Anomal
Die Flucht aus der Nervenklinik
© 2021 Silveer Niehaus
ISBN Softcover: 978-3-347-46873-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-46885-6
ISBN E-Book: 978-3-347-46888-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
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Kapitel 1: Gekennzeichnet von der Angst
Ich. Ich, ganz allein, verbringe Stunden um Stunden, Tage um Tage, Monate um Monate hier, nur weil meine Eltern dachten, ich sei ein Problemkind. Mit 16 Jahren gefangen in einem anderen Land, fern von all jenen, die ich liebe. Ich gebe zwar die Hoffnung nicht auf, bald zurückzukehren, doch wann es endlich dazu kommt, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich gerne an die Zeit zurück, in der ich noch frei war und nicht umgeben von 4 Wänden aus Stein. Das Leben genießen, vernünftig aufwachsen, befreit von jeglichen Problemen sein. Doch leider ist mir das seit meinem 14. Lebensjahr verwehrt gewesen. Meine Eltern wussten nicht mehr weiter mit mir und jetzt fühle ich mich wie ein Insasse in einem Inselgefängnis, jedoch bin ich keine Person, die etwas anstellen würde. Ich bin kein Krimineller.
„Stefan, es ist Zeit fürs Mittagessen!“, ertönt es, als sich meine Zimmertür öffnet.
„Schon? Was gibt es denn heute?“, entgegne ich mit einem starren Blick zur Tür vom Bett aus.
„Ich war so frei und habe dir das Schnitzel mit der Pilz-Soße bestellt. Dazu Pommes als Beilage mit Wasser als Getränk“, sagt die Aufseherin. Eine reinweg gutherzige Haut. Ihr Name ist Leonie und sie kommt ebenfalls wie ich aus Deutschland. Sie gibt, anders als so manch andere, Rücksicht auf meine Probleme und sorgt sich um mich wie ihr eigenes Kind. Ihr Herz schlägt regelrecht für unsere Gesundheit und dafür, dass wir unsere Probleme überwinden.
„Kommst du dann?“, fragt Leonie. Ich schlüpfe in meine Pantoffeln und gehe mit ihr zum Speisesaal. Mein Zimmer sehe ich bis in den späten Abend nicht wieder. Der Gang zum Speisesaal ist schwer genug. Immer im Gedanken, dass danach der Tag richtig anstrengend wird und einfach nicht enden will. Die Mittagszeit ist die einzige Zeit, in der sich die Patienten aller drei Distrikte treffen, so ähnlich wie eine Verabredung. Viele soziale Kontakte hat man hier immerhin nicht, also nimmt so ziemlich jeder, was er kriegen kann und tauscht sich mit den Leuten dort aus. Viel Freiheit hat man dort jedoch nicht. Sicherheitspersonal überall und die riesigen Porträts, die einen förmlich nieder starren.
„Deine Freunde kommen zu Tisch 7. Ich habe es den Aufsehern dieses Mal gesagt“, sagt Leonie mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich kann nicht anders, als selbst zu grinsen und mich zu bedanken. Ich mache mich auf zu meinem Tisch und das kurze Gefühl der Geborgenheit wird sofort von der Überwachung erschlagen. Besonders erschütternd ist dabei ein Porträt. Lucifer Madieu, Gründer der Nervenheilanstalt Madieu in Odense, Dänemark. Diesen Mann kenne ich aber besser als den, der einen Hochsicherheitsknast für Psychos errichtet hat. In den Medien ist er immer der Ritter in schillernder Rüstung, doch hier mehr ein eiserner Führer, dessen Intention uns unbekannt ist. Er gibt sich als ein Held aus, der sich dafür einsetzt, Leute wie mich zu heilen, aber von dem, was wir mitbekommen, bleibt nicht viel übrig. Eher erfreut er sich an unserem Leidwesen. Eine widerliche Kreatur. Erzielt eine Therapie nicht den gewünschten Erfolg in einem gewissen Zeitraum, nehmen die Methoden ein Extremum an. So weit, dass sogar sogenannte „erweiterte Therapiemittel“ angewandt werden. Manche Patienten sah ich dann für mehrere Tage nicht zur Mittagszeit an ihrem Stammplatz und wenn sie zurückgekehrt sind, dann mit mindestens einem mittelschweren Trauma, sodass man meinen könnte, dass diese Leute in den dritten Distrikt gehören. Wie es zu diesen Methoden kommt, ist jedem Patienten unbekannt, ebenso um was es sich genau handelt und all die, die so etwas erfahren haben, teilen ihre Erlebnisse nicht.
