Zur Verständigung

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Man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben; wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln als zu dem Einfachen zurückzukehren.

Goethe)

Der Titel dieses Buches könnte großartig weltumspannend verstanden werden und ein entsprechend kühnes, ja überkühnes Unternehmen erwarten lassen; einer derartigen Annahme muß ich gleich entgegentreten und versichern: die Benennung »Mensch und Gott«, weit entfernt, auf ein unmögliches Unterfangen zu deuten, soll nach meinem Sinne schlicht anzeigen, daß die folgenden Seiten der Befassung mit zwei Begriffen gewidmet sind, welche jeden von uns – er sei auch, wer er möge – nahe betreffen, so nahe, daß ein Jeder im Laufe eines langen Lebens sich eine gewisse Zuständigkeit erwirbt und damit auch ein Recht, darüber zu reden; an den Anderen liegt es, ob sie zuzuhören belieben oder nicht. Über beide Begriffe ist so viel nachgedacht und sind so viele Gedanken mitgeteilt worden – häufig von den bedeutendsten Denkern und den erhabensten Heiligen – daß keiner sich leicht einbilden wird, neue Aufklärung beitragen zu können; jedenfalls bildet es sich der Verfasser des vorliegenden Werkes nicht ein; doch meint er, aus neuen Bedürfnissen entstünden neue Aufgaben, und hierin liege die Berechtigung eines derartigen Versuches, der seinen Zweck erreicht, sobald er nur einigen bedürftigen Seelen willkommene Hilfe leistet.

Bei einem solchen Vorhaben kommt es in erster Reihe darauf an, den Standort des Betrachters genau zu bestimmen: in diesem Buche redet der Laie, nicht der Geistliche, es redet der Weltmann, nicht der Fachgelehrte. Freilich, es hat dieser Weltmann sein Leben lang den betreffenden Fragen nahegestanden und redlich gestrebt, sich zu unterrichten – wobei er keine Mühe scheute, stets das Bedeutendste, das Gründlichste, das Zuverlässigste ausfindig zu machen und es sich, soweit es ihm seine Laienbildung gestattete, anzueignen, und zwar dieses Beste allein mit grundsätzlicher Außerachtlassung alles Minderwertigen und namentlich alles Phantastischen und Dilettantenhaften: daraus folgt eine Kenntnis der Ergebnisse gelehrter Forscher und ihre Fruchtbarmachung, nicht aber die Geistesrichtung des fachmännischen Gelehrten mit ihren Vorzügen und Beschränkungen. Man darf nicht übersehen, daß bei den hier behandelten Fragen manches jegliche Gelehrsamkeit weit übersteigt, so daß Denkkraft und Seelentiefe mehr als Wissen zu bedeuten haben; während andrerseits die Ergebnisse derjenigen Forschungen, zu denen ausgedehnte philologische und historische Kenntnisse vonnöten sind, von jedem gebildeten Laien verstanden und aufgenommen werden können. Ein bedeutendster unter den neueren Religionsforschern, F. Crawford Burkitt, sagt hierüber: »Es liegt garnichts in dem Wesen der von uns Theologen behandelten Gegenstände, was geeignet wäre, den aufmerksamen Leser zu verhindern, jeden Schritt des zurückgelegten Weges mitzumachen; auch kann er das Recht beanspruchen, darüber zu urteilen, ob er uns folgen will oder nicht« ( The Gospel History and its Transmission, 3. Aufl., S. 7). Der deutsche Leser wird wohl daran tun, sich diese Worte einzuprägen; denn die übertriebene Einschätzung der ausschlaggebenden Bedeutung, nicht allein des Wissens der Fachgelehrten, sondern auch ihres Urteils, wirkt verhängnisvoll; wer sich nicht die volle Selbständigkeit des Urteils bewahrt, begibt sich der Würde eines freien Menschen und verliert damit zugleich die Fähigkeit, sich das durch die gelehrten Arbeiten Errungene wirklich anzueignen; besser ist es, manches falsch zu verstehen als sich willenlos dem Urteil Anderer zu fügen – woraus gar keine Seelenüberzeugung, vielmehr nur ein blasses Fürwahrhalten sich ergibt.

Hier muß nebenbei eine Bemerkung eingeschaltet werden, die, ohne große Bedeutung zu besitzen, immerhin für die Beurteilung des vorliegenden Werkes nicht belanglos ist. Die besonderen Bedingungen, unter denen diese Arbeit zur Ausführung kam, erschwerten in einem solchen Maße das Nachsuchen in Büchern und Aufzeichnungen, daß hiermit so sparsam wie möglich vorgegangen werden mußte; wer darum nur die im Text genannten Schriften beachtet, wird eine weit schmälere Grundlage der durchgeführten Studien voraussetzen als die, welche in Wirklichkeit vorliegt. Daraus erklärt sich auch das Fehlen manches mit Recht erwarteten Namens. Dies sei ein für allemal in Kürze ausgesprochen.

Die Erwähnung von Lücken gemahnt mich daran, fernerstehende Leser aufmerksam zu machen, daß ich schon in mehreren meiner Bücher die Gelegenheit fand, mich eingehend sowohl mit den allgemeinen Fragen aller Religion, wie auch mit vielen darauf bezüglichen Einzelfragen, einzelnen Zeitläuften und einzelnen Persönlichkeiten zu beschäftigen – ich nenne Richard Wagner, Die Grundlagen, Worte Christi, Arische Weltanschauung, Immanuel Kant, Goethe, Deutsches Wesen, Lebenswege: meine unüberwindliche Abneigung gegen Wiederholungen hat mich veranlaßt, alle diese Stellen als bekannt vorauszusetzen.

Für den Standpunkt des Verfassers wären weiter zu berücksichtigen Rassenangehörigkeit, Bildungsgang und Lebensschicksal: die Beantwortung dieser Fragen erteilt mein im Jahre 1919 erschienenes Buch Lebenswege meines Denkens.

Bei einem der Religion gewidmeten Buch kommt namentlich der Frage nach der Absicht, aus der es entstand, Bedeutung zu. Hierauf antworte ich am besten historisch.

