Reiche der alten Welt: Ethnien, Länder, Dynastien (RAW)
herausgegeben von Henning Börm, Udo Hartmann, Sitta von Reden, Robert Rollinger, Roland Steinacher und Timo Stickler.
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Umschlagabbildung: Apedemak-Relief am »Löwentempel« von Naga (Foto: Francis Breyer).
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037733-2
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pdf: ISBN 978-3-17-037734-9
epub: ISBN 978-3-17-037735-6
Meroë gehört zu den klangvollen Namen, die in Vielen Bilder voller Exotik hervorrufen, ähnlich wie Timbuktu und Marrakesch oder Babylon, Lhasa und Samarkand. Meroë steht für malerisch verwehte honigfarbene Pyramiden im Wüstensand, für die »Schwarzen Pharaonen« und ihr Gold, für die einäugige Kandake, eine amazonengleiche Herrscherin, die ihren Truppen in der Schlacht voran ritt. Mit dem Namen der Stadt Meroë wird eine ganze Epoche und ein Reich bezeichnet, das im Nordosten Afrikas etwa ein Jahrtausend lang Bestand hatte. Die meroitische Kultur ist trotzdem eine der weniger bekannten der antiken Welt – und vielleicht gerade deshalb eine der faszinierendsten. Wo hat man schon Texte, deren Schrift man zwar lesen kann, deren Inhalt uns jedoch weitgehend verschlossen bleibt? Wo ist die Verschmelzung mehrere Kulturen so gut zu studieren, wie bei diesem Gemisch aus indigenen nubischen Elementen, ägyptischen Einflüssen und solchen der griechisch-römischen Welt? Welche Kultur liegt schon derart zwischen mehreren Welten, wie die meroitische zwischen dem Herzen Afrikas und der Mittelmeerwelt, zwischen urbaner »Hochkultur« und Pastoralnomaden? Zugleich sind die Dimensionen beachtlich, sowohl in zeitlicher wie auch in räumlicher Hinsicht: Als sich lokale nubische Herrscher anschickten, ein Riesenreich zu schaffen, war die griechische Polis noch lange nicht in Sicht, als es sich dann in der Spätantike auflöste, war das Christentum schon lange ein entscheidender Faktor; das Herrschaftsgebiet seiner Könige reichte zeitweise von Südpalästina bis in die Tropen.
Das vorliegende Buch soll eine Lücke füllen, deren Existenz eigentlich ein Kuriosum darstellt: Während die akademische Disziplin der Meroitistik weitgehend von deutschsprachigen Forschern dominiert wird, gibt es keine neuere Synthese der Forschungsergebnisse in deutscher Sprache. Dabei hat die Erforschung der meroitischen Kultur in den letzten 15–20 Jahren einen beachtlichen Aufschwung erlebt und sich vom Spezialinteresse einiger Weniger zu einer etablierten Fachrichtung entwickelt. Vor Kurzem hatte ich selbst die Gelegenheit, eine Einführung in die Meroitistik zu publizieren, die zwar ebenfalls eine Synthese darstellt – nur hatte ich als Leserschaft dieses Werkes vor allem angehende Ägyptologen im Blick, d. h. jenes Buch war als Hilfsmittel für all diejenigen gedacht, die bereits über einen gewissen fachlichen Hintergrund verfügen und sich in die Spezialdebatten einarbeiten wollen. Es war entsprechend stark philologisch-linguistisch dominiert – sollte es doch Ägyptologen das Rüstzeug an die Hand geben, sich selbst fundiert mit meroitistischen Belangen beschäftigen zu können. Entsprechend standen Fragen der Quellenlage, der Texterschließung, der Chronologie, Ikonographie oder auch der Sprachgeographie im Vordergrund und weniger die allgemeinen Aspekte jeder Kultur wie das politische System, die sozialen Strukturen, Grundlagen der Subsistenz, Religion, Bestattungssitten, Handel etc. All dies soll im vorliegenden Buch ausführlicher und zugänglicher beschrieben werden – insofern könnte man dieses Buch als komplementär zu jenem begreifen. Entsprechend habe ich darauf verzichtet, die Forschungsgeschichte oder die Quellenlage erneut ausführlicher darzustellen.
Gerade weil dieses Buchprojekt meine Einführung so gut zu ergänzen scheint, ging ich besonders freudig auf das Angebot der Reihenherausgeber ein, eine Kulturgeschichte Kuschs zu schreiben. Die Komplementarität erstreckt sich noch auf einen weiteren Punkt: Hatte ich damals die Kuschitenzeit aufgrund des meroitistischen Fokus im geschichtlichen Abriss weitgehend ausgeklammert, so soll hier das Umgekehrte geschehen. Dieses Buch ist also gewissermaßen auf Lücke geschrieben. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen ist seit 2013 klar, dass die Reihenfolge der Könige bisher falsch rekonstruiert worden war, d. h. hier wird erstmals der Versuch einer neuen historischen Synthese unternommen. Zum anderen hat Claude Rilly 2017 in seiner Histoire et civilisation du Soudan de la préhistoire à nos jours eine äußerst fundierte und ausführliche Darstellung der meroitischen Geschichte publiziert.
Schließlich habe ich – mehr noch als in meiner Einführung – versucht, die Erkenntnisse aus Philologie und Archäologie miteinander zu verbinden, um zu einer Geschichte der kuschitischen Kultur zu gelangen.
Oberarth, im Frühling 2021
Bevor man sich über ein Thema qualifiziert unterhalten kann, gilt es, sich die terminologischen Grundlagen anzueignen.1 Beginnen wir daher mit den beiden zentralen Begriffen: Napata und Meroë. Beides sind ursprünglich Ortsnamen, die jedoch eponym für ganze Zeitabschnitte der nubischen Geschichte stehen. Diese Zweiteilung rührt daher, dass die materielle Kultur Nubiens zwischen 700 v. Chr. und 400 n. Chr. relativ deutlich in zwei verschiedenen Phasen unterteilt werden kann. Weil in der jüngeren die Herrscher in Nekropolen um die Stadt Napata, in der jüngeren jedoch bei Meroë, einige hundert Kilometer weiter im Süden, beigesetzt wurden, benannte man diese Phasen nach den Orten. Als Richtwerte: Alles zwischen etwa 650 und 300 v. Chr. kann als napatanisch, alles zwischen etwa 300 v. Chr. und 350 n. Chr. als meroitisch bezeichnet werden.
