Aschenjunge

ASCHENJUNGE

SYLT -THRILLER

DANIELA ARNOLD

INHALT

Über das Buch

Prolog

1. Hamburg

2. Hamburg

3. Hamburg

4. Sylt

5. Hamburg

6. Sylt

7. Hamburg

8. Sylt

9. Hamburg

10. Sylt

11. Hamburg

12. Sylt

13. Hamburg

14. Sylt

15. Hamburg

16. Sylt

17. Hamburg

18. Sylt

19. Amrum/Sylt

20. Sylt, Hamburg, Amrum

Epilog

Danksagungen

Leseproben

Knochenmädchen

Über das Buch

Prolog

Skärsgarden,Turku

Über die Autorin

Für meine Familie und Freunde …

ÜBER DAS BUCH

Marlenes Mann und ihr kleiner Sohn verschwanden vor drei Jahren spurlos von der Insel Sylt. Laut Polizei seien beide auf tragische Weise ertrunken. Doch plötzlich häufen sich bedrohliche Vorfälle, die Marlene ängstigen und zutiefst verstören. Bildet sie sich alles nur ein oder wird sie tatsächlich seit langem beobachtet und sogar verfolgt? Hat sich wirklich jemand Zutritt zu ihrem Haus verschafft? Sie beginnt zu zweifeln. Ist es möglich, dass damals alles ganz anders war? Wurde ihre Familie von einem Wahnsinnigen entführt, vielleicht sogar ermordet? Ist der Täter von damals jetzt ihr auf den Fersen? Oder könnte es sein, dass beide noch am Leben sind und jemand ein perfides und grausames Spiel mit ihr treibt? Als in einem Hamburger Waldgebiet die abgetrennte Hand eines Mannes gefunden wird, beginnt für die ehemalige Staatsanwältin ein erbitterter Wettlauf gegen die Zeit.

PROLOG

2013

»Was haben Sie denn hier zu suchen?« Die alte Dame sah mich mit zur Seite geneigtem Kopf an und runzelte die Stirn.

Schnell ließ ich die Seitenscheibe ganz hinunter, setzte mein arglosestes Lächeln auf. »Ich warte auf jemanden«, erklärte ich und wies, ohne groß darüber nachzudenken, mit dem Kopf auf die pompöse Villa schräg gegenüber, in der im Obergeschoss gerade das Licht gelöscht worden war. Dann zwinkerte ich der Frau freundlich zu. »Wünschen Sie mir Glück, das Treffen heute Abend soll für mich so etwas wie ein Neuanfang werden.«

Sie legte den Kopf schief, stieß die Luft aus. »Mit den Leuten hab ich nicht viel am Hut«, gab sie schließlich zu meiner grenzenlosen Erleichterung zu. »Genauso wenig wie die übrige Nachbarschaft.« Sie suchte nach Worten, schien währenddessen zu überlegen, in welche Kategorie Mensch sie mich einordnen sollte. Ich half ihr dabei, indem ich meinen hilflosesten und unterwürfigsten Gesichtsausdruck auflegte, den ich auf die Schnelle hinbekam.

Es klappte, denn die Frau lächelte mir ermutigend zu. »Ich mag die Dührings ja nicht besonders. Die sind alle ziemlich abgehoben und arrogant, sogar das Grüßen ist denen schon zu viel.«

Ich sah sie mit einem Blick an, von dem ich hoffte, dass er eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Entrüstung wiedergab, und nickte seufzend. »Wem sagen Sie das. Ich muss mit dem Mann zusammenarbeiten, das ist auch nicht das Wahre.«

Die Frau grinste verschmitzt. »Wie hat mein Herbert – Gott hab ihn selig – immer gesagt … wer hoch sitzt, fällt tief. Ich denke, wir können es abwarten, bis diese Leute vom Karmablitz getroffen werden.«

Sie zwinkerte ein letztes Mal, dann drehte sie sich um und ging davon. Meine Finger zitterten, als ich den Knopf für die Seitenscheibe betätigte. Alles in mir sehnte sich nach einer Zigarette, dabei hatte ich diese unschöne Angewohnheit bereits kurz nach meinem Studium aufgegeben. Ich atmete tief durch, stellte das Radio an, drehte die Lautstärke auf hörbar, aber leise und lehnte den Kopf zurück. Dann rutschte ich vorsichtshalber so tief in meinem Sitz hinunter, dass man mich nicht auf Anhieb hinter dem Lenkrad sitzen sehen würde, wenn man flüchtig aus dem Fenster eines der umliegenden Häuser sah oder außen am Wagen vorbeiging. Meine Glieder wurden schwer, als ein langsamer 90er-Jahre-Song das Innere des Wagens ausfüllte. Der Text erinnerte mich an glücklichere Tage. Damals war nichts anderes wichtig gewesen, als jeden einzelnen Tag mit Dingen wie Ausgehen, Tanzen oder Treffen mit Freunden auszufüllen. Keine Verpflichtungen. Kein Druck. Keine feste Beziehung.

