CAMEO
1. Auflage 2021
Neuausgabe im Cameo Verlag
© für die Originalausgabe by VANDYKMUSIC Publishing
Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur
für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Lektorat: Anne Rüffer, Zürich
Korrektorat: Susanne Schulten, Duisburg
Coverfoto: Markus Vögeli, Lengnau
Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern
Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck
ISBN: 978-3-906287-95-9
eISBN: 978-3-039510-07-8
Tashi Deleg!
Wie alles begann …
Der Klang der Weisheit in der neuen Heimat
Mein allererstes Mantra
Die Geschichte meiner Familie
Mola, meine Großmutter
Pola, mein Großvater
Amala, meine Mutter
Pala, mein Vater und spiritueller Lehrer
Tibet, das Land meiner Wurzeln
‹Shangri la› im Herzen
Bön, die Ur-Religion der Tibeter
Wie der Buddhismus nach Tibet kam
Die universelle Kraft der Mantras
Meine besondere Verbindung zum Christentum
Ost und West
Mantras verbinden die Welt
Mantras für das 21. Jahrhundert
Buddhistische Ansätze für den Atheisten
Die Kraft von Liebe und Mitgefühl, noch zeitgemäß?
Mantras, wie sie uns im Alltag helfen
Die wunderbare Tiefe eines Mantras
Die buddhistische Weisheitslehre Tibets
Die Geschichte von Buddha Shakyamuni
Die sechs samsarischen Daseinsbereiche
Die drei Merkmale des Daseins
Die fünf Skandhas
Die zwölffache Kette des abhängigen Entstehens
Die drei Drehungen des Dharma-Rades
Die erste Drehung des Dharma-Rades
Die vier edlen Wahrheiten
Der edle achtfache Pfad
Die zweite Drehung des Dharma-Rades
Mahayana
Der Weg des Bodhisattvas
Die sechs Paramitas
Die dritte Drehung des Dharma-Rades
Vajrayana
Die drei Körperlehren der Buddhas
Jetsun Milarepa, der größte Yogi, Asket und Dichter Tibets
Die Chöd-Praxis – das Durchschneiden des Egos
Das Eintauchen in die Welt der Mantras
Die richtige Aussprache
Die Geschichte vom Einsiedler
Der 7. Dalai Lama von Lithang und der Pilger
Die Schildkröte und der goldene Ring
Von den Göttern begleitet
Mein Mann, Dr. Kalsang Shak
Beruf und Berufung
Beginn einer musikalischen Laufbahn
Helge van Dyk, mein Produzent
Mantras schlagen Brücken – meine Musik in China
Tibetische Meditation für den Alltag
Die sieben Punkte der Körperhaltung gemäß traditioneller tibetischer Meditation
Die zwei Meditationstechniken in unserer Tradition
Die konzentrative Meditation
Die analytische Meditation
Die transformierende Kraft der verschiedenen Meditationsformen
Tibetische Meditation im Dialog mit der modernen Wissenschaft
Die mystische, geheimnisvolle Welt Tibets
Von Windpferden und Gebetsfahnen
Die weiße Glücksschleife
Die acht verheißungsvollen Glückszeichen
Die Mala – meine ständige Begleiterin
LHA GYALO – Mögen die Götter siegen!
Wasserschalen und Butterlampen
Die acht Mudras zur Opferdarbringung
Niederwerfungen – tibetisches Yoga für Körper und Geist
Mantra- und Gebetstexte
Zufluchtnahme zu den drei Juwelen
«Bodhicitta»-Erzeugung
Die vier unermesslichen Gedanken
Widmung
Die Schutzgöttin Arya Tara, die geschwinde Befreierin
Die Einladung
Die Verneigung
Die 21 Lobpreisungen für Arya Tara
Praising Tara (ein kurzes Tara-Gebet)
Wunscherfüllendes Tara-Gebet
The Wisdom of Tara
Eine weltliche Prinzessin erlangt die Buddhaschaft
Ein Vorbild für das 21. Jahrhundert
Arya Tara, die Verkörperung des aktiven Mitgefühls sämtlicher Buddhas
Die vier Erleuchtungsaktivitäten und die Farben der Arya Tara
Die acht inneren und äußeren Gefahren
Guru Padmasambhava / Vajra Guru
Das Vajra Guru-Mantra
Der ‹Lotosgeborene›, der den Buddhismus im 8. Jahrhundert nach Tibet brachte
Medizinbuddha
Das Medizinbuddha-Mantra
Die Anfänge der tibetischen Medizin und ihre Entwicklung
Die drei Geistesgifte – primäre Ursache aller Krankheiten
Die heilende Wirkung der Mantras auf Körper und Geist
Chenresi
Singen für Seine Heiligkeit, den 14. Dalai Lama
Die Kraft dieser sechs Mantra-Silben
Heart Sutra
Das Heart Sutra-Mantra
Das buddhistische Konzept der Leerheit
Die fünf Pfade eines Bodhisattvas
Vajrasattva, das Diamantwesen
Das ‹100 Silben Vajra Satta›-Reinigungs-Mantra
Die vier Kräfte zur Reinigung von negativem Karma
Die fünf Buddha-Familien
Amidaba
Gut leben, um gut zu sterben
Das tibetische Totenbuch
Das Bardo ‹thödröl› – Befreiung durch Hören
Das klare Licht – ‹Öd Sel›
Sterbende liebevoll begleiten
Die weltweite Pandemie – Bedrohung oder Chance?
In liebevoller Erinnerung widme ich dieses
Buch den beiden größten Vorbildern in
meinem Leben: meiner Mola Dzayum
Dechen Pemo la und meiner Amala
Dagsay Yischi Tsedön la.
Liebe Leserinnen und Leser dieser zweiten überarbeiteten Auflage meines 2014 erschienenen Buches ‹MANTRAS›, das damals von der Autorin Anne Rüffer aufgezeichnet wurde.
Mit dem tibetischen Begrüßungswort ‹Tashi Deleg› möchte ich Sie dazu einladen, in meine Welt der tibetischen Mantras und der Musik, die sie begleitet, einzutauchen.
