Die drei ersten Kommissar-Dühnfort-Krimis der Spiegel-Bestsellerautorin Inge Löhnig in einem E-Bundle zum attraktiven Sonderpreis.
**Kommissar Dühnfort kämpft gegen das Verbrechen**
Der Sünde Sold: Ein Dorf in Angst, der erste Fall für Kommissar Dühnfort
Mariaseeon, im Süden Münchens: Nach tagelanger Suche findet man den fünfjährigen Jakob nackt, gefesselt und verstört auf einem Holzstoß im Wald. Wenig später wird seine Erzieherin zu Tode gemartert. Eine biblische Opferszene, ein Mord nach Art der Inquisition – unter den Dorfbewohnern geht die Angst um. Einer von ihnen ist ein sadistischer Mörder und Kommissar Konstantin Dühnfort muss ihn finden, bevor er wieder zuschlägt.
In weißer Stille: Familiendrama am Starnberger See, der zweite Fall für Kommissar Dühnfort
Ein stürmischer Oktoberabend: In seinem Wochenendhaus am Starnberger See wird ein pensionierter Kinderarzt tot aufgefunden. An eine Heizung gefesselt, ist er langsam verdurstet - ein qualvoller Tod. War es Rache oder doch nur ein Raubmord? Kommissar Konstantin Dühnfort enthüllt nach und nach den dunklen Charakter des Toten und stößt auf ein Drama, das seine längst erwachsenen Kinder bis heute verfolgt.
So unselig schön: "Alle, die ich liebe, sterben", der dritte Fall für Kommissar Dühnfort
In einer leerstehenden Brauerei im Süden Münchens wird eine enthauptete Frauenleiche gefunden. Kommissar Dühnfort wird bald klar, dass er einen Serientäter jagt, der von Bildern besessen sein muss. Die junge Fotografin Vicki hingegen, die die Leiche gefunden hat, ermittelt auf eigene Faust. Sie kommt dem Mörder schließlich gefährlich nahe ...
Band 1-3 als exklusive Sonderausgabe
Ullstein
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Sonderausgabe im Ullstein Taschenbuch
Februar 2022
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022
Der Sünde Sold:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: Arcangel/© Joanna Jankowska (Landschaft); plainpicture/MindenPictures/© Stephen Dalton (Eule)
In weißer Stille:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: plainpicture/Gallery Stock/© Stefan Kuhn
So unselig schön:
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: Getty Images/Kollektion Moment Open/© Ray Wise (Landschaft)
Autorinnenfoto: © Frank Bauer
ISBN 978-3-8437-2759-4
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Band 1
Für meinen Vater
Lautlos schob er die Blende beiseite und spähte durch den schmalen Spalt ins Innere des Gewölbes. Eine Petroleumlampe verbreitete spärlich Licht. Die Flamme flackerte im Luftzug, ließ die Schatten tanzen und Bewegung vermuten, wo keine war. Trotzdem zog er die Mütze mit den Sehschlitzen über den Kopf. Sicher war sicher. Die Tür quietschte leise, als er sie öffnete. Er griff nach dem Tablett und betrat das Verlies, aus dem ihm modriger Geruch und klamme Kühle entgegenschlugen.
Einen Moment verharrte er, um sich zu vergewissern, dass der Junge auf dem Feldbett wirklich schlief. Erst dann zog er mit einem Fuß eine Kiste heran, stellte den Teller mit Banane und Butterbrot darauf ab und lockerte den Deckel der Thermoskanne, damit der Junge ihn aufbekam, wenn er hungrig und durstig erwachen würde. Das linke Handgelenk des Kleinen war mit einer Handschelle an eine Kette gefesselt. Die zarte Haut war dort bereits aufgescheuert.
Gebannt starrte er darauf; die rot entzündeten Wundränder ließen ihn erschauern. Ohne die Augen abzuwenden, zog er den Schlüsselbund aus der Hosentasche und stellte die Fessel enger. Der Anblick des schlafenden Kindes weckte Erinnerungen, die vage aus einem Nebel traten. Bilder, die ihn quälten, die er vergessen wollte, die ihn nun umringten, seinen Herzschlag zum Stolpern brachten und stinkenden Schweiß aus seinen Poren trieben. Nicht jetzt! Er musste sie abschütteln.