Damals zählten weder das Gestern noch das Morgen, man lebte im Hier und Jetzt, die einzige Herausforderung bestand darin, den Spaßfaktor des Tages davor noch irgendwie zu übertrumpfen.

Es mochte Menschen geben, die es hinbekamen, sich die Leichtigkeit dieser Zeit ein Leben lang zu bewahren, doch ich gehörte leider nicht dazu. Mein Leben war weder leicht noch besonders glückselig, was vor allem daran lag, dass ich im Gegensatz zu anderen stets um alles hatte kämpfen müssen. Mir war noch nie etwas einfach in den Schoß geflogen, geschweige denn geschenkt worden.

Ein Gedanke durchfuhr mein Innerstes, als ich an den Menschen dachte, vor dessen Haus ich in etwa zehn Metern Abstand entfernt in einem geliehenen Wagen mit geklautem Nummernschild saß und darauf wartete, dass er endlich herauskam. Alles in mir verlangte danach, ihn zu packen und ihm richtig wehzutun. Ihm ein bisschen von dem zurückzugeben, was er mir angetan hatte. Ein bitteres Lachen entrang sich meiner Kehle. Was, bitte schön, fantasierte ich mir denn da zusammen? Ihm ein bisschen was zurückgeben? War ich hergekommen, um ihm eine Rüge zu erteilen? Ihm einen Klaps auf die Finger zu verpassen, weil er mir etwas weggenommen hatte, das nicht ihm gehörte?

Doch war »gehören« tatsächlich der richtige Ausdruck dafür?

Ich spürte, wie sich mein Hals verengte, schluckte gegen die Beklemmung an. Fest stand, dass dieses Arschloch für all den Schmerz verantwortlich war, den auszuhalten in den letzten Monaten mein täglich Brot gewesen war.

Und dafür würde er verdammt noch mal bezahlen müssen!

Der Kerl hatte am Fundament meines Lebens gerüttelt, es dazu gebracht, instabil zu werden, und schlussendlich dafür gesorgt, dass auch das Gerüst einstürzte. Er hatte mir alles genommen, das mir immer lieb und heilig gewesen war.

Meine Liebe, mein Vertrauen, meine Lebensfreude. Zurück blieb eine erbärmliche menschliche Hülle, ausgefüllt mit Selbstzweifeln, Verlustängsten und dem Wissen, versagt zu haben.

Und genau deswegen war heute Zahltag! Und ich war bereit, diesen Kerl einen sehr hohen Preis dafür bezahlen zu lassen, was er mir angetan hatte.

Die Frage war nur, ob ich schon lange vorher etwas hätte tun sollen? Quasi, als die Kacke noch nicht am Dampfen war und der Zeiger meiner Lebensuhr noch nicht auf fünf vor zwölf gestanden hatte? Hätte es Sinn gemacht, um mein Glück zu kämpfen, mich IHM entgegenzustellen, ihm zu entreißen, was er mir genommen hatte?

Meine Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt, meine Zunge klebte wie ein trockener Lappen am Gaumen fest. Ich könnte mich ohrfeigen, weil ich nicht daran gedacht hatte, mir etwas zu trinken mitzunehmen, denn eines wurde mir plötzlich klar – ich würde mich keinen Millimeter hier wegbewegen. Nicht bevor ich mich diesem Kerl entgegengestellt und ihn in seine Schranken verwiesen hatte.

Allerdings … Mein Blick fiel auf das Haus, in dem er wohnte. Wobei Haus nicht wirklich das Wort war, mit dem man diesen Prunkbau bezeichnen konnte. Es handelte sich um eine Villa im Jugendstil, umgeben von einem hübschen Garten. Bestimmt war er einer von den Typen, die einen Whirlpool im Wintergarten oder auf der Terrasse stehen hatten und denen es egal war, wie teuer die verdammte Stromnachzahlung sein würde, die im nächsten Frühjahr ins Haus flatterte. Nein, dieser Mann war keiner, der sich mal eben aufhalten ließ. Er war einer von der Sorte, die sich nahmen, was sie wollten, ohne Rücksicht auf Verluste, notfalls selbst Leichen am Wegesrand in Kauf nahmen. Zorn wallte in mir auf, als mir bewusst wurde, dass auch ich lediglich eine seiner Leichen am Wegesrand darstellte, und ER hingegen all das hatte, wonach ich mich sehnte. Ein toller Job mit der Chance, ganz nach oben zu kommen, ein Haufen Geld sowie die damit verbundene finanzielle Sicherheit und zu guter Letzt auch noch … Mein Herz überschlug sich beinahe, als plötzlich das Garagentor aufschwang und sein schwarzer BMW herausfuhr. Blitzschnell startete ich meinen Wagen, wartete, bis er in seiner Bonzenkarre um die Ecke gefahren war, dann folgte ich ihm. Als der BMW aus dem Wohngebiet in die Hauptstraße einbog und langsamer wurde statt schneller, stutzte ich. Hatte er mich bemerkt? Oder telefonierte er einfach nur und hatte deswegen sein Tempo verlangsamt?