Wie dem auch sei, nun sitze ich einmal mehr hier im Speisesaal und warte auf mein Essen. Kaum eine Minute später kommt auch schon Claire an meinen Tisch. Langes, schwarzes Haar, ein Auge verdeckt, schwarz gekleidet und kreidebleich. Eine wahrliche Schönheit, wenn man sie im richtigen Licht sieht und genau das ist ihr Problem. Photophobie, die Angst vor Licht oder um es sanfter auszudrücken: Sie ist lichtscheu. Deshalb sieht man sie nie ohne ihren schwarzen Schirm, den sie immer entgegen jeder Lichtquelle hält. So jemand wie sie wird sich in solch einer Räumlichkeit wie dieser, hell ausgeleuchtet mit weißen Wänden und großen Fenstern in Richtung Süden, niemals wohlfühlen können. Ich kenne sie, seitdem ich hier bin. Kaum zu glauben, dass ihre deutsch-französischen Eltern sie von Frankreich hier hingeschickt haben. Claire ist mittlerweile 18 und eine Patientin aus dem ersten Distrikt. Ihre Ängste machen ihr zwar mental zu schaffen, aber sie stellt keine Gefahr dar. Anders als Leute wie ich. Ich komme aus dem zweiten Distrikt und das allein heißt schon nichts Gutes. Patienten aus dem zweiten Distrikt können durch ihre Ängste vollkommen die Fassung verlieren und somit eine Gefahr für ihr Umfeld darstellen oder in anderen Worten: Patienten aus dem zweiten Distrikt könnten eine mittelschwere Gefahr darstellen. Ich landete hier nicht durch einen Mord, sondern durch vermehrten Gewaltausbrüchen, bis ich schließlich eines Tages meinen Vater ins Krankenhaus befördert habe. Sie mussten mich aber auch immer wieder vor Entscheidungen stellen. Mich, einen Jungen mit Decidophobie. Von Tag zu Tag merke ich, wie sehr mich der Aufenthalt hier mitnimmt. Gefühlt mache ich keine Fortschritte. Wundert mich schon etwas, dass ich selbst noch nie Kontakt mit diesen „erweiterten Therapiemitteln“ hatte. Doch beschweren kann ich mich nicht. Claire setzt sich mir, wie gewohnt, gegenüber.
„Was steht heute bei dir auf dem Plan?“, entgegne ich ihr.
„Das Übliche, aber ich darf heute endlich mal wieder mit meinen Eltern telefonieren. Ich denke, dafür kann man den Tag wohl überstehen“, antwortet sie. Immerhin schön zu wissen, dass ihre Eltern etwas von ihr wissen wollen. Bei manchen Patienten sieht die Sache anders aus.
„Klingt doch super!“, sage ich, „Ich würde auch gerne was von meinen Eltern hören, doch das ist ja leider nur Leuten aus dem ersten Distrikt gewährt.“ Claire wird etwas rot vor Scham.
„Sorry“, murmelt sie, „Ich wollte dich nicht an deine miese Lage erinnern.“
Ich fange an zu schmunzeln, lehne mich zu ihr rüber und flüstere: „Hey, meine Therapiemethoden werden ab heute umgestellt, vielleicht werde ich ja im Laufe der kommenden Wochen in den ersten Distrikt versetzt. Und wenn das nicht mal ein Ziel ist, dann weiß ich auch nicht.“ Claires Gesicht erstarrt.
