»Wie weit bist du?«
Sandra sah vom Bildschirm auf, musterte ihren Kollegen. Hauptkommissar Mattis Wildbach sah aus, als hätte er es heute Morgen mal wieder nicht geschafft, seinem Badezimmer eine Stippvisite abzustatten. Seine Haare standen kreuz und quer vom Kopf ab, aus seinem Dreitage- war ein mindestens Siebentagebart geworden und auch ansonsten wirkte ihr Kollege, als habe er sich die letzte Nacht fernab von seinem Bett um die Ohren geschlagen.
Sie grinste ihn an. »Lädst du mich zum Essen ein?«
Er hob die Schultern, nickte dann. »Klar, aber nur, wenn du jetzt alles stehen und liegen lässt, ich hab nämlich einen Bärenhunger.«
Sie grinste noch breiter und konnte sich lebhaft vorstellen, welch gähnende Leere in seinem Kühlschrank herrschte oder in dem der Dame, bei der er genächtigt hatte.
Sie stand auf, ging an ihm vorbei in den Gang hinaus. »Wer war diesmal die Glückliche?«, fragte sie und warf ihm über die Schulter einen Blick zu, musterte ihn kurz.
Er verzog das Gesicht, was bedeutete, dass er keine Ahnung hatte. Seit seine Frau ihn vor einem knappen Jahr von einem auf den anderen Tag verlassen hatte, blöderweise auch noch wegen eines anderen Mannes, war Mattis quasi auf einem Ego-Trip, um sein durch die Trennung angeknackstes Selbstbewusstsein aufzupolieren.
Dabei hatte er das gar nicht nötig. Mattis war zwar weiß Gott kein Modeltyp, sondern eher eine Art Russell-Crowe-Verschnitt, mit einigen Kilos zu viel auf den Rippen und einem Gesicht, auf dem die Jahre durchaus ihre Spuren hinterlassen hatten, und dennoch schaffte er es immer wieder, die Damenwelt um den Finger zu wickeln, was zum Teil auch daran lag, dass er sowohl Charme als auch Charisma besaß.
»Ich hab Lust auf was Süßes … wär das okay für dich?«, wollte er wissen.
Sandra nickte.
Gemeinsam stiegen sie in den Aufzug, machten sich auf den Weg zum Bäcker um die Ecke, stellten sich in die Schlange. Vor ihnen warteten noch vier Leute und Sandra grinste, als sie bemerkte, wie unruhig Mattis wurde, weil von seinem Lieblingskuchen nur noch drei Stücke in der Auslage warteten.
Als sie endlich an der Reihe waren, orderte er die beiden verbliebenen Kirschecken, bestellte dazu noch einen Bienenstich für sie und zwei belegte Käsebrötchen, reichte der Kassiererin einen Schein über die Theke, grinste verschmitzt. Als Sandra bemerkte, dass die Wangen der korpulenten jungen Frau tiefrot anliefen, rollte sie mit den Augen.
Es war einfach unglaublich, was für eine Wirkung dieser Mann bei den Frauen hatte und trotzdem darauf angewiesen war, sich immer mehr Bestätigung zu holen. Wenn das das Ergebnis einer Trennung war, dachte Sandra, dann tat sie selbst gut daran, Männer bis auf Weiteres außen vor zu lassen und sich einzig und allein um sich selbst und ihre Karriere zu kümmern. Natürlich gab es auch bei Sandra einsame Momente, in denen sie sich nach einem Partner sehnte, doch war sie einfach nicht bereit, sich selbst oder ihre Interessen und Vorlieben für einen Mann aufzugeben, geschweige denn sich zu verbiegen oder am Ende wie ein geprügelter Hund aus einer gescheiterten Beziehung hervorzugehen.
Was sie wollte, war, in Frieden leben, ihre Freundinnen treffen, verreisen und richtig gut in ihrem Job sein, nach oben kommen.
Deswegen hatte sie sich auch dafür entschieden, als Mattis letzter Partner in den Vorruhestand gegangen war, sich für diesen Posten zu bewerben, obwohl allgemein bekannt war, wie schwierig Mattis als Kollege im Umgang sein konnte. Er hatte ein überschäumendes Temperament, wurde gerne auch mal laut, vergriff sich hin und wieder sogar im Ton – und war zu allem Überfluss auch noch ziemlich verbohrt, was seine Ermittlungsstrategien anging.
Auch Sandra hatte bereits das zweifelhafte Vergnügen gehabt, bei ihrem Kollegen in Ungnade zu fallen, und den ein oder anderen harschen Spruch an den Kopf geknallt bekommen. Doch anders als der Rest des Teams hatte Sandra sich dies noch nie gefallen lassen und Mattis von Anfang an die Stirn geboten, ihm klargemacht, dass er bei ihr mit diesen Kapriolen an der falschen Adresse war.
Mit Erfolg, denn nach einem lautstarken Streit ganz am Anfang ihrer Zusammenarbeit schien es jetzt zwischen ihnen beiden zu funktionieren.
Auf dem Weg zurück zum Präsidium klingelte Mattis’ Handy. Er seufzte, angelte das Gerät aus der Innentasche seines Jacketts, ging dran.
Sandra erkannte an seiner Körperhaltung, dass aus ihrer geplanten Frühstückspause nichts werden würde. Sie seufzte leise, denn mittlerweile hatte auch sie ziemlich großen Hunger. Als er fertig telefoniert hatte, sah er sie an, verzog das Gesicht. »Das war Henry von der Spurensicherung. Eine Frau hat heute Morgen ihren toten Ehemann im Wohnzimmer gefunden. Muss eine ziemliche Sauerei sein. Das Ganze ist in Nienstedten passiert – am besten machen wir uns gleich auf den Weg, damit wir zeitgleich mit dem Rest des Teams eintreffen.«
Als Sandra und Mattis das Anwesen der Familie May betraten, wimmelte es jedoch bereits von Kollegen. Sandra hatte beim Betreten des Hauses auf das Schloss geachtet und festgestellt, dass es unbeschadet war, ebenso wie die Fenster im Erdgeschoss. Entweder waren der oder die Täter durch eine Hintertür ins Haus gelangt oder sie hatten ein professionelles Werkzeug benutzt. Im Inneren des Prunkbaus, von welchem man gut auf die finanzielle Situation der dort lebenden Leute schließen konnte, herrschte rege Betriebsamkeit. Die Leute der Spusi tummelten sich im Wohnzimmer, doch Sandra und Mattis zog es zuerst in den ersten Stock, wo laut einem jungen Anwärter die Hausherrin von der Psychologin betreut wurde. Als Sandra und ihr Kollege das Zimmer betraten, fiel ihr sofort auf, dass auf dem riesengroßen Himmelbett inmitten des Schlafzimmers nur eine Garnitur Bettzeug lag. Das Ehepaar schien also getrennte Schlafzimmer zu haben. In Gedanken machte Sandra sich gleich eine Notiz, dann wandte sie sich der verstört aussehenden Frau zu.
»Sie sind Anna May? Sie haben bei uns angerufen?« Die Frau reagierte nicht, schien wie in Trance zu sein und durch die vor ihr sitzende Psychologin hindurchzustarren. Die Psychologin selbst, Dr. Eva Lichters, warf ihr einen Blick zu, der nichts Gutes verhieß.
Mattis neben ihr nickte leicht, dann zog er Sandra hinter sich her, aus dem Zimmer hinaus.
»Wir müssen Eva noch etwas mehr Zeit geben, zu der Frau durchzudringen. Sehen wir uns inzwischen mal an, was vom Ehemann übrig geblieben ist.«
Sandra verzog angesichts der Ausdrucksweise ihres Kollegen das Gesicht und folgte ihm. Sie gingen die Treppe hinunter, in den großen offenen Wohnbereich, der vom angrenzenden Wintergarten in einen überdachten Whirlpoolbereich überging und insgesamt größer war als Sandras komplette Wohnung. Inmitten des Wohnzimmers lag die Leiche eines kahlköpfigen und durchtrainierten Mannes auf einem hellen Teppich, dessen Gesichtszüge Sandra auf Anhieb an den Actionschauspieler Jason Statham erinnerte – gut aussehend, aber nichts Besonderes. Sandra kam der Mann vage bekannt vor und sie überlegte, wo sie ihm schon mal begegnet sein könnte, als Mattis sie erlöste. »Das ist Sebastian May, dieser Anwalt, für den die Leute mehrere Hundert Euro in der Stunde bereit sind zu bezahlen. Er soll ziemlich gut sein oder vielmehr gewesen sein.« Mattis schüttelte den Kopf und ging neben der Leiche in die Knie. Sandra tat es ihm nicht nach, sie sah auch so, dass auf den Körper des Mannes regelrecht eingehackt worden war, wenn man die Anzahl der Verletzungen, deren Tiefe betrachtete. Sandra hatte ihre liebe Mühe, nicht zu würgen, als sie die unzähligen tiefen Fleischwunden auf dem Leib des Opfers genauer betrachtete und erkannte, dass es im Innern des Körpers wohl kein Organ mehr gab, das bei dem Angriff nicht beschädigt worden war.
»Dieser Mann ist buchstäblich hingerichtet worden«, sagte sie leise und schluckte. Sie wies auf den Unterleib des Toten, wo sich ein Stück des Dickdarms durch eine der größeren Stichwunden nach außen gequetscht hatte.
»Um genau zu sein, wurden diesem Mann siebenundvierzig Stichwunden an Ober- und Unterkörper zugefügt«, erklärte Henry Selinger, der Leiter des Spusi-Teams, ihnen und schüttelte mit dem Kopf. Dann wies er in Richtung der Wand oberhalb des riesengroßen Fernsehers und schluckte.
»Du meine Güte«, entfuhr es Mattis, als er den blutigen Schriftzug entziffert hatte.
»Der Arme hat sich wohl ziemlich dicke Feinde gemacht, wie es aussieht.«
Sandra starrte auf das Wort PIG und verzog das Gesicht.
Jetzt wurde ihr auch klar, wie es dazu hatte kommen können, dass eine der Wunden aussah, als hätte jemand darin herumgerührt. »Wissen wir, wo das Werkzeug ist, mit dem das Kunstwerk gemalt wurde?«, fragte sie.
Henry nickte. »Ein Silikonpinsel, der zweckentfremdet wurde. Eigentlich ist er da, um Glasur auf Backwerk zu verteilen, aber unser Täter hat ihn benutzt, um mit dem Blut seines Opfers die Wand zu verunstalten.«
»Und die Ehefrau hat von alldem nichts mitbekommen?«, fragte Sandra zweifelnd.
Henry schüttelte den Kopf. »Sie nimmt seit einiger Zeit starke Mittel zum Schlafen und gegen Depressionen ein. Die müssen sie dermaßen ausgeknockt haben, dass sie nichts von alldem mitbekam. Sie hat ihn erst heute Morgen gefunden, ist daraufhin zusammengebrochen. Deswegen ging ihr Anruf mit einiger Verzögerung bei uns ein.«
»Und habt ihr sie überprüft? Ihr Blut abgenommen?«
Henry nickte. »Ein Arzt war hier und hat ihr Blut abgenommen. Die Ergebnisse müssten jeden Moment kommen. Allerdings hab ich persönlich auch ohne diese keinen Zweifel daran, dass sie die Wahrheit sagt. Hast du gesehen, wie ihr Zustand ist? Diese Frau ist am Ende … sollte sie diese Tat verübt haben, wäre ihre Darbietung oscarreif.«
Sandra ging nicht auf die Worte ihres Kollegen ein, überschlug im Kopf die nächsten Schritte.
»Habt ihr was gefunden, mit dem wir was anfangen können?«, fragte Mattis schließlich und riss Sandra unfreiwillig aus ihren Gedanken.
Henry schüttelte bedauernd den Kopf. »Die Kollegen kümmern sich gerade drum und suchen intensiv nach Fingerabdrücken. Auf dem Pinsel gab es keine, der Mörder muss also Handschuhe verwendet haben.«
Das wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein, dachte Sandra bei sich und sah sich weiter in dem Raum um. Der Teppich rund um die Leiche war blutdurchtränkt und verlieh dem Raum etwas vom Schauplatz eines Massakers, wobei diese Tat einem solchen schon sehr nahe kam.
Was mochte der Tote getan haben, um einen solchen Hass auf sich zu schüren?
»Der Mann war Anwalt?«, stieß Sandra hervor und sah von Henry zu Mattis. »Dann würde ich vorschlagen, dass wir zwei Leute von der Recherche zu der Kanzlei schicken, in der er arbeitet. Die sollen alle Fälle der letzten drei Jahre überprüfen, es könnte sein, dass dort irgendwo der Ursprung dieser Abscheulichkeit verborgen liegt.«
Mattis nickte. »Wenn ich ehrlich bin, würde ich das gerne in deine Hände legen«, erklärte er. »Schnapp du dir ein paar Leute und leg los. Ich kümmere mich um die Pathologie und berufe für heute Abend eine Sitzung ein, bei der wir gemeinsam die Aufgaben der nächsten Tage besprechen. Vielleicht haben wir bis dahin auch schon die ersten Ergebnisse vorliegen.«
Als Sandra am späten Abend den Konferenzraum betrat, warteten Mattis und Henry bereits auf sie. Sie war todmüde und wünschte sich nichts mehr, als endlich nach Hause fahren und eine entspannende Dusche nehmen zu können, doch das würde noch warten müssen. Das Opfer war Partner in der Kanzlei seines Schwiegervaters gewesen und obwohl man ihr und den Kollegen der Recherche mit Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit begegnet war, hatte sie sich für das Sichten der Klientenkartei zuerst einen richterlichen Beschluss besorgen müssen, damit alles seine Richtigkeit hatte. Sie und zwei Kollegen hatten den gesamten Nachmittag nichts anderes getan, als die Akten zu wälzen, doch wirklich weitergeholfen hatte ihnen nichts von alledem. Am Ende war es Max Killisperger gewesen, Schwiegervater des Toten und Vater der Witwe, der ihnen den entscheidenden Hinweis gegeben hatte. Vor seiner Karriere in der Kanzlei seines Schwiegervaters war Sebastian May Pflichtverteidiger gewesen und hatte seine Brötchen damit verdient, seinen mittellosen Mandanten bei Strafprozessen die bestmögliche Verteidigung zukommen zu lassen.
Also hatten Sandra und ihre Kollegen auch diesbezüglich ihre Finger ausgestreckt und nach alten Fällen gesucht, in denen May seinen Mandanten nicht hatte helfen können.
Es waren einige gewesen, die sie ans Licht gebracht hatten, sodass für Sandra bereits feststand, womit sie die nächsten Tage beschäftigt sein würde. Sie setzte sich neben Mattis, brachte ihn auf den neuesten Stand, bemerkte das Funkeln in seinen Augen.
»Ihr habt was gefunden?«
Er grinste. »Die Ehefrau ist aus dem Schneider. Zumindest insofern, als dass sie selbst Hand angelegt hat. In ihrem Blut wurden tatsächlich Reste eines Beruhigungsmittels festgestellt, durch das sie quasi im Tiefschlaf gewesen sein müsste, als ihr Mann ermordet wurde.« Er räusperte sich. »Im Haus selbst hat die Spusi nichts gefunden. Keine Tatwaffe, keine Fingerabdrücke, keine Faserreste. Es hat auch keiner der Nachbarn etwas gehört. Wer auch immer den Mann so zugerichtet hat, muss also an alles gedacht und Schutzkleidung getragen haben, um keinerlei Spuren zu hinterlassen und niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings hat er draußen einen entscheidenden Fehler gemacht.«
»Und welchen?«, fragte Sandra misstrauisch.
»Er hat seine Handschuhe in die Mülltonne eines älteren Ehepaars im Zentrum geworfen. Der Ehemann leidet seit seines Renteneintritts an Schlaflosigkeit und hat bemerkt, wie sich in der Nacht jemand an seiner Tonne zu schaffen gemacht hat. Irgendwann ist er doch noch eingeschlafen und hätte den nächtlichen Besucher seiner Mülltonne beinahe vergessen, wenn seine Frau heute Nachmittag nicht die blutverschmierten Handschuhe in der Tonne gesehen hätte.«
»Der Täter hat seine Tathandschuhe tatsächlich im Müll anderer Leute hinterlassen und wurde dabei auch noch gesehen?«
Mattis hob die Schultern und lachte. »Es ist keine Seltenheit, dass Mörder während ihrer Taten hoch konzentriert vorgehen und Fehler machen, wenn es ums Entsorgen ihrer Werkzeuge und Hilfsmittel geht.«
Sandra schluckte. Damit hatte Mattis zwar recht, dennoch irgendetwas passte da trotzdem nicht so recht zusammen.
Sie sah ihren Kollegen skeptisch an. »Deinem Grinsen entnehme ich, dass die Maschine auch ein Ergebnis ausgespuckt hat?«
»Wir sind noch nicht ganz durch«, erklärte er ihr. »Die Fingerabdrücke auf den Handschuhen stimmen allerdings schon mal mit einem Typen überein, der wegen schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung mehrere Jahre hinter Gitter saß. Sein Name lautet Serkan Milic – laut Akte ein ganz übler Scheißkerl, wie es scheint. Wir prüfen gerade, inwiefern eine Verbindung zwischen ihm und May besteht.«
Sandra atmete tief durch und schloss die Augen. Ihre Gedanken vermischten sich zu einem wirren Brei, was eindeutig ihrer Müdigkeit und dem Hunger geschuldet war.
Dennoch – in einem war sie absolut sicher und sie hasste es, dass sie wieder mal die Einzige war, die das zu erkennen imstande war …
»Das könnt ihr euch sparen«, stieß sie schließlich wütend und genervt zugleich aus und zog damit die Aufmerksamkeit all ihrer Kollegen auf sich.
Mattis sah sie stirnrunzelnd an. Sandra warf ihm ihren Notizblock hin. »Seite drei«, würgte sie mühsam beherrscht hervor, darauf bedacht, nicht zu harsch zu klingen. »Das alles ist viel zu einfach gewesen«, erklärte sie vehement. »Wer auch immer wirklich dahintersteckt, manipuliert uns, da bin ich absolut sicher!«