Um nicht aufzufallen, fuhr ich in der vorgegebenen Geschwindigkeit an ihm vorbei, beobachtete ihn jedoch durch den Rückspiegel, um ihn nur ja nicht aus den Augen zu verlieren.

Da! Endlich … Er beschleunigte, schoss an mir mit Tempo achtzig vorbei, obwohl nur sechzig erlaubt war, sodass ich meine liebe Not hatte, ihn einzuholen, ohne geblitzt zu werden. Denn in Situationen wie diesen waren es ebenfalls stets diese Scheißkerle, die davonkamen.

Genau wie die Raser selbst fast immer überlebten, während ihre unschuldigen Opfer starben.

Heute nicht, schoss es mir durch den Kopf, als ich in gehörigem Abstand zu dem BMW die Ausfahrt nahm und ihm auf die Landstraße in Richtung Süden folgte.

Als mein Handy auf dem Beifahrersitz zu plingen begann, griff ich danach, warf einen Blick aufs Display. Mein gesamter Körper versteifte sich, als ich die Nachricht las, dann begann es, in meinen Ohren zu rauschen. Am allerschlimmsten empfand ich in diesem Augenblick diese absolute Hilflosigkeit. Das Gefühl, nichts tun zu können und einem Monster wie ihm vollkommen ausgeliefert zu sein, war einfach übermächtig. Wie sehr ich diesen Menschen doch hasste … Abgrundtief und mit jeder Zelle meines Körpers! Der Zorn umspülte mich wie eine heftige Welle, riss mich mit sich fort, füllte mein Innerstes aus. Ich konnte absolut nichts dagegen tun, als mein Fuß plötzlich das Gaspedal voll durchtrat und auf den vor mir fahrenden BMW zuschoss. Ich hielt die Luft an, als ich näher und immer näher kam und schließlich ganz knapp vor seinem Rücklicht auf die Bremse trat und meinen Wagen zurückfallen ließ. Ein Kichern entfuhr mir, als ich das Schlenkern seiner Karre bemerkte und die Mühe, die er hatte, das Auto unter Kontrolle zu halten. Er hatte meine Aktion also bemerkt und war gerade damit beschäftigt, nicht die Nerven zu verlieren. Gut so!

Ich wiederholte das Spiel, musste mir das Lachen verkneifen, als mir klar wurde, dass der Kerl wahrscheinlich alle Hände voll zu tun hatte, sich nicht die Hosen vollzuscheißen.

Ich bemerkte, dass der BMW an Tempo zulegte, mir davonfahren wollte, und trat erneut aufs Gas. Sicher, seine Karre war das noblere Geschoss. Schwarz, mit getönten Scheiben, edel und robust, doch wenn es drauf ankam, würde der Turbo unter der Motorhaube des GTI seinen um Längen schlagen.

Als ich den BMW eingeholt hatte, begann ich das Spiel von vorn. Inzwischen stand mein gesamter Körper unter Strom. Ich war angespannt, meine Haut wie elektrisiert. Ich donnerte nach vorne, schoss auf sein Heck zu, bremste, fiel zurück, wiederholte das Ganze ein paar Mal. Nach einigen Sekunden wusste ich, dass ich ihn nun genau da hatte, wo ich ihn haben wollte. Der Wagen vor mir schlenkerte stark, was mir zeigte, dass seine Nerven längst blank lagen. Er wusste nicht, wer ich war und was ich von ihm wollte. Aber ihm war klar, dass meine Aktion allein seiner Person galt und dass er gerade live dabei war, wie ihm jemand den Arsch bis zur Krempe aufriss. Ihm einmal klarmachte, dass es auch anders ging, dass auch in ihm noch so etwas wie Angst vorhanden war, die in genau diesem Augenblick durch seinen Überlebensinstinkt an die Oberfläche katapultiert wurde. Der Scheißkerl fuhr inzwischen so schnell, dass er Mühe hatte, den Wagen auf der Straße zu halten. Mir war klar, dass er nebenbei versuchen würde, die Bullen zu rufen und sich mein Kennzeichen zu merken, damit er mich anzeigen konnte, doch dem hatte ich entgegengewirkt. Inzwischen waren wir so weit auf dem Land draußen, dass ich die Polizei, sollte sie sich uns nähern, rechtzeitig bemerken würde, um mich vom Acker zu machen. Doch vorerst würde ich den Spaß auf die Spitze treiben oder es zumindest versuchen. Ein Auto kam uns entgegen, deswegen verlangsamte ich mein Tempo, wartete, bis die Lichter des Wagens im Rückspiegel kleiner wurden. Dann schoss ich wieder nach vorn. Ich fuhr so weit auf, dass ich das Heck seines BMW um Haaresbreite berührte, doch so sehr er sich auch anstrengte, er schaffte es einfach nicht, so schnell zu werden, dass er mich dauerhaft abhängen, geschweige denn mir davonfahren konnte.