Für einen Moment schloss er die Augen, besann sich auf seinen Auftrag und spürte eine Kraft in sich fließen wie einen nie versiegenden Strom. Die Schemen wichen, gaben ihn frei. Und er wusste, alles, was er tat, würde gelingen. Sie würden das Zeichen verstehen. Und selbst wenn nicht … Unwillkürlich griff er sich an die Kehle; dann sollte ihr Wille geschehen. Letztlich lag es nicht in seinen Händen. Er atmete auf und konnte nicht widerstehen: Mit den Fingerspitzen strich er dem Jungen durch das blonde Haar, über die vom Schlaf geröteten Wangen und die Schrammen am Kinn. Die Kratzer waren schon verschorft. Doch an einer nässenden Stelle hatte sich eitriger Belag gebildet, der nun an den Fingern kleben blieb. Der Mann zuckte zurück. Würgen setzte sich in seine Kehle. Rasch wischte er die Hand mit einem Papiertaschentuch ab.
Die Augäpfel des Jungen begannen unruhig hinter den Lidern zu rollen, seufzend drehte er sich auf den Rücken. Bald würde er aufwachen. Das Schlafmittel im Kaba war bitter, aber er würde ihn schon trinken, wenn er durstig war. Er sollte schlafen. Nicht um zu verhindern, dass er schrie. Das würde er, ganz sicher, aber niemand konnte ihn hören. Er sollte schlafen, damit er nicht mitbekam, was mit ihm geschah. Damit ihn die quälenden Bilder nicht ein Leben lang begleiteten.
Noch einmal strich er über das blonde Haar, berührte es kaum. Er hoffte, dass es ein langes Leben werden würde. Aber es lag nicht in seiner Macht.
Agnes stand auf der Haustreppe und umarmte ihren Bruder Michael. »Danke für deine Hilfe.«
»Was man in der ersten Nacht im neuen Heim träumt, geht in Erfüllung. Also träum was Schönes. Ja?« Er zwinkerte ihr zu und versuchte, mit einem Lächeln seine Besorgnis zu kaschieren. »Wenn ich aus London zurück bin, besuche ich dich.«
»Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut.« Sie wünschte ihm einen guten Flug und viel Erfolg bei dem Workshop, den er leiten würde, dann schob sie ihn sanft die Treppe hinunter.
»Du kommst wirklich alleine klar?«
Sie nickte. »Michael, ich bin fünfunddreißig. Die Zeiten, in denen ich mich im Dunkeln gefürchtet habe, sind vorbei.«
»Also gut. Dann überlasse ich dich diesem alten Gemäuer.« Er warf einen kritischen Blick auf das Haus, als befürchtete er, Geister könnten darin spuken. Sollte ich tatsächlich von Gespenstern heimgesucht werden, dachte Agnes, dann sind sie heute mit mir eingezogen.
Michael drückte sie an sich, dann stieg er in den Umzugswagen und winkte ihr im Anfahren zu. Als der Wagen oben am Weg hupend hinter der Kurve verschwand, ging Agnes ins Haus. Die Tür fiel ins Schloss. Sie blieb im Flur stehen. »So«, sagte sie laut und lauschte dem nachhallenden Klang ihrer Stimme. »Und nun?« Nun gab es nicht mehr viel zu tun. Alle Möbelstücke standen an ihrem Platz. Die letzte Umzugskiste war ausgepackt und ihre wenigen Habseligkeiten waren verstaut.
Sie ging in die neu eingebaute Küche und freute sich erneut über die Farbkombination aus maigrün gestrichenen Wänden und vanillegelben Möbelfronten. Frühlingsatmosphäre, Aufbruchsstimmung. Sie füllte den Wasserkocher und holte aus dem Schrank ein Päckchen Seelenharmonie, das sie im Teeladen neben der Kirche gekauft hatte. Der Name war zu verlockend gewesen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie war nicht so naiv, zu glauben, dass ein Ortswechsel und eine Tasse Tee ihrem Leben wieder Sinn geben konnten. Aber irgendwie musste sie beginnen; und mit dem Umzug hatte sie den längst überfälligen Schlussstrich gezogen.