Ich freue mich sehr, dass mich Gabriel Palacios gefragt hat, ob ich dieses Buch in seinem Verlag neu herausgeben würde. In diesem Buch möchte ich Ihnen wertvolles Wissen über die Wirkungsweise der uralten Mantras und eine einfache Einführung in die jahrtausendealte Weisheitslehre meiner Kultur vermitteln, von deren Kraft sie getragen werden. Erstmals teile ich nicht nur die spannende Lebensgeschichte meiner Familie aus Tibet mit Ihnen, sondern auch die Geschichte meiner musikalischen Reise und wie alles vor 20 Jahren begonnen hat.
Die universelle Kraft der Musik ist das verbindende Element zwischen allen Menschen. Sie hat mir den Weg zu den Herzen ermöglicht. Ohne die Musik wären die kostbaren geheimnisvollen Mantras aus Tibet vielen Menschen verborgen geblieben.
Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Freude an dieser überarbeiteten Version des Buches, von der ich hoffe, dass es Ihnen viele «Magic Moments» bescheren wird.
In Verbundenheit
Ihre Dechen
Als ich vor über 20 Jahren anfing, die ersten Mantras für die Begleit-CD eines Einführungsbuches in die tibetische Meditation meines ehrwürdigen Vaters Dagsay Rinpoche zu singen, hatte ich noch keine Ahnung, wohin mich das einmal führen würde. Tibetische Mantras werden traditionell in einer Art monotonem Sprechgebet vorgetragen, was mir als Tibeterin gefällt, da es mich an meine Kindheit erinnert und unmittelbar ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt. Ich verspürte auch den Wunsch, den kostbaren Mantras eine spezielle schöne Melodie zu widmen, um sie für die hier lebenden Menschen zugänglicher zu machen.
Da ich die Melodien aus meiner tiefsten Intuition schöpfte und in einer sanften, eigenen Melodieform sang, kommentierten die Tibeter, das sei gar nicht tibetisch, während die Westler sie als uralte beruhigende tibetische Klänge empfanden. Meine Familie tröstete mich, es sei völlig in Ordnung, wenn meine Musik nicht typisch tibetisch klinge, da durch die nicht-tibetische Instrumentierung ohnehin eine völlig neue Kunstform entstanden sei. Es sei doch wunderbar, dass sich viele Menschen angesprochen fühlten, die sonst nie in Berührung mit einem Mantra gekommen wären.
Inzwischen ist mein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen. Ich wollte schon damals möglichst vielen Menschen Freude bereiten und viel gutes Karma sammeln. Ich wusste einfach nur noch nicht, wie.
***
Mit dem Gesang der segensreichen Mantras und meiner Musik darf ich den Menschen ein Gefühl der Geborgenheit, der Freude und der Zuversicht vermitteln.
So sind inzwischen mehr als zwölf Alben herausgekommen, darunter drei mit der Ausnahmekünstlerin Tina Turner und der wunderbaren Musikerin und Philanthropin Regula Curti, die zusammen mit ihrem Mann Beat im Rahmen ihrer Stiftung das großartige «Beyond Music Project» ermöglicht hat.
Mit meinem Debütalbum «DEWA CHE» begann meine gesangliche Laufbahn vor 20 Jahren und führte mich nach zehn Jahren zum Produzenten Helge van Dyk, der meine drei Alben «JEWEL», «DAY TOMORROW» und «emaho – the Story of Arya Tara» für mich produzierte. Sie alle enthalten Sammlungen der kostbaren tibetischen Mantras, deren Texte und Bedeutung in diesem Buch ausführlich erklärt werden. Alle tibetischen Texte für die fast 120 verschiedenen Musikstücke mit den Mantras, die Gebete für die Tiere, die Umwelt und die Friedenslieder für die Welt stammen aus der Feder meines lieben Vaters, dem Ehrw. Dagsay Rinpoche, wofür ich ihm unendlich dankbar bin.
Diese Musik bedeutet mir sehr viel, da sie mich 2012 und 2016 sogar in den Olymp der Musikwelt führte – in die berühmte Carnegie Hall in New York – und zusammen mit dem JEWEL-Ensemble 2014, 2016 und 2017 auch auf eine Tour durch Asien, wo wir auch in Südkorea zum dritten Mal auf Einladung von Professor Chium Park im Rahmen eines alljährlichen Musik-Festivals in einem buddhistischen Kloster in Hwa Eom spielen durften.
Zusammen mit Joanne Shenandoah, der großen Stimme der Native Americans und Grammy Award-Gewinnerin, mit Jennifer Berezan, der in San Francisco lebenden kanadischen Singer/Songwriterin, und den beiden indischen Musikern Milind Date und Manish Vyas haben wir für ein begeistertes südkoreanisches Publikum gespielt.
Dank Helges Partnerin Natalia Glowacka, Produzentin der Mercedes Benz Fashion Week in Warschau, konnten wir das Publikum im Duett mit der bekannten polnischen Sängerin Natalia Kukulska in einen regelrechten Mantra-Bann ziehen.
Ein ausverkauftes Konzert fand an Ostern 2017 mit dem renommierten ZKO (Zürcher Kammerorchester) im schönsten Konzertsaal der Schweiz, im KKL in Luzern, statt.
Eine besondere Ehre wurde uns zuteil, als die in Thailand hochverehrte thailändische buddhistische Nonne Ven. Kun Mae Chee Sansanee unsere Musik mit dem Tara-Award auszeichnete und wir 2017 in ihrem Meditations-Center Sathira Dhammasathan in Bangkok in Anwesenheit der Königsfamilie spielen durften.
Die Reise setzten wir dann fort, um in Bhutan Konzerte zu geben. Wir hatten die Ehre, unter anderem für die hochverehrte Chhime Wangmo la (Ehrw. Tochter des großen Meisters Dilgo Khyentse Rinpoche) zu spielen.
Auf den Erfolg meiner Musik in der westlichen Welt wurde sogar das Kulturdepartement der Provinz Szechuan in China aufmerksam, sodass wir 2018 nach China eingeladen wurden. Seither berührt meine Musik viele Chinesen und Chinesinnen und lässt in ihnen eine große Sehnsucht nach Tibets großer Weisheitslehre wachsen. Zu Tausenden pilgern schon seit vielen Jahren junge Chinesen in die Klöster in Tibet, um dort die Lehre Buddhas zu studieren. Es bestätigt mich in meiner Überzeugung, dass die Kraft der tibetischen Mantras Grenzen überwinden und Brücken bauen kann.