An dieser Stelle muss betont werden, dass diese Trennung umstritten ist, denn wir wissen einfach zu wenig über die politische Geschichte der beiden Epochen: weder, ob es sich tatsächlich um ein und dieselbe Dynastie handelt, die über die gesamten 1.000 Jahre herrschte (wie meist angenommen wird), noch, ob das politische Zentrum in der früheren Phase tatsächlich bei Napata lag oder ob dies zur ein zeremonieller Brennpunkt des Reiches war. Verschiedentlich wurde daher vorgeschlagen, die Unterscheidung aufzugeben; es liege ein kulturelles Kontinuum vor. Doch das gilt streng genommen für die Zeiten davor und danach ebenfalls. Kulturelle Entwicklungen sind im Allgemeinen selten abrupt, sondern häufig graduell. Die Frage ist weniger, wo man die Grenze setzt – wichtiger ist, als wie beherrschend man sie wahrnimmt. Meist wissen wir derart wenige Details und können lediglich die Unterschiede benennen, so dass eine binäre Beschreibung sogar sehr praktikabel ist. Aber vor allem: Sie ist nun einmal etabliert und es hat keinen Sinn, gegen Windmühlen zu kämpfen.
Meroë ist die griechische Wiedergabe eines Ortsnamens aus meroitischen Inschriften. Die Transkription dieses Toponyms ist Medewi/Bedewi, wobei der mittlere Konsonant wohl retroflex war – dieser ungewöhnliche Laut wird von Nicht-Muttersprachlern gerne als r oder l verstanden. Mit ägyptischen Hieroglyphen wird der Ort brwꜢ(.t) geschrieben. Dieses Meroë war das Zentrum eines nubischen Reiches und als solches den griechisch-römischen Autoren bekannt. Dass der Name einer Hauptstadt eponym für das entsprechende politische Gebilde und die dazugehörige Kultur gebraucht wird, ist nicht weiter verwunderlich – man sollte sich lediglich vor Augen führen, dass dies erst durch die moderne Forschung geschah. Zwar nannten die klassischen Autoren die Butana-Steppe »Insel von Meroë«, die antiken Herrscher Nubiens selbst bezeichneten sich jedoch nie als »König von Meroë« o. ä. Erst der Archäologe George Reisner gebrauchte die beiden Ortsnamen »Napata« und »Meroë« als Bezeichnungen für verschiedene Perioden der nubischen Geschichte.2
Napata ist ebenfalls eine griechische Form – die hieroglyphisch-ägyptische Schreibung gibt lediglich das entsprechende Konsonantengerüst wieder (Npyt); die meroitische Form lautet Napa(te). Napata lag am Fuß eines Tafelberges, der seit jeher die gesamte Umgebung beherrscht: der »Reine Berg« (äg. ḏw wʿb; meroit. tawawibi). Heute wird er Gebel Barkal genannt und das zu seinen Füßen gelegene Karima ist eine der wichtigsten Städte des Sudan. Obwohl die grobe Lage klar zu sein scheint, rankt sich um Napata eines der großen Rätsel der Nubienkunde: Was genau bezeichnet dieses Napata? Gab es eine Siedlung dieses Namens oder bezieht sich das Toponym lediglich auf die Tempelkomplexe am Gebel Barkal? Liegt die antike Stadt unter dem heutigen Karima begraben oder lag sie vielleicht nicht in unmittelbarer Nähe des Tafelberges? Weder wurde bislang eine signifikante antike Siedlung gefunden noch die entsprechenden Friedhöfe.
Wie steht es mit der Benennung des gesamten Reiches? Wenn überhaupt, dann wurden die nubischen Könige als »Herrscher von Kusch« (hḳꜢ KꜢš) bezeichnet. Damit sind wir endlich bei einer einheimischen Bezeichnung angelangt. Die Geschichte und vor allem das Nachleben dieses Toponyms ist äußerst interessant.3 Hier nur so viel: Ursprünglich bezeichnete es lediglich ein Teilgebiet Nubiens und wurde um 2000 v. Chr. von den Ägyptern aus einer einheimischen Sprache übernommen und hieroglyphisch durch KꜢš wiedergegeben. Nach seiner semantischen Ausweitung auf ganz Nubien gelangte es als »Kusch« in die Bibel und wurde über das Alte Testament zum Namen einer ganzen Gruppe afrikanischer Sprachen und letztlich auch eines linguistischen Wissenschaftszweiges, der Kuschitistik. Innerhalb der Ägyptologie wurde jedoch der altägyptische Sprachgebrauch weitergeführt. So kommt es, dass »kuschitisch« je nach Disziplin Unterschiedliches bezeichnet: Für einen Linguisten/Afrikanisten ist »kuschitisch« ein sprachwissenschaftlicher Terminus, für Ägyptologen/Nubienkundler bezeichnet es alles, was mit der Kultur von KꜢš zusammenhängt. Das Problem ist, dass beide nichts miteinander zu tun haben. So absurd es klingen mag: Die Kuschiten, also die Einwohner von Kusch, sprachen keine kuschitische Sprache!
Zu allem Überfluss schwankt der Gebrauch des Ausdrucks »kuschitisch« sogar innerhalb der Ägyptologie: Als »kuschitisch« im engeren Sinne gilt nämlich dort diejenige Periode der ägyptischen Geschichte, in der nubische Herrscher die Macht in Ägypten an sich rissen. Heute wird diese Epoche meist als »Kuschitenzeit« bezeichnet – früher nannte man sie den griechischen Autoren folgend auch »Äthiopenzeit« (für die Altvorderen war alles südlich von Elephantine »Aithiopia«). Die Herrscher der Kuschitenzeit werden nach dem Werk des antiken Geschichtsschreibers Manetho als »25. Dynastie« gezählt. Vereinzelt wird die Kuschitenzeit auch der napatanischen Periode zugeschlagen, was zusätzliche Verwirrung stiftet.
Im allerweitesten Sinne ist der gesamte nubische Kulturhorizont seit Beginn des 2. Jts. v. Chr. bis zur Christianisierung »kuschitisch«. So weit geht jedoch niemand. Gemeinhin wird das politische Gebilde, das ohne Unterbrechung zwischen ca. 700 v. Chr. und 400 n. Chr. bestand, als »Königreich von Kusch« bezeichnet. Streng genommen müsste man hier vom »zweiten Reich von Kusch« sprechen, denn das Kerma-Reich (ca. 2500–1500 v. Chr.) wurde von den alten Ägyptern ebenfalls KꜢš genannt. Langer Rede kurzer Sinn: Der Leser ist gut beraten, zunächst in Erfahrung zu bringen, was genau der jeweilige Autor unter »kuschitisch« versteht. In dem jüngst erschienenen Handbook of Ancient Nubia etwa sind alle Lesarten nebeneinander versammelt. Im vorliegenden Werk wird zwischen Kuschitenzeit und napatanischer Zeit unterschieden, selten »kuschitisch« in Abgrenzung zu »ägyptisch« verwendet.
