Man muß durch die Wüste, um von Ägypten nach Palästina zu gelangen, von Afrika nach Asien. Man muß fort von dem penetranten Grün der Fluren, die der Nil durchströmt, muß hinaus in die wundersame Öde. Weg von der unaufhörlichen, saftigen Fruchtbarkeit, weg von den üppig getränkten, fetten Ackerflächen, die bukolisch belebt sind, hin durch die herrliche Strenge der gelben Sandwellen.
Nirgendwo ist die Erde so ganz und so vollkommen sie selbst, wie in der Wüste. Weder auf dem Meer, noch auf den Gletschergipfeln des Hochgebirges wirkt sie so einsam, so erhaben, als Erdball.
Nicht Wohnstätte, nicht Pflanzung, nichts was mit Zweck oder Nutzen verwandt ist, verwirrt hier den Blick. Das alles wird dem Bewußtsein gering; hier in der Wüste erscheint Wuchs der Felder, Walddickicht nur wie Flechte, die den Riesenleib dieser Kugel da und dort bedeckt, unwichtig, klein, nebensächlich. Und das Treiben der Menschen ist so winzig, wie das Gewühl von Maden. Niederschmetternd bis zum Gefühl letzter Nichtigkeit ist der Eindruck, den die Wüste bietet und zugleich erhebend bis zur Ahnung des Göttlichen. Ja, hier liegt die Erde ausgebreitet, die Erde an sich. Ihr nackter Leib, den Menschenhände mit aller Arbeit nicht verändern können, ist seidig feiner Sand, weich schimmernd in allen Tönen, die das Gelb von der Ockerfarbe bis zum Kupferrot immer nur mischen kann. Da sind runde Hügel und flachgehöhlte Täler, vom Wind geschichtet und angewühlt, vom nächsten Sturm wieder zerblasen und in neue Formen geteilt, die doch wieder ewig dieselben bleiben. Was man da von einer, mühsam im rieselnden, rutschenden Sandgerinne erklommenen Anhöhe überschaut, Welle an Welle, ins Unendliche, gleicht der Beweglichkeit einer See, die, einst von Orkanen gepeitscht, nun erstarrt ist. Es gleicht der Formation eines Gestirnes, das nach der letzten Feuerkatastrophe seiner Vulkane, nun zur Ruhe kam. Hier waltet, feierlicher, größer, ein anderer Sinn, ein anderer Rhythmus als derjenige, der kurzatmig und zappelnd unser Leben bewegt. Hier ist, beinahe, Mondlandschaft, ist vollkommen, wie nirgendwo: Erdlandschaft.
Das war der Weg, den Moses die Juden geführt hat, fort aus Mizrajim, dem Lande der Knechtschaft, in das Land der Verheißung.
Armes Volk, das diesen harten, einsamen Weg der Befreiung gegangen ist; ausgeschieden und ausgetrieben aus den Gefilden des Reichtums, aus den Fluren des Genieß ens, aus der guten Stallwärme beständig ruhigen Wohnens. Armes Volk, das ganz allein war mit sich und seinem strengen Gott, umgeben von der drohenden Strenge der Wüste und dazu noch gestriemt von den Erinnerungen an die stets gefüllten Futternäpfe. Denn die Heimat, der sie suchend entgegenwanderten, kannten sie nicht mehr, und das Land, von dem sie ausgezogen waren, hatten sie noch nicht vergessen.
Als sie Ägypten verließen, im ersten Rausch der Freiheit, im Triumph über ihre Peiniger, im Taumel ihrer neu errungenen Rechte, aßen sie das Brot ungesäuert und achteten die Kargheit ihrer Speise für weniger, als ein kleines Opfer. Sie hätten, wie jedes Volk, in den Tagen der Erhebung und der Erregung bereitwillig auch Hobelspäne geschluckt oder Stroh gekaut. Aber dann, draußen in der Wüste, allein in der großartigen Öde, allein mit ihrem Gott, den sie nicht schauen konnten und den sie nicht beim Namen nennen durften, preisgegeben dem Befehl eines Führers, dessen Tyrannei sie verschüchterte, dessen Absichten sie nur halb begriffen, dessen majestätische Hoheit sie kaum ahnten, brach ihre Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens ungestüm hervor.
Es war, damals schon, jenes wurzellose Heimweh, das die Juden so oft um einer Heimat willen gelitten haben, die nicht die ihre gewesen und die ihnen nur Mißhandlung geboten hatte.
Wie verängstigt und erschrocken mag das Volk am Fuß des Sinai hingesunken sein, vor dreitausend Jahren, als Gott sich in Gewitterwolken zum Gipfel des Berges niederließ. Der Sinai steht heute noch genau so da wie einst. Nichts ist verändert, alles wie damals und die dreitausend Jahre scheinen in seinem Anblick wie ein Tag. Er gleicht seinen geringeren Vettern, der Sinai, den anderen Felsgebirgen, die sich hier oft aus der Wüste erheben, dem Mokkatam bei Kairo oder den Steinwänden vor Theben, in denen die Ägypter ihre Pharaonen begruben; er gleicht ihnen in den rötlichen und fahlgelben Farben seiner Mauern und in der toten Zerrissenheit seines Bodens. Nur mächtiger ist er, als seine übrigen, kleinbürgerlichen Verwandten hierzulande. Er reckt sich empor, wie das Haupt eines riesenhaften Löwen; er steht da, wie die unbarmherzige Drohung eines Giganten, und er ist in das Antlitz der Erde hier gezeichnet, wie das Stirnrunzeln einer zürnenden Gottheit. Gewaltiger als alle Gebirgsgipfel der Welt ist der Sinai, denn auf seinem Rücken hat er Gott getragen, indessen die anderen Bergspitzen auf ihrem Haupt und an ihren Schultern nur Schnee liegen haben, den jede Sommersonne zu schmelzen, den jede Wolke wieder zu erneuern vermag. Die Gegenwart Jehovas aber ist vom Sinai nicht mehr zu tilgen und die Lawine des göttlichen Wortes, die damals niederdonnerte, haben die Sonnen dreier Jahrtausende nicht hinwegschmelzen können; ihre Spur wird aus den Herzen der Menschen in zehnmal drei Jahrtausenden nicht zu löschen sein und frisch bleiben, wie am ersten Tag.