Das Unfassbare geschah, als ich mich gerade zwei bis drei Wagenlängen hinter ihm befand.

In seiner Panik hatte er wohl am Ende vollkommen die Kontrolle verloren, denn der BMW schlingerte extrem und brach schließlich zur Seite aus. Ich wurde langsamer, beobachtete, wie er von der Straße abkam, sich mehrmals überschlug und schließlich mit voller Wucht gegen einen Baum knallte.

Ich sog den Atem scharf ein, blieb stehen. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb. Mir war klar, dass der Kerl diesen Unfall keinesfalls unbeschadet überstehen würde. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war er verletzt, wenn nicht gar schwer verletzt. In meinem Kopf überschlug sich alles. Ich hatte mein Kennzeichen gegen ein geklautes ausgetauscht und mir den Wagen mithilfe einer Ausrede von einem Bekannten geliehen. Keiner würde das Auto mit mir in Verbindung bringen – ich war also aus dem Schneider.

Ich fragte mich, wie es meinem Widersacher im Innern des vollkommen ramponierten BMW wohl gerade ging und schluckte. Kurz überlegte ich, Hilfe zu rufen, dann ließ ich es. Wozu ein unnötiges Risiko eingehen? Der Drecksack hatte bekommen, was er verdiente. Doch was, wenn er tot war? Was, wenn ich mit dieser Aktion tatsächlich den Tod eines Menschen zu verantworten hatte? Ich horchte in mich hinein. Konnte ich damit leben?

Die Antwort war so simpel wie einfach.

Ja, das konnte ich, denn jetzt war endlich ich mal an der Reihe. Ich würde mir zurückholen, was mir zustand, würde mir nie wieder etwas wegnehmen lassen!

Hitze durchfuhr meinen Körper. Es fühlte sich an wie ein inneres Brennen. Leicht schmerzhaft, aber keinesfalls unangenehm. War das Euphorie? Innerer Frieden? Seligkeit? Falls ja, wusste ich schon jetzt, dass ich niemals genug davon bekommen würde.

Ich schloss die Augen für einen Moment, versuchte, in Worte zu fassen, was genau sich gerade jetzt in meinem Innern abspielte.

Dort, wo eigentlich Reue sein sollte, war nur Genugtuung. Statt Schuldgefühlen empfand ich grenzenlose Erleichterung und … Freude.

Doch war ich deswegen ein schlechterer Mensch?

Ich betrachtete mein Gesicht im Rückspiegel, schüttelte langsam den Kopf.

Nein, ich hatte nur einfach die Schnauze voll davon, ständig den Fußabtreter für irgendwelche Idioten zu spielen, die meinten, sie könnten auf mir herumtrampeln. Damit war jetzt Schluss, und zwar ein für alle Mal. Ab sofort würde ich allen mein wahres Ich zeigen – weil es sich einfach besser anfühlte, rauszulassen, was sich im Innern der Seele angestaut hatte. Nach einem letzten Blick auf das Unfallfahrzeug startete ich entschlossen den Wagen und fuhr davon.

1

HAMBURG

FEBRUAR 2015

»Wie weit bist du?«

Sandra sah vom Bildschirm auf, musterte ihren Kollegen. Hauptkommissar Mattis Wildbach sah aus, als hätte er es heute Morgen mal wieder nicht geschafft, seinem Badezimmer eine Stippvisite abzustatten. Seine Haare standen kreuz und quer vom Kopf ab, aus seinem Dreitage- war ein mindestens Siebentagebart geworden und auch ansonsten wirkte ihr Kollege, als habe er sich die letzte Nacht fernab von seinem Bett um die Ohren geschlagen.

Sie grinste ihn an. »Lädst du mich zum Essen ein?«

Er hob die Schultern, nickte dann. »Klar, aber nur, wenn du jetzt alles stehen und liegen lässt, ich hab nämlich einen Bärenhunger.«

Sie grinste noch breiter und konnte sich lebhaft vorstellen, welch gähnende Leere in seinem Kühlschrank herrschte oder in dem der Dame, bei der er genächtigt hatte.

Sie stand auf, ging an ihm vorbei in den Gang hinaus. »Wer war diesmal die Glückliche?«, fragte sie und warf ihm über die Schulter einen Blick zu, musterte ihn kurz.

Er verzog das Gesicht, was bedeutete, dass er keine Ahnung hatte. Seit seine Frau ihn vor einem knappen Jahr von einem auf den anderen Tag verlassen hatte, blöderweise auch noch wegen eines anderen Mannes, war Mattis quasi auf einem Ego-Trip, um sein durch die Trennung angeknackstes Selbstbewusstsein aufzupolieren.

Dabei hatte er das gar nicht nötig. Mattis war zwar weiß Gott kein Modeltyp, sondern eher eine Art Russell-Crowe-Verschnitt, mit einigen Kilos zu viel auf den Rippen und einem Gesicht, auf dem die Jahre durchaus ihre Spuren hinterlassen hatten, und dennoch schaffte er es immer wieder, die Damenwelt um den Finger zu wickeln, was zum Teil auch daran lag, dass er sowohl Charme als auch Charisma besaß.