Die erste Anregung, ein Buch über Religion zu schreiben, erhielt ich vor etwa achtzehn Jahren von einem süddeutschen Verleger; diesen hatte Otto Pfleiderer, der in weitesten Kreisen bekannte, erst vor kurzem gestorbene Berliner Theologe, veranlaßt, sich an mich zu wenden, indem er mich, auf Grund der Abschnitte über Jesus Christus und über Religion und Kirchengeschichte in meinen Grundlagen für befähigt hielt, ein allgemein umfassendes volkstümliches Werk auszuführen. So sehr dieser Vorschlag mich auch verlockte, nie habe ich mich entschließen können, seine Ausführung in Angriff zu nehmen: ich mußte befürchten, einerseits ins Uferlose zu geraten, andrerseits keine Gelegenheit zu finden, dasjenige zu sagen, was zu sagen ich auf dem Herzen hatte. Später drangen verehrte Freunde – unter denen ich nur Julius Wiesner und Leopold von Schröder nennen will – in mich, eine ganz anders geartete Schrift zu verfassen: eine Art religiösen Bekenntnisses oder eine Erzählung meiner allerpersönlichsten religiösen Erlebnisse. Auch dieser Anregung habe ich mich nicht entschließen können zu folgen: ein gewisses Scheugefühl hielt mich davon ab. Es klangen mir die Worte der »schönen Seele« in den Ohren: »Hätte ich doch immer geschwiegen, und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten gesucht! Hätte ich mich doch nicht durch Umstände verleiten lassen, mit meinem Geheimnisse hervorzutreten!« Dennoch kreiste unablässig im innersten Gemüte die Sehnsucht, mir selber einige der beseligendsten Herzenserfahrungen durch Gestaltung möglichst deutlich zu vergegenwärtigen, zugleich mit der Vorstellung, ein derartiges Beginnen könne den Freunden meines Schrifttums einige Freude und vielleicht auch Anleitung gewähren. Eines Tages gewann dieser Wunsch gebieterische Gewalt: ich legte meine anderen Arbeiten aus der Hand und widmete mich dieser (vergl. Lebenswege, S. 152).

Erzähle ich das so umständlich, so geschieht es, weil ich mir bewußt geworden bin, daß die beiden nicht zur Ausführung gekommenen Vorschläge dennoch die vorliegende Schrift beeinflußt haben: ohne Pfleiderer's Anregung hätte ich vielleicht doch nicht so weit umhergeschaut, wie hier geschehen ist; und hätte mich nicht der Gedanke an eine Bekenntnisschrift lange beschäftigt, so wäre ich schwerlich auf die Beschränkung geraten, die jetzt gebietet und dieses Buch, zwar nicht zu einem ausdrücklichen, aber dessen ungeachtet zu einem geheimen Bekenntnis geschaffen hat. Namentlich letzterer Umstand besitzt für den »Standpunkt« des Verfassers, den wir zu bestimmen suchen, entscheidende Bedeutung: habe ich auch überall Tatsachen und gelehrte Ergebnisse herangezogen nach Maßgabe des mir zu Gebote Stehenden, so habe ich mich doch fast an keiner Stelle über die Grenze dessen hinausgewagt, was mir im Laufe des Lebens zu einem Herzensbekenntnis geworden ist; denn wo dies nicht der Fall war, fühlte ich mich wankend und fand keine Freude daran, bloße Meinungen vorzutragen. Zwar habe ich überall streng an mich gehalten, in der Überzeugung, man sage mehr, wenn man die letzten Worte unausgesprochen lasse; nichtsdestoweniger findet die rechte Fühlung zu diesem Buche nur derjenige, der den Herzschlag darin vernimmt.

Erstes Kapitel.
Mensch und Gott

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In unsers Busens Reine wogt ein Streben, sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben. Enträtselnd sich den ewig Ungenannten.

(Goethe)

Yes, there is a god in man.

(Carlyle)

Mensch und Gott sind zwei Vorstellungen – oder sagen wir lieber, um gleich genauer zu reden – Mensch und Gott sind zwei Gedankengestalten (Ideen), die sich gegenseitig hervorrufen und insofern bedingen. Kein Volk der Welt ist bekannt, das nur die eine hegte, ohne sie durch die andere zu ergänzen. Die Forschungen des letzten halben Jahrhunderts haben es – im Gegensatz zu der bisherigen ziemlich allgemeinen Annahme – unwidersprechlich gezeigt: der Gedanke an eine Gottheit und zwar an eine einheitlich vorgestellte (monotheistische), unsichtbare, allgegenwärtige fehlt bei keinem Stamm der Erde, wobei besonders beachtenswert erscheint, daß diese Gottheit zunächst nichts mit priesterlichen Religionslehren und mit Kultus zu tun hat, sondern auf dem dunklen, aus Halbbewußtsein und Unbewußtsein gewobenen Hintergrund des Gemütes als unabweisbare Gedankengestalt mit Naturnotwendigkeit steht und wirkt. Alle Verwickelungen der Vielgötterei, alle grüblerische Bildung von Zwangsglaubenssätzen (Dogmen), alle gottesdienstlichen Wahngedanken sind das Erzeugnis späterer Kulturstufen und lassen meistens die Gedankengestalt des Einen Urgottes unangetastet, wenn auch zurückgedrängt hinter die Buntheit der neuen Vorstellungen. Von diesem Gott redet selbst ein Euripides als von »dem ätherischen Zeus jenseits aller Himmel« ( Frgm. 911), und zu der Zeit des aufsteigenden Christentums sagt ein erbitterter Gegner der neuen Lehre, Maximus von Madaura: »Es gibt nur Einen höchsten und einzigen Gott, ohne Anfang und ohne Ende, dessen in der Welt verbreitete Kräfte wir unter verschiedenen Bezeichnungen anrufen, weil wir seinen wahren Namen nicht kennen .....«1 Ethnologen und Missionare haben nur darum die Tatsache dieser allverbreiteten Eingottsvorstellung erst spät entdeckt, weil die wildlebenden Menschen diesen ihren Gottesgedanken teils aus Scheu, teils aus stumpfer Gleichgültigkeit, unerwähnt zu lassen pflegen.

Welche Unmenge vergeblicher Arbeit, welche Fluten verderblichen Hasses, welche Ströme Blutes hätten wir Europäer uns sparen können, wenn wir es der Mühe wert gehalten hätten, auf den erhabenen Lehrer zu hören, der vor zweieinhalb Jahrtausenden die verborgenen Grundzüge des Menschengemütes entdeckte und als echter Hellene in faßlichen Bildern darstellte! Zwar hat Plato nach und nach auf den geheimnisvollen Wegen einer sich unbemerkt aufdringenden Geistesübergewalt nicht zu ermessenden Einfluß auf unser Denken in seiner ganzen Breite gewonnen; von dem feinst ersonnenen Hirngespinst unserer Theologen bis zu den Forschungen unserer Naturwissenschaft – wir alle sind Platoniker, ohne es zu wissen; doch gerade der Mittelpunkt seines Denkens – die Lehre von den Gedankengestalten – bleibt noch immer ein Spielzeug für Fachleute, anstatt, wie das der Fall sein sollte, unser Leben zu befruchten und ihm Richtungen zu weisen.