„Die stellen deine Therapiemethoden um?“, fragt sie zimperlich, „Stefan, die reden von den ‚erweiterten Therapiemitteln‘!“
Ein Teil von mir ist sich dessen bewusst, doch irgendwie bin ich davon überzeugt, dass es nicht so kommt. Die Osttür des Speisesaals öffnet sich. Automatisch wenden sich alle Blicke dorthin, weil jeder, der dort hindurch kommt, so was wie eine Berühmtheit in diesem Haus ist. Jeder, der dort hindurch kommt, ist ein Patient des dritten Distrikts. Diese Leute sind das absolute Ultimatum. Durchgehende Betreuung rund um die Uhr ist bei diesen Patienten gefordert, weil diese durchgehend eine Gefahr für sich selbst und andere darstellen. In anderen Worten: Patienten aus dem dritten Distrikt sind laufende Zeitbomben. Verwunderlich, dass sie zur gleichen Zeit wie die anderen essen dürfen. Zu jedem Patienten kommen in den Speisesaal ein Betreuer und ein Sicherheitsbeauftragter. Beide sind speziell ausgebildet für solche Patienten. Somit soll die totale Kontrolle über die Patienten gewährleistet werden. Würden ich oder Claire durchdrehen, dann würde uns einer der allgemeinen Sicherheitsleute aufhalten und uns aus dem Raum schaffen. Dreht hingegen jemand aus dem dritten Distrikt durch, wird dieser innerhalb von zwei Sekunden von dem Spezial-Sicherheitsbeauftragten bewegungsunfähig gemacht und die Betreuer verabreichen denen ein Beruhigungsmittel, das teils so stark ist, dass sie regelrecht ins Koma fallen. Damit wir uns nicht gegenseitig auf die Palme bringen, ist jeder mit einem Ausweisschild gekennzeichnet, auf dem der Name sowie psychische Störung in Fachsprache, Dänisch, Englisch und Deutsch stehen. Deutsch ist aber nur darauf, weil gut ein Drittel der Anwesenden deutsche Wurzeln haben. All meine Freunde sprechen Deutsch, aber ich habe hier auch nicht viele. Allerdings schreitet durch die Osttür Luuk, ein weiterer Freund von mir. Natürlich in Begleitung von einem Betreuer und einem Sicherheitsmann und die hat er echt nötig. Der kleine, gerade mal 11 Jahre alte, Junge leidet an der Panophobie, auf Deutsch: die Angst vor allem. Keiner kann sich das Ausmaß an Furcht vorstellen, das er durchlebt. Es ist ein Wunder, dass er sich überhaupt mit mir und Claire abgibt. Zitternd mit seiner Begleitung geht er in unsere Richtung und setzt sich neben Claire. Sie legt ihren Arm um ihn und er schmiegt sich an sie. Nicht einmal bei den Betreuern macht er das. Sie muss echt was Besonderes für ihn sein.
„Na, Luuk?“, sage ich in der Hoffnung, ihn zu entspannen, „Läuft soweit alles gut bei dir?“ Luuk löst Claire ein wenig aus seinem festen Griff und nickt zimperlich.
Ganz unsicher zwängt er aus seinem Brustkorb eine Gegenfrage: „Konntest du dich für ein Essen entscheiden?“.
Ich lasse mich daraufhin entspannt in den Stuhl sacken und sage: „Seh’ ich aus wie ’n Typ, der Entscheidungen trifft?“ Claire beginnt zu kichern.
„Leonie macht den Scheiß für mich“, versichere ich Luuk im Anschluss. Luuk sieht mich allerdings verunsichert an, einerseits da er sich den Namen meiner Betreuerin nicht merken kann und weil ich mich eines vulgären Vokabulars bediene.
Luuks Betreuerin, die neben ihm sitzt, schaut mich mit einem Todesblick an und sagt in einem unterschwellig aggressiven Ton: „Denke über deine Worte nach!“
Mein Blick schweift von der Betreuerin zu Claire. Sie lächelt zurück und streichelt Luuks Rücken. Luuk hingegen wirkt nach wie vor angespannt. Den Kleinen zu entspannen, schafft echt nur Claire und ehe ich mich dazu äußern kann, kommt schon die Küchenchefin mit dem Essen. Eins muss ich dem Haus lassen, das Essen ist angemessen und der Komfort reicht vollkommen aus. Immerhin bekommt nicht jeder sein Essen gebracht. Ein schönes Schnitzel mit Pilz-Soße, dazu Pommes und ein stilles Wasser. Zwar würde ich gerne mal einen halbtrockenen Wein dazu probieren, aber hier bekommt niemand Alkohol ausgehändigt und wenn dem so wäre, dann wäre dies bestimmt limitiert auf den ersten Distrikt. Diesen Leuten geht es nun mal am besten von uns. Mein Blick schweift von meinem Essen auf das von Claire. Es ist irgendwas Französisches. Ganz ehrlich, ich habe aufgegeben, diese Gerichte zu entziffern, als sie nämlich mal anfing, von Schnecken und Fröschen zu reden, blieb mir das Essen im Hals stecken. Sieht ziemlich grün aus, könnte auch einfach vegetarisch sein. Doch ehe ich nachfrage, genieße ich lieber mein eigenes Essen. Luuk hat sowieso wieder den Vogel abgeschossen. Einfach nur Nudeln. Noch nicht mal eine Soße oder so dazu und trotzdem bekommt er das Zeug nur mit äußerster Furcht runter. Doch er ist einfach ein Sonderling. Nudeln können ihn erwürgen, an Soßen und Suppen kann man ertrinken, an den Kanten einer Pizza kann man sich schneiden, wenn man die Kerne einer Wassermelone mitisst, wächst einem ’ne Melone im Bauch oder mein absoluter Favorit: durch die Kohlensäure eines Softdrinks könnte sich die Zunge auflösen. Der Kleine trifft die besten Aussagen, aber das kommentiere ich mal nicht weiter.