2019 führte die Musik mich mit meinem JEWEL-Ensemble nach Russland, nach St. Petersburg, wo wir zwei Konzerte gaben und mit Boris Grebenschtschikow, Poet und russisches Rockidol, ein Mantra präsentierten. Sandra und Markus Kistler, liebe Freunde von uns, hatten die Verbindung zu St. Petersburg eingefädelt, weil sie spürten, dass meine Musik auch dort sehr geschätzt werden würde.
Bei meinen Konzerten wollen die Leute natürlich in die Musik eintauchen und meine Musiker und mich klanglich erleben. Ich ertappe mich aber oft dabei, dass ich liebend gerne noch viel mehr zu den einzelnen Mantras erklären würde, weil sie eine Fülle von wertvollen Hilfestellungen für unser Leben in sich bergen.
Dieses Buch widmet sich nun ganz dem, was ich den Menschen anhand der tibetischen Mantras und Gebete vermitteln möchte. Da es sich nicht um gewöhnliche Texte handelt, sondern um kraftvolle Mantra-Heilsilben, die eine jahrtausendealte Weisheit verkörpern und die ich mit den gehaltvollen tibetischen Gebeten kombiniert habe, freue ich mich, Ihnen einen kurzen Einblick in die Schönheit und Tiefe dieser Philosophie geben zu können.
Wenn es mir gelingt zu vermitteln, dass das alte Wissen der Tibeter, das während Jahrtausenden wie ein geheimnisvoller Schatz in Tibet gehütet wurde, für die moderne Welt des 21. Jahrhunderts – wenn richtig verstanden und praktiziert – ein großes Friedenspotenzial für das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen auf dieser Erde in sich trägt, dann erfüllt sich mein Herzenswunsch.
«Dechen la, hast du das Weisheits-Mantra auch nicht vergessen?» Die weiche und zugleich wohlwollend mahnende Stimme meiner Großmutter im Ohr, lief ich über die Toggenburger Wiesen nach erfolgtem Aufsagen der sieben Mantra-Silben ‹OM A RA PA TSA NA DHI› von Manjushri, dem Buddha der Weisheit, oder Jetsün Jampelyang, wie wir ihn auf Tibetisch nennen, in die Schule und fühlte mich sicher, den kommenden Tag mit all seinen auf mich wartenden Abenteuern gut behütet bewältigen zu können.
Dieses Mantra, das ich mindestens dreimal jeden Tag aufsagen musste, sollte mir laut Mola, wie ich meine Großmutter liebevoll nannte, helfen, während des Unterrichts nicht zu träumen, sondern aufmerksam dem Lehrer zuzuhören. Dabei muss die letzte Silbe ‹DHI› während des Ausatmens möglichst viel und schnell rezitiert werden, was auch eine große Zungenfertigkeit erforderte.
In Tibet war und ist es üblich, den Kindern dieses Mantra früh beizubringen, um sie in ihrer Sprachentwicklung zu fördern. Wenn wir manchmal Schweizer Kindern begegneten, die beim Sprechen etwas stotterten, sagte Mola immer, dass man in Tibet den Kindern das Manjushri-Mantra beibringe und das Stottern würde im Nu verschwinden. Heute denke ich, dass dies sehr sinnvoll ist, denn abgesehen davon, dass in Tibet die Leute an die Kraft des Mantras glaubten, war das tausendfache Üben dieser ‹DHI›-Silbe aus einer logopädischen Sichtweise sicherlich förderlich für das Kind. Die Zunge wird damit an den oberen Gaumen gleich hinter die Vorderzähne gelegt. Durch das viele Klopfen der Zunge wird sie nicht nur beweglicher, sondern es wird auch eine feine Vibration im ganzen Kopfbereich erzeugt, die das Hirn gut durchblutet.
Für die Kinder ist das eine spielerische und lustige Übung, da sie nur zu gerne mit den Eltern wetteifern, wer nun das «DHI, DHI, DHI, DHI, DHI …» wohl schneller und länger rezitieren kann. Selbst seine Heiligkeit der Dalai Lama empfiehlt dieses Mantra den Tausenden von Leuten, die zu seinen Belehrungen strömen. Seither praktiziere ich es auch wie Seine Heiligkeit anhand einer Mala, indem ich zuerst «OM A RA PA TSA NA …» sage, dann einmal tief Luft hole und dann eine ganze Mala-Runde, also 108 Perlen mit dem ‹DHI, DHI, DHI, DHI, DHI, DHI, DHI› durchlaufe. Schon damals konnte ich den Manjushri von allen anderen Buddha-Figuren gut unterscheiden, da er der Einzige ist, der in der rechten Hand ein Schwert hält. Dass dieses Schwert dazu dient, die Wurzel der Ursachen von Leid – die Unwissenheit – zu durchschneiden und dadurch Erkenntnis zu erlangen, erfuhr ich allerdings erst, als ich alt genug war, um die Zusammenhänge zu verstehen.
Mein Weg führte mich von unserem Zuhause am Rosenhügel am Hang des Tales ins Dorf von Ebnat-Kappel mit den damals etwa 3’000 Einwohnern über einen schmalen Pfad zur Straße und dann rund 1.5 Kilometer bis zur reformierten Kirche, wo sich die Schweizer Grundschule befand.
Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit. Alles was ich brauchte, war da. Meine Sorge galt damals nur den etwa 200 Metern Wegstrecke entlang der Wiese, die ich bis zur Hüslibergstrasse gehen musste, um dann auf dieser Straße hinunter ins Tal in die Schule zu gelangen. Im Sommer hatte ich Angst wegen den vielen Kühen, die auf der Wiese weideten und im Winter war ich besorgt, dass der kleine Pfad, den mein Onkel Lobsang la morgens früh, bevor er zur Schule ging, mit der Schaufel gepflügt hatte, wieder vom Neuschnee überdeckt war, wenn ich von der Schule nach Hause kam.
***
Nach der Flucht aus Tibet im Jahre 1959 wurde unsere Familie von der Schweiz aufgenommen, und wir hatten in der Region Toggenburg ein neues Zuhause gefunden. Ich hüpfte jeden Morgen vergnügt in die Schule, denn gut eingehüllt im Klang des Mantras von Manjushri war ich gespannt darauf, was mich auch an diesem Tag Neues erwarten würde. Ich war das einzige Kind in der Klasse, das völlig anders aussah, und obwohl ich keine tibetischen Kleider trug, verriet mein Gesicht in der ersten Sekunde, dass ich ganz sicher kein Schweizer Mädchen vom Lande war.