Sie fühlte sich erleichtert und befreit und trotzdem schämte sie sich ein wenig. Ihre Eltern hatten es nur gut gemeint. Aber die Fürsorge ihrer Mutter hätte sie nicht einen Tag länger ertragen und die stumme Anteilnahme ihres Vaters hatte sie zunehmend zornig gemacht. Er behandelte sie wie eine Kranke. Sie wusste, dass er nicht anders konnte, und hatte ihm keinen Vorwurf gemacht, aber sein Verhalten hatte ihren Entschluss bestärkt, ihr Leben endlich wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Das Wasser kochte, sie brühte den Tee auf und trug Thermoskanne und Tasse ins Wohnzimmer. Nachdem sie beides auf dem Couchtisch abgestellt hatte, ging sie ans Fenster. Ihr Blick glitt durch den verwilderten Garten hinüber zum See. Das luftige Blau des Himmels hatte mittlerweile in ein schimmerndes Lichtgrau gewechselt. Die Wasseroberfläche lag wie in Silber gegossen. Sie fühlte sich ruhig, als habe der Sturm sich für immer gelegt, der seit über einem Jahr mal mehr, mal weniger heftig in ihr wütete. Doch, dachte sie, es war richtig gewesen, das Haus zu kaufen.
Eigentlich hatte sie das Geld nicht anrühren wollen. Von Rainers Tod zu profitieren war ihr ebenso unvorstellbar erschienen, wie noch länger bei ihren Eltern zu wohnen. In diesem Dilemma hatte sie gesteckt, als sie das Haus entdeckt hatte. Eine kleine dreigiebelige Jugendstilvilla direkt am Kirchsee gelegen. Sie hatte gespürt, wenn überhaupt ein Neuanfang möglich war, dann hier, in diesem hundert Jahre alten Haus mit seinen knarrenden Böden, ausgetretenen Stufen und hohen Räumen. Ihre Mutter hatte sie gescholten. Sie sei unvernünftig, da die finanziellen Reserven mit diesem Kauf beinahe erschöpft waren. »Kind, du wirst wieder arbeiten müssen«, hatte sie gesagt, als sei das eine schreckliche Vorstellung. Genau wie für Rainer.
Agnes spürte ein leichtes Unbehagen. Ein Gefühl, als nähere sich der Sturm wieder. Eilig ging sie zum Sofa zurück und schenkte sich eine Tasse Tee ein. Während sie ihn trank, wanderte ihr Blick durchs Zimmer. Ihr Mobiliar bestand aus einer Mischung alter und neuer Möbel. Teils neu gekauft, teils von Michael und ihren Eltern ausrangiert. Aber Vorhänge und Teppiche fehlten noch. Im Regal standen nur einige CDs und ein paar Bücher. Auf einmal konnte sie die Leere der Räume, die sie umgaben, körperlich fühlen. Vielleicht gehörte sie doch nicht hierher. Agnes versuchte, eine aufsteigende Erinnerung zurückzudrängen: zwei winzige leere Zimmer, ein Sprossenfenster stand offen, gab den Blick in einen öden Hinterhof frei, eine handtuchbreite Küche, ein verbeulter Gasherd. Hastig fasste Agnes die langen Haare zusammen, schlang sie zu einem Knoten, stopfte sie in den Ausschnitt des Sweatshirts. Sie hatte sich eben für ein Leben auf dem Land entschieden.
Ihr Blick fiel auf den Biedermeiersekretär, das Geschenk ihrer Eltern zum Einzug. Ein Gläschen mit Fensterlack, das sie nach dem Ausbessern einer abgestoßenen Stelle nicht aufgeräumt hatte, stand noch dort. Auf dem Sekretär würde sich das Foto gut machen. Sie ging nach oben und holte den Silberrahmen aus dem Schlafzimmer. Das Bild, das er enthielt und das sie wie einen Schatz hütete, war vor zwei Jahren am Atlantik entstanden. Für einen Moment konnte Agnes die salzige Luft schmecken, das Kreischen der Möwen und Yvonnes Lachen hören, konnte Rainer sehen, wie er ihr half, den knallroten Lenkdrachen im auflandigen Wind zu steuern. Sie versuchte, diesen Eindruck festzuhalten, aber durch diese Bemühung brachte sie ihn zum Verschwinden.
Im vergangenen Jahr, wenn sie nachts in ihrem ehemaligen Kinderzimmer wachgelegen und ihre Gedanken ein gespenstisches Eigenleben entwickelt hatten, wurde sie manchmal von der Frage gequält, ob alles nur ein Traum gewesen war. Vielleicht hatte sie ihr Elternhaus nie verlassen, hatte nie geheiratet, war nie Mutter gewesen. Dann hatte sie das Licht anmachen und sich mit einem Blick auf das Bild vergewissern müssen.