Beim Essen stellt Claire wie aus dem Nichts eine Frage, jedoch nicht an mich, sondern an Luuks Betreuerin: „Wenn die Therapiemethoden umgestellt werden, heißt es dann, dass man mit den ‚erweiterten Therapiemitteln‘ zu tun hat?“ Meine Augen rollen nach oben, damit ich Claire sehen kann. Die Betreuerin wirkt deutlich überrascht. Als dies ersichtlich wurde, setzen auch noch Luuk und ich sie mit unseren neugierigen Blicken unter Druck. Ich weiß ganz genau, warum Claire diese Frage stellt.
„Nun ja …“, stottert die Betreuerin, „Es kommt immer ganz darauf an, wie lange die Therapie erfolglos war.“
Claire nickt und führt ihre Frage weiter aus: „Sagen wir, dieser Patient weist seit circa zwei Jahren keinen Fortschritt auf …“
Doch die Betreuerin unterbricht nervös: „Ich darf keine weiteren Auskünfte geben!“
Claire schaut mich daraufhin urteilend an. Ich möchte am liebsten jeden Augenkontakt meiden, doch als ich dann Luuks Gesicht sehe, wurde mir klar, dass jetzt auch er den Braten gerochen hat. Die Stimmung an unserem Tisch ist im Keller. Uns allen war klar, dass mir nach dem Essen irgendwas passieren wird. Ich stelle mir mit jedem Bissen schlimmere Szenarien vor. Als dann die Mittagszeit vorbei ist, holt mich Leonie aus dem Speisesaal ab und führt mich in den Therapieraum. Nicht einmal in ihrer Gegenwart kann ich mich entspannen. Was wohl Claire und Luuk in genau diesen Zeitraum denken. Claire macht sich vielleicht Gedanken, doch Luuk hat genug eigene Probleme, nehme ich mal an. Nun ja, alles ist für ihn ein Problem. Wir setzen uns in den Raum, doch statt der gängigen Routine zückt Leonie eine Spritze.
Sie sieht mich an, zeigt mir die Spritze und sagt: „Wenn du dich entscheiden könntest, dann wäre das die eine Entscheidung in deinem Leben, die dir leicht fallen würde.“ Ich neige bloß meinen Kopf wie ein verwunderter Hund und ehe ich bis „Drei“ zählen kann, hat Leonie meinen Arm fest im Griff und spritzt mir die volle Dosis.
Sie geht Richtung Tür und sagt mit Tränen in den Augen: „Ich komme zurück, wenn du es am wenigsten willst.“
Die Tür schließt sich und ich bin allein. Wenige Zeit später spüre ich die Wirkung des Medikamentes, wenn es denn eines war. Ich fühle mich wie ein Engel, der seine Freiheit wiedererlangt hat. Es ist unbeschreiblich, wie gut ich mich fühle, doch dann passiert das, was ich nie durchleben wollte. Nach diesem Höhepunkt der Gefühle kracht meine Laune auf ein absolutes Minimum. Es geht mir so dreckig, dass ich den Eindruck habe, ich wäre eine Leiche inmitten des Raumes. In diesem Moment öffnet sich die Tür und es steht Leonie darin, allerdings ist sie nicht allein. Sie wird begleitet von zwei Männern in schwarzen Kitteln und von Lucifer Madieu höchstpersönlich. Dieser setzt sich mit ihr an die Wand links von mir. Ich strecke meine Hand in Leonies Richtung, doch einer der Männer macht mich bewegungsunfähig. Lucifer Madieu schaut hochnäsig auf mich herab, als wäre er ein Gott.