Diesen Mittelpunkt bildet die Entdeckung, daß alle Gedankengestalten Schöpfungen des Menschengeistes sind – und ich füge hinzu, des Geistes einzelner begnadeter Menschen, die eine unbeschränkte Zahl von Erscheinungen, Erfahrungen oder Gedanken durch eine derartige Schöpfung zu einer übersichtlichen Einheit zusammenfaßten, wodurch zugleich Licht in die Verfinsterung einer übervollen Vorstellungswelt gebracht und die Last, die das Hirn zu tragen hat, bedeutend erleichtert wird. Nicht einmal die allereinfachsten solcher Gedankengestalten – die Begriffe, unter denen wir die von uns selbst verfertigten Gerätschaften zusammenfassend uns vorzustellen pflegen – sind in Wirklichkeit bloße Namen für vorhandene Dinge: immer ist etwas Dichtung dabei und damit zugleich ein Schwebendes, undeutlich Begrenztes, Wechselndes. Wie staunen wir Ungelehrte, wenn wir in Kluge's Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache von dem uns vertraut anheimelnden Bett erfahren, die indogermanische Wurzel dieses Wortes bedeute »graben«, in weiteren alten Wandlungen dann Grube und Gruft, »eingewühlte Lagerstelle«, und deute in einer anderen Entwickelungsreihe auf Mist und Dung! Forschen wir weiter nach und schlagen z. B. in Bethge's Urzeit (S. 46) oder Meringer's Das deutsche Haus (S. 59 fg.) nach, so erfahren wir, das Wort »Bett« habe ursprünglich Erdhöhlen bezeichnet, die beim Herannahen des Winters als Schutzräume gegraben und der Wärme wegen mit Dungschichten überdacht wurden, um dann jenen urtümlichen Menschen, die sonst ihr Wesen nachts wie tags unter freiem Himmel zu treiben pflegten, als Schlafstätten und auch als Spinnstuben zu dienen. Der heutige Begriff »Bett« – der in Wirklichkeit, wie Plato öfters hervorhebt, eine Gedankengestalt (Idee) ist – hängt also mit dem Worte äußerst lose zusammen, was uns wiederum darauf aufmerksam machen sollte, daß selbst in diesem einfachsten Falle das Ding und die Gedankengestalt sich keineswegs decken, vielmehr letztere sich gleitend den verschiedensten Verhältnissen anpaßt, sich nie in unverrückbare Begriffsbestimmungen einfangen läßt, also das Wesen einer Fata morgana, einer zerfließenden Schattengestalt an sich trägt.

Da den meisten heutigen Menschen das Denken – namentlich jedes Denken über das Denken – ungewohnt und darum lästig ist, füge ich eine humoristische Anekdote hinzu, die um so mehr anmutet, als sie sich auf Held Hindenburg bezieht2. Der Feldherr hatte eines Abends einen Professor der Philosophie, der als Reserveoffizier sein Hauptquartier durchzog, zu Tische geladen. Im Laufe der Unterhaltung geriet der Gelehrte ein wenig tief in sein Fach hinein, was dem Kriegsmann einige Mühe, zuletzt wohl auch Ermüdung verursachte. Auch hier wußte er sich Rats. »Herr Major, entschuldigen Sie die Unterbrechung! Gesetzt den Fall, ich nehme ein handgroßes Brett, rechteckig oder abgerundet, und ziehe reihenweise 500 kräftige Schweinsborsten hindurch: das darf ich doch eine Bürste nennen, nicht wahr?« – Der erstaunte Gelehrte stottert befangen: »Ohne Frage... gewiß, Exzellenz.« – »Wenn ich aber nur 300 Borsten durchziehe, darf ich dann noch immer von einer Bürste reden?« – Der immer verlegener werdende Fachmann nickt lächelnd seine Bejahung. Nun fühlt der Recke, daß er das Heft in der Hand hält, und steigt zuversichtlich heiter immer tiefer herab mit der Zahl der Borsten; der Philosoph wird zunehmend verlegen und faßt endlich bei 10 Borsten den Mut einzuwerfen, da könne man wohl doch nicht mehr von einer Bürste reden. Unter schallendem Gelächter der Tafelrunde ruft Hindenburg aus: »Da hab' ich wieder etwas gelernt: zu dem Begriff einer Bürste gehört eine Mindestzahl von 11 Borsten!« Der Kriegsmann hatte tiefer gegriffen, als er es selber ahnte, indem er durch ein anschauliches Beispiel aufdeckte, daß selbst unsere allereinfachsten, auf alltägliche Gegenstände bezüglichen Wörter nicht tatsächlichen Dingen, sondern Gedanken entsprechen, und somit auf deutsch am besten als »Gedankengestalten« bezeichnet werden.

Wenn es sich nun mit den einfachsten Dingen menschlicher Erfindung also verhält, wo man doch glauben sollte, die Gestalt der betreffenden Gegenstände und die Gestalt der sie zusammenfassenden Gedanken entstünden zugleich und würden sich genau decken, so läßt sich leicht vorstellen, wie groß der Abstand ausfällt, wenn die Natur selbst die Gegenstände bietet, die unsere Phantasie erst sich aneignen und unser Denken erst einen, trennen und ordnen muß, ehe, wir zu der Erschaffung von Gedankengestalten übergehen können. Es liegt z.B. ein kühnes Gedankengestalten des Menschengeistes in der Aufstellung des einheitlichen Begriffes »Hund«; wissen wir doch heute, daß die Tiere, die wir mit diesem gemeinsamen Namen bezeichnen, von mindestens drei verschiedenen, durch die Wissenschaft auch artlich getrennten wilden Stämmen entspringen und erst durch grenzenlose Kreuzung als Zwischenstufen entstanden sind (siehe Keller); es ist und bleibt unmöglich, eine einheitliche, sicher umgrenzte, unanfechtbare Begriffsbestimmung der Gedankengestalt »Hund« zu geben; Hindenburg's Lehre von den »11 Borsten« käme hier an allen Ecken und Enden zum Durchbruch.

Noch eigenmächtiger gehen wir zu Werke, sobald nicht Dinge, d.h. nicht sinnlich wahrgenommene Erscheinungen, sondern lediglich Begriffe, Empfindungen, Ahnungen usw. den »Stoff« ausmachen, aus welchem wir es unternehmen, Gedankengestalten aufzuerbauen: ich nenne Endlichkeit, Unendlichkeit, Tugend, Sünde, Freiheit, Unsterblichkeit... Alle diese Ideen sind Schöpfungen unseres Geistes, und zwar bei ihrem Ursprung Schöpfungen bestimmter Männer an bestimmten Tagen, die dann nach und nach unter allen denkbaren Verzerrungen und Verballhornungen in den Bestand des allgemeinen Bewußtseins eindrangen, – wobei wohl zu bemerken ist, daß alle feineren Gedankengestalten Besitz einer Minderzahl bleiben, während die Menge davon redet – wie heute von der Freiheit – ohne im mindesten zu ahnen, was damit ausgesagt wird und werden kann.