»Ich hab Lust auf was Süßes … wär das okay für dich?«, wollte er wissen.

Sandra nickte.

Gemeinsam stiegen sie in den Aufzug, machten sich auf den Weg zum Bäcker um die Ecke, stellten sich in die Schlange. Vor ihnen warteten noch vier Leute und Sandra grinste, als sie bemerkte, wie unruhig Mattis wurde, weil von seinem Lieblingskuchen nur noch drei Stücke in der Auslage warteten.

Als sie endlich an der Reihe waren, orderte er die beiden verbliebenen Kirschecken, bestellte dazu noch einen Bienenstich für sie und zwei belegte Käsebrötchen, reichte der Kassiererin einen Schein über die Theke, grinste verschmitzt. Als Sandra bemerkte, dass die Wangen der korpulenten jungen Frau tiefrot anliefen, rollte sie mit den Augen.

Es war einfach unglaublich, was für eine Wirkung dieser Mann bei den Frauen hatte und trotzdem darauf angewiesen war, sich immer mehr Bestätigung zu holen. Wenn das das Ergebnis einer Trennung war, dachte Sandra, dann tat sie selbst gut daran, Männer bis auf Weiteres außen vor zu lassen und sich einzig und allein um sich selbst und ihre Karriere zu kümmern. Natürlich gab es auch bei Sandra einsame Momente, in denen sie sich nach einem Partner sehnte, doch war sie einfach nicht bereit, sich selbst oder ihre Interessen und Vorlieben für einen Mann aufzugeben, geschweige denn sich zu verbiegen oder am Ende wie ein geprügelter Hund aus einer gescheiterten Beziehung hervorzugehen.

Was sie wollte, war, in Frieden leben, ihre Freundinnen treffen, verreisen und richtig gut in ihrem Job sein, nach oben kommen.

Deswegen hatte sie sich auch dafür entschieden, als Mattis letzter Partner in den Vorruhestand gegangen war, sich für diesen Posten zu bewerben, obwohl allgemein bekannt war, wie schwierig Mattis als Kollege im Umgang sein konnte. Er hatte ein überschäumendes Temperament, wurde gerne auch mal laut, vergriff sich hin und wieder sogar im Ton – und war zu allem Überfluss auch noch ziemlich verbohrt, was seine Ermittlungsstrategien anging.

Auch Sandra hatte bereits das zweifelhafte Vergnügen gehabt, bei ihrem Kollegen in Ungnade zu fallen, und den ein oder anderen harschen Spruch an den Kopf geknallt bekommen. Doch anders als der Rest des Teams hatte Sandra sich dies noch nie gefallen lassen und Mattis von Anfang an die Stirn geboten, ihm klargemacht, dass er bei ihr mit diesen Kapriolen an der falschen Adresse war.

Mit Erfolg, denn nach einem lautstarken Streit ganz am Anfang ihrer Zusammenarbeit schien es jetzt zwischen ihnen beiden zu funktionieren.

Auf dem Weg zurück zum Präsidium klingelte Mattis’ Handy. Er seufzte, angelte das Gerät aus der Innentasche seines Jacketts, ging dran.

Sandra erkannte an seiner Körperhaltung, dass aus ihrer geplanten Frühstückspause nichts werden würde. Sie seufzte leise, denn mittlerweile hatte auch sie ziemlich großen Hunger. Als er fertig telefoniert hatte, sah er sie an, verzog das Gesicht. »Das war Henry von der Spurensicherung. Eine Frau hat heute Morgen ihren toten Ehemann im Wohnzimmer gefunden. Muss eine ziemliche Sauerei sein. Das Ganze ist in Nienstedten passiert – am besten machen wir uns gleich auf den Weg, damit wir zeitgleich mit dem Rest des Teams eintreffen.«


Als Sandra und Mattis das Anwesen der Familie May betraten, wimmelte es jedoch bereits von Kollegen. Sandra hatte beim Betreten des Hauses auf das Schloss geachtet und festgestellt, dass es unbeschadet war, ebenso wie die Fenster im Erdgeschoss. Entweder waren der oder die Täter durch eine Hintertür ins Haus gelangt oder sie hatten ein professionelles Werkzeug benutzt. Im Inneren des Prunkbaus, von welchem man gut auf die finanzielle Situation der dort lebenden Leute schließen konnte, herrschte rege Betriebsamkeit. Die Leute der Spusi tummelten sich im Wohnzimmer, doch Sandra und Mattis zog es zuerst in den ersten Stock, wo laut einem jungen Anwärter die Hausherrin von der Psychologin betreut wurde. Als Sandra und ihr Kollege das Zimmer betraten, fiel ihr sofort auf, dass auf dem riesengroßen Himmelbett inmitten des Schlafzimmers nur eine Garnitur Bettzeug lag. Das Ehepaar schien also getrennte Schlafzimmer zu haben. In Gedanken machte Sandra sich gleich eine Notiz, dann wandte sie sich der verstört aussehenden Frau zu.