„Also dann, Stefan Ackerheim“, sagt Madieu in einem nahezu königlichen Tonfall, „Hiermit stellen wir deine Therapiemethoden um.“ Ich kann der Ratte wegen der Wirkung des Medikaments nur schwer folgen.
Er fährt fort: „Dies sind Ruben und Charles. Deine neuen Therapeuten. Diese zwei netten Herren sind Spezialisten meiner ‚erweiterten Therapiemittel‘. Mach mit und aus dir wird im Handumdrehen ein neuer Mensch. Danach wirst du zu deinen alten Therapiemethoden mit Betreuerin Leonie Mattberg zurückkehren.“
Ich kann aus Leonies Gesicht Angst lesen, Angst um mich. Dann folgte der wohl härteste Tag, den ich je in meinem Leben hatte. Nicht nur wurde ich einer zweistündigen Probetherapie unterzogen, die schon schlimm genug ist, mir wurde von einem speziellen Arzt auf dem Rücken ein kleiner Chip aufgenäht, welcher auf Befehl Elektroschocks aussenden kann. Meine Kleidung wurde verwanzt, sodass ich jederzeit auf meine Wortwahl achten muss. Diese Therapie darf durch die Klinik keine Kreise ziehen, sonst kommt noch irgendwie ein kleines Detail an die Öffentlichkeit. Ich wache auf. Schweiß bedeckt meinen ganzen Körper. Mein Rücken schmerzt. Dieser Chip ist echt unangenehm, doch kratzen war keine Option, sonst tut es nur noch mehr weh. An meinem Bett sitzt Leonie. Ihr Blick ist zum Boden gesenkt. In ihrer Hand hält sie eine Schüssel Haferbrei.
Sie bemerkt, dass ich wach bin und sagt: „Hier, iss. Fürs Erste wirst du nicht im Speisesaal essen. Du musst dich erst einmal an die neue Therapie gewöhnen.“
Ich schüttle empört mit dem Kopf und rufe: „Gewöhnen?! Daran kann man sich nicht gewöhnen!! Hast du ’nen Knall?! Ich lag am Boden und die sind regelrecht auf mich eingetreten mit dieser Therapie!!!“
„Ich weiß, Stefan.“
„Und die zwei Stunden gestern waren eine Probe, wie lang soll das heute gehen?“
„Acht Stunden.“
„ACHT STUNDEN?!?!“
„Ich weiß, das ist nicht leicht für dich, aber wenn du mitspielst, ist es schneller vorbei.“
„Mitspielen?! Was ist denn am Ende noch von mir übrig?!“
„Es gibt keine Alternative, Stefan!“
„DIE BRINGEN MICH INS GRAB!!!“, schreie ich abschließend mit aller Kraft, dass meine Lunge und mein Magen zu schmerzen beginnen. Leonie erstarrt. Ich merke sofort, dass ich irgendwas Falsches gesagt habe, denn Leonie bricht in Tränen aus. In diesem Moment schäme ich mich bis auf die Knochen.
Ich weiß auch nicht, wie man traurige Frauen tröstet, doch dann murmelt sie einen Namen: „David.“
Ganz verwundert frage ich, wer dieser David, den sie meint, sei.
Sie wendet sich wieder zu mir und erzählt: „Bevor du eingewiesen wurdest, habe ich schon mal einen Jungen betreut. Sein Name war David. Ich zog den Therapieplan so durch, wie ich es mit dir tat, doch als entschieden wurde, dass er nicht die nötigen Fortschritte erzielte, wurde auch er den ‚erweiterten Therapiemitteln‘ unterzogen. Noch heute gebe ich mir die Schuld dafür, dass ich ihn scheinbar zu weichgekocht habe, denn er hielt das Programm bloß drei Tage durch. Den einen Tag nahm er seine ganzen Kleider, knotete sie aneinander fest … und …“ Sie bricht erneut in Tränen aus.
Ich hingegen bin ziemlich neugierig und frage: „Und? Und?! Was ist passiert?“
Leonie atmet tief ein und wieder aus, sieht mir in die Augen und sagt: „Stefan, David hat sich umgebracht. In diesem Zimmer, in dem du seit zwei Jahren lebst, hat er es geschafft, sich mit seinen Kleidern, dem Holzbalken an der Decke und einem Stuhl, der hier früher stand, zu erhängen.“ Ab jetzt verstand ich die Welt nicht mehr. Mein Zimmer ist die ganze Zeit über ein Tatort gewesen. Doch dieses Wissen genügt mir noch nicht.