Herrlicheren Reichtum, als je aus quelldurch-rauschtem Felsenhang sprudelte, oder aus goldgeädertem Bergesschoß gegraben wurde, hat diese steinerne Anhöhe der Welt geschenkt. Denn in der knapp gemeißelten Form der Zehn Gebote ist der Inhalt und der Weg, die Weisheit und das Glück der Seele beschlossen, ihre Stütze und ihre Ruhe, ihre Fülle und ihre Unsterblichkeit.
Ein neues sittliches Bewußtsein erwachte, loderte empor, war noch klein und noch nicht weithin sichtbar, war noch genau so unbekannt, wie die Flammen des brennenden Dornbuschs, aber ebenso rein, ebenso unwiderstehlich wie diese. Alle die Gottheiten und Götzen Ägyptens wurden von diesem Feuer zu Asche vernichtet; ausgetilgt wurden die Fetische der Philister und Amalekiter, die mächtigen Dämonen der mächtigen Perser und Assyrer. Selbst die schönen, daseinsfreudigen Götter Griechenlands verbrannten zu Asche. Ihre prächtigen Tempel, ihre Bildsäulen und Altäre wurden Ruinen und Trümmer und der Welt blieb nichts, als jener brennende Dornbusch, den das Feuer nicht verzehrte, blieb nichts als dieser Berg in der Wüste «hier, der ein einzigesmal zum Schemel für Jehovas Füße gedient hatte.
Das Volk, das damals hier erschrocken auf sein Angesicht fiel, war von der Sorge um das tägliche Brot zu sehr gequält, von der Sehnsucht nach dem Land, darin Milch und Honig fließt, zu arg zerwühlt, um zu verstehen, was an seinem Erlebnis erhaben war und ins Ewige reichend. Sie ahnten nur, ganz leise, tief im Dämmern ihres tiefsten Innern, daß sie auserwählt seien. Aber, wenn die andächtige Beklemmung des Augenblicks sich wieder löste, empfanden sie nichts, als daß sie gepeinigt wurden, daß Leiden ihr Teil blieb, daß ihnen ein fernes, ein unendlich fernes Ziel gesetzt war und daß sie ihr Leben dran geben mußten, um dieses Zieles willen. Sie trugen das Los, das Auserwählte immer tragen, so lange die Welt steht: gepeinigt werden, leiden und das Leben einem fernen Ziel zum Opfer bringen.
In der Wüste, die ich durchfahre, wandern Beduinen. Sie kommen aus Ägypten und sind, wie ich, auf dem Weg nach Palästina. Ausgestreut im gelbroten, sonneglühenden Sand, zieht ihre Schar langsam dahin. Sie reiten auf schönen, arabischen Pferden, die dünne Beine haben und kleine, zierliche Köpfe. Kamele führen sie mit, die ihre Zelte tragen, viele Esel, die stämmig sind, graue und weiße, die hochbepackt einhertrollen, oder auf denen die Frauen sitzen. Ihre Herden treiben sie mit, Schafe, Ziegen und kleine Rinder. Von den jungen Männern gehen manche zwischen dem Gewimmel zu Fuß und sie gehen in einem merkwürdigen, adelig sorglosen Schlenderschritt.
Aus den Geflügelkörben auf dem Rücken eines Kamels hat sich ein Huhn losgemacht, flattert zu Boden und rennt davon; erst langsamer, mit vornickendem Kopf und mit dem behutsam affektierten Zustechen der Beine; dann aber, gescheucht, läuft es ziellos kreuz und quer, mit schlagenden Flügeln. Ein junger Kerl springt hinterdrein, will das Huhn fangen, das nun wie ein dunkles Pünktchen über den hellen Wüstenboden huscht. Drei, vier andere junge Männer eilen zu Hilfe. Es ist kein Spaß dabei, sondern wie ernste Arbeit. Man merkt an dieser Jagd, wie viele Löcher und Buckel, wie viele Spalten und Ritzen der seidenglatte, schimmernde Sandboden hat. Und man versteht an der leidenschaftlichen Verfolgung, welchen Wert ein einziges Huhn für Menschen besitzt, die in der Wüste wandern müssen.
Die Beduinen ziehen, wie einst die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob gezogen sind, als Nomaden, mit ihren Kamelen und Pferden und Eseln, Schafen, Ziegen und Rindern. Nur wenig unterscheidet sich das Leben dieser Beduinen da von dem Leben unserer Patriarchen in grauer Vorzeit.
Diese Beduinen gehen die gleiche Richtung, in der die Juden einst auszogen, von Ägypten nach Palästina, vor dreitausend Jahren. Und alles ist hier unverändert, alles ist wie damals. Die Wüste, der schmale Silberstreif des Mittelmeeres, der in weiter Ferne manchmal aufglänzt, der hochgewölbte, saphirblaue Himmel, und die grelle, nackte Sonne, die ihre blendenden Strahlen wie Feuer niederschüttet. Alles, wie einst.