Meine Mola legte großen Wert darauf, dass ich immer ordentlich gekleidet zur Schule ging. Da meine Eltern schon zur Arbeit gegangen waren wenn ich aufstand, war ich die meiste Zeit des Tages in der Obhut meiner Mola. Jeden Morgen kämmte sie mir meine langen schwarzen Haare und band sie zu einem straff nach hinten gezogenem Pferdeschwanz zusammen. Während dieser Prozedur konnte ich im Spiegel beobachten, wie sich meine schwarzen Augen noch mehr nach oben zogen. Tibetische Kinder werden immer mit einer Portion Strenge erzogen, so nützte mein Widerstand wenig und meine ohnehin schräg gestellten Augen wurden nur noch schmaler. Das war wohl der Grund, weshalb einige Kinder sich darüber wunderten, ob ich überhaupt etwas sehen konnte und fragten: «Dechen, siehst du überhaupt etwas mit deinen Augen?» (Bei den Schweizern war ich die «Dechen», zu Hause die «Dechen la». Das «la» am Ende des Namens wurde früher in Tibet als Zeichen einer höheren Abstammung benutzt.) Aber Mola wollte eben, dass die Haare während des Unterrichts schön ordentlich zusammenhielten, damit ich genauso sauber und korrekt wie die anderen Schweizer Kinder aussah.
Damals – ich war sechs Jahre alt –, in einer Schweiz in den 1960er-Jahren, war es noch Pflicht, dass die Schulmädchen wollene Strumpfhosen, ein Röckchen und eine Schürze trugen, und so tauchte ich jeden Morgen aus meiner tibetischen Welt in die Schweizer Welt ein und von der Schweizer Welt in meine tibetische Welt, wenn ich von der Schule zurückkam. Zwei Welten, die bezüglich der Wertevorstellungen wohl nicht gegensätzlicher sein konnten: die tibetische Welt, in der das Entwickeln von geistiger innerer Reife im Vordergrund steht und Menschen als wahre Helden und Heldinnen gefeiert wurden, die die inneren Errungenschaften erlangt haben, und die westliche Welt, in der die Menschen für äußere Errungenschaften bewundert werden.
Doch eines Tages hatte ich ein Schlüsselerlebnis, bei dem ich das Gefühl hatte, dass beide Welten doch zusammenkommen. Ich war gerade in der zweiten Primarklasse, und wir lernten ein neues Lied. Der Lehrer sang es uns vor. Der Text lautete: «Wenn eine tannigi Hose hät und hagebuechig Strümpf, so chan er tanze wien er will, es git em keini ri ra ri ra ri di ri di ri di ri di ri di ri di rümpf rümpf …» Das war mein Aha-Erlebnis: Die Schweizer hatten auch ein Mantra! Ich liebte dieses Lied, und wenn es dann noch im Kanon gesungen wurde, sehe ich immer noch all die fröhlichen Gesichter der ganzen Klasse vor mir.
Meine Großeltern mütterlicherseits und mein jüngerer Onkel Lobsang la lebten, seit ich denken konnte, bei meinen Eltern. In Tibet ist es völlig natürlich, dass mehrere Generationen unter einem Dach leben, und so war es keine Frage, dass wir in einer kleinen Vier-Zimmer-Wohnung in Ebnat-Kappel zusammenlebten.
Ungefähr vier Jahre zuvor war meine liebe Mutter hochschwanger mit mir nach mehreren Monaten ihrer Flucht aus Tibet zu Fuß in Kathmandu angekommen und hatte mich dort zur Welt gebracht.
Von den Gefahren während dieser abenteuerlichen Flucht, nachts über den Himalaya, dem höchsten Gebirgszug der Welt, und ständig in Furcht, von den chinesischen Soldaten aufgespürt zu werden, erfuhren wir Kinder zwar, aber wir realisierten erst viel später, wie traumatisierend all diese Erlebnisse für unsere Eltern gewesen sein mussten. Wir sind ihnen dankbar, dass trotz ihres schweren Schicksals ihre Äußerungen über jene Zeit nicht von Hass gegen die Chinesen als Menschen geprägt waren, obwohl sie wie viele andere geflüchteten Tibeter/innen noch viele Jahre von der gefahrvollen Flucht Alpträume hatten und mitten in der Nacht schweißgebadet aufgewacht sind.
Sie erklärten uns, dass wir Tibeter als Praktizierende der Mahayana-Tradition, das Bodhisattva-Ideal anstreben. Ein ‹Bodhisattva› nennt man auf Tibetisch ‹Chang Chup Sempa›. Es ist ein Erleuchtungswesen, das nicht nur für sich selbst, sondern zum Wohle aller Wesen die Buddhaschaft erlangen möchte und sogar gelobt, nicht eher ins Nirwana einzutreten, bevor nicht alle anderen Wesen auch befreit sind.
Wir lernten, dass es für einen ‹Bodhisattva› nichts Schlimmeres gibt, als seine/ihre altruistische Geisteshaltung zu verlieren und wie ein gewöhnliches Wesen den negativen Kräften von Hass und Gier ausgeliefert zu sein.
Ich verbeuge mich heute noch vor einer so edlen Geisteshaltung und denke, welch unglaublich starke Kraft diese Gebete haben und wie äußerst heilvoll und friedensfördernd eine solche Grundeinstellung für uns Menschen sein kann. Statt Rachegedanken zu hegen, dient das Erlebte als ein enormer Katalysator für ihre spirituelle Praxis. Die Tibeter/innen der Generation meiner Eltern haben mit diesen uralten Texten ihrer Gebete im wahrsten Sinne sich selbst von ihren traumatischen Erlebnissen therapiert.
Im ersten Moment konnten wir Kinder verständlicherweise nicht nachvollziehen, dass man nicht nur für seine Liebsten, sondern auch für seine Feinde beten sollte. So fiel es uns häufig schwer, dass man selbst die nervigen Mitschüler, die einen ständig an den Zöpfen zupften, oder lästige Mücken oder Spinnen miteinschließen sollte.