Nun war mehrfach der Begriff Nubien bzw. nubisch verwendet worden, ganz so, als sei dieser selbsterklärend. Dabei handelt es sich um einen Neologismus, der auf eine Eigenbezeichnung der Nubier (nob) zurückgeht. Diese wanderten wohl im Verlauf des 2. Jts. v. Chr. ins Niltal ein und brachten ihre mit dem Meroitischen verwandten nilo-saharanischen Sprachen mit. Auch hier gibt es einen ganz ähnlichen terminologischen Stolperstein wie bei »kuschitisch«: Afrikanisten und Sprachwissenschaftler meinen mit »nubisch« diese Sprache(n) und Ägyptologen allgemein alles, was sich in der historischen Region Nubien abspielte. Mit dem altägyptisch-koptischen Wort für »Gold« (nub) hängt die Bezeichnung nicht zusammen, obwohl man dies häufig lesen kann.4
Nun aber zur Definition: Als Nubien wird der Teil Nordost-Afrikas zwischen dem Südende Ägyptens und der äthiopischen Hochebene bezeichnet ( Abb. 1 a und 1 b). Geographisch betrachtet ist Nubien die Region zwischen dem ersten Nilkatarakt und dem Zusammenfluss des Blauen und Weißen Nils oder – anders ausgedrückt – zwischen Elephantine (der traditionellen Südgrenze Ägyptens) und Khartum (der Hauptstadt des heutigen Sudan). Diese 1847 km werden auch Mittleres Niltal genannt. Kurioserweise ist das Nubien der Historiker nicht deckungsgleich mit dem Siedlungsgebiet der Nubier. Und das Beschäftigungsfeld der Nubienkunde beschränkt sich auch nicht auf das Niltal, sondern reicht im Westen bis tief in die Libysche Wüste hinein, im Osten bis zum Roten Meer und im Süden weit über Khartum hinaus bis zum abessinischen Hochland.
Ein weiterer terminologischer Fallstrick ist der Umstand, dass Unternubien im Norden liegt und Obernubien im Süden. Entscheidend für die Einteilung sind die sechs Nilkatarakte, die von Norden nach Süden durchnummeriert werden. Unternubien liegt zwischen dem ersten und zweiten Katarakt, Obernubien südlich des vierten.
Nubien hat eine Brückenfunktion zwischen dem Mittelmeerraum und Innerafrika inne, und zwar letztlich wegen des Nils. Zwar ist dieser Fluss durch zahlreiche Stromschnellen unterbrochen und daher nicht auf seiner ganzen Länge schiffbar – gleichwohl stellt er die zentrale Lebensader in einer großen Wüste dar, welche die mediterrane Welt von den Regenfeldbau-Gebieten der Tropen trennt.
Will man die Geschichte Nubiens verstehen, ist es unabdingbar, sich über die naturräumlichen Gegebenheiten im Klaren zu sein ( Abb. 1 a und 1 b). Das Mittlere Niltal ist geprägt von politischer Fragmentierung, die zu großem Teil aus der geographischen resultiert: Die Katarakte unterteilen Nubien in mehrere größere Siedlungskammern, in denen das Agrarpotenzial besonders hoch ist und die entsprechend ökonomische wie politische Zentren herausbilden.5 Da wären von Norden nach Süden das Kerma-Becken, das Dongola-Becken und das Letti-Becken sowie das Schendi-Becken. Alle vier sind mit großen Reichen assoziiert: Kerma, Dongola, Napata und Meroë.
Im Folgenden werden einige kulturgeographische Begriffe gebraucht, daher soll hier eine kurze Definition erfolgen: Die Region zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil wird Gezira (arab. »Insel«) genannt. Als Butana bzw. Keraba bezeichnet man das Steppengebiet zwischen dem Nil und seinem einzigen südlichen Zufluss, dem Atbara. Innerhalb des Nilknies nahe dessen Mündung erstreckt sich die Bayuda-Wüste. Auch weil man mit ihnen die Stromschnellen und weitere Wege umgehen kann, waren die Abkürzungen zwischen den Nilknien immer bedeutsam, selbst wenn sie durch die Wüste führen. Freilich gerieten durch derartige Umgehungen auch Regionen ins Abseits, wie etwa das Gebiet zwischen der Atbara-Mündung und dem Dongola-Becken.
Abb. 1 a: Die wichtigsten Fundorte und Regionen im nubischen Niltal bis zum 3. Katarakt (Meroitica 19).
Abb. 1 b: Die wichtigsten Fundorte und Regionen im nubischen Niltal jenseits des 3. Katarakts (Meroitica 19).
Vergleichbares gilt übrigens sogar für das gesamte meroitische Reich: Als die Römer herausfanden, wie man gegen den Wind kreuzt, und das Rote Meer so ganzjährig in beide Richtungen schiffbar wurde, verlor Nubien handelspolitisch seine Exklusivität. Der Handel mit Exotica – nun aus Indien – wurde jetzt vornehmlich über das Horn von Afrika abgewickelt. Es ist also kein Zufall, dass der Aufstieg des abessinischen Reiches von Aksum mit dem Niedergang Meroës zusammenfiel.
Ein geologischer Faktor war für die nubische Geschichte von herausragender Bedeutung: die unterschiedlichen Gesteinsformationen im ägyptischen und nubischen Niltal. Während Ägypten grundsätzlich von Kalkstein geprägt ist, herrscht im Sudan Sandstein vor. Die unterschiedliche Härte dieser Gesteine hat Auswirkungen auf die Ausprägung des Nilufers: Im Norden gibt es weite fruchtbare Ebenen, die viele Menschen ernähren können, im Süden treten die Ufer dicht an den Fluss heran und sind steiler. Im sog. Batn el-Hajar, dem »Bauch der Steine«, ist auf einer Strecke von über 160 km praktisch keine Landwirtschaft möglich; der Nil fließt über weite Strecken sogar durch Wüste. Die größeren Bewässerungen im Norden und die daraus resultierenden Nahrungsüberschüsse sind sicherlich ein Grund, weswegen sich in Ägypten sehr viel schneller ein Staat herausbildete.6 Dies hatte zur Folge, dass die Entwicklung Nubiens von der politischen und militärischen Stärke des nördlichen Nachbarn bestimmt wurde. Nicht umsonst florierten das »erste« und das »zweite« Reich von Kusch jeweils in der sog. zweiten bzw. dritten »Zwischenzeit« in Ägypten. Gebel es-Silsila, wo diese petrologische Grenze liegt, war dann auch in der Frühzeit die eigentliche politisch-kulturelle Südgrenze Ägyptens. Erst in historischer Zeit wurde sie nach Assuan bzw. Elephantine an den ersten Katarakt vorgelagert.