„Hat das den Ruf dieser Klapse denn nicht beeinflusst?“, frage ich getränkt in meiner Empörung.
Leonie schüttelt den Kopf und antwortet: „Die Öffentlichkeit bekam nicht das kleinste Bisschen mit. Den Patienten haben wir gesagt, dass David entlassen wurde, und Davids Mutter wurde so weit unter Druck gesetzt, dass sie zum Schweigen verpflichtet war. Sie war sehr arm und Lucifer Madieu drohte ihr mit einem Gerichtsverfahren, sollte sie sich an irgendjemanden diesbezüglich wenden. Er war sogar so frei und besuchte sie höchstpersönlich, um ihr von Davids Tod zu berichten. Die ‚erweiterten Therapiemittel‘ blieben unerwähnt und dies tat er nicht aus formellen Gründen, sondern weil er nicht das Risiko eingehen wollte, dass irgendwelche Details die Wände dieser Anstalt verlassen. Und das, mein Lieber Stefan, ist die Geschichte von David.“
Ich kann es nicht fassen. Diese Irrenanstalt hat schon mal jemanden umgebracht und scheut sich um keine Mittel, so gut wie möglich dazustehen. Für mich wurde eine Sache klar: Ich muss hier weg, koste es, was es wolle.
Leonie steht auf und sagt: „In zwei Minuten bin ich mit Ruben und Charles wieder da. Dann beginnt deine Therapie.“
Sie verlässt den Raum, aber schließt die Tür nicht und diese Gelegenheit nutze ich sofort aus. Von meinem Zimmer aus kann ich den Flur hindurch bis in den Speisesaal blicken. In der Tür sind zwei große Fenster und wie der Zufall es so will, macht sich Claire Sorgen um mich und schaut gerade durch. Kreuz und quer durch den Flur brüllen kann ich gerade nicht, da Leonie am anderen Ende ist und ich keine Strafe riskieren sollte. Stattdessen bediene ich mich am Fingeralphabet, was mir Claire mal beigebracht hat. In aller Schnelle schaffe ich es, „Hilfe“ zu sagen, doch Claire konnte mir keine vollständige Antwort geben, da sie nach „Ok, ich“ wieder an ihren Platz gebracht wurde. Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber lange nachdenken kann ich nicht, weil ehe ich mich umdrehe, sehe ich Männer in schwarzen Kitteln um die Ecke treten. Schnell eile ich in mein Zimmer, schaufle den Haferbrei leer und hoffe, dass niemand etwas gesehen hat. Als dann Leonie, Ruben und Charles in der Tür stehen, bitten sie mich, mit ihnen mitzukommen. Eine andere Wahl habe ich nicht, also verlasse ich mit Mühe mein Bett und gehe mit. Die Standardtherapie ist um ein Vielfaches schlimmer als die Prozedur gestern, doch ehe ich es mich versehe, liege ich wieder in meinem Bett. Gebadet im Schweiß und von der Furcht getauft. Ich wünsche niemanden, jemals das zu durchleben, was mir hier angetan wird. Ich schaue auf die Uhr. Meine Wahrnehmung ist zwar nicht vollständig zu mir zurückgekehrt, doch ich kann 23 Uhr erkennen. Meine Augen fallen zu und es wird alles leise, bis ich das Schloss an meiner Tür deutlich höre. Ich schrecke auf, möchte mich verstecken, doch bin wie versteinert. Die Tür öffnet sich und in ihr steht Claire. Zu meiner Überraschung trägt sie einen Rucksack und eine Jacke.
Sie blickt mich an und sagt: „Wir brechen aus. Heute Nacht.“ In mir macht sich ein Gefühl der Erleichterung breit, bestückt mit einem Hauch an Freude.
„Alles klar, dann los“, sage ich, stehe auf und gerate aus dem Gleichgewicht. Eine Nebenwirkung der Therapie.
„Wir warten bis 1 Uhr, Stefan“, sagt Claire, „Dann sollte es dir bessergehen und das Sicherheitspersonal ist dann vermutlich etwas neben der Spur.“ Ich nicke. Claire schließt die Tür, packt mit mir die nötigsten Sachen ein und macht sich bereit, mit mir die Flucht anzutreten.