Aber in den Gebeten war stets von «sämtlichen fühlenden Wesen» die Rede und niemand wurde ausgeschlossen. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass sich Hass und Wut in unseren kleinen Herzen eingenistet hätten, wenn unsere Eltern uns nicht diese wichtige Haltung gelehrt hätten.
Bei der Erziehung unserer eigenen Kinder haben mein Mann und ich gemerkt, wie wichtig es ist, diesen kleinen Seelen keine Hassgefühle gegenüber den Chinesen mit auf den Weg zu geben, sondern sie mit der Kraft der Liebe und des Mitgefühls für alle Lebewesen zu stärken. Als sie älter wurden, erzählten wir ihnen von den tragischen und traurigen Geschichten der Flucht ihrer Großeltern und Urgroßeltern aus Tibet. Auch wenn diese Geschichten für unsere Kinder noch eine Generation weiter weg in der Vergangenheit liegen, macht es sie nachdenklich und sie empfinden große Bewunderung für die innere Kraft ihrer lieben Großeltern, Pola, Mola, und Urgroßeltern Yang-Pola und Yang-Mola. Sie hatten viele Fragen an ihre Großeltern.
Meine Eltern haben ihnen dann erklärt, dass es so etwas wie ein kollektives Karma gibt. Und sie meinten, dass sich das tibetische Volk während vielen Jahrhunderten aufgrund eines veralteten Systems der Leibeigenschaft, welche die Adelsschicht ausübte, sehr viel schlechtes Karma aufgebürdet hat. Alles geschähe aufgrund einer Ursache. Nichts passiere einfach von sich aus. Ich erinnere mich noch daran, dass ich als Teenager fassungslos war, als ich auch die wahren Seiten des alten Tibet von meinen Eltern erfuhr: Für viele der Leibeigenen sei der Einmarsch der Chinesen gewiss eine Befreiung gewesen. Dadurch, dass wir der Mittelschicht angehörten, hatten wir großes Glück, dass uns die Flucht geglückt war und wir alle überlebt haben.
Als 1978 im Zuge der Öffnung Chinas durch den chinesischen Parteiführer Deng Xiaoping völlig unerwartet und plötzlich der Kontakt zur chinesischstämmigen Familie meines Vaters in Chengdu möglich war, waren wir glücklich und traurig zugleich. Mein Vater hatte während fast 20 Jahren keine einzige Kontaktmöglichkeit zu seiner Familie in China gehabt. Während all der Jahre wussten damals die Tibeter im Exil nicht, ob ihre zurückgebliebenen Familienmitglieder oder Freunde noch lebten oder nicht. Es war das erste Mal, dass ich unseren lieben Pala weinen sah. Es war so herzzerreißend, als er den ersten Brief las, der ihn aus China erreichte. Sein Vater war, kurz nachdem er aus Tibet geflüchtet war, gestorben. Aber seine Mutter, seine beiden Brüder und Schwestern hatten alle überlebt. Allmählich erfuhren wir alle die schrecklichen Dinge, die ihnen während der chinesischen Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 widerfahren waren. Das öffnete nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Tibeter/innen die Augen. Nicht nur in Tibet haben die Menschen ein ganzes Jahrzehnt die Hölle durchleben und die Zerstörung der über 6’000 Klöster in ganz Tibet mit ansehen müssen. Auch das gesamte chinesische Volk litt grausam unter der Gewalt der Viererbande, die nach Mao Zedongs Tod in 1976 große Macht ausübte.
Wenn meine Mola von ihrer Heimat sprach, veränderte sich ihre Stimme, und ich merkte jedes Mal, dass sie immer noch eine große Sehnsucht nach Tibet hatte. Nach Lhasa, dem Kloster in Rongpu, ihrem Hof mit all den Feldern und Herden von Yaks, Schafen und Pferden am Fuße des Everests. Heimweh ist wohl eines der stärksten Gefühle. Ich liebte es, wenn sie von ihren Lieblingspferden Loden-Gyangma und Kelsang Methok oder von ihren treuen Apso-Hunden Senghe und Drölma sprach, die jedes Wort von ihr verstanden. Sie wurde immer traurig, wenn sie von ihren Tieren sprach, die sie zurücklassen musste. Sie murmelte dann immer gleich das OM MANI PEME HUM-Mantra und betete für sie, dass die Tiere in eine gute Obhut gekommen waren. Ich konnte mir meine Mola gar nicht auf einem Pferd vorstellen, denn in der Schweiz habe ich sie nie auf einem Pferd reiten gesehen.
Ich stelle mir dann jeweils vor, wie unglaublich schwierig es für meine Eltern und Großeltern gewesen sein muss, plötzlich am anderen Ende der Welt zu landen, Tausende von Kilometern weg von der Heimat, wie in einer Zeitmaschine von mittelalterlichen Verhältnissen in Tibet in die moderne westliche Welt hineinkatapultiert zu werden, wo weit und breit kein Yak zu sehen war und man nirgends etwas geröstetes Gerstenmehl besorgen konnte, um daraus die geliebten Tsampa-Bällchen herzustellen. So erging es mir, als ich für meine sozialen Projekte für einige Zeit in Tibet war. Wie vermisste ich den fein duftenden Kaffee und ein frisches Gipfeli am Morgen in der Schweiz. Aber im Gegensatz zu meiner Mola konnte ich jederzeit wieder abreisen und nach Zürich zurückkehren.
Dank der Gastfreundschaft und echten Anteilnahme, die ihnen die Schweizer Bevölkerung entgegenbrachte, aber vor allem durch die große innere Stärke, die sie aus ihrem Glauben schöpfte, gelang es meiner Familie, sich trotz der traumatischen Erinnerungen an die Flucht der neuen Lebenssituation zu fügen. Sie hatten sich auf ein Leben im Exil eingestellt und die Schweiz als ihre neue Heimat ins Herz geschlossen.
Wir Tibeter haben schon eine ganz besondere Verbindung zum Schweizer Volk. Vermutlich ist es deshalb, weil die Schweizer auch ein Bergvolk sind und ein sehr starkes Freiheitsgefühl besitzen.