Agnes atmete durch und verscheuchte so den Druck, der sich auf ihre Brust legen wollte. Sie stellte das Bild an seinen neuen Platz. Dann blickte sie auf die Uhr. Es war schon nach sechs, höchste Zeit, eine Runde zu laufen. Sie ging nach oben und schlüpfte in ihre Joggingsachen. Als sie die Laufschuhe anzog, klingelte es an der Haustür. Sie blickte auf. Wer konnte das sein? Eigentlich hatte sie keine Lust, zu öffnen. Sie wollte nicht aufdringlichen Nachbarn die Hände schütteln und nett sein müssen. Andererseits konnte sie hier, in diesem Dorf, nur heimisch werden, wenn sie sich nicht in ihrem Haus verkroch. Aber sie musste ja nicht heute damit anfangen. Es klingelte erneut. Man konnte die Nachbarn ja auch nicht vor der Tür stehen lassen. Verdammte gute Kinderstube, dachte sie, während sie in den Flur hinunterging. Die Versuche, ihre gute Erziehung wie einen zu eng gewordenen Mantel abzulegen, scheiterten meistens. Sie warf einen raschen Blick in den Spiegel. Im letzten Jahr hatte sie abgenommen. Jetzt steckte sie in einem schlanken, durchtrainierten Körper, der ihr merkwürdig fremd war. Nur die langen blonden Haare, die Rainer so sehr geliebt hatte, erinnerten sie an früher. Es klingelte wieder. Agnes ging zur Tür und öffnete. Eine junge Frau stand atemlos auf der Haustreppe. Raspelkurze blonde Haare standen zerzaust von einem knochigen Schädel ab.
»Grüß Gott. Ich bin Ihre Nachbarin. Melanie Berger.« Sie hatte wasserblaue, scheinbar wimpernlose Augen und eine schnabelartig gebogene Nase. Aufgeregt unterstrich sie jedes Wort mit flatternden Armen. Sie erinnerte Agnes an das sprichwörtliche aufgescheuchte Huhn. Ihre Stimme war allerdings voll und angenehm und wollte nicht zu der kindlichen, mageren Figur passen.
»Wir brauchen Ihre Hilfe. Ein Junge ist verschwunden. Der Jakob. Wie vom Erdboden verschluckt. Jetzt suchen wir alle nach ihm.«
»Und ich soll dabei helfen?« Die Frage hallte in Agnes’ Schädel nach wie in einem Fahrstuhlschacht.
»Alle suchen ihre Häuser und Grundstücke ab. Wir sind schon fertig. Mein Freund ist jetzt mit der Feuerwehr unten am See. Da habe ich gedacht, ich könnte Ihnen helfen. Das Grundstück ist ja ziemlich groß«, sagte Melanie Berger und breitete die Arme aus.
Sie war ins Dorf gezogen, um zur Ruhe zu kommen, um zu vergessen, und nun das. Gleich am ersten Tag. »Ich wollte eigentlich gerade joggen«, erwiderte Agnes.
Melanie Berger starrte sie an. »Jakob ist erst fünf. Vielleicht hat er sich bei Ihnen im Haus versteckt. Die Türen standen ja den ganzen Nachmittag offen.« Ihre Stimme klang mühsam beherrscht.
»Meinen Sie, ich würde es nicht merken, wenn ein kleiner Junge sich bei mir herumtreibt? Seine Eltern sollten sich an die Polizei wenden.« Agnes trat einen Schritt ins Hausinnere zurück, als könnte sie so den Sturm, der in ihr heraufzog, von sich fernhalten.
Die junge Frau atmete hörbar durch. »Das haben sie bereits. Aber bis die Polizei hier ist, das dauert. Jakobs Eltern sind halb wahnsinnig vor Angst. Wenn alle mithelfen, finden wir ihn schneller.«
Was ist nur mit mir los? Sie hat ja recht, dachte Agnes erschrocken und trat zur Seite. »Kommen Sie rein.«
Die Suche dauerte keine fünf Minuten. Der Junge war natürlich nicht im Haus. Agnes zog die Joggingweste über und ging mit Melanie Berger hinaus. Der Garten war groß und ähnelte im hinteren Teil einem Wald, was er ursprünglich wohl auch gewesen war.
»Ich wollte Sie vorhin nicht anfauchen. Aber meine Nerven liegen etwas blank«, entschuldigte sich Melanie Berger. »Jakob ist in meiner Kindergartengruppe. Ich bin seine Erzieherin.«
»Dann sind wir ja quitt«, erwiderte Agnes verlegen. Es war einfach unmöglich, wie sie sich benommen hatte. »Ich weiß auch nicht, was vorhin mit mir los war.«
Sie durchsuchten den Garten, riefen nach Jakob, schoben Äste und Zweige auseinander, aber sie fanden den Jungen nicht. Während ihre Nachbarin sich den Schuppen vornahm, ging Agnes zur ehemaligen Remise hinüber, die die Vorbesitzerin, die Malerin und Bildhauerin Charlotte Niedermeyer, zu einem Atelier umgebaut hatte.
