nahm er sie nachträglich wahr und erstarrte darüber vor Entsetzen. Über ihm, auf der alten Buche, ganz niedrig, lief das Eichhörnchen den starken Ast entlang, saß an dessen äußerster Spitze, die leise wippte, hielt beide Vorderpfoten beschwörend vor die weiß schimmernde Brust und rief zu ihm hinunter: »Großmächtiger Baum! Du bist noch immer da!«

Sofort wandte es sich und sauste im dichten Laub des Wipfels hoch hinauf, daß man seine geschwenkte Fahne nur wie einen dünnen roten Strich durch die Blätter fegen sah.

Hops blieb regungslos.

Sein Herz begann wild zu klopfen.

Er zog den Wind so heftig ein, daß seine Schnurrhaare sich rasch bewegten. Nichts! Der Wind trieb ihm keine Witterung zu.

Hops stellte die Löffel hoch.

Da vernahm er gegenüber, im Hochholz, dem der leichte Wind zustrich, ganz leises Knacken im gebrochenen zarten Unterwuchs, vernahm ganz leises Tappen und Treten von Schritten. Zweibeinig.

Was war denn los?

Hops richtete sich in den Hinterbeinen auf. Kerzengerade saß er da, die Löffel hochgestellt, die Schnurrhaare, die schmucken, zitternd in Bewegung, die runden, klaren Augen so angstvoll erweitert, daß man das Weiße erblicken konnte.

Und jetzt erschaute er zwischen den Stämmen im Hochholz das riesenhafte, geheimnisvolle Wesen, das auf zwei Beinen aufrecht ging, das von jeglicher Kreatur im Wald mehr als alles andere gefürchtet wurde, und das nun herankam. Ganz nahe war dieses Wesen schon, schlich vorsichtig, tückisch und furchtbar bedrohlich näher und näher.

Hops blieb, vom Schrecken gebannt, wie angewurzelt sitzen.

Auch die kleinen Hasen hatten erfahren, daß dieses