 

Nähere Betrachtungen über das hier kurz Angedeutete anzustellen, ist im Augenblick keine Veranlassung; vorläufig liegt mir daran, die eine Tatsache, welche wenig oder garnicht beachtet wird, hervorzuheben: der Begriff Mensch ist in Wirklichkeit ebensowenig wie der des »Hundes« ein festzubannender, auf sicher umgrenzte Tatsachen bezogener; vielmehr handelt es sich auch hier um eine Gedankengestalt, und das heißt, um eine Schöpfung des freidichtenden Geistes. Die im letzten halben Jahrhundert oft erwogene Frage, wann der Mensch entstanden sei? – dürfen wir mit aller Bestimmtheit dahin beantworten: an dem Tage, an dem zum erstenmal ein sinnendes Gemüt seine Erfahrungen in der Weise zu verbinden und zugleich auszuscheiden verstand, daß die Vorstellung Mensch sich ihm deutlich vor Augen aufbaute.

Um Tüfteleien handelt es sich keineswegs, vielmehr um eine Frage von entscheidender Wichtigkeit – nicht weniger entscheidend, weil sie niemals gestellt zu werden pflegt. Wir reden alle geläufig vom »Menschen« und fragen uns niemals, ob dieser Vorstellung ein einheitlicher Begriff entspreche? ob wirklich alle »zweibeinigen Wesen, ohne Flügel« (wie Voltaire spottet) als »Menschen« zu bezeichnen seien? ob dies zu tun einen Sinn habe und irgendeiner brauchbaren Wahrheit zum Ausdruck verhelfe? Die Aroinder nannten, als sie von Norden kommend in die Täler des Indus und des Ganges hinabstiegen, die dunkle Bevölkerung, die ihnen den Weg streitig machte, kurzweg Affen, nicht Menschen, und ihre Führer warnten vor der Vermischung mit ihnen, als einer verbrecherischen Blutschändung mit einem Tier. Taten sie Unrecht daran? und hat nicht der Verfolg der Geschichte jenen weisen Männern Recht gegeben, indem er gezeigt hat, was aus einem zuhöchst begabten, edelmütigen Menschenschlag wird, wenn die Sinne ihn nun doch betören, das Tierblut in sein Menschenblut einsickern zu lassen? Die Gedankengestalt Mensch, die der hellenischen Kunst eine himmelstürmende Steigerung ins Erhabene verdankt, erleidet eine entsprechende Herabwertung ins Bestialische, sobald wir den Neger ihr einverleiben. Heute, wo die Entwicklungslehre sich fast dogmatischen Wert anmaßt, kann die Wissenschaft nicht den Schatten eines Argumentes gegen die Annahme vorbringen, die Schwarzen stammten aus einer anderen Affenfamilie als die Weißen, und wiederum die Gelben aus einer dritten, und die Malaier aus einer vierten. Man weiß ja, daß Goethe so weit ging, jede Gemeinschaft der Abstammung zwischen Juden und Germanen in Abrede zu stellen ( Gespr. mit Eckermann, 7.10.1828). Ich gebe aber zu bedenken, ob wir nicht gut daran täten, noch weiter zu gehen und uns ernstlich zu fragen, ob alle Wesen, die Menschengestalt zeigen, – und seien es auch weiße Europäer nordischer Abkunft –, geistig und sittlich die Bezeichnung Mensch verdienen. Ich gebrauche das Wort »verdienen« nicht im Sinne eines Aburteilens, vielmehr bin ich nur besorgt, die Vorstellung Mensch könne jeden Inhalt verlieren, und es blieben nur die »zwei Beine ohne Flügel« übrig. Wenn nämlich der Stufen von Mensch zu Mensch gar viele sind und zwischen unten und oben eine mächtige Kluft gähnt, dann verlieren wir durch die gewaltsame Vereinigung zu der Gedankengestalt Mensch mehr an Einsicht, als wir durch diese geniale Erfindung gewinnen. Goethe geht uns hier wie immer mit dem Beispiel voran, indem seine bekannte Lehre von der beschränkten und auch dem Grade nach verschiedenen Unsterblichkeit auf ungeheure Unterschiede zwischen Mensch und Mensch schließen läßt. Ich erinnere u. a. an die Worte, die Eckermann vom 1. September 1829 berichtet: »Wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Wirklichkeit (Entelechie) zu manifestieren, muß man auch eine sein.« Auch auf Kant ist hinzuweisen. Das nie rastende Arbeiten seines langen Lebens faßt er dahin zusammen: er habe »lehren wollen, was man sein muß um ein Mensch zu sein« – woraus hervorgeht, daß wir nach Kant's Überzeugung, jedenfalls der Mehrzahl nach, noch keine Menschen sind, mit anderen Worten: wir entsprechen nicht dieser Idee, wie sie in dem Hirne des sinnenden Weltweisen klarest durchdachte Gestalt gewonnen hatte.

Somit sehen wir deutlich ein, daß es sich bei der Idee Mensch – wie bei allen Gedankengestalten – um eine verschiebbare Vorstellung handelt, die weiter oder enger, bestimmter oder verschwimmender, edelgeartet oder gemein gefaßt werden kann. Den arischen Indern schwebte ein erhabenes Traumbild vor – der vollkommene Mensch sollte, Dank der inneren Läuterung und Steigerung, gleichsam seine Körperlichkeit überwindend, sie abstreifen und »Gott« werden; das Gegenstück hierzu bieten uns die Hellenen, denen einzig der vollkommen schöne, sich harmonisch kundtuende Mensch als wahrer Mensch galt, so daß es auch für die Götter kein Höheres gab als schönen Menschen zu gleichen; dagegen erachteten unsere nordischen Vorfahren nur unerschrockene Helden als Menschen; diesen allein öffnete sich ein Jenseits; wogegen die übrigen Wesen in Menschengestalt den bloßen Naturkräften angehörten, die heute die Welt mit ihrer Geschäftigkeit erfüllen und morgen ins Nichts verweht werden. So unterscheidet sich selbst innerhalb der gleichen Rasse Stamm von Stamm und Menschheitsideal von Menschheitsideal.