Es kommt nicht von ungefähr, dass frühere Generationen von Ägyptologen »Nubien« mit dem ägyptischen Wort für »Gold« in Zusammenhang brachten. Die dortigen Goldvorkommen waren sicherlich ein Grund, weswegen die Pharaonen immer wieder versuchten, ihre südlichen Nachbarn zu dominieren.7 Daneben bezog man von dort Exotica wie Elfenbein und Straußeneier, Giraffenschwänze und Leopardenfelle oder Ebenholz und Aromata.
Großwild wie Elefanten, Nashörner oder Giraffen war einst auch in Ägypten heimisch gewesen, hatte sich jedoch weit in den Süden zurückgezogen. Der Grund ist in einer Aridisierung des Klimas zu suchen, die vor ungefähr 10.000 Jahren einsetzte, um gegen 4000 v. Chr. etwa die heutigen Verhältnisse zu erreichen. Dieses erst in den letzten Jahrzehnten intensiv erforschte Phänomen ist für mehrere kulturelle Entwicklungen verantwortlich. Es erklärt nicht nur, warum das Niltal überhaupt besiedelt wurde, sondern auch, weswegen sich noch in historischer Zeit immer wieder unterschiedliche Gruppen auf den Weg ins Niltal machten – als nämlich die umliegenden Wüsten endgültig unbewohnbar wurden.
Die angesprochenen Ereignisse aus grauer Vorzeit werfen die Frage auf, in welchem zeitlichen Rahmen wir uns mit dem vorliegenden Buch bewegen.8 Von der Zweiteilung in napatanisch und meroitisch war bereits die Rede. Grundsätzlich wird die Periodisierung und überhaupt die Chronologie des kuschitischen Reiches mindestens so stark von archäologischen Faktoren bestimmt wie von philologischen. Behandeln wir zunächst erstere.
Als der amerikanische Archäologe George Reisner vor einem Jahrhundert die großen Nekropolen der Könige von Kusch ausgrub, war deren Datierung fast völlig unbekannt. Alles, was man wusste, war die zeitliche Stellung derjenigen Herrscher, die als Pharaonen der 25. Dynastie auch über Ägypten geherrscht hatten. Sie waren fast alle in el-Kurru bestattet. Dort fand Reisner nun große Grabanlagen, die offenbar älter waren als die kuschitenzeitlichen, d. h. vor dem Eroberer Ägyptens, Pi(anch)y, angesetzt werden können. Warum Reisner sie für älter hielt, führte er nicht näher aus.9 Nach dieser sogenannten »kurzen Chronologie« regierten vor Pi(anch)y sechs Herrscher. Anhänger der »langen Chronologie« meinen hingegen, dass viel mehr Gräber, die Reisner Mitgliedern der königlichen Familie zugeordnet hatte, als Königsgräber angesehen werden sollten. Die anhaltende Diskussion dreht sich vor allem um die Interpretation einiger ägyptischer Objekte aus jenen Gräbern, die eindeutig spätramessidisch sind. Sind damit die Gräber selbst spätramessidisch, d. h. datieren sie vom Anfang des 1. Jts. v. Chr., oder handelt es sich um »Erbstücke« o. ä.? Die meisten Forscher heute favorisieren wieder Reisners Kurzchronologie. Die Debatte ist deshalb so bedeutsam, weil sie exemplarisch die Schwierigkeiten vor Augen führt, mit der die archäologische Chronologie Nubiens zu kämpfen hat: Die Abhängigkeit von ägyptischem Material und von der Interpretation der Königsgräber.
Reisner hatte nämlich auch die späteren Nekropolen archäologisch datiert, und zwar anhand einer Seriation bei der Entwicklung der Grabformen. Sein grundlegendes Postulat dabei war, dass man von der Größe der Anlage auf die Länge der Regierungszeit schließen könne.10 Wie unsicher dies ist, muss wohl kaum erörtert werden. Hinzu kommen dieselben Abgrenzungsschwierigkeiten wie in el-Kurru: Welches ist überhaupt das Grab eines Herrschers? Ist die Anzahl der Grabkammern ein sicheres Indiz? Verkompliziert wird die Sache in Nubien, da dort zahlreiche weibliche Herrscher belegt sind, das Geschlecht des Grabinhabers also kein Ausschlusskriterium ist. Wie gehen wir mit wiederverwendeten Blöcken um? So wurde etwa die Pyramide Beg. N. 53 (= Begharawiya Nord, Nr. 53) mit Spolien aus sonst nicht erhaltenen Bauten errichtet.11 Haben wir es hier mit einer Form der damnatio memoriae zu tun? Unklar ist auch das Verhältnis der Nekropolen zueinander. In Napata etwa gibt es Pyramiden von Personen, die ziemlich sicher Herrscher waren, die jedoch zeitlich identisch sind mit Pyramiden in Meroë. Reisner meinte, es handle sich um Nebendynastien. Doch auch der Sohn einer Herrscherin mit Grab in Napata wurde in Meroë bestattet.12 Fakt ist allerdings, dass wir bisher keine andere Möglichkeit haben, eine Chronologie zu entwickeln, als Reisners Typologie – weswegen sie in den Grundzügen immer noch gültig ist.
Und damit kommen wir von der relativen zur absoluten Chronologie, die von philologischen Ankerpunkten bestimmt ist. Aufgrund ihrer Gräber gilt es als gesichert, dass nach dem letzten Kuschitenpharao Tanutamani ca. 60 Herrscher regierten. Sowohl ihre genaue Anzahl
Abb. 2: Epochen Nubiens seit der 1. ägyptischen Dynastie. Die Schraffierung kennzeichnet Zeiten, die weitgehend unbekannt sind.
als auch ihre Reihenfolge ist umstritten. Zwar kennen wir viele der Namen, nur von einer Handvoll wissen wir jedoch auch etwas über ihre Taten, da sie uns nur wenige historische Inschriften hinterlassen haben. Darüber hinaus sind diejenigen in meroitischer Sprache bislang praktisch unverständlich geblieben. Die wenigen Punkte, über die wir mehr wissen, ergeben sich aus einer Handvoll von Synchronismen. Das Problem ist nur, dass fast alle umstritten und manche bereits widerlegt sind.13 Der einzige sichere Synchronismus ist ein Graffito aus Philae vom 10. April 253 n. Chr. Es datiert zugleich ins Jahr 3 des meroitischen Königs Teqoride-amani und lässt uns wissen, dass damals Trebonianus Gallus in Ägypten Präfekt war (251–253 n. Chr.).