Während meiner Kindheit durfte ich in den Schulferien oft zu meiner Ferienfamilie nach Baden, wo ich aus meiner tibetischen Welt in die Schweizer Welt eintauchen konnte. Familie Heizmann war wie eine zweite Familie für mich und ich habe immer noch Kontakt zu ihnen. Es waren für mich das Schweizer Mueti und der Schweizer Papi mit ihrer Tochter Cory, die vier Jahre älter war als ich. Für sie war ich die kleine tibetische Schwester, und am liebsten hätte sie unsere Rollen vertauscht. Sie wäre liebend gerne auch eine Tibeterin gewesen mit pechschwarzen Haaren und einer geheimnisvollen Kultur. Ich habe ihr darum immer etwas Tibetisch beigebracht. So habe ich früh gelernt, die beiden Welten zusammenzuführen, zwischen ihnen zu vermitteln und mich in beiden wohlzufühlen.
Meine Mola wurde im Wasser-Hund Jahr 1922 in Lhasa geboren. Die Eltern meiner Mola mütterlicherseits waren wohlhabende Kaufleute und besaßen eigene Handelskarawanen, mit denen sie Wolle, Heilkräuter und Salz nach Nepal und Indien exportierten und ihre Yaks und Pferde vollgepackt mit Waren aus diesen Ländern wieder nach Lhasa zurückbrachten.
Mola erzählte mir davon, dass sie als junges Mädchen ihren Vater manchmal auf diesen langen Handelsreisen begleiten durfte. Sie liebte es, in der Karawane als die Dechen Pemo la, Tochter des großen Patrons, mitreiten zu dürfen, und lernte sehr früh von ihrem Vater, mit dem Holz-Abakus die schwierigsten Kalkulationen vorzunehmen, um die Erträge der Waren auszurechnen.
Es war ungewöhnlich, dass einer Tochter diese Aufgabe zuteilwurde, da sie aber das einzige Kind des ehemaligen Verwalters des Gyudme-Klosters in der Nähe von Lhasa war, lag es auf der Hand, dass er ihr all sein Wissen und Können vermitteln wollte. Noch heute staune ich über ihre rechnerischen Fähigkeiten, die sie uns in hohem Alter in ihrer kleinen tibetisch eingerichteten Schweizer Wohnung zeigte. Ihre Finger glitten flink durch den Holz-Abakus und sie war immer schneller als wir. Wie schade, dass ich es damals versäumt habe, diese Art zu rechnen von ihr zu erlernen.
Mola erzählte, dass diese Reisen jedoch immer mit großen Gefahren verbunden waren: Unwetter, Schneestürme und Lawinen machten es manchmal unmöglich, die eiskalten reißenden Bäche mit den vollbepackten Lasttieren zu überqueren, und zwangen die Reisenden zu kräftezehrenden Umwegen. In den steilen Berghängen bedeutete ein falscher Tritt den Tod für Tier und Mensch, zugleich mussten die Kaufleute ständig damit rechnen, von wilden Räubern und Wegelagerern ausgeraubt zu werden.
Mein Pola, so nannte ich meinen lieben Großvater, war für seine Zeit vielen anderen weit voraus. Er diente dem Regenten Reting Rinpoche in Lhasa, bevor er meine Mola heiratete. Er arbeitete in der Verwaltung des Regenten und reiste als Teil einer Handelsdelegation im Namen des Regenten 1936 auf dem Seeweg von Indien nach China. Pola erzählte manchmal von diesen außergewöhnlichen Abenteuern, die er als Gesandter des Regenten erlebt hatte. Er berichtete uns von Orten wie Shanghai, Nanjing und Beijing, von der verbotenen Stadt, von der chinesischen Mauer, aber auch, was für eine eindrucksvolle Stadt Shanghai war. Er schwärmte immer davon, dass die Straßen von Shanghai nach Parfüm dufteten und dass die Menschen schick gekleidet waren. Shanghai war damals schon berühmt als das Paris Chinas. Es war eine moderne Stadt mit Autos und Straßenbahnen, dazwischen die vielen chinesischen Rikschas. So etwas hatte er in seinem Leben zuvor nie gesehen, und es öffnete ihm als Gesandtem eines Bergvolkes im fast 2’000 Kilometer entfernten Tibet den Blick für die Außenwelt.
Es schauderte mich aber jedes Mal, wenn er davon erzählte, dass die Handelsreise ein jähes Ende nahm, als plötzlich der Japanisch-Chinesische Krieg ausbrach. Sie befanden sich in Nanjing, als sie wie durch ein Wunder das Massaker der Japaner an der unbewaffneten chinesischen Bevölkerung überlebten und sich noch rechtzeitig auf das Schiff retten konnten, das sie von Shanghai nach Kalkutta, Indien, zurückbringen sollte. Wir können nur beten, dass die Menschheit von vergangenen Fehlern lernen wird und sich derartige grässlichen Gräueltaten in Zukunft nirgends mehr wiederholen werden.
Mein Pola hat Todesängste ausgestanden und diese Eindrücke nie vergessen können. Ich glaube, er hat nur dank der Praxis der buddhistischen Gebete, die er tagtäglich für mindestens zwei Stunden praktizierte, diese traumatisierenden Bilder verarbeiten können.
Zurück in Lhasa, arbeitete er noch einige Jahre in der Verwaltung des Regenten. Er lernte meine Mola kennen, die sich unsterblich in ihn verliebt hatte und sogar gegen den Willen ihres Vaters zu meinem Pola zog. Eine faszinierende Liebesgeschichte, da es eine Seltenheit, ja geradezu undenkbar war, dass man im alten Tibet den Mann oder die Frau heiraten konnte, die man liebte. Ehen wurden von den Eltern entschieden, und das junge Paar sah sich meist erst am Hochzeitstag zum ersten Mal.
Mir war es immer ein großes Rätsel, wie man so etwas seinem Kind antun konnte. Aber wie ich bereits erwähnt habe: Tibet befand sich vor dem Einmarsch der Chinesen im tiefsten Mittelalter. Es graute mir immer nur schon beim Hören solcher Geschichten, dass ein junges Mädchen einfach einem wildfremden Mann und seinen Angehörigen überlassen wurde.
Bei meiner Mutter haben meine Großeltern aber zum Glück darauf geschaut, dass es ein junger, hübscher und liebenswerter Mann war. So hatte meine Mutter wenigsten eine schöne, wenn auch nur kurze Zeit mit meinem leiblichen Vater in Tibet, der die Flucht aus Tibet nicht mehr geschafft hat.