Die Luft roch muffig, der Raum war leer. Vom Firstbalken bis zur Verglasung in der Dachschräge hingen Spinnweben. Agnes setzte sich aufs Fensterbrett und starrte in den Garten, auf den Rest eines umgestürzten Baumes, der schon Jahrzehnte dort liegen musste. Die Rinde war verschwunden, das tote Holz hatte einen silbrigen Glanz angenommen. Vielleicht war dieser Junge auch tot. Agnes schrak hoch. Was dachte sie denn da?
Melanie Berger kam herein. »Und?«, fragte sie.
»Nichts.« Agnes beobachtete, wie Melanie Berger fröstelnd die Arme um die mageren Schultern schlang. Ein heißer Tee würde ihr guttun. »Bei mir steht eine fast volle Kanne Tee auf dem Tisch. Sollen wir eine Tasse trinken?«
Ihre Nachbarin nickte. »Ja, das wäre gut«, sagte sie und folgte Agnes ins Haus.
Agnes holte eine Tasse aus der Küche und ging zu Melanie Berger ins Wohnzimmer, die am Fenster stand und über den See blickte. Agnes schenkte ihr Tee ein und bot ihr Platz auf dem neuen roten Sofa an.
Melanie Berger setzte sich. »Ich heiße Melanie, aber alle nennen mich Melli.« Sie reichte Agnes die Hand.
Agnes zögerte einen Moment, aber dann ergriff sie die Hand. »Agnes. Agnes Gaudera.«
»Es tut mir leid, dass ich dich vorher so angefaucht habe«, entschuldigte Melanie sich nochmals. »Aber ich mache mir schreckliche Sorgen um Jakob. Ich hab einfach zu viel Phantasie.« Sie rührte im Tee, obwohl sie keinen Zucker genommen hatte. »Vielleicht ist er ja inzwischen wieder zu Hause.«
»Hoffentlich«, sagte Agnes und sah plötzlich Yvonne vor sich, wie sie mit prallgefülltem Rucksäckchen in die weite Welt ziehen wollte, wie das Hänschen aus dem Kinderlied. Unruhe breitete sich in Agnes aus. Sie musste endlich joggen. Bewegung war das einzige Mittel, zur Ruhe zu kommen, nichts denken zu müssen. Aber das ging jetzt nicht. Schließlich konnte sie Melanie, die sie eben erst zum Tee eingeladen hatte, nicht einfach vor die Tür setzen. Agnes rutschte tiefer in den Sessel und schlug die Beine übereinander. »Du hast gesagt, Jakobs Eltern haben die Polizei schon verständigt. Hoffentlich die Kripo. Oder organisiert der Dorfpolizist die Suche nach ihm?«
»Nein, natürlich nicht.« Melanie schüttelte den Kopf. »Die Münchner Kripo ist zuständig, hat Franz gesagt, und die werden ja hoffentlich einen Suchtrupp und Hunde mitbringen.« Sie trank einen Schluck Tee. »Wir haben heute Nachmittag den Möbelwagen gesehen und wollten eigentlich schon früher rüberkommen, um dich zu begrüßen. Der Franz und ich. Der Franz ist mein Verlobter«, sagte Melanie. Auf einmal leuchteten ihre blassen Augen und verliehen ihrem unproportionierten Gesicht unerwartete Schönheit. »In zwei Wochen ist Hochzeit«, fuhr sie fort, während sie auf das silbergerahmte Foto blickte, das auf dem Sekretär stand. Agnes begann zu frösteln, ihre Kopfhaut zog sich zusammen. Sie wollte nicht gefragt werden, sie wollte nicht darüber reden. »Entschuldige. Aber es ist wirklich höchste Zeit für meine Joggingrunde«, hörte sie sich sagen. »Komm doch morgen noch mal auf eine Tasse Tee vorbei.«
Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt. Graues Zwielicht senkte sich wie ein seidenes Tuch über den Marienplatz und den Dom Zu unserer lieben Frau, auf den Kriminalhauptkommissar Konstantin Dühnfort blickte. Es war kurz nach sechs und er wollte Feierabend machen. Seine Kollegin, Gina Angelucci, hatte sich bereits verabschiedet, und der neue Kollege, Alois Fünfanger, hatte sich nach dem Termin bei der KTU telefonisch abgemeldet. Dühnfort war noch unschlüssig, was er von ihm halten sollte. Fünfanger war zum ersten Mai von Regensburg nach München versetzt worden und gehörte seither dem Team an. Er war achtunddreißig Jahre alt und somit nicht nur drei Jahre jünger als Dühnfort, sondern offensichtlich auch wesentlich besser in Form. Jedenfalls zeichneten sich unter den dreiteiligen Anzügen, die er trug, wohlmodellierte Muskelpakete ab, was darauf schließen ließ, dass er regelmäßig Sport trieb. Als sie heute Nachmittag die Treppen hinauf in den dritten Stock gestiegen waren, hatte Fünfanger flott zwei Stufen auf einmal genommen, während Dühnfort, zunehmend atemloser, hinter ihm hergekeucht war. Wieder einmal hatte er beschlossen, mehr für seine Fitness zu tun. Aber Vorsätze alleine halfen nicht. Ihm fehlte einfach die Disziplin dafür.