Die Beduinen werden zum lebendigen Traumbild einer längst dahingesunkenen, ungeheueren Vergangenheit. Aber diese Beduinen, die von den Weidegründen des Fayoum kommen, marschieren ohne Hindernis, ohne Wunder und ohne Erscheinungen zu erleben, und sie werden Halt machen, bis sie die Wiesenflächen von Gaza erreicht haben. Sie legen diesen Weg in freier Entschließung Jahr für Jahr zurück und er dauert nur wenige Wochen. Ihr Zug weckt aber die Erinnerung an den Exodus der Juden, der eine große, gottbefohlene Tragödie gewesen ist.
Sie haben sich auf gelehnt in der Wüste gegen ihren jähzornigen Gott, die armen Juden, die aus Ägypten kamen. In ihrer Bedrängnis entsannen sie sich der vielen kleinen, gefälligen Götterchen und Götzen am Nilufer, entsannen sich des gutmütigen Apis, der ein Rindvieh war, und wollten auch so einen Gott besitzen, den man sehen, den man mit Händen greifen konnte, mit dem man vertraulicher, bequemer umgehen durfte. Damals geschah es, daß sie den Schmuck ihrer Frauen zu Aaron trugen. Dieser Mann, der bei all seiner Güte wankelmütig war und vielleicht auch ein wenig eifersüchtig auf den rätselhaft gebietenden Bruder, dieser Mann, der es zehnmal verdient hätte, davongejagt zu werden und der wohl nur durch seine im Grunde liebevolle Seele der Verdammnis immer wieder entging, formte aus all den Schmucksachen einen kleinen Vetter des Apis. Dann lief er, während die Juden um das goldene Kalb tanzten, Moses entgegen, und bat ihn mit reuigen Worten um Verzeihung. Gott aber erzürnte sich und sprach: „Ich sehe, daß es ein halsstarriges Volk ist.“
Er war, wie schon bemerkt, sehr jähzornig, dieser Gott, er ist es wahrscheinlich heute noch, und er ließ sich von seinen Zornanfällen oftmals viel weiter hinreißen, als er wollte, so daß dann Moses ihn beschwichtigen und vom Äußersten zurückhalten mußte. Aber er hat die Eigenschaft, in seinem Zorn herrliche Wahrheiten auszusprechen. So gehört denn auch sein Ausspruch bei Gelegenheit des goldenen Kalbes, daß nämlich die Juden ein halsstarriges Volk sind, zu den absoluten Wahrheiten und ist wahr geblieben bis auf diesen Tag.
Ach, es sind die besten und die treffendsten Dinge, die es jemals über das Judentum zu hören gab, gerade während jener Zeit der Wüsten Wanderung gesagt worden. Das sind Aussprüche, so erschöpfend charakteristisch, so tief, so meisterhaft psychologisch und so weit voraussehend, daß man kopfstehen könnte vor Staunen, wüßte man nicht, daß sie von Gott stammen und von Moses, die alle beide wie niemand sonst auf Erden die Juden gekannt haben, und von denen der eine eben Gott, der andere nur um ein Geringes weniger als Gott gewesen ist, nämlich Moses.
Aber die Juden wären nicht Menschen und, vor allem, sie wären nicht Juden gewesen, wenn sie nicht rebelliert hätten gegen ihren Gott und gegen ihren Anführer. Es ging ihnen oft erbärmlich genug. Nicht immer fiel Manna vom Himmel; nicht immer kamen Wachteln in Riesenschwärmen und nicht immer schlug Moses mit dem Stab an den Felsen, daß klares Wasser hervorsprang. Da gab es Männer, die der festen Meinung waren, sie könnten das Volk besser führen als Moses. Solche Männer hat es immer wieder in Israel gegeben und sie vermögen es immer wieder, Unheil anzurichten, denn Gott mengt sich nicht mehr ein, wie damals, da er den Korah und seine Rotte vom Erdboden vertilgte. Auch die Frauen trugen mit ihrer Klatschmäuligkeit das ihrige dazu bei, Gott und dem Propheten das Leben zu erschweren und zu verbittern. Der wackere Aaron, der immer nur dann ganz zuverlässig war, wenn ihm die eherne Hand des Moses auf der Schulter lag oder wenn er vor den Feueraugen des großen Bruders den Blick zu Boden senken mußte, Aaron also hatte das Schicksal, neben einem Genie zu stehen, wie Lucian Buonaparte etwa neben Napoleon stand, und Aaron besaß in Mirjam ein braves, ein begeistertes Weib, das aber manchmal vor Neid und Ehrgeiz verging. Sie wäre mit ihrer Frage: Warum Moses und nicht du? beinahe drauf und dran gewesen, einen bösartigen Bruderzwist zu entfesseln. Doch Gott schlug Mirjam und eine Woche lang bedeckte der Schnee des Aussatzes ihr Antlitz, so daß sie sechs Tage lang abgesondert interniert werden mußte, in welcher Frist ihr die Lust verging, Streitigkeiten anzuzetteln, und die Brüder sich wieder vertrugen.
