Nikolaus Hagen
Nationalsozialistische Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg
Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte
Band 30
Nikolaus Hagen
© 2022 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstrase 10, A-6020 Innsbruck
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Internet: www.studienverlag.at
Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation, Scheffau – www.himmel.co.at
Umschlag und Satz: Studienverlag/Maria Strobl – gestro.at
Umschlagabbildung: Stadtarchiv Innsbruck, Kundgebung vor dem Innsbrucker Landestheater, (vermtl.) am 1. Mai 1940 (Fotograf unbekannt)
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ineinem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendungelektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-7065-6190-7
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Danksagung
Einleitung
Erkenntnisinteresse und Methodik
Zum Begriff „Kulturpolitik“ im Nationalsozialismus
Forschungsstand und Quellenlage
I. Rausch und Realität. März 1938–März 1940
Die Landesverwaltungen in Innsbruck und Bregenz
Kulturrecht und Kulturverwaltung im Übergang vom „Ständestaat“ zum NS-System
Die „Gleichschaltung“ der Landeskulturverwaltungen
Die kommunalen Kulturverwaltungen
Die Etablierung des nationalsozialistischen Propagandaapparats in Tirol und Vorarlberg
Aufbau und Genese des NS-Propagandaapparats bis 1938
Der Konflikt zwischen Bürckel und Goebbels
Konkurrenz durch die österreichische Landesregierung
Das kurzlebige Gaukulturamt März–Juni 1938
Das Reichspropagandaamt Tirol-Vorarlberg in Innsbruck und seine angeschlossenen Stellen
Die Dienststelle des Landeskulturwalters
Der Aufbau der Einzelkammern und ihre Verflechtungen
Die Reichspressekammer und das Gaupresseamt
Die Reichsrundfunkkammer und die Nebensender in Tirol und Vorarlberg
Die Reichsfilmkammer und die Gaufilmstelle
Die Reichsschrifttumskammer
Die Reichskammer der bildenden Künste
Die Reichsmusikkammer
Die Reichstheaterkammer
„nicht unbedingt unnötig“ – Die nicht realisierte Volkskulturkammer und das Volkskulturwerk
Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer „Kulturschaffender“
Die Kreispropagandaleitungen und die Kreiskulturstellen
Der Stillhaltekommissar und die Umgestaltung des regionalen Vereinswesens
Der Standschützenverband Tirol-Vorarlberg
Vom k. k. Schießstand zum Landes-Schützenbund
Der Landes-Schützenbund wird zum Tiroler