Während er seinen Schreibtisch aufräumte, beschlich ihn das unangenehme Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und er wusste auch schnell, was. Noch immer hatte er keine Idee, was er seinem Vater zum siebzigsten Geburtstag schenken sollte und ob er überhaupt zu dieser bombastischen Feier nach Hamburg fahren wollte, die sein Bruder Julius ausrichtete. Julius, der wohlgeratene Sohn. Er war derjenige, der den Erwartungen des Vaters entsprach.
Das Telefon klingelte. Dühnfort fuhr aus seinen Überlegungen hoch und griff nach dem Hörer. Er lauschte eine Weile. »Seit wann ist der Junge verschwunden?« Er warf einen Blick auf die Domuhr. Beinahe drei Stunden. Und es wurde bald dunkel.
»Wo ist das? Mariaseeon. Am Kirchsee.« Das Dorf an der Landkreisgrenze gehörte gerade noch zu ihrem Zuständigkeitsbereich. Er überlegte. Der Junge war erst fünf und seit fast drei Stunden abgängig, Eile war geboten. »Ich brauche eine Suchmannschaft und ein Dutzend Kollegen für eine Bürgerbefragung. Und die Taucher sollen sich sofort auf den Weg machen.« Hastig notierte er die Adresse der Familie Sonnberger in Mariaseeon. Über den Einsatz von Hubschraubern würde er vor Ort entscheiden. Während er in die Jacke schlüpfte, wählte er Ginas Nummer.
Um zehn vor sieben erreichte er die Autobahnausfahrt und fuhr auf der Landstraße weiter nach Mariaseeon. Graublaue Dämmerung lag über der Landschaft, betupfte den Wald mit tiefgrünen Schatten, malte die Alpengipfel brombeerlila vor safrangelbem Abendhimmel. Ein expressionistisches Gemälde, dachte er und schaltete in den fünften Gang.
Sein Beruf brachte Routine mit sich, wie alle Berufe. Aber er konnte sich nicht daran gewöhnen, dass Kinder verschwanden. Wenn das geschah, erfasste ihn eine Unruhe, die ihn vor sich hertrieb, deren Gejagter er wurde. Meistens tauchten die Kleinen innerhalb kurzer Zeit wieder auf, hatten sich verlaufen oder versteckt oder waren trotzig ausgebüxt, während ihre Eltern verrückt vor Sorge geworden waren. Dühnfort hoffte, dass es auch in diesem Fall so war und die Eltern ihren Sprössling bald wieder in die Arme schließen konnten. Aber mittlerweile war mehr Zeit vergangen als gewöhnlich.
Weshalb war das Verschwinden des Jungen so spät gemeldet worden? Ungewöhnlich bei einem kleinen Kind. Was für Eltern sind das wohl?, fragte er sich. Sind sie gleichgültig oder überfordert oder sind sie vielleicht selbst in die Sache verstrickt?