Was auch vorfiel in dieser langen Zeit an Ungehorsam, Widerstand, Kleinmut oder Verzweiflung, es ist menschlich, gemessen an dem trostlosen Dasein in der Wüste, gemessen an der Not, die Leib wie Seele litt, an dem hart geprüften Hoffen. Und das Ausharren der Kinder Israels über alle die schweren Heimsuchungen hinweg, die stille Zähigkeit, mit der sie ihr Schicksal trugen, die unüberwindliche Kraft des Leidens, ihre grenzenlose Bereitschaft, sich zu opfern, Brücke zu sein, Wegzeichen und Straßenstaub für die Kommenden, dies alles ist erstmalig in der Welt gewesen und jüdisch. Erstmalig in der Welt war auch dies inbrünstige Hangen am Gedanken des einzigen, unsichtbaren Gottes, zu dem sie von allen augenblicklichen Versuchungen immer wieder heimfanden. Diesem Volk, das zwischen üppig fruchtbaren Ländern durch Wüstenöde in der Irre umherzog, war der einzige, unsichtbare, unnennbare Gott Heimat und Wurzelerde. Sie haben die vielen kleinen Götterchen und Götzen Ägyptens aus der Tiefe ihres Blutes verachtet. Sie sind arm gewesen, aber stark; mitleidswürdig, aber heroisch; rebellisch aber dennoch treu; zerstritten und zerzankt untereinander, aber eins und einig in allen großen Stunden. Sie sind begierig gewesen nach Wohlleben und Reichtum, trotzdem waren sie jedesmal bereit, alle Kostbarkeiten der Erde von sich zu werfen für die Schätze des Geistes. Und sie geben ein Beispiel damit bis heute. Denn sie sind sich gleichgeblieben in jedem Ägypten, dessen Mißhandlungen sie zu dulden hatten und auf allen Wüsten Wanderungen, zu denen sie gezwungen waren bis auf diesen Tag.
Hier, auf dem Weg von Ägypten ins gelobte Land, mitten in der strahlenden Öde, die so beredsam ist und so belebt von großen Erinnerungen, hier wo ich gleich weit entfernt bin von den Ufern des Nils wie von den Fluren des Jordans, neige ich mich stumm vor dem Gott meiner Väter. Hier bin ich ganz allein mit ihm, wie niemals zuvor. Er war ein Fremdling damals auf Erden, unbekannt, nur wenig geachtet von den Völkern der Welt, von ihren Königen, Feldherren und Priestern. Aber er hat seit jenen Tagen eine ungeheure Karriere gemacht, die so einzig bleibt, wie er selbst einzig ist. Mit dem kleinen Volk, das er aus-erwählt hatte, zog er sich in die Wüste zurück und bereitete den gewaltigsten Umsturz vor, den die Menschheit je erlebt hat. Dieses Volk aber ließ er arm und rechtlos und elend zurück, während er dann zum höchsten Triumph emporstieg.
Doch er bewahrte es vor Untergang, er hielt es lebendig, kraftvoll und jung, indessen so viele andere, größere Völker vom Alter entkräftet hinsanken, starben und verschwanden. Sein Volk hat die Mission, die es in Ägypten, die es vom Sinai herab und hier in der Wüste empfing, weitergetragen in alle Lande. Es ist ein Volk von Umstürzlern und Rebellen geblieben, bis in die Gegenwart, ein halsstarriges Volk. Arm und rechtlos streitet es für die Rechte der Freiheit, kämpft auf allen Schlachtfeldern und Barrikaden wider Pharao und ist nicht erschöpft durch die Ströme Blutes, die es im Lauf der Jahrtausende hingeschüttet hat, nicht gebeugt von den vielen Jochen und Ketten, die es tragen mußte, nicht geschwächt noch entmutigt von den Foltern, mit denen sein Leib wie seine Seele zerrissen wurde.
Waffenlos, hat dieses Volk seine machtvollsten Feinde, die sich Sieger wähnten, immer noch besiegt. Denn in ihm lebt die Idee des ewigen Gottes, in seinem Hirn und Herzen pocht unsterblich die Ewigkeit der Idee.
Der vornehme Herr in Kairo, mit dem ich manchmal sprach, sagte: „Es ist nichts los in Jerusalem.“ Was ich auch ein wenden mochte, wie sehr ich auch in ihn drang, er blieb jedesmal dabei: „In zwei Tagen sind Sie mit diesem Nest fertig, in fünf Tagen mit dem ganzen Land... es ist nichts los in Palästina.“
Er war sehr reich, dieser Herr, er hatte ausgebreitete und offenbar sehr einträgliche Geschäfte, aber er war trotzdem kein großer Kaufmann, denn ihm fehlte die Phantasie, ihm fehlte der Schwung und der Idealismus, ihm fehlte der Tropfen Künstlerblut, den ich immer noch bei großen Kauf leuten gespürt habe. Er war von einer eleganten Glätte, in seinen Manieren ebenso wie in seinem Wesen, doch er besaß keinen Funken Persönlichkeit und war eigentlich ein ganz unbedeutender Mensch. Deshalb sagte er, obwohl er unzähligemal dort geweilt hatte: „Es ist nichts los in Jerusalem.“
In der Folge unterhielt ich mich auch nur noch aus Höflichkeit über diese Dinge mit ihm. Aber hier erst, seit ich in Palästina bin, weiß ich, daß jener Mann zu den Leuten des ancien regime gehört, zu jenen Menschen, deren Engstirnigkeit es überhaupt erst verschuldet, daß ein Regime alt wird und vergeht. Er saß gesättigt, zufrieden und stolz vor den Fleischtöpfen Ägyptens. Sein innigster Seelenwunsch, daß dieser angenehme Zustand ewig dauern möge, hatte sich längst in die feste Überzeugung gewandelt, es werde immer so bleiben. Darum hütete er sich ängstlich, wo anders und nun gar auf dem heiklen Boden Palästinas, neues Leben zu sehen, hatte eine geheime, ihm selbst nicht bewußte Angst, von diesem neuen Leben die geringste Kenntnis zu nehmen. Oh ja, es sitzen überall in der Weit, nicht bloß in Ägypten, satte, zufriedene und stolze Juden vor hochgefüllten Fleischtöpfen, und rühren sich nicht, weil sie, bewußt oder unbewußt, schreckliche Angst vor dem neuen Leben im uralten Lande haben, weil ein dunkler Schreck sie peinigt, sie könnten ihre eigenen Errungenschaften gefährden, wenn sie der Arbeit für die Zukunft zu Hilfe kommen. Sie ahnen nicht, die Armseligen, wie sehr sie schon zum ancien regime gehören, sie ahnen nicht, daß sie nur um so gewisser versinken werden, je hartnäckiger sie sich an ihr gutes Leben klammern, je eigensinniger sie in ihrer Einstellung zur Welt beharren.