»Sie sind Anna May? Sie haben bei uns angerufen?« Die Frau reagierte nicht, schien wie in Trance zu sein und durch die vor ihr sitzende Psychologin hindurchzustarren. Die Psychologin selbst, Dr. Eva Lichters, warf ihr einen Blick zu, der nichts Gutes verhieß.

Mattis neben ihr nickte leicht, dann zog er Sandra hinter sich her, aus dem Zimmer hinaus.

»Wir müssen Eva noch etwas mehr Zeit geben, zu der Frau durchzudringen. Sehen wir uns inzwischen mal an, was vom Ehemann übrig geblieben ist.«

Sandra verzog angesichts der Ausdrucksweise ihres Kollegen das Gesicht und folgte ihm. Sie gingen die Treppe hinunter, in den großen offenen Wohnbereich, der vom angrenzenden Wintergarten in einen überdachten Whirlpoolbereich überging und insgesamt größer war als Sandras komplette Wohnung. Inmitten des Wohnzimmers lag die Leiche eines kahlköpfigen und durchtrainierten Mannes auf einem hellen Teppich, dessen Gesichtszüge Sandra auf Anhieb an den Actionschauspieler Jason Statham erinnerte – gut aussehend, aber nichts Besonderes. Sandra kam der Mann vage bekannt vor und sie überlegte, wo sie ihm schon mal begegnet sein könnte, als Mattis sie erlöste. »Das ist Sebastian May, dieser Anwalt, für den die Leute mehrere Hundert Euro in der Stunde bereit sind zu bezahlen. Er soll ziemlich gut sein oder vielmehr gewesen sein.« Mattis schüttelte den Kopf und ging neben der Leiche in die Knie. Sandra tat es ihm nicht nach, sie sah auch so, dass auf den Körper des Mannes regelrecht eingehackt worden war, wenn man die Anzahl der Verletzungen, deren Tiefe betrachtete. Sandra hatte ihre liebe Mühe, nicht zu würgen, als sie die unzähligen tiefen Fleischwunden auf dem Leib des Opfers genauer betrachtete und erkannte, dass es im Innern des Körpers wohl kein Organ mehr gab, das bei dem Angriff nicht beschädigt worden war.

»Dieser Mann ist buchstäblich hingerichtet worden«, sagte sie leise und schluckte. Sie wies auf den Unterleib des Toten, wo sich ein Stück des Dickdarms durch eine der größeren Stichwunden nach außen gequetscht hatte.

»Um genau zu sein, wurden diesem Mann siebenundvierzig Stichwunden an Ober- und Unterkörper zugefügt«, erklärte Henry Selinger, der Leiter des Spusi-Teams, ihnen und schüttelte mit dem Kopf. Dann wies er in Richtung der Wand oberhalb des riesengroßen Fernsehers und schluckte.

»Du meine Güte«, entfuhr es Mattis, als er den blutigen Schriftzug entziffert hatte.

»Der Arme hat sich wohl ziemlich dicke Feinde gemacht, wie es aussieht.«

Sandra starrte auf das Wort PIG und verzog das Gesicht.

Jetzt wurde ihr auch klar, wie es dazu hatte kommen können, dass eine der Wunden aussah, als hätte jemand darin herumgerührt. »Wissen wir, wo das Werkzeug ist, mit dem das Kunstwerk gemalt wurde?«, fragte sie.

Henry nickte. »Ein Silikonpinsel, der zweckentfremdet wurde. Eigentlich ist er da, um Glasur auf Backwerk zu verteilen, aber unser Täter hat ihn benutzt, um mit dem Blut seines Opfers die Wand zu verunstalten.«

»Und die Ehefrau hat von alldem nichts mitbekommen?«, fragte Sandra zweifelnd.

Henry schüttelte den Kopf. »Sie nimmt seit einiger Zeit starke Mittel zum Schlafen und gegen Depressionen ein. Die müssen sie dermaßen ausgeknockt haben, dass sie nichts von alldem mitbekam. Sie hat ihn erst heute Morgen gefunden, ist daraufhin zusammengebrochen. Deswegen ging ihr Anruf mit einiger Verzögerung bei uns ein.«

»Und habt ihr sie überprüft? Ihr Blut abgenommen?«

Henry nickte. »Ein Arzt war hier und hat ihr Blut abgenommen. Die Ergebnisse müssten jeden Moment kommen. Allerdings hab ich persönlich auch ohne diese keinen Zweifel daran, dass sie die Wahrheit sagt. Hast du gesehen, wie ihr Zustand ist? Diese Frau ist am Ende … sollte sie diese Tat verübt haben, wäre ihre Darbietung oscarreif.«

Sandra ging nicht auf die Worte ihres Kollegen ein, überschlug im Kopf die nächsten Schritte.

»Habt ihr was gefunden, mit dem wir was anfangen können?«, fragte Mattis schließlich und riss Sandra unfreiwillig aus ihren Gedanken.