Wir besitzen nur sehr wenige Informationen darüber, von was genau sich die Menschen ernährten oder von ihrer Lebensweise. Dies hängt damit zusammen, dass Wohnsiedlungen kaum je archäologisch näher untersucht wurden, d. h. unser Wissen beruht fast ausschließlich aus den Informationen, die uns die Friedhöfe geben.1 Wie genau das täglich Brot der Lebenden aussah, entzieht sich unserer Kenntnis. Allein, dass man überhaupt Brot aß, lässt sich durch den Nachweis von Bäckereien an manchen napatanischen Tempeln erschließen und an den vielen Brotmodeln, die ein häufiges Fundgut darstellen.2
Wie erwähnt, war das agrarische Potenzial in Nubien deutlich geringer als im ägyptischen Niltal, da die Nilflut aufgrund der steilen Ufer das meiste Land überhaupt nicht erreichte. Wo dies der Fall war, sprechen wir mit einem arabischen Terminus von seluka-Land, zu dem insbesondere die Nilinseln gehörten. Wirklich substanziell war der Getreideanbau wohl nur im Kerma-, Dongola- und Letti-Becken, wo dann auch die staatlichen Zentren lagen. Ein weiteres Problem der nubischen Landwirtschaft war die große Bandbreite zwischen guten und schlechten Jahren. Ein Beispiel: 1938 konnten im nubischen Niltal 47.000 ha Land bebaut werden, 1949 waren es lediglich 4.500 ha!3
In der Kuschitenzeit wurde zwar der schaduf eingeführt, eine Hebevorrichtung zur Bewässerung, doch hatte dies nur wenig Auswirkungen auf die Ackerflächen. Mit ihm lassen sich nämlich nur Höhenunterschiede bis drei Meter überbrücken und nur kleinere Felder bewässern. Ganz anders war die Wirkung einer ähnlichen Erfindung: In hellenistischer Zeit verbreitete sich die saqia, das Schöpfrad aus Mesopotamien, im Niltal ( Abb. 3).4 Dieses lässt sich archäologisch aufgrund der spezifischen Krugformen gut nachweisen. Mit dem Schöpfrad konnten acht Meter überwunden und dreimal so große Felder bewässert werden – allerdings benötigte man dazu zwei Ochsen. Manche meinen, diese Innovation sei für die Wiederbesiedelung Nubiens nach der Zeitenwende verantwortlich.5
Weiter im Süden, in der Butana, fällt genug Niederschlag für Regenfeldbau. Doch auch hier musste der Niederschlag in den Wadis gesammelt werden, etwa im Wadi Awatib bei Naqa. Um dieses Wasser aufzufangen, wurden spezielle Installationen gebaut, die als Hafire bekannt sind.6 Ein hafir ist etwas zwischen einem Damm und einer Zisterne: eine Depression innerhalb eines Wadis, durch das bei Regen das Wasser fließt, wird so verstärkt, dass sich größere Mengen Wasser sammeln. Bauten dieser Art verlangten kollektive Arbeit – für die größten mussten 200.000 m3 Material bewegt werden. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass diese Hafire nicht nur der Wasserspeicherung dienten, sondern genauso Machtbeweis wie sozialer Treffpunkt waren. So dürften sie dem Staat als Mittel gedient haben, die Menschen zu bündeln, d. h. vor allem, die Nomaden irgendwie zu kontrollieren. Wie wichtig sie waren, erkennt man schon daran, dass meist die Löwentempel mit ihnen in Beziehung stehen. Ob die Hafire lediglich der Landwirtschaft dienten, ist übrigens alles andere als klar – primär genutzt wurden sie mit Sicherheit von den Hirten für ihre Tiere.7 Neben den Hafiren sind kaum Belege für Wasserwirtschaft zu finden, nur sehr vereinzelt eine Zisterne oder ein Damm. Der Grund hierfür ist, dass sich Wasserwirtschaft nur für einen große Absatzmarkt lohnte, etwa für Weizen oder Olivenöl im Römischen Reich.
Was genau wurde angebaut? Da im Sudan andere klimatische Bedingungen herrschen als in Ägypten, waren auch ganz andere Kulturpflanzen dominant. So gedeiht etwa die für das Mittelmeer wichtige Olive hier nicht.8 Es kann davon ausgegangen werden, dass die wichtigsten Getreide Hirse und Gerste waren.9 In späterer Zeit wurde Sorghum (arabisch dhura) das Hauptgetreide. Wie bedeutend es war, zeigt die Felsritzung vom Gebel Qeili ganz im Süden, in der ein Gott
Abb. 3: Funktionsweise eines Schöpfrades (Welsby 2000, 184).
dem Prinzen Sorakarora ein Soghumbündel überreicht ( Abb. 22). Die kultivierte Form von Sorghum wurde bislang erst in post-meroitischer Zeit sicher nachgewiesen – jedoch wurde im Sudan bislang wenig Siedlungsarchäologie betrieben und daher sind archäobotanische Quellen selten.