Noch verwickelter wird die Frage und noch schwieriger die Aufstellung eines eindeutigen Begriffes Mensch infolge der Tatsache, daß innerhalb der gleichen Gemeinschaft, sei es durch das Einsickern fremden Blutes, sei es durch die Einwirkung veränderter Lebensbedingungen und früher nicht vorhandener geistiger Einflüsse, oftmals Wandlungen stattfinden, dank welchen ein Volk kaum mehr als das gleiche zu erkennen ist. So erleben wir z. B. unter der gesamten Bevölkerung des mittleren und westlichen Europa einen merkwürdigen Aufstieg, der etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnt und bis ungefähr gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts anhält: man glaubt, eine allgemeine Zunahme des Lebensgefühles wahrzunehmen und damit zugleich des Bewußtseins der Menschenwürde; und zwar betrifft dieser Aufschwung alle Stände – den Bauern und Handwerker nicht minder als den Bürger, den Adel, den Gelehrtenstand und den schaffenden Künstler. Auf den langsamen Aufstieg folgt ein schneller Sturz: der entrechtete Bauer wird mißmutig und dumpf, der in die Politik verstrickte Handwerker verliert seine früher so wohltuend auffallende Heiterkeit, der Bürger büßt die Zuversicht und das Selbstvertrauen ein, der Adel beginnt mehr auf Reichtum als auf Ehre zu sehen, die absolut gewordenen Fürsten geraten ins Schrankenlose ..... Dies alles aber betrifft zunächst mehr die äußere Lebenshaltung und den Lebensmut als das innere Seelenleben, welches nicht allein in Deutschland, sondern auch in England, Frankreich, Spanien und Italien während dieser Zeit des Niederganges besondere Blüten zarter Innerlichkeit treibt (Zeitalter der Musik). Nun aber setzt gegen Ende des 18. Jahrhunderts die große Umwälzung ein, welche wohl einstens als die furchtbarste Katastrophe erkannt werden wird, die jemals unser Geschlecht betroffen hat, so daß man sich fragen darf, ob die Menschenwürde überhaupt noch zu retten ist; ich rede von der Mechanisierung und der dadurch bedingten Industrialisierung des Lebens. Wohl wäre es möglich gewesen, von Anfang an diese Entwickelung in andere Bahnen zu leiten, wozu wir Ansätze bei philanthropisch gestimmten Arbeitgebern und bei genialen Arbeitern im Anfang des 19. Jahrhunderts finden – Gedanken, die noch in dem Buche Histoire d'un Ruisseau des edlen Träumers Elisée Reclus hinreißenden Ausdruck fanden; doch hatte inzwischen Satan, in Gestalt der Presse, die Gelegenheit, sein Reich auf Erden zu errichten, schon ergriffen, und vor dem fallenden Gift dieser Scheinseele der brutalen, dummen, ziellosen Maschine sank jegliche gute Absicht tödlich getroffen dahin. Mit dem unbegreiflichen Scharfblick des geborenen Dichtersehers begabt, hat unser Schiller – obgleich er schon 1805 die Augen über diese Welt schloß und also nur die allerersten Anfänge der Umwälzung miterlebte – den verhängnisvollen Kernpunkt getroffen. Er schreibt: »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäftes, seiner Wissenschaft« ( Ästh. Erz., Bf. 6). Schiller's prophetischer Blick bleibt, wie man sieht, nicht am Fabrikarbeiter haften, welcher buchstäblich »ein Rad treibt«, vielmehr umfaßt er unsere gesamte, von mechanischen Methoden und Denkweisen durchdrungene Zivilisation. Und dieser Blick zeigt ihm die unentrinnbare Entwertung des Menschen als Menschen.

Hierbei ist folgendes zu bedenken.

Jegliche Vollkommenheit – womit ich sagen will, jegliche Erscheinung, die sich der Vollkommenheit sichtbar annähert – erfordert eine gewisse allseitige Abrundung, ein Verhältnis der Teile zueinander, welches ein unabhängiges Sichselbstgenügen innerhalb gegebener Grenzen ermöglicht; allem, was in irgendeinem Sinne des Wortes die Bezeichnung »Kultur« verdient, kommt diese Eigenschaft der Abrundung zu. Hingegen ist ein organisches »Bruchstück« – als welches Schiller den heutigen Menschen bezeichnet – stets ein Zerbrochenes, weil Zusammenhangloses, auf die Willkür Anderer Angewiesenes. Wie großartig z. B. steht der Bauer und überhaupt der Landmann da, in sich selbst abgerundet und in den wesentlichen Dingen sich selbst genügend! Bei allem, was er tut, weiß er genau das Warum und das Wozu; jedes Handeln ist zugleich ein Denken; er dient der Natur, indem er sie seinen Zwecken dienstbar macht, und wird so selber zu einem Stücke lebendiger Natur. Am anderen Ende der Stufenreihe steht der heutige Fabrikarbeiter, dessen Millionenfluten uns zu ertränken drohen. Seine ganze »Arbeit« wird ihm durch Willkür vorgeschrieben; zwar bedarf er dabei meistens des Geschickes, doch eines rein mechanischen Geschickes, und es besteht kein innerer Zusammenhang zwischen Hirn und Hand; alles, was er tut, ist an und für sich zwecklos und erhält erst später, durch die Tätigkeit anderer Hirne, einen Zweck. Daher die Unmöglichkeit für ihn, in seiner Arbeit Befriedigung zu finden; anstatt, wie beim Landmann, Inhalt des Lebens zu sein, bildet für ihn seine »Arbeit« lediglich ein mechanisches Mittel, den Lebensunterhalt zu gewinnen, den Unterhalt also eines anderen Lebens, das aber zu leben er zu müde und zu unvorbereitet ist. Einzig ein planmäßiges, systematisches Entgegenwirken hätte hier die bösesten Folgen abwehren können: mehr als andere hätte dieser mechanische Arbeiter einer edlen Ausbildung des Verstandes und einer reichen Ausfüllung der Phantasie bedurft, dazu gesunder ländlicher Luft und Landbeschäftigung – letzteres fand bei den Anfängen der Weberei in England statt, ersteres wird in dem oben genannten Buch Elisée Reclus' gefordert. Das Gegenteil von dem allen geschah. Nicht allein wurden die Kräfte des Fabrikarbeiters in den ersten Jahrzehnten bis zur Erschöpfung mißbraucht, sondern noch, ehe die Gesetzgebung diesem Übel zu steuern begonnen hatte, war – wie schon oben bemerkt – die Presse in den festbegründeten Besitz ihrer Allmacht gelangt und hatte sich namentlich den Arbeiterstand völlig unterjocht. Vernichtung der Urteilskraft und Entwurzelung der angeborenen Regungen des Gemütes: das waren die Hauptziele dieses Satans. Bekanntlich steht die gesamte Presse, die ich hier im Sinne habe – die weit über den Fabrikarbeiter hinaus neun Zehntel des Bürgerstandes beherrscht – in jüdischem Besitze und Juden wirken auch als Geschäftsleiter, Schriftleiter, Kritiker usw. dabei ausschlaggebend. Ob es wirklich einen jüdischen Geheimbund gibt, der sich die leibliche, geistige und sittliche Zerstörung des Indoeuropäers und mit ihm seiner Kultur zum bewußt verfolgten Ziele gesetzt hat, weiß ich nicht; ich glaube, der bloße Instinkt dieses durch Jahrtausende gezüchteten »plastischen Dämons des Verfalles der Menschheit«, wie Richard Wagner ihn nennt (Erkenne Dich selbst) genügt; um so mehr, da hier, wie sonst überall, seine unmittelbaren Geschäftsinteressen sich mit jenem Ziele decken. Mit grauenerregender Schnelligkeit schoß hier das Unheil in die Höhe; im großen Kriege erblickten wir schon die nackte Lüge als Beherrscherin der ganzen Welt »in triumphierender Sicherheit«. Gestand doch kurz vor Beginn des Krieges ein führender Journalist der Vereinigten Staaten: »Wenn es je einem von uns einfiele, die Wahrheit zu schreiben, er wäre am nächsten Tage brotlos« (Brooks: Corruption in American Politics and Life, 1910, S. 122). Und der Soziolog Professor Ward sagt: »Zeitungen sind einfach Werkzeuge des Betrugs« (a. a. O.). So steht denn die überwiegende Mehrzahl der heutigen Menschheit – die fast ihr ganzes Wissen und Meinen aus Zeitungen schöpft – bereits außerhalb der Möglichkeit, überhaupt Wahres zu erfahren; nicht allein auf den Gebieten der Politik und der Wirtschaft wird sie nach der Willkür jener Drahtzieher irregeführt, vielmehr umgibt sie das Truggebäude einer erlogenen Wissenschaft, einer erlogenen Kunst, eines erlogenen Denkens und eines giftschwangeren Schriftwesens. Verhältnismäßig Wenige sind in der Lage, durch umfassende Bildung, dieser durch die Presse geschaffenen Hölle zu entrinnen und zu Freiheit des Urteils zu gelangen. Die Weisen unter uns haben von Anfang an gewußt, wohin die Vorherrschaft der Presse führen mußte – ja, mußte: es gab kein Entrinnen. Schon im Januar 1813 schreibt Goethe an Reinhard: »Es ist unglaublich, was die Deutschen sich durch das Journal- und Tageblattsverzeddeln für Schaden tun: denn das Gute was dadurch gefördert wird, muß gleich vom Mittelmäßigen und Schlechten verschlungen werden.« Mit diesen wenigen Worten wird der Kern der Sache bloßgelegt: bei einer Erscheinung wie die Presse ist es nicht anders möglich, als daß alle etwa vorhandenen, noch so redlichen und energischen guten Absichten von den schlechten »verschlungen werden«! Ein einziges hätte allenfalls dem sonst unüberwindlichen Übel steuern können: das rechtzeitige tatkräftige Eingreifen einer weisen Staatsgewalt. Auch hier hatte schon Goethe gewarnt: »Nach Preßfreiheit schreit niemand, als wer sie mißbrauchen will« ( Maximen, Ausg. der G. G., Nr. 972). Doch wer hört auf derartige Worte? Die »Freiheit der Presse« ward zum Feldgeschrei aller Parteien, und wer es wagte, eine andere Einsicht zu vertreten, wurde als versteinerter Dummkopf aus dem politischen Leben hinausverhöhnt. Ich verweise zum Vergleich auf unsere Markt- und Warenpolizei. Man überlege sich, welche große Entwickelung diese vor allem in Deutschland im Laufe eines Jahrhunderts gewonnen hat: nicht allein darf gesundheitsschädliche und überhaupt verfälschte Ware nicht zum Verkauf gelangen, sondern auch unschädliche Ersatzmittel müssen bei schwerer Strafe als solche bekannt gemacht werden. Der Staat tut hier seine Pflicht, indem er nach Kräften die gesunde, redliche Gesamtheit gegen die betrügerischen Machenschaften gewissenloser Schwindler schützt und sich nicht durch die Redensart abhalten läßt, das Volk werde sich selber zu schützen wissen. Und doch hätten es die Menschen weit eher verstanden, sich gegen jegliche leibliche Bedrohung zu schützen als gegen das ihnen tagtäglich gereichte seelische Gift. »Denn die Gefahr ist ja bei dem Kaufe von Kenntnissen viel größer als bei Nahrungsmitteln« – wie Sokrates in Plato's Protagoras es bemerkt. Der Staat, der hier versagte, war wert, daß er zugrunde ging.