Henry schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Kollegen kümmern sich gerade drum und suchen intensiv nach Fingerabdrücken. Auf dem Pinsel gab es keine, der Mörder muss also Handschuhe verwendet haben.«

Das wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein, dachte Sandra bei sich und sah sich weiter in dem Raum um. Der Teppich rund um die Leiche war blutdurchtränkt und verlieh dem Raum etwas vom Schauplatz eines Massakers, wobei diese Tat einem solchen schon sehr nahe kam.

Was mochte der Tote getan haben, um einen solchen Hass auf sich zu schüren?

»Der Mann war Anwalt?«, stieß Sandra hervor und sah von Henry zu Mattis. »Dann würde ich vorschlagen, dass wir zwei Leute von der Recherche zu der Kanzlei schicken, in der er arbeitet. Die sollen alle Fälle der letzten drei Jahre überprüfen, es könnte sein, dass dort irgendwo der Ursprung dieser Abscheulichkeit verborgen liegt.«

Mattis nickte. »Wenn ich ehrlich bin, würde ich das gerne in deine Hände legen«, erklärte er. »Schnapp du dir ein paar Leute und leg los. Ich kümmere mich um die Pathologie und berufe für heute Abend eine Sitzung ein, bei der wir gemeinsam die Aufgaben der nächsten Tage besprechen. Vielleicht haben wir bis dahin auch schon die ersten Ergebnisse vorliegen.«


Als Sandra am späten Abend den Konferenzraum betrat, warteten Mattis und Henry bereits auf sie. Sie war todmüde und wünschte sich nichts mehr, als endlich nach Hause fahren und eine entspannende Dusche nehmen zu können, doch das würde noch warten müssen. Das Opfer war Partner in der Kanzlei seines Schwiegervaters gewesen und obwohl man ihr und den Kollegen der Recherche mit Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit begegnet war, hatte sie sich für das Sichten der Klientenkartei zuerst einen richterlichen Beschluss besorgen müssen, damit alles seine Richtigkeit hatte. Sie und zwei Kollegen hatten den gesamten Nachmittag nichts anderes getan, als die Akten zu wälzen, doch wirklich weitergeholfen hatte ihnen nichts von alledem. Am Ende war es Max Killisperger gewesen, Schwiegervater des Toten und Vater der Witwe, der ihnen den entscheidenden Hinweis gegeben hatte. Vor seiner Karriere in der Kanzlei seines Schwiegervaters war Sebastian May Pflichtverteidiger gewesen und hatte seine Brötchen damit verdient, seinen mittellosen Mandanten bei Strafprozessen die bestmögliche Verteidigung zukommen zu lassen.

Also hatten Sandra und ihre Kollegen auch diesbezüglich ihre Finger ausgestreckt und nach alten Fällen gesucht, in denen May seinen Mandanten nicht hatte helfen können.

Es waren einige gewesen, die sie ans Licht gebracht hatten, sodass für Sandra bereits feststand, womit sie die nächsten Tage beschäftigt sein würde. Sie setzte sich neben Mattis, brachte ihn auf den neuesten Stand, bemerkte das Funkeln in seinen Augen.

»Ihr habt was gefunden?«

Er grinste. »Die Ehefrau ist aus dem Schneider. Zumindest insofern, als dass sie selbst Hand angelegt hat. In ihrem Blut wurden tatsächlich Reste eines Beruhigungsmittels festgestellt, durch das sie quasi im Tiefschlaf gewesen sein müsste, als ihr Mann ermordet wurde.« Er räusperte sich. »Im Haus selbst hat die Spusi nichts gefunden. Keine Tatwaffe, keine Fingerabdrücke, keine Faserreste. Es hat auch keiner der Nachbarn etwas gehört. Wer auch immer den Mann so zugerichtet hat, muss also an alles gedacht und Schutzkleidung getragen haben, um keinerlei Spuren zu hinterlassen und niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings hat er draußen einen entscheidenden Fehler gemacht.«

»Und welchen?«, fragte Sandra misstrauisch.

»Er hat seine Handschuhe in die Mülltonne eines älteren Ehepaars im Zentrum geworfen. Der Ehemann leidet seit seines Renteneintritts an Schlaflosigkeit und hat bemerkt, wie sich in der Nacht jemand an seiner Tonne zu schaffen gemacht hat. Irgendwann ist er doch noch eingeschlafen und hätte den nächtlichen Besucher seiner Mülltonne beinahe vergessen, wenn seine Frau heute Nachmittag nicht die blutverschmierten Handschuhe in der Tonne gesehen hätte.«

»Der Täter hat seine Tathandschuhe tatsächlich im Müll anderer Leute hinterlassen und wurde dabei auch noch gesehen?«

Mattis hob die Schultern und lachte. »Es ist keine Seltenheit, dass Mörder während ihrer Taten hoch konzentriert vorgehen und Fehler machen, wenn es ums Entsorgen ihrer Werkzeuge und Hilfsmittel geht.«

Sandra schluckte. Damit hatte Mattis zwar recht, dennoch irgendetwas passte da trotzdem nicht so recht zusammen.