Gleich nach dem ersten Tage der Ankunft, habe ich Jerusalem wieder verlassen. Keineswegs weil nichts los war. Die Stadt ist mir zu stark gewesen für den ersten Tag des Anfangs. Ihr Name, dieser uralte heilige Name, brach wie ein Donnerklang in mir aus, jetzt, da er nicht bloß ein Name mehr war, sondern als Wirklichkeit vor mir lag. Dieser Name, der mit dem Brausen großer Orgeln in mir schütterte, verhängte meinen Blick, so daß ich nicht wagte, Jerusalem anzuschauen. Das Rauschen dieses Namens, darin alle Ereignisse der Bibel und der Geschichte wie ungeheuere Katarakte niederstürzten, verscheuchte den Schlaf von meinem Lager. Und am ändern Morgen bin ich fort aus der physischen und seelischen Höhenluft von Jerusalem, bin abwärts gefahren durch die Berge von Judäa, hierher an den Meeresstrand, in die Stadt Tel Awiw, die ganz von Juden erbaut ist, die eine Eroberung vorstellt, mehr noch: eine Leistung.
In den breiten, schnurgeraden Straßen von Tel Awiw lebt das Heute. Kein aufregender Schatten der Vergangenheit, nur der lebendige Puls dieser Gegenwart. Biegt man auf der großen Avenue, die zum Strand führt, in eine der Nebengassen, so winken Häuser aus den Dünen. Ohne Trottoir, ohne rechten Weg stehen sie da, auf dem gelben Sandgrund der vDünen und sind eben erst fertig geworden. Sie sind das Morgen. Und weiter draußen, die vielen anderen Häuser, noch von Gerüsten umkleidet, noch im Bau begriffen, stellen das Übermorgen vor. Diese Stadt, in der es keine Vergangenheit gibt, hat nichts als das Heute, kaum ein Gestern, und sonst nur ein höher und größer anschwellendes Morgen und Übermorgen.
Kaum fünfzehn Jahre sind es her, seit hier die ersten Wohnstätten errichtet wurden, in naher Nachbarschaft der jüdischen Quartiere von Jaffa. Dann muß man vier Jahre des Weltkriegs abrechnen, während welcher Zeit nirgendwo gebaut und überall nur zerstört wurde. Dann aber kam ein Aufschwung, wie er im Orient ohne Beispiel ist, ein Tempo, das oft amerikanisch genannt wurde, das aber solch ein Prestissimo hat, daß man die Stadt buchstäblich wachsen sehen kann, wenn man auch nur ein paar Tage bleibt.
Tel Awiw wird, dereinst einmal, eine schöne Stadt sein, auch architektonisch. Vorläufig merkt man nur, daß die Erbauer der ersten Häuser zu große Eile hatten, um überhaupt nach Schönheit zu streben, oder daß sie die Schönheit in jener Richtung suchten, die man in Wien „Sezession“, in München „Jugendstil“ nennt. Die neuen und neuesten Gebäude zeigen jedoch schon beträchtlichen Fortschritt. Man baut einfache Fassaden, deren Gliederung, deren Loggien und Balkons eine schmucklose, gleichsam natürlich gewachsene Schönheitslinie haben und sich der Küstenlandschaft ruhig einfügen, statt ihr schreiend zu widersprechen.
Jugend ist das Berückende an dieser Stadt. Jugend, Arbeit und ein jugendlich stürmisches Aufstreben. Aus allen Teilen der Erde sind Juden hier zusammengeströmt, aus dem Osten Europas, aus Indien, aus Amerika, aus dem Kapland und aus dem Yemen. Man spricht Englisch, Französisch, Deutsch, Jiddisch, auch Arabisch. Doch alle vereint die offizielle Umgangssprache: das Hebräische.
In den breiten Straßen sausen Automobile, gehen lastentragende Kamele, traben bepackte Esel, und rasche Autobusse besorgen den Verkehr nach Jaffa, das sie in etwa fünf Minuten erreichen. Tel Awiw besitzt Institute, die für ganz Palästina wichtig sind. Das Herzl-Gymnasium in der Herzlstraße gilt als Musteranstalt. Ferner ist eine Handelsschule da und eine Musikschule und außerdem eine landwirtschaftlich gerichtete zoologische Versuchsstation. Jetzt noch ein wenig außerhalb der Stadt, aber bald von ihr erreicht und umschlossen, liegt das Ruttenbergsche Elektrizitätskraftwerk. Das Turbinengebäude ebenso wie das Beamtenhaus sind von monumentaler Schönheit. Ein paar Jahre hat die nahe Nachbarstadt Jaffa von dem jüdischen elektrischen Licht nichts wissen wollen, dann aber die ablehnende Haltung aufgegeben, und jetzt wird die Leitung, die Jaffa mit Licht wie mit Kraft für eine Straßenbahn versieht, fertiggestellt. Man arbeitet eben daran, während ich hier bin.