Nach kurzer Fahrt erreichte er das Dorf, das eingebettet zwischen dem großen Waldgebiet des Seeoner Forsts und dem Kirchsee auf einer Anhöhe lag. Der Zwiebeltürm der alten Klosterkirche ragte aus einer Ansammlung roter Ziegeldächer in die Dämmerung. Dühnfort fuhr die Dorfstraße entlang und bemerkte eine Unruhe, die wie Dünung zwischen den Gebäuden schwappte, nahm schemenhafte Bewegung wahr, hörte gedämpftes Rufen und Türschlagen. Er folgte den Anweisungen des Navigationssystems bis in die Ortsmitte. Dort zweigte, kurz hinter dem Dorfplatz, mit Maibaum und Brunnen, die Cudheri-von-Isen-Straße ab, in der die Familie Sonnberger wohnte. Dühnfort fuhr noch etwa hundert Meter, dann hielt er vor einem Bauernhof. Unter dem Scheunendach stand ein Traktor. In der Luft hing der Geruch nach Mist und aus dem Stall drang das Muhen der Kühe. Er ging auf das Wohnhaus zu. Die Tür wurde von einem Mann in Businessoutfit geöffnet, noch bevor Dühnfort geläutet hatte. Der akkurate Haarschnitt und das unverbindliche Lächeln erinnerten Dühnfort an seinen Nachbarn, einen Versicherungsvertreter. »Sind Sie von der Polizei?«
Dühnfort nickte. »Herr Sonnberger?«
»Gernot Mittermeyer. Ich bin ein Nachbar. Kommen Sie rein.« Dühnfort folgte ihm durch den Flur. »Herr Sonnberger ist nicht da. Er beteiligt sich an der Suche«, sagte Mittermeyer und öffnete die Tür zu einer Wohnküche. An einem runden Holztisch, auf dem eine Brotzeit und Gedecke für drei Personen standen, saßen zwei Frauen, von denen eine nun aufblickte. Sie hatte kastanienbraune Locken und ein Gesicht voller Sommersprossen. Die Blusenärmel waren hochgekrempelt, am rechten Handgelenk klebte ein mehliger Teigrest. Den linken Arm hatte sie um die Schultern der schlanken Frau gelegt, die neben ihr saß. Dunkle Haare betonten die Blässe ihres Gesichts, in dem Sorge und Anspannung sich über die Lachfältchen an Mund und Augen gelegt hatten. Sie starrte auf ihre ineinandergeschlungenen Hände wie auf ein Orakel, das sich jeden Augenblick offenbaren musste.
»Gabi, die Polizei«, sagte Mittermeyer. Der Kopf schnellte hoch. Ein Blick aus intensivblauen Augen traf Dühnfort. Darin lag sowohl Angst als auch Hoffnung. Hoffnung, die er nun erfüllen musste. Unter dem Tisch kroch ein etwa fünfjähriger Junge hervor. In der Hand hielt er ein Spielzeugauto.
Dühnfort stellte sich vor. »Frau Sonnberger«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Wir werden Ihren Jungen finden. Eine Suchaktion läuft schon?«
»Die Nachbarn suchen alle«, sagte sie. Die Sehnen an ihrem Hals zeichneten sich wie steile Grate ab. »Es ist wie eine Lawine.« Dühnfort setzte sich und überlegte, ob sie ihre Angst oder die Suchaktion meinte. Vermutlich beides. Der Junge beobachtete ihn.
»Das ist Dennis, unser Sohn«, sagte Mittermeyer, »und meine Frau Irene.« Er wies auf die Frau, die neben Gabi Sonnberger saß und nun Dühnfort zunickte. »Ich bringe Dennis jetzt besser nach Hause.« Mittermeyer nahm seinen Sohn an die Hand und verabschiedete sich.
»Ihre Nachbarn und Ihr Mann suchen also schon nach Jakob«, sagte Dühnfort.
Gabi Sonnberger nickte. »Ich habe natürlich zuerst überall im Dorf herumtelefoniert, als Jakob nicht zum Essen gekommen ist.« Kraftlos ließ sie die Hände auf die Tischplatte fallen.
»Danach ist das wie ein Lauffeuer im Dorf rum. Und nun suchen alle«, sagte Irene Mittermeyer. »Aber bis jetzt gibt es keine Spur von Jakob. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.« Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
»Kann ich ein Foto von Jakob haben und eine Beschreibung der Kleidung?«, fragte Dühnfort.
Gabi Sonnberger nickte. Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und holte aus dem Küchenbuffet eines der buntbedruckten Kuverts, in denen Fotolabore Abzüge verschicken, wählte eines aus und legte es vor Dühnfort auf den Tisch.
Das ist also Jakob, dachte er. Der Junge hielt zähnefletschend einen Plastikdinosaurier hoch. Die ersten Milchzähne waren ausgefallen, eine große Lücke klaffte in der oberen Zahnreihe. Dühnfort wusste, wie stolz Kinder darauf waren. Jakobs Augen waren blau, wie die seiner Mutter.