Als Mola mit ihrem ersten Kind schwanger wurde, heirateten sie heimlich, auch wenn ihr Vater immer noch nicht mit ihr redete. Erst als der erstgeborene Sohn da war, versöhnte er sich wieder mit ihr und akzeptierte seinen Schwiegersohn. Sie mussten nach Chözong in die Nähe des fernabgelegen Kloster Rongpu, am Fuße des Mount Everest, dem Chomolangma, ziehen, da ihr Sohn als Wiedergeburt des letzten Zatul Rinpoche erkannt wurde.
Pola verließ daher sein Amt beim Regenten, den er sehr gern mochte. Zwei Jahre später, 1947, wurde der Regent von der Adelsschicht auf brutalste Weise umgebracht. Politik, Intrigen, Machtkämpfe und Geldgier waren der Grund für die Ermordung des Reting Rinpoche. Das zeigt mir, dass auch Tibet kein paradiesisches Shangri la war, wie James Hilton es in seinem weltberühmten Roman «Lost Horizon» von 1933 beschrieben hat. Das wahre ‹Shangri la› kann man im Grunde nur im eigenen Herzen finden.
Die Tibeter sind genauso gut oder böse wie alle anderen Menschen auf dieser Welt auch. Nur weil man aus Tibet stammt, bedeutet es nicht, dass wir schon halbwegs erleuchtete Wesen und etwas Besseres sind. Solange Hass, Gier und Unwissenheit im Geist vorherrschen, sind wir alle die gleichen potenziellen, unberechenbaren Despoten.
Ende März 1959 flüchteten meine Großeltern zusammen mit ihrem älteren Sohn, dem 18-jährigen Zatul Rinpoche, und meiner damals erst 14-jährigen Tante Lhadrön la und dem 11-jährigen Onkel Lobsang la aus Tibet. Im Schutze der Dunkelheit und alles stehen und liegen lassend, flüchtete diese kleine Gruppe – bestehend aus der Familie und zwei Bediensteten – von ihrem Heimatdorf Chözong über den Nangpa La-Pass nach Nepal. Die Säuberungen der chinesischen Volksbefreiungsarmee nach dem Aufstand der Tibeter/innen hätten sie niemals unbeschadet überstanden.
Meinem Großvater gingen die Worte von seinem ausländischen weißen Freund Peter Aufschnaiter durch den Kopf. Acht Jahre zuvor, 1951 hatte dieser ihm geraten, sich zu überlegen, mit der ganzen Familie mit ihm nach Nepal zu kommen; er habe Lhasa verlassen, da die Situation mit den Chinesen immer drastischer wurde. Die beiden Österreicher Peter Aufschnaiter und sein Kollege Heinrich Harrer waren 1944 während des Zweiten Weltkriegs auf ihrer Himalaya-Expedition von den Engländern in Indien in ein britisches Internierungslager in Dehra Dun gesteckt worden. Wie durch ein Wunder schafften die beiden bei ihrem fünften Versuch die Flucht aus dem Lager und konnten zu Fuß über den Himalaya nach Tibet gelangen. Sie hatten bereits sieben Jahre zuvor in Tibet gelebt, als sie sich 1950 dem jungen 14. Dalai Lama auf dem Weg nach Indien anschlossen. Politische Differenzen mit den Chinesen zwangen den Dalai Lama, vorübergehend Tibet zu verlassen. Während Harrer Tibet endgültig verließ und wieder nach Österreich zurückkehrte, blieb Aufschnaiter zurück. Er brachte es nicht fertig, aus Tibet fortzugehen, zu stark war er mit diesem Land verbunden. Er hatte gehofft, für einige Zeit in den Südwesten Tibets und dort in die Region von Shelkar und Tingri am Fuße des Chomolangma zu reisen und so den Chinesen auszuweichen. Die Chinesen hatten ihn beobachtet und wollten ihn aus dem Land ausweisen.
Er blieb in der Gegend meiner Großeltern und wohnte eine Zeit lang bei ihnen und im Rongpu Kloster bei meinem Onkel Zatul Rinpoche.
Er baute Brücken über die reißenden Flüsse im Tal und bewirkte ganz auf seine typische stille Art Großes für die Tibeter. Seine Vision, falls er länger hätte bleiben können: Er wollte ein kleines Wasserkraftwerk für die Erzeugung von Strom für die Gegend bauen.
Meine damals junge und frisch vermählte Mutter Yischi la, wie sie zum Vornamen hieß, lebte mit meinem leiblichen Vater Lhawang Tobden la in Shelkar, einem Dorf, circa einen halben Tagesritt mit dem Pferd von ihren Eltern entfernt. Einige Wochen, nachdem ihren Eltern und Geschwistern die Flucht aus Tibet geglückt war, kam ein Bote, der ihr einen Beutel mit Tsampa überreichte. Er enthielt eine versteckte Botschaft von ihren Eltern mit der dringenden Aufforderung, alles stehen und liegen zu lassen und zusammen mit ihrem Mann zu fliehen. Sie würden im Tengpoche Kloster auf der nepalesischen Seite auf sie warten.
Mein leiblicher Vater, den ich nie gesehen habe, und der als Gemeindeschreiber der Zentralregierung von Lhasa für die Region Shelkar zuständig war, konnte unmöglich fliehen. Er wollte seine Mutter und seine Schwestern, die nicht aus Tibet fliehen wollten, vor den Chinesen beschützen. Als ältester Sohn konnte er seine eigene Familie jetzt nicht im Stich lassen.