Dieser Vorgang im Kleinen darf wohl für die ganze Entwicklung im Großen gedeutet werden. Die arabische Bevölkerung wird sich einige Jahre der Elektrizität, mit der das Land von den Juden bildlich und wirklich durchströmt und durchzuckt ist, ablehnend gegenüberstellen. Doch der Tag muß kommen, da sich auch die Araber der gemeinsamen Leitung anschließen, da sie sich der Kraft wie des Lichtes gerne bedienen, die von der jüdischen Aufbaubewegung ausgeht.
Inzwischen gibt es noch trennende Gegensätze, Abneigung, ja sogar Feindseligkeiten auf beiden Seiten genug. Man sieht freilich Araber in den Straßen Tel Awiws; man sieht gruppenweise katholische Nonnen und Geistliche hier spazieren gehen und die Judenstadt betrachten, die so grundverschieden ist von den „Judenstädten“ im alten Europa. Sie schlendern hier umher und sehen die schönen Parks, sehen die Kinder-gärten, darinnen die Kleinen und ihre Pflegerinnen hebräische Lieder singen, sehen die Jungens auf freien Plätzen vor den Schulen ihre Turnübungen vollführen, in ausgezeichneter Disziplin, trotzdem die Lehrer in ihrem Verhalten zu den Kindern ganz kameradschaftlich sind. Sie sehen den fleißigen Betrieb in den Werkstätten, die Ordnung in allen Häusern und in allen Straßen. Es blitzt und blankt hier vor Sauberkeit, wie in irgendeiner Stadt Skandinaviens und nicht wie an der Südostküste des Mittelländischen Meeres. Das Staunen dieser Menschen ist ein Irrtum. Denn weil Juden so rein, so ordentlich, so einfach fleißig sind, staunen sie, statt sich beschämt zu wundern, was Gehässigkeit, grausame Unterdrückung in Europa aus diesem Volk gemacht haben, das man viele Jahrhunderte lang in Wohnstätten gepfercht hielt, die für das Vieh zu schlecht wären, dem man alle Rechte nahm, sogar das Recht auf Arbeit.
Tel Awiw hat natürlich alle Rechte. Auch das Recht der autonomen Verwaltung. Und vom Bürgermeister an bis zum letzten Lastträger ist in diesen Mauern alles jüdisch. Die Polizisten, die Elektrizitätsmaschinisten, die Arbeiter am Wasserdienst. Alles. Selbstverständlich kann die Permanenz solcher Funktionen nie gestört und nie unterbrochen werden, auch nicht durch den Sabbath. Daß vom Freitag abend bis zum Samstag abend Christen oder Mohammedaner an die Stelle der sabbathfeiernden Juden treten, ist ein Ghettobrauch gewesen. Er muß hier, wo es kein Ghetto mehr gibt, auch keines im Geiste oder in der Seele, notwendig verschwinden. Und so wie hier am Sabbath jede Arbeit ruht, die Ruhepausen verträgt, so tun alle ihren Dienst, der keine Unterbrechung duldet: die Polizei, die Männer, die an der Elektrizität, am Wasserwerk oder am Verkehr beschäftigt sind. Auch während des Sabbaths. Das lebendige Leben ist hier wieder einmal stärker gewesen als das starre Gebot. Ja, es ist in Palästina auf allen Wegen stärker.
Am Purimfest wogt eine nach Tausenden zählende Menschenmenge durch die Straßen. Denn Tel Awiw hat schon über dreißigtausend Einwohner. Geputzte Kinder, geschmückte junge Mädchen, festlich gekleidete Jünglinge. Und der Flirt blüht. Man tanzt beim Fünfuhr-Tee zum Spiel einer kleinen Salonkapelle in dem hübschen Kasino am Meeresstrand Foxtrott und Shimmy. Man wird am Abend ein paar Bälle haben und Purimspiele. Sogar Araber sind aus Jaffa herübergekommen, um sich hier mit all den anderen zu vergnügen. Nachdem die Sonne herrlich ins Meer gesunken ist, strahlt die ganze Stadt im Lichtglanz der elektrischen Bogenlampen und Glühbirnen. Musik, Gesang, Lachen und Freude überall in der Menge, die unter diesem milden Himmel sich ergeht, die überströmt ist von der salzigen Luft des Meeres und von dem betäubenden Duft der Orangenblüte, der aus den großen Gärten der Umgebung herüberweht. Aber mitten in der Nacht knallt ein Schuß, kaum gehört im Festklang, der die Straßen erfüllt, und ein Jüngling liegt tot auf dem Pflaster. Es gibt nur eine einzige Meinung darüber: Araber! Niemand weiß, ob das ein momentaner Streit gewesen ist, oder das letzte Kapitel einer langen persönlichen Feindschaft, oder ob der junge Mensch einem planmäßigen Terrorakt als zufälliges Opfer fiel.
Tragödie des Anfangs.