Dühnfort notierte, was Jakob trug: Jeans, Turnschuhe mit Klettverschluss und ein rotes Sweatshirt. »Könnte es sein, dass Jakob zum See …«
»Nein. Bestimmt nicht.« Gabi Sonnberger versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, aber Dühnfort hörte die Angst heraus. »Er kann noch nicht schwimmen. Wir haben ihm verboten, alleine ans Wasser zu gehen. Und er hält sich doch an unsere Verbote.« Es klang wie eine Frage.
Zwei Autos fuhren nacheinander auf den Hof. Die Motoren verstummten, Türen schlugen. Es klingelte. Irene Mittermeyer stand auf und kam in Begleitung von Gina Angelucci und Alois Fünfanger zurück. Gina steckte in einer ihrer obligatorischen Cargohosen, die sie in allen Farben hatte. Heute Abend trug sie eine flaschengrüne. Sie grüßte und setzte sich an den Tisch. Alois Fünfangers Anzug wirkte wie frisch gebügelt, obwohl er ihn schon den ganzen Tag trug. Wie schafft er das?, fragte Dühnfort sich und blickte auf seine zerknautschte Chino und das zerknitterte Hemd.
»Jakob wurde um halb vier zuletzt gesehen«, sagte er, nachdem er seine Kollegen vorgestellt hatte.
Gabi Sonnberger nickte. »Er war bei Dennis.«
»Sie haben aber erst kurz nach sechs Uhr sein Verschwinden gemeldet. Weshalb so spät?«
»Ich dachte doch, er sei bei Dennis.« Gabi Sonnberger presste die Hand vor den Mund.
»Jakob sollte bis halb sechs bei uns bleiben. Ich habe ihn aber um halb vier heimgehen lassen«, sagte Irene Mittermeyer. »Die Jungs haben sich gestritten und Jakob wollte dann nach Hause.«
»War das ein schwerwiegender Streit, der Jakob veranlasst haben könnte, wegzulaufen oder sich zu verstecken?«
Dennis’ Mutter schüttelte den Kopf. »Sie wissen ja, wie Kinder sind. Sie haben sich gegenseitig als doof beschimpft und dass sie keine Freunde mehr sein wollen. Aber das kommt häufiger vor und dann versöhnen sie sich wieder.«
»Sie haben Jakob nicht begleitet?«
»Der Weg ist nicht weit. Er ist ihn schon oft alleine gegangen.«
»Jakob darf diese Strecke alleine gehen«, sagte Gabi Sonnberger. »Seit er in die Vorschulgruppe geht«, fügte sie hinzu.
So einfach war das also zu erklären. Nicht Gleichgültigkeit oder Vernachlässigung hatten dazu geführt, dass über zwei Stunden niemand bemerkt hatte, dass der Junge abgängig war, sondern mangelnde Kommunikation.
Alois räusperte sich.
Dühnfort blickte auf. »Ja?«
»Sonnenuntergang ist erst gegen halb neun. Wir könnten die Hubschrauber noch bei Tageslicht einsetzen. Ich hab mal zwei angefordert, die stehen in Startposition und warten auf unser Go.«
Dieser Vorstoß überraschte Dühnfort. Noch leitete er dieses Team, besser, Alois hätte das mit ihm abgesprochen. Er bemerkte, wie Gina auf einem Fingernagel kaute und Alois mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Aber im Moment zählte, dass sie den Jungen schnell fanden. »Gut. Sie sollen sofort starten. Du übernimmst die Koordination.«
Gina bat er, sich um die Bürgerbefragung zu kümmern, während er selbst die Suchmannschaften einweisen wollte. »Sie haben Wärmebildkameras und Nachtsichtgeräte an Bord«, sagte Dühnfort zu Gabi Sonnberger, als Alois die Küche verließ. »Wir können Ihren Jungen auch in der Dunkelheit finden.«
»Einmal haben wir so einen Dreikäsehoch im Kaufhaus entdeckt, schlafend unter einem Kleiderständer, während zweihundert Polizisten die Fußgängerzone nach ihm abgesucht haben«, sagte Gina.
Gabi Sonnberger blickte auf, aber das Lächeln, das sie versuchte, gelang ihr nicht.
Sollte er noch auf Jakobs Vater warten?, fragte sich Dühnfort. Aber zuerst musste die Suche nach dem Jungen organisiert werden. »Das, was Sie befürchten, ist ziemlich sicher nicht geschehen«, sagte er und hoffte, dass er sich nicht täuschte.