So steht denn der ohnehin zu einem Bruchstück zerschlagene, der harmonisch abgerundeten Freiheit verlustige Mensch entseelt da, seiner Wahrträume beraubt, voller Neid, doch ohne Hoffnungen, voller Haß und bar jeglicher Liebe. Wir alle kennen die Mitleid und Grauen erregenden Antlitze, deren Stirnen das Brandmal der Ehrfurchtslosigkeit aufgedrückt ward, deren Schläfen wie von einem Dämon der Unfruchtbarkeit berührt sich zeigen, aus deren Augen die Widerspiegelung des Himmels gewichen ist und deren Mundwinkel eine Bitterkeit aussprechen, für die es keinen Trost mehr auf Erden gibt.

Da nun, wie wir festgestellt haben, der Begriff Mensch eine Gedankengestalt (Idee) ist und – wie alle Gedankengestalten – verschiebbar und wechselnd je nach den Hirnen, welche sie gestalten, je nach deren Reichtum oder Armut, je nach deren Edelsinn oder Gemeinheit, so läßt sich leicht denken, wie Verschiedenes selbst innerhalb der selben Völkerfamilie unter einem und dem selben Wort Mensch gedacht und vorgestellt wird. Man versuche, sich die Gedanken des Königs Mohampatuah, am unteren Kongo, abends, nachdem er seinen Vetter eben verspeist hat, über diesen Gegenstand zu vergegenwärtigen und sie dann mit denen des Sokrates, kurz ehe er den Schirlingsbecher leerte, zu vergleichen! Der Unterschied wird kaum größer sein als der zwischen Idee und Ideal des Menschen in den Köpfen – sagen wir – einerseits Liebknecht's, andrerseits Bismarck's. Hieraus folgt, daß wir nicht berechtigt sind, den Begriff Mensch als eine bekannte Größe, noch weniger als Bezeichnung für eine sichere, unbestrittene Tatsache zu verwenden: der Eine erstürmt mit dieser Gedankengestalt den Himmel, von der glühenden Sehnsucht nach Vervollkommnung getrieben, der Andere erniedrigt – gerade Dank seiner Bildung und Verbildung, Dank seiner äußerlichen Zivilisation bei innerlicher Gemütsverrohung – die Vorstellung des Menschen und damit zugleich den Menschen selber bis weit unter die vernunftslose Bestie. Wie Montaigne sagt: Il y a plus de distance de tel à tel homme, qu'il n'y a de tel homme à telle bête (I. 1, ch. 42: es besteht eine größere Entfernung zwischen Mensch und Mensch als zwischen manchem Menschen und manchem Tier).

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Vorläufig genügt uns dieses Ergebnis, indem es uns als Sprungbrett zu der zweiten Frage – derjenigen nach der Gedankengestalt Gott – dient.