Sie sah ihren Kollegen skeptisch an. »Deinem Grinsen entnehme ich, dass die Maschine auch ein Ergebnis ausgespuckt hat?«

»Wir sind noch nicht ganz durch«, erklärte er ihr. »Die Fingerabdrücke auf den Handschuhen stimmen allerdings schon mal mit einem Typen überein, der wegen schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung mehrere Jahre hinter Gitter saß. Sein Name lautet Serkan Milic – laut Akte ein ganz übler Scheißkerl, wie es scheint. Wir prüfen gerade, inwiefern eine Verbindung zwischen ihm und May besteht.«

Sandra atmete tief durch und schloss die Augen. Ihre Gedanken vermischten sich zu einem wirren Brei, was eindeutig ihrer Müdigkeit und dem Hunger geschuldet war.

Dennoch – in einem war sie absolut sicher und sie hasste es, dass sie wieder mal die Einzige war, die das zu erkennen imstande war …

»Das könnt ihr euch sparen«, stieß sie schließlich wütend und genervt zugleich aus und zog damit die Aufmerksamkeit all ihrer Kollegen auf sich.

Mattis sah sie stirnrunzelnd an. Sandra warf ihm ihren Notizblock hin. »Seite drei«, würgte sie mühsam beherrscht hervor, darauf bedacht, nicht zu harsch zu klingen. »Das alles ist viel zu einfach gewesen«, erklärte sie vehement. »Wer auch immer wirklich dahintersteckt, manipuliert uns, da bin ich absolut sicher!«

2

HAMBURG

APRIL 2016

»Lust auf einen Kaffee mit Zugabe?« Sabine sah sie durch den Türspalt schmunzelnd an. »Ich sag nur Käsekuchen …«

Marlene seufzte und zog einen Flunsch. »Du ahnst ja nicht, wie gern ich mitkommen würde«, erwiderte sie. »Leider geht es heute wirklich nicht. Ich hab noch einen Berg Arbeit vor mir liegen und wollte ab morgen eine Woche Urlaub machen und deswegen heute noch zu meinen Jungs nach Sylt. Was ich also jetzt nicht fertig bekomme, muss ich morgen machen und das wiederum bedeutet, dass ich Lukas und Alex mal wieder enttäuschen würde.«

Sabine kam zu ihr ins Büro, setzte sich ihr gegenüber vor den übergroßen Schreibtisch und seufzte wehmütig. »Sylt sagst du? Okay, dafür würde ich auch auf Kuchen verzichten.« Sie grinste, wies mit dem Kopf auf den Aktenberg vor ihr. »Woran arbeitest du gerade?«

»Ich bereite einen Prozess vor, bei dem es um Wirtschaftskriminalität geht. Ein komplizierter Fall, dem ich sicherlich wieder ein paar neue graue Haare zu verdanken habe.« Marlene sah auf die Uhr. »Ich wollte den Zug gegen vier Uhr schaffen, deswegen dachte ich, verzichte ich auf meine Mittagspause und ackere mich einfach hier durch.«

»Du kannst auch alles auf Eis legen und nach deinem Urlaub frisch erholt ans Werk gehen. Keiner wird dir einen Vorwurf machen, wenn du mal an dich selbst denkst.«

»Ich kann nicht und das weißt du«, gab Marlene schroffer zurück, als beabsichtigt.

Schnell griff sie über den Tisch nach der Hand ihrer Freundin und entschuldigte sich.

»Schon gut«, sagte die und grinste versöhnlich. Dann sah sie sie forschend an.

»Deine beiden Männer sind schon drüben?«

Marlene nickte. »Seit Sonntag schon.«

»Wie geht dein Mann eigentlich damit um, dass er seine Apotheke aufgeben musste? Ist er immer noch am Boden zerstört?«

Marlene schüttelte den Kopf. »Aufgeben ist nicht das richtige Wort«, sagte sie. »Er hat all die Jahre gegen Windmühlen gekämpft, versucht, das Geschäft seines Vaters zu halten, aber gegen all die Onlinekonkurrenz und diese Billigläden kam er einfach nicht an. Im Grunde war es so, dass gerade so viel Geld reinkam, um die Angestellten zu bezahlen und selbst wenigstens noch einen kleinen Hungerlohn zu verdienen.«

»Dann tat es ihm nicht leid, dass er verkaufen musste?«

»Das komplette Gebäude war seit zwei Generationen in Familienbesitz. Natürlich hat es ihm wehgetan, es verkaufen zu müssen.«

Marlene atmete tief durch. »Aber die Vorteile überwogen letztendlich. Er hat eine ordentliche Stange Geld für das Gebäude bekommen, das er jetzt in ein Ferienhaus auf der Insel investieren möchte.«

»Ihr kauft euch ein Haus auf Sylt?« Sabine war laut geworden, der Neid war aus ihrer Stimme deutlich herauszuhören.