Datteln sind heute ökonomisch sehr wichtig – ob dies auch für die Antike galt, ist unklar; jedenfalls gibt es keine Belege hierzu. König Harsiyotef berichtet lediglich, er habe in Meroë für den Gott Amun sechs Palmenhaine gepflanzt. Unser Wissen über sonstige Feldfrüchte ist ziemlich begrenzt. Man kann davon ausgehen, dass Bohnen und Linsen, Zwiebeln und Gemüse angebaut wurden.10 Zwar schreibt Pharao Taharqo, es habe in Kawa auch Wein gegeben, und in der Tat sind Weinpressen auch archäologisch bezeugt, doch Wein, den man mit den Füßen presste und aus Bassins abschöpfte, war nie ein großer Exportschlager.11 Möglicherweise beschränkte sich die nubische Weinherstellung auf die Zeit nach dem römischen Rückzug aus dem Dodekaschoinos, als die Verbindungen nach Ägypten gestört waren und folglich die Importe ausblieben. Wenn überhaupt, wurde Wein nur südlich von Kawa lokal produziert. Konsumiert wurde er jedoch überall. So wurde in Qasr Ibrim eine Taverne ausgegraben, was aufgrund der Dekoration (Weintrauben) und der gefundenen Amphoren erschlossen wurde. Ein Graffito aus Musawwarat zeigt zwei Personen, die mit einem Strohhalm aus einem Krug trinken.12
Das vielleicht einzige verarbeitete Gut, das die Kuschiten exportierten, war Baumwollstoff – die nubische Baumwolle galt offenbar als besonders hochwertig, ansonsten hätte sie sich nicht auf dem ägyptischen Markt etablieren können. Zudem wurden Stoffe aus Baumwolle nicht nur in kuschitischen Gräbern aus Ballana und Qustul gefunden, sondern sogar in den königlichen Pyramiden.13 Meist wurden die Kleider wohl in Heimarbeit hergestellt – das jedenfalls legen Funde von Webgewichten und Knochennadeln in Wohnhäusern nahe.14
Bis heute prägen die Hirten das Bild der ländlichen Regionen im Sudan – in der Antike war das nicht anders.15 Dabei ist Vieh nicht gleich Vieh. Rinder hatten mit Sicherheit den höchsten Stellenwert, gefolgt von Schafen und Ziegen, die als besonders genügsame Tiere die wirtschaftliche Basis vieler Pastoralnomaden darstellten. Archäozoologische Überreste aus Meroë haben jedoch ergeben, dass in der Kuschitenzeit mehr Rinder als Kleinvieh gehalten wurde. Ob dies repräsentativ ist, kann bezweifelt werden: Immerhin waren im Zentrum des Reiches nicht nur die Wohlhabenden versammelt, es gab dort auch einen höheren Bedarf an hochwertigen Opfertieren.16 Meist wird davon ausgegangen, im Süden des Reiches habe die Viehzucht vorgeherrscht.17 Ein Argument sind die Hafire, denn Rinder benötigen mehr und regelmäßiger Wasser als etwa Esel oder Ziegen. Im Dongola-Becken waren Rinder jedoch ebenfalls sehr wichtig, man denke nur an die Bukranien (Rinderschädel) in den Kerma-Gräbern des 2. Jts. Die Darstellungen legen nahe, dass die Meroiten die Hörner ihrer Rinder deformierten, wie dies heute noch in manchen afrikanischen Kulturen üblich ist.18 Wir wissen nicht, wie man die Rinder genau nutzte: Ging es primär um Milchwirtschaft, waren sie vor allem Fleischlieferanten oder wurde auch ihr Blut konsumiert wie bei den Masai? Immerhin zeigen Knochenanalysen frühmeroitischer Skelette, dass die Ernährung eher auf tierischen, als auf pflanzlichen Produkten basierte.19
Heute spielt das Kamel im Sudan eine große Rolle, da es am besten von allen Nutztieren an das Wüstenklima angepasst ist. Die Kuschiten kannten das Kamel jedoch noch nicht – es wurde erst relativ spät im Niltal eingeführt, wann genau ist umstritten.20 In spätmeroitischer Zeit scheint es bekannt gewesen zu sein, wie etwa Funde von Kamelknochen und -sätteln aus Gräbern oder bildliche Darstellungen nahelegen.21
Für die Assyrer war Nubien das Land der Pferde.22 Offenbar verfügten die Kuschiten über besonders hochwertige Tiere, denn sie dienten nicht nur als diplomatische Geschenke, sondern wurden auch bis nach Vorderasien exportiert. Ihr hoher Stellenwert in Nubien selbst zeigt sich darin, dass sich mehrere Kuschitenpharaonen mit ihren Pferden bestatten ließen und dies sogar in den postmeroitischen Tumuli von Ballana/Qustul noch der Fall war.
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Jagd im Reich von Kusch keine Rolle mehr für die Ernährung spielte.23 Dies ist sehr fraglich, denn selbst im pharaonischen Ägypten war sie immer noch nicht ganz unbedeutend und die nubische Gesellschaft war deutlich nomadischer geprägt. Zahlreiche Graffiti aus Musawwarat zeigen die Jagd mit Hunden, Pfeil und Bogen sowie Speeren, allerdings könnte man hierin auch Zeugnisse für das Jagdvergnügen einer Elite sehen.24
Dass sich Menschen, die an einem Fluss leben, hauptsächlich von Fisch ernähren, scheint selbstverständlich. In der Tat wurden sogar Gruben mit Fischsauce gefunden25 – vielleicht handelt es sich um ein im heutigen Sudan typisches Gericht, tirkeen, bei dem Fisch in Krügen konserviert wird.26 Man kann sich trotz alledem fragen, ob man nicht eigentlich sehr viel größere Mengen an Fischknochen finden müsste. Eine mögliche Erklärung stellt die Siegesstele des Pi(anch)y bereit: Zumindest bestimmten Personengruppen war der Fischgenuss offenbar aus Gründen der kultischen Reinheit untersagt.
Da wir nur über vereinzelte Textquellen verfügen, ist unsere Kenntnis der sozialen Strukturen begrenzt, zumal die archäologischen Quellen vornehmlich aus dem funerären Bereich stammen. Diese lassen zwar allgemeine Aussagen etwa zur Stratifizierung zu, erlauben es aber nicht, die Beziehungen im Einzelnen zu fassen. Ethnoarchäologische Analogien sind naturgemäß ebenfalls mit Schwierigkeiten verbunden. Hinzu kommt, dass es immer irgendwie verlockender war, sich mit dem Meroë der Könige zu befassen als mit dem Meroë der einfachen Viehhirten. Gleichwohl lassen sich durchaus grundlegende Aussagen zur meroitischen Gesellschaft treffen.1
Viel stärker noch als die ägyptische Gesellschaft hatte die meroitische zwei Standbeine: Ackerbau und Viehzucht. Eine der Grundeigenheiten der nubischen Kultur ist dann auch das Oszillieren zwischen Sesshaftigkeit und Nomadismus. Andererseits darf man sich von der Propaganda der antiken Texte nicht verleiten lassen: Die Grenzen zwischen beiden Lebensweisen waren nie fix – es spricht sogar viel dafür, dass ein Großteil der Menschen in Transhumanz lebten. Und selbst wo dies nicht der Fall war, profitierten beide Seiten von einem Miteinander: Während der Erntezeit gibt es einen erhöhten Bedarf an Arbeitskräften – bei Nomaden war das entsprechende Zubrot sicherlich willkommen; Herden können außerdem die Stoppelfelder noch sehr gut verwerten. Überhaupt bauen Nomaden durchaus Feldfrüchte an und Sesshafte haben meist ebenfalls Vieh: Vor der Flutung des Nilhochdammes in den 1960er Jahren besaßen die 50.000 sesshaften Bewohner Unternubiens 2831 Rinder, 19.335 Schafe und 34.146 Ziegen.2
Der wichtigste Unterschied zu heute ist der Bestand an Kamelen, einem typischen Tier der Beduinen. Im Sudan sagt man: Kamele bilden den Reichtum ab, Schafe dienen als Notgroschen und Fleischlieferant für Feste, und für den täglichen Bedarf hat man die Milch gebenden Ziegen. Dies kann durchaus auf die Antike übertragen werden, nur dass die ökonomische Rolle des Kamels durch das Rind übernommen wurde. Ohne Kamele war Nomadismus über weitere Entfernungen nur während der Regenzeit möglich. Überhaupt denken wir bei Nomaden meist an die Tuareg oder Araber, welche den Handel quer durch die Sahara betreiben – hochspezialisierter Nomadismus dieser Art ist jedoch eher selten; Mischformen sind viel weiter verbreitet. Dass die Libyer bzw. Berber schon sehr lange Nomadismus dieser Art betreiben, ist bekannt,3 wie genau die Verhältnisse im Niltal waren, entzieht sich unserer Kenntnis.