Gleich Anfangs sahen wir die Begriffe Mensch und Gott so eng zusammenhängen, daß sie garnicht voneinander zu trennen sind; steigt die Vorstellung von der Menschenwürde, so wird zugleich die Vorstellung Gottes eine würdigere, und umgekehrt. Auch hier hat Plato den Weg gewiesen, indem er zeigte, daß zahlreiche Gedankengestalten paarweise auftreten, und dann ein verschiebbares Gefüge bilden, innerhalb dessen eine jede der beiden Gestalten zu der anderen überquer steht, sie teils ergänzend, teils aufhebend – etwa wie Männliches und Weibliches. So verhält es sich z. B. mit den von ihm eingeführten Vorstellungen Art und Gattung: wer den Begriff Art denkt, kann nicht anders als den Begriff Gattung zugleich denken und umgekehrt, so genau wird der eine durch den anderen gefordert; zugleich sind diese beiden Gedankengestalten derartig gegeneinander verschiebbar, daß jede Art zu einer Gattung erweitert, und jede Gattung zu einer Art zusammengezogen werden kann – Verschiebungen, die wir in den beschreibenden Naturwissenschaften täglich erleben3. Zwischen Mensch und Gott besteht zwar nicht ein gleiches Verhältnis, jedoch immerhin ein vergleichbares: die Beziehungen zwischen diesen beiden Gedankengestalten sind ebenso eng und unlösbar, doch geheimnisvoller und schwer in nüchternen Worten faßlich zu machen. Bei dem Gestaltenpaar Gattung und Art beziehen sich beide Glieder des Paares letzten Endes auf sichtbare Erscheinungen; wogegen es für Mensch und Gott bezeichnend ist, daß dieses Paar die Grenzen der Erfahrung überfliegt (die Fachmänner sagen: transscendiert) und immerfort hinüber und herüber gleitet – aus der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit, aus der Begreiflichkeit in die Unbegreiflichkeit, aus der Vorstellbarkeit in die Unvorstellbarkeit, und wieder in die Sichtbarkeit, die Begreiflichkeit und die Vorstellbarkeit zurück. Das gerade gehört zum Wesen dieses Gedankengestaltenpaares: der Gedanke Mensch weist vom allerersten Augenblick an, in welchem er gedacht wird, aus dieser Welt hinaus in eine andere, nur geahnte, wogegen der Gedanke Gott jene geahnte andere Welt in diese sichtbare einbezieht. Indem der Mensch sich von der sonstigen Kreatur unterscheidet, maßt er sich Geistesgaben und Eigenschaften des Gemütes an – oder wir können auch sagen, er entdeckt sie in sich – die ihn nötigen, für die neue Würde einen neuen mächtigen Stützpunkt zu gewinnen; wenn das Bild nicht allzu kühn erscheint, möchte ich sagen: er muß in ein früher ihm unbekanntes Element einen Anker (gleichsam nach oben) auswerfen, der ihm nicht nur in den Stürmen des Lebens sicheren Halt bietet, sondern an dem er sich nach und nach immer höher hinaufhissen kann. Dagegen ist es dem Gottesgedanken natürlich und notwendig, hinab in die Welt der Sichtbarkeit, in die Welt des Menschen zu streben, wo allein er Wirklichkeit gewinnt. Oft weisen unsere Mystiker darauf hin, wie genau die Gedankengestalt Gott durch die Gedankengestalt Mensch bedingt wird. Man denke sich den seines Menschtums bewußten Menschen im Weltall nicht vorhanden, der Begriff Gott wird nirgends mehr gedacht, er ist ausgelöscht, als wäre er nie gewesen: mit dem Menschen schwindet auch sein Gott dahin; mit Recht dichtet Angelus Silesius:

Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd' ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.

Nicht minder schwindet Gott dahin, sobald der Mensch des Gedankens seiner Menschenwürde verlustig geht; denn die Annahme, ein solcher Mensch müßte dennoch Gott an seinen Werken erkennen, beruht auf einer falschen Voraussetzung. Pascal hat unwiderleglich dargetan, daß die Natur kein Göttliches offenbare, vielmehr Gott sich in ihr nur denen zeige, die Gott schon glauben; denn jede Erscheinung, die der Apologet zum Beweise des Daseins Gottes heranzieht, könne mit gleichem Recht für das Gegenteil angeführt werden ( Pensées, Nr. 242–244, 557 usw.). Der Glaube an Gott geht voran und entsteht, wie gesagt, ursprünglich als Denknotwendigkeit. Es treten mit der Zeit allerhand andere Erscheinungen hinzu: Geisterglauben, Dämonenglauben, Götterglauben mit allen daraus hervorgegangenen Kulten und Observanzen, und – wie wir gleich sehen werden – es pflegt die ursprüngliche Gottesvorstellung vor dem verwickelteren Apparat in den Hintergrund zu entschwinden; ja, es ist für den auf diese Weise gewonnenen Gedanken an Gott bezeichnend, daß er meistens sein eigenes Leben außerhalb der Kulte und Dogmen führt; wird er auch später mit ihnen verwoben, es bleibt doch einem schärferen Auge sein Wesen als das eines fremden Gastes nicht verborgen.

Über diesen Gegenstand steht uns nämlich ein reicher Vorrat an zuverlässigen Berichten zur Verfügung; denn jene gleich zu Anfang dieses Kapitels flüchtig erwähnte, unsere Wissenschaft überraschende Tatsache der Allgegenwart des Gottesgedankens auf der ganzen Erde gehört, meiner Überzeugung nach, hierher: es handelt sich zunächst nicht um einen irgendwie gefolgerten, empfundenen, geahnten Schöpfergott – wie unsere Religionsforscher vielfach schließen – sondern vielmehr um einen Gedanken, den auch der einfachste, im Nachsinnen ungeübteste Kopf nicht umhin kann zu denken: daher die ausnahmslose Allgemeinheit des Gedankens und zugleich seine verhältnismäßige Blässe. Der in diesen Fragen noch unbewanderte Leser greife zunächst zu Andrew Lang's The Making of Religion, P. W. Schmidt's Der Ursprung der Gottesidee und zu Leopold von Schroeder's Arische Religion, Band I, von wo aus er den Weg zu weiterer Literatur finden kann. Unter jedem Himmelsstrich, im Norden und Süden wie auf dem Äquator, in Asien und Amerika wie in Australien, Ozeanien und Afrika, allüberall, wo es nur menschenähnliche Geschöpfe gibt, da findet sich die Vorstellung eines höchsten Wesens – die Vorstellung Gottes – gleichsam (wie Lang sich ausdrückt) »eines vergrößerten übernatürlichen Menschen«. Bezeichnend für dieses höchste Wesen ist, daß es stets als gut vorgestellt wird, häufig auch als Wächter der Tugend, der (so z. B. bei den angeblich tiefstehenden Australnegern) Keuschheit, Mitleid, Uneigennutz und Treue gegen das gegebene Wort lehrt. Nicht minder bezeichnend ist aber der geringe Raum, den dieses Wesen im öffentlichen Kult einnimmt, indem es nur auf dem dunklen Hintergrund des Bewußtseins verharrt, während allerhand Geister- und Dämonen- und auch Götterspuk im Vordergrund des Lebens sich breitmacht. Dieser Gott ist zu heilig, um viel im Munde geführt, und zu gütevoll, um gefürchtet zu werden; daher tritt er zurück vor den der Abwehr böser Dämonen gewidmeten umständlichen magischen Riten und vor den den Ahnen und den guten Geistern zu Ehren gefeierten Opferfesten. Je weniger zivilisiert, je freier von Priestertum und von allen Religionsgebräuchen, um so deutlicher wird die Nähe dieses reinen Gottes empfunden, und um so wirksamer erweisen sich die sittlichen Gebote, die auf ihn zurückgeführt werden – als Beispiele nenne ich die Andamanesen-Insulaner und die Buschmänner; mit dem Aufkommen religiöser Gebräuche und namentlich eines Priestertums verdunkeln sich sowohl Vorstellung wie Lehre, da die Menschen nunmehr den Hauptwert auf bestimmte Kulthandlungen, Wortformeln, Opfervorschriften und dergleichen legen. Doch schwindet diese älteste und echteste Gedankengestalt Gott niemals und nirgends ganz hin, kann es auch nicht, weil sie, wie gesagt, einer unentrinnbaren Denknotwendigkeit entspringt und nur dort dem Geiste verloren geht, wo der Begriff Mensch alle Geltung verliert; weswegen dieser Gottesgedanke auf den Gipfeln religiösen Lebens stets wiederkehrt und auch heute Bedeutung besitzt, wie ich bald zeigen werde. Vorher möchte ich noch einen Augenblick bei den guten, viel verlästerten Wilden bleiben.