Tage in Jaffa. Immer komme ich von Tel Awiw hierher, den Weg, auf dem die alte Stadt landeinwärts von ihrem Felsen steigt, um sich in Parks, in Boulevards, deren Mitte Gartenanlagen schmücken, zu erneuern. Aber der Eindruck Geschäftsviertel, Quartier der Spediteure, dieser vorstädtische, kleinstädtische Eindruck bleibt auch hier, im jungen Teil von Jaffa, trotz der Versuche zur Eleganz, trotz der Anläufe zu festlicher Geschmücktheit. Diese Anläufe sind, wie fast überall im Süden und besonders im Orient, bald schlapp geworden, muten an, wie verstaubt und vergessen, und stimmen eher traurig als festlich. Sie können meist nur den einzelnen Tag, meist nur die gegenwärtige Stunde feiern, die Kinder der südlichen Sonne. Dann flammt die Festlichkeit in ihren Städten auf als ein herrlicher Brand von Farben und Pracht, dann tritt die wildkühne Phantasie, tritt das Märchen lebendig geworden in die Wirklichkeit, die davon wunderbar erglüht und bis ins Zügellose berauscht wird. Die Menschen sind dann wie außer sich geraten. Es ist unmöglich, sich dieser Glut und diesem Rausch zu entziehen. Man wird hingerissen, wie man nur in die Nähe eines solchen Taifuns freudig erregter Volksleidenschaft. gelangt.
Jetzt aber ist Alltag in Jaffa. Unaufhörlich durchwandern die langen Züge von Kamelen, eines hinter dem anderen, die Straßen und bringen die Orangenernte an den Hafen.
Merkwürdig sind die Tiere in ihrer Häßlichkeit, die etwas aristokratisches hat. Den kleinen Kopf auf gebogenem Hals wiegend, gehen sie einher, lassen die lange, vorgespitzte Unterlippe wie im Ekel schlaff herabhängen, blicken mit ihren schönen, dichtbewimperten Augen hochmütig auf die Menschen rings um sich, von denen sie unterjocht sind und an denen sie sich durch eine offen zur Schau getragene, grenzenlose Verachtung zu rächen scheinen. Sie spucken auch auf alles, leicht und zielsicher, und man hält sie deshalb für boshaft, denn sie spucken meist, wenn man glauben könnte, daß sie sich ärgern. Aber sie tun es ganz verächtlich, sie spucken so erledigend, wie nur jemand, der seinen Ärger schon überwunden hat und damit fertig ist. Sie murren auch und brüllen. Beständig murren sie, grollen, brummen oder brüllen laut. Das habe ich vor zwanzig Jahren und jetzt wieder in Assuan bemerkt, in Luxor, in Komombo, in Heluan, und überall, wo man auf Kamelen reitet. Sie brüllen, wenn von ihnen verlangt wird, sie sollen sich hinlegen, damit man in den Sattel steigen kann. Und sie brüllen schrecklich, wenn sie aufstehen sollen. Unterwegs murren und maulen sie beständig und das hört sich an wie eine fortwährende Drohung, wie eine erregte Folge wüster Beschimpfungen. Ihr Gebrüll aber klingt wie das Brüllen wilder Tiere, die knapp vor dem Rasendwerden sind. Man erwartet jede Sekunde irgend einen furchtbaren Ausbruch, einen tobenden Angriff, der zerstören und töten will. Aber es folgt gar nichts. Diese Tiere schleppen geduldig und brav die schwersten Lasten, tragen Menschen auf ihrem Höcker, gehen so lang man will, legen sich gehorsam nieder, stehen gehorsam auf, so oft es gefordert wird, und erfüllen das, was der Mensch ihre Pflicht nennt, viel restloser als die meisten Menschen ihre Pflichten erfüllen. Es ist bei ihnen nur, wie bei manchen alten Dienern, die treu sind, opferwillig, unermüdlich, die es aber nicht lassen können, laut zu denken, ihren Herrn zu bekritteln und alles herauszusagen, alles vor sich hinzubrummen, was ihnen so durch den Kopf geht. Mir erschienen ihre Monologe interessant und schön. Ihre Stimme hat so viele eindringliche Modulationen und ihre Sprache ist so reich an Ausdruck und so beredsam, wie nur die Sprache irgendeines anderen Orientalen. Oft glaubte ich, sie zu verstehen, wenn sie ausrufen: „Was ist nur das wieder für eine gottverdammte Narrheit!“, glaubte, es zu hören, wenn sie knurren: „Hol’s der Teufel, ich stell’ mich gar nicht her, mit so einem Idioten streiten“, meinte sie zu verstehen, wenn sie vor sich hingrollend sagen: „Soll er schon seinen Willen haben, der Arme, der Geplagte, der Unglückliche, er ist ja doch hilflos, wenn nicht ich ihm beistehe.“ Und es ist mir immer ein großes Vergnügen, mich in ihrer Nähe aufzuhalten, ein Stück Weges mit ihnen zu gehen, um ihnen zu lauschen.
In den Städten jedoch, oder auf Landstraßen werden sie, wie die Pferde, manchmal scheu, wenn sie Autos mit knatternden Motoren begegnen. Entsetzt steigen sie kurz in die Hinterbeine, spucken, knurren, brüllen und stieben mit herausquellenden Augen in ihrem schlenkernden Paßgalopp querfeldein. Ja, das eiserne Tier, das mit eiserner Stimme gleichfalls beständig murrt und schnaubt, flößt ihnen Grauen ein. Sie erkennen ihren Todfeind oder sie ahnen ihren Befreier.