Er bestand aber darauf, dass meine junge Mutter sofort die Flucht nach Nepal antrat, um sich ihrer Familie anzuschließen. Er versprach meiner Mutter, sobald es ginge, nachzukommen. Wie durch ein Wunder schaffte sie die siebentägige Flucht über den Nangpa La, den Gebirgspass auf 5’716 Meter Höhe, dem höchsten Handelskarawanenweg des Himalayas, der seit über 800 Jahre Tibet mit Nepal verband. Sie wollte aber vorher noch bei ihrem Elternhaus in Chözong vorbeigehen, um es einfach noch ein letztes Mal zu sehen. Kaum war sie dort, mussten die Chinesen davon erfahren haben. Sie erzählte uns später, dass sie sich im oberen Stock des Hauses gut versteckt hätte. Sie hätte jedes Wort draußen gehört. Die Bediensteten, die ihr schon seit jeher alle sehr nahestanden, hätten ihr Rückendeckung gegeben und den chinesischen Soldaten gesagt, dass sie die Yischi la nicht gesehen hätten. Das hat sie natürlich gerettet. Zweifellos wäre sie sonst sofort abgeführt und ins Gefängnis gesteckt worden. Sie ging noch in den Altarraum ihres Elternhauses und packte sorgfältig eine kleine Tara-Figur ein. Sie brauchte den Schutz der Schutzgöttin Tara, um diese schwere Flucht durchzustehen. Als es endlich dunkel war, flüchtete nun auch sie zusammen mit zwei Bediensteten nach Nepal. Sie betete unaufhörlich das Schutzmantra der ‹Jetsün Drölma›, der «tugendhaften Befreierin», wie wir Tibeter die Arya Tara nennen: OM TARE TUTTARE TURE SOHA. Tara sollte ihr bei dieser gefährlichen Flucht beistehen.
Nur zwei Monate zuvor hatten ihre Eltern mit ihren Geschwistern dieselbe Strecke auf diesen Pass zwischen dem Cho Oyu und dem Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde, zurückgelegt und warteten nun voller Sorge auf Yischi la. Meine Tante Lhadrön la erzählte mir später, dass sie während den zwei Monaten Ungewissheit, ob ihre Schwester die Flucht schaffen würde, den ganzen Tag nur noch geweint hätte und ständig vor dem Kloster in Richtung Tibet blickte, um Ausschau nach ihr zu halten. Und tatsächlich, eines Tages traf ihre drei Jahre ältere Schwester im Solo Khumbu-Tal im Tengpoche-Kloster ein, wo die Familie Unterschlupf bei den Sherpas gefunden hatte.
Das Kloster Tengpoche und das Kloster Rongpu in Tibet waren traditionsgemäß sehr verbunden miteinander und deshalb war es naheliegend, dass meine Familie dort aufgenommen wurde. Meine Tante Lhadrön la sagt heute noch, dass sie diesen Moment des Wiedersehens mit ihrer lieben Schwester nie vergessen werde.
Monate später jedoch kam ein Bote aus Tibet an und überbrachte meiner Mutter die herzzerreißende Nachricht, dass ihr Mann umgekommen war. Für meine junge Mutter ein unendlich trauriges Schicksal. Viele Jahre später erzählte sie mir, dass es ihr einziger Trost war, dass sie ein Kind von ihrem geliebten Mann erwartete. Sie hätte dieses persönliche Schicksal ohne mich im Bauch niemals überstanden. Sie erzählte mir auch, dass sie damals, als sie sich von ihrem Mann vor der Höhle in den Bergen, wo sie sich versteckt hielten, verabschiedete, insgeheim gespürt habe, dass sie ihren geliebten Mann vermutlich nicht mehr sehen würde. Obwohl sie eine begnadete und erfahrene Reiterin war, bockte ihr Pferd, als sie unten im Tal ankam, und warf sie ab. Sie hätte ihrem besorgten Mann noch gewinkt, um zu signalisieren, dass sie sich nicht verletzt hätte. Sie empfand es als schlechtes Omen; hatte aber keine andere Wahl als weiterzureiten. Sie habe täglich zu Tara gebetet, dass sie ihr ein Kind schenken möge. So erinnere ich mich, dass Amala, wie ich meine Mutter genannt habe, manchmal zu mir gesagt hat: «Dechen la, für mich bist du ein Geschenk der Arya Tara. Sie hat damals meine Gebete erhört.»
Als die Familie nach einigen Monaten ihre Flucht fortsetzte und in Kathmandu ankam, war Yischi la kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes, und auch sie blickte wie alle anderen Zehntausende von geflüchteten Tibeter/innen in eine ungewisse Zukunft.
Zu ihrem großen Glück befand sich Peter Aufschnaiter, der Ende 1952 Tibet verlassen hatte, noch in Nepal. Er konnte die Tränen kaum zurückhalten, als er die Familie wiedersah. Sein lieber Freund ‹Yap Kusho›, so nennt man die Väter von Lamas, hatte es geschafft, seine kleine Familie in Sicherheit zu bringen. Wie Tausende von Flüchtlingen aus Tibet waren sie von heute auf morgen heimatlos geworden, aber wenigstens sicher in Kathmandu, in Nepal angekommen. Großvater war überzeugt, dass es nur einige Monate dauern würde und sie bald wieder zurückkehren könnten. Es zeichnete sich aber immer mehr ab, dass die Grenzen zu Tibet für immer geschlossen bleiben würden. Das Geld, das Großvater noch aus Tibet mitgebracht hatte, war langsam aufgebraucht und meine Amala und meine Mola begannen aus der Not heraus, ihren Schmuck und ihre Seidenblusen sowie Gewänder an westliche Touristen in Kathmandu zu verkaufen, um zu überleben.
Besorgt um seine lieben Freunde aus Tibet, führte Peter Aufschnaiter sie zu einem jungen Schweizer Geologen, Dr. Toni Hagen. Dieser junge engagierte Mann, der sich genau zu jener Zeit im Auftrag der nepalesischen Regierung im Himalaya befand, um die geologischen Bedingungen des Landes zu erforschen, erlebte, wie täglich neue Flüchtlinge über die Pässe strömten. Dank seiner Initiative beschloss der Schweizer Bundesrat, 1’000 tibetische Flüchtlinge aufzunehmen. Die erste Gruppe traf 1961 in der Schweiz ein. Wir waren in der Gruppe, die im Mai 1963 einreiste und im Dorf Unterwasser, einem beschaulichen, bäuerlichen Dorf im Toggenburg in der Ostschweiz, einen neuen Lebensmittelpunkt erhielt. Die restlichen Tibeter wurden im Laufe der nächsten zehn Jahre etappenweise aus Indien eingeflogen. Die Tibeter können Dr. Toni Hagen nicht genug dankbar sein.
Es war für mich besonders schön, dass meine Musik ihn und seine liebe Frau Gertrud im späten Alter in Lenzerheide begleiten durfte und ihnen viel Kraft geschenkt hat. Es war sehr bewegend für mich, als ich an seiner Abdankung im April 2003 an der ETH in Zürich als letzte Ehrung an ihn singen durfte. Tibet hatte einen großen Freund verloren.