Lehrreich finde ich es, die Namen zu erfahren, welche die urtümlichen Menschen zur Bezeichnung dieses Göttlichen gebrauchen. Häufig heißt es der Vater, der große Vater, unser allgegenwärtiger Vater, oder der Alte, der Alte des Himmels, der alte Mann (im Sinne eines von jeher Dagewesenen), sehr häufig auch der Gute, der Wohltäter, der große Freund, anderwärts der Himmlische, der Himmelsherr, der Alte im Himmelland, manchmal auch kurzweg der Himmel, seltener heißt es der Herr oder der Meister. Diese naiven Benennungen bedeuten eben so viele Zeugnisse für den Ursprung der Idee eines höchsten Wesens ( Gott) aus der Forderung eines Gegenstückes zu der Idee Mensch. Denn, sich als Mensch erkennen heißt, sich von allem übrigen Leben grundsätzlich unterscheiden und bedeutet den Entschluß, sich als ein Höheres – mit höheren Rechten, Forderungen und Erwartungen – zu behaupten. Dies schließt notwendig in sich die Vorstellung eines Übermenschen (um Goethe's Ausdruck zu gebrauchen), eines besseren Selbst, eines Helfers und schließlich eines Meisters. Das bereits Seite 21 fg. Ausgeführte sei hier wiederholt. Die Gedankengestalt Mensch kann als eine Bewegung des ganzen Wesens nach oben gedeutet werden: damit diese Bewegung Bestand gewinne, muß ihr von oben her etwas entgegenkommen – und siehe da! diese Erwartung wird nicht getäuscht: ein höchstes, gutes, freundliches, väterliches Wesen neigt sich aus dem Himmel herab. Selbst die Wilden von Süd-Guinea sagen: »Dieser Gott allein hat keine Priester, dieser allein verkehrt unmittelbar mit den Menschen« (A. Lang, a. a. O., 3. Aufl., S. 220). Ob dieses Wesen rein geistiger Art sei oder auch leiblicher, pflegt nicht gefragt zu werden, ebensowenig, ob ihm die Eigenschaft eines Weltschöpfers zukomme oder nicht; es bewährt sich eben überall als die reine Gedankengestalt Gott.

Daß diese tausendfach bezeugte Tatsache so lange unerkannt bleiben konnte, verdanken wir den Vorurteilen unserer Wissenschaftler und Evolutionsdogmatiker – an ihrer Spitze Herbert Spencer. Diese hatten die Zwangslehre aufgestellt, urtümliche Völker dürften keinerlei Vorstellung von Gott besitzen, ebensowenig irgendwelche noch so einfachen sittlichen Begriffe; und nun findet sich, daß gerade bei den unkultiviertesten Stämmen auf Erden der Gedanke Gott und mit ihm sittliche Lehren, würdig der Bergpredigt, in besonderer Reine angetroffen werden. Ein wissenschaftlich gebildeter evangelischer Missionar, der reiche Erfahrung unter den Wilden besitzt, schreibt hierüber: »Daß diese reinere Gottesidee das Resultat einer langen Entwickelung sein soll, in dem Sinne, daß die Völker mit animistischen Vorstellungen beginnend, unter dem Drucke der Furcht zur Tier- und Ahnenverehrung und von da zur Naturverehrung fortgeschritten seien, aus der heraus die Götter erwüchsen, worauf man durch einen reicheren Polytheismus hindurch zu der allmählich geläuterten Vorstellung des Einen Gottes sich emporarbeitete (so lautet nämlich die genannte Zwangslehre) – diese Hypothese widerspricht dem Bilde, das jeder, der mit dem wirklichen Heidentum vertraut wird und es nicht durch eine Brille ansieht, von ihm gewinnt. Die Gottesidee liegt nicht im Wege der Entwickelung aus dem Geisterdienst, sie widerspricht dieser Entwickelung. Sie ist ein Fremdkörper in der animistischen Vorstellungswelt. Sie steht im Gegensatz zu den Naturgottheiten, zu der Auffassung von der Seele als einer Allmaterie, zu den Dämonen und Ahnen, die Gott seine Macht aus den Händen gewunden haben, im Gegensatze auch zu dem starren Fatum, das Gott aus der Welt entfernt, also im Gegensatz zu allen das animistische religiöse Leben bestimmenden Faktoren« (J. Warneck: Die Lebenskräfte des Evangeliums, Missionserfahrungen innerhalb des animistischen Heidentums, 1913, 5. Aufl., S.96fg.). Dieses Zeugnis ist um so wertvoller, als der Verfasser dem streng kirchlichen Christentum angehört und infolgedessen eigene Vorurteile zu überwinden hatte, ehe er die Wahrheit erkannte. Wie ihm, so ist es allen seinen denkenden Kollegen gegangen, wofür man in dem genannten Werke zahlreiche Belege findet. Die Tatsache dieses ursprünglichen, allerorten anzutreffenden Gottesglaubens kann überhaupt nicht mehr in Frage gezogen werden, einzig ihre Deutung bleibt noch ein strittiger Punkt: ich für mein Teil bin überzeugt, die richtige Erklärung im obigen gegeben zu haben.