Jetzt gehen sie ruhig ans Meer. Ich folge ihnen durch den Trubel der unteren Stadt, höre ihre Selbstgespräche mit an, und ehe ich mich dessen versehe, bin ich am Hafen. Kann aber die Uferzeile von Jaffa wirklich ein Hafen genannt werden? Eine Landungsstelle ist hier freilich seit tausenden von Jahren, seit die Phöniker mit ihren Schiffen von hier aus in See stachen. Ganz offen liegt die Reede von Jaffa, ganz preisgegeben dem Sturm und der Brandung. Ein Ring von Klippen und Riffen sperrt die Zufahrt, so daß die Dampfer weit draußen vor Anker gehen müssen. Ihre Fracht und ihre Passagiere werden vom Bord in kleine Boote gelassen und diese Boote rudern einen Kilometer, anderthalb Kilometer bis sie ans Ufer gelangen. Wenn das Meer oder der Sturm hohe Wellen wirft, ist es ganz unmöglich, an den Felsklippen vorbeizukommen, und es ist selbst bei bloß unruhiger See ein schweres, mitunter ein gefährliches Beginnen. Vielen Leuten ist das Ausgebootetwerden vor Jaffa weit schlimmer als die lange Schiffsreise. Manche wären beinahe ertrunken, wie der Kaiser Franz Joseph, der auf seinem Weg nach Jerusalem hier landete. Dieser „Hafen“ ist noch genau so unangenehm, wie er zur Zeit der Kreuzzüge war und vorher, bis zurück in die graue Vorzeit. Trotzdem ist er ein belebter Platz für den Handel des Landes. Die herrliche Orange, die in Palästina wächst, die fast so groß ist, wie eine Ananas, die dicke Schalen hat, wenig oder gar keine Kerne, voll süßesten Saftes ist und zartduftenden Fruchtfleisches, und von der die englischen Ärzte herausbekommen haben, daß ihr Genuß der Grippe vorbeugt, heißt überall in der Welt Jaffa-Orange nach dem Hafen, von dem aus sie exportiert wird. Während ich hier bin, scheint es überhaupt nur Orangen zu geben. Jeden Tag trampeln von Früh bis Abend die langen Züge der Kamele durch die Stadt zum Hafen, beladen mit den netten, weißen Kisten, die voll Orangen sind. Sie kommen aus den Plantagen der Umgebung, kommen vom Bahnhof und schleppen abertausende solcher Kisten an den Uferkai, wo Boot nach Boot damit bepackt, abstößt und sacht hinausfährt zu dem großen Dampfer, der draußen liegt.
Es wimmelt und kribbelt in Jaffa von Leben, von einer kleingewerbetreibenden Geschäftigkeit. In allen Straßen und Gäßchen, in allen Basaren wühlt und wirbelt die Fülle der Gestalten stadtauf und stadtab. Einem Ameisenhaufen gleicht dieses Jaffa, das auf einem Hügel dicht am Meer erbaut ist, auf einem Kogel, der vereinzelt aus der Strandebene ragt, auf einem Gupf, der über und über bekrochen ist von Hütten und Häusern, von Moscheen und Klöstern. Nichts fordert so sehr zum Müßiggang heraus, wie das fleißige Getriebe einer fremden Stadt, in der man nur ein paar Tage zubringt. Nichts reizt so sehr zum Ausruhen als das Toben einer fremden Arbeit, in deren Lärmkreis man plötzlich für kurze Zeit eintritt.
So sitze ich denn behaglich auf der Terrasse eines kleinen arabischen Kaffeehauses, dicht am Ufer. Man kann nichts von all den Dingen, die dem Gast hier geboten werden, genießen. Kaum den Mokka, der nicht eben nach Mokka duftet. Denn es ist eine Schenke für Hafenarbeiter und Ruderknechte. Aber weil es eine Schenke für Moslims ist, wo es keinen Schnaps und sonstigen Alkohol gibt, geht es auch ohne jede Besoffenheit zu, ganz still, sehr anständig und überaus manierlich. Es ist prächtig, hier zu sitzen, Zigaretten zu rauchen und in die Sonne zu schauen. Diese Terrasse bildet den Rest einer alten Festungszinne. Irgend ein Vorwerk, ganz am Strand errichtet, hatte die niedrige, dicke Mauer hier, die einen Wehrgang trug. Jetzt trägt sie die Tischchen und die Stühle eines Kaffeesieders. Von der Seeseite lecken die Wellen an den alten, weiß grauen Quadern, und vom Land her spült das Wogen des arbeitsamen Alltagsleben mancherlei Hausierer, Bettler und andere seltsame Gestalten hier herauf.
Ich blicke behaglich rund umher, schaue auch mal zu Boden vor mich hin und plötzlich fällt es mir ein, wie viel Blut diese Steine da unter mir schon getrunken haben mögen. Gegen diese Mauer da stürmten die Kreuzfahrer in ihrer großen, aber wenig geistvollen Begeisterung, hier stürmten, viele Jahrhunderte später, die Soldaten Napoleons, in einem Enthusiasmus, der nicht viel klüger war. Immerfort ist im Lauf der Zeiten um Jaffa gestritten worden. Die Phöniker besaßen die Stadt, die Ägypter sind da Herren gewesen, Jonathan eroberte sie den Juden, denen sie erst Pompejus entriß und denen sie Julius Cäsar wieder zurückgab. Vespasianus hat die Stadt zerstört. Sie erhob sich wieder. Dann hat Beibars, der in Ägypten Sultan war, Jaffa dem Erdboden gleichgemacht und wiederum entstand es langsam. Bis in dunkle Urzeit reicht die Erinnerung an Kampf und Krieg zurück.