Neben der Dichotomie »nomadisch versus sesshaft« wird gerne eine weitere gesehen: Im Norden habe der Ackerbau dominiert, im Süden die Pastoralwirtschaft.4 Diese Vorstellung resultiert jedoch aus einer forschungsgeschichtlichen Verzerrung. Zum einen hat sich die Forschung in der Vergangenheit allzu sehr auf das Niltal beschränkt, zum anderen war Unternubien durch die Rettungsgrabungen, die den Staudammprojekten vorausgingen, lange schlichtweg besser erforscht. So kommt es, dass Unternubien als blühendes Zentrum galt und der Süden als rückständig. Heute hat sich die Perspektive beinahe umgekehrt.
Eine weitere nubische Eigenheit ist der Partikularismus, der letztlich aus der Vielzahl an Lebensräumen resultiert: vom Wüsten- bis zum Tropenklima. Besonders die ariden Landstriche waren immer besonders anfällig, d. h. immer wieder strömten Gruppen bei allzu großer Trockenheit ins Niltal und wurden von dessen Bewohnern als Bedrohung wahrgenommen. Zugleich sind Nomaden staatlichen Gebilden oft suspekt, da sie sich deren Kontrolle zumeist entziehen. So erklärt sich, warum die Könige in ihren Feldzugberichten häufig Konflikte mit nomadischen Gruppen thematisieren. Andererseits hatte der Umstand, dass ein signifikanter Teil der nubischen Gesellschaft nicht ausschließlich sesshaft war, gravierende Auswirkungen auf die Verfasstheit des Staates. Während sich im vornehmlich agrarischen Ägypten ein bürokratisch straff organisierter Zentralstaat etablieren konnte, waren die kuschitischen Könige immer auf die Kooperation lokaler Führer angewiesen. Man spricht folglich hier von einem segmentären Staat.5
Allzu oft wurde in der Nubienkunde von Ägypten auf Nubien extrapoliert, dies ist jedoch ausgesprochen irreführend, wahrscheinlich waren schon die Vorstellungen von Landbesitz völlig verschieden.6 Während der Zugriff auf Ackerland im pharaonischen Niltal die Basis der Wirtschaft darstellte, weil der Staat auf seine Erzeugnisse Steuern erhob, gründete in Nubien die Macht des Königs darauf, dass er über Menschen verfügen konnte. In Ägypten ging es um Landbesitz, in Nubien um Nutzungsrechte. Weil dies lange nicht erkannt wurde, konnten zwei radikal gegensätzliche Thesen nebeneinander entwickelt werden: Manche gehen im Reich von Kusch von einem redistributiven System aus, bei dem der Staat alle Ressourcen einzog und dann wieder verteilte. Andere meinen, es habe in Napata/Meroë nur reine Subsistenzwirtschaft gegeben.7 Dass Letzteres nicht sein kann, muss jedem einleuchten, der sich die Luxusgüter in den Elitegräbern vor Augen führt. Nur am Rande sei erwähnt, dass es aus jener Zeit Ostraka (Scherben von Tongefäßen) gibt, die wie Quittungen o. ä. aussehen.8
Welcher Ethnie fühlten sich die Einwohner von Kusch angehörig? Wie bei jeder Kultur – zumal bei einer antiken – ist dies sehr schwer festzumachen.9 Wir besitzen jedoch in Nubien einmalige Einblicke, weil nämlich die Kuschitenherrschaft auch im quellenreichen Ägypten Spuren hinterlassen hat.10 Es geht um die nubischen Höflinge, Priester und Soldaten, welche die kuschitische Oberherrschaft über Ägypten vor Ort sicherstellen sollten und deshalb nicht nur dort lebten, sondern auch dort bestattet wurden. Gerade in der Abgrenzung zum Ägyptischen bzw. in der Akkulturation ist stellenweise recht gut greifbar, wie sich zumindest diese Oberschicht darstellte. Freilich muss betont werden, wie unscharf ein derartiges Bild sein muss und dass es sich lediglich auf einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft in einer besonderen Situation bezieht. Möglicherweise können wir zudem viele dieser Kuschiten im Ägypten der 25. Dynastie gar nicht identifizieren, da sie sich gänzlich ägyptisch gaben.
Die Nubier traten in jener Zeit – im Gegensatz etwa zu den Libyern – nie als Gruppe auf, sondern immer nur als Individuen, die gemeinsame Merkmale aufweisen.11 Des Weiteren fällt auf, dass fast keine Nubier explizit als Militärs ausgewiesen sind. Wie ist das zu bewerten? Sicherlich dürfte es Militärs in größerer Zahl gegeben haben. Oder verließen sich die Kuschiten allein auf ihren Einfluss auf die lokalen Machthaber? Oder waren Soldaten nur temporär in Ägypten stationiert und wurden daher nicht dort begraben? In jüngster Zeit wurde postuliert, es sei einfach gegen die kuschitischen Traditionen gewesen, militärische Titel im Grab aufzuführen.12
Im Allgemeinen lassen sich die Kuschiten jener Zeit anhand mehrerer Merkmale identifizieren.13 Da wären zum einen ihre nicht-ägyptischen Namen, die – bei aller Vorsicht – sicherlich den deutlichsten Hinweis geben. Daneben fallen die Grabdekorationen durch Besonderheiten auf, die einen bewusst anderen Umgang oder mangelnde Vertrautheit mit den ägyptischen Konventionen nahelegen. So finden sich atypische Schreibungen, aber auch fehlerhafte Graphien, fehlende, falsche oder Pseudo-Hieroglyphen. Wie es scheint, brachten die Kuschiten ihre eigenen Schreiber oder Vorlagen mit nach Ägypten oder gaben selbst bestimmte Elemente vor. Konkreter gibt es ikonographische Abweichungen, sei es bei den Körperproportionen oder bei Frisuren oder Kostümen. Hier ist vor allem der sogenannte »Kuschitische Mantel« zu nennen ( Abb. 12).14 Auf bemalten Stelen aus Abydos werden die Kuschiten teilweise mit dunkler Hautfarbe abgebildet.15
Die Grabausstattung verrät ebenfalls einen kuschitischen Ursprung. So finden sich Alltagsgegenstände aus der Heimat, etwa Trinkgefäße, oder bestimmte Objektgattungen in speziellem Kontext, z. B. Spiegel oder Uschebtis. Letzteres hat zu der These geführt, die Uschebtis hätten für die Kuschiten eine gänzlich andere Funktion gehabt als für die Ägypter.16 Einige der kuschitischen Bräuche könnten sogar auf die ägyptischen eingewirkt haben. So war das Perlennetz, mit dem in der ägyptischen Spätzeit die Mumie bedeckt war, wohl eine kuschitische Entwicklung.17 Vielleicht sind auch gewisse archaisierende bzw. antiquarische Tendenzen auf die Kuschitenherrschaft zurückzuführen.18
Wie schwierig all dies zu interpretieren ist, führen uns die Zeugnisse von Udjarenes vor Augen, der Gemahlin des thebanischen Machthabers Monthemhet. Sie stammte aus dem kuschitischen Königshaus und wird selbst innerhalb ihres eigenen Grabes (TT 34) mal als Ägypterin, mal als Nubierin dargestellt. Damit noch nicht genug: Monthemhet trägt teilweise ebenfalls kuschitische Züge, womit wohl seine politische Nähe zu den Kuschiten ausgedrückt werden soll – ein Paradebeispiel »situativer Ethnizität«.19
Wie sind diese Befunde insgesamt zu interpretieren? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es keine gemeinsame Identität im Reich von Kusch gab – die Leute fühlten sich allein ihrer Gruppe, ihrem Clan verpflichtet.
Bekanntlich wird die ethnische Identität aus verschiedenen Faktoren zusammengesetzt. Dazu gehört die materielle Kultur oder die Bestattungssitten, der Lebensraum und die Lebensweise. In Nubien überschreiten letztere soziale-ethnische Grenzen, was die Dinge ungemein komplexer macht. Hinzu kommt, dass wir es in Nubien zumeist mit schriftlosen Gesellschaften zu tun haben – Sprache ist jedoch unbestreitbar einer der wichtigsten Faktoren, wie etwa die Identität der heutigen Nubier zeigt.20 Daher soll zunächst näher behandelt werden, was wir über die Sprachen wissen, die im napatanischen und meroitischen Nubien gesprochen wurden – eine ausführlichere Darstellung findet sich in meiner Einführung in die Meroitistik.21
Zunächst haben wir es hier mit drei Arten von Quellen zu tun: den Selbstzeugnissen der Könige in napatanischer und meroitischer Sprache und Schrift, den späteren altnubischen Texten aus dem christlichen »Mittelalter« sowie der zumeist altägyptischen Nebenüberlieferung. Als »napatanisch« bezeichnet man Inschriften, die zwar in (manchmal etwas eigenwilligen) ägyptischen Hieroglyphen geschrieben sind, sprachlich jedoch von einem deutlich »nubischen« Substrat geprägt sind ( Abb. 4).22 Die meroitische Schrift ist wohl eine radikale Weiterentwicklung der napatanischen, nämlich eine eigene Silbenschrift mit sowohl linearer (»demotischer«) als auch bildhafter (»hieroglyphischer«) Ausprägung (
Abb. 5). Die altnubische Schrift wiederum stellt eine Fortschriftung der auf dem Griechischen basierenden koptischen Alphabetschrift dar.
Abb. 4: Auswahl speziell napatanischer Zeichen (Schrifttafel des Autors).
Die altnubischen Texte bezeugen, dass der wohl größte Teil der Nubier in christlicher Zeit Nubisch im linguistischen Sinne sprach, d. h. eine nilo-saharanische Sprache, die bis heute in mehreren Dialekten gesprochen wird. Die meroitischen Texte legen nahe, dass zumindest die politische Klasse sich einer eng damit verwandten Schriftsprache bediente, des Meroitischen. Obwohl bereits seit über einem Jahrhundert
Abb. 5: Die meroitische Schrift (Schrifttafeln des Autors).
vermutet wird, dass Meroitisch und Nubisch eng verwandt sind, konnte dies erst in jüngster Zeit stringent nachgewiesen werden.23 Weil die Verwandtschaft sehr eng ist, lässt sich leider kaum entscheiden, ob das fremde Substrat im Napatanischen dem Meroitischen oder dem Nubischen zugewiesen werden muss. Dasselbe Problem besteht bei der antiken Nebenüberlieferung: Gemeinhin gelten die »nubischen« Namen und Wörter in ägyptischen Texten vor und während der 25. Dynastie als »proto-meroitisch«, doch dies ist alles andere als gesichert.24
Aus der Nebenüberlieferung sowie über die historische Sprachwissenschaft lässt sich erschließen, dass neben der napatanischen Kreolsprache, der meroitischen Schriftsprache und den nubischen Dialekten schon seit Jahrtausenden noch zwei weitere Sprachgruppen vertreten waren: das tu-Bedauiye (die Sprache der Beja-Nomaden) sowie libysch-berberische Sprachen.
Zunächst zu zwei der großen Probleme der Nubienkunde: Seit wann siedelten Sprecher des Meroitischen und seit wann solche des Nubischen im Niltal? Beide Gruppen waren wahrscheinlich ursprünglich nicht in Nubien heimisch, denn wir finden vor dem 1. Jt. v. Chr. keine Spuren nilo-saharanischer Sprachen in ägyptischen Texten über Nubien. Außerdem wurden und werden im gesamten Nordostafrika zwischen dem Maghreb und dem Horn von Afrika Sprachen gesprochen, die zu einer anderen Sprachfamilie gehören: den semitohamitischen Sprachen. Zu diesen zählen nicht nur die Berbersprachen und das Altägyptische, sondern auch die semitischen Sprachen wie Arabisch oder Altäthiopisch und die im sprachwissenschaftlichen Sinne kuschitischen Sprachen.
Wenden wir uns zunächst dem Nubischen zu. Heute sind am Nil noch mehrere nubische Sprachen in Gebrauch (Kenzi, Dongolawi und Nobiin); zu diesen zählen ferner Midob und Birgid im Darfur und verschiedene weitere kleine Sprachinseln westlich des Niltals. Die beherrschende Schriftsprache des christlichen »Mittelalters«, die Schriftsprache des Königreichs Nobattia, wird Altnubisch genannt, obwohl Altnobiin korrekter wäre. Im Reich von Makuria sprach man eine alte Form des Dongolawi25 und im südlichsten der drei nubischen Reiche, in Alwa, eine etwas spezielle Form, für die sich bislang keine Bezeichnung etabliert hat – ich selbst habe sie einmal als »Alwa-Nubisch« bezeichnet, Claude Rilly spricht von »Soba Nubian«.26
Da ich die Forschungsdiskussion an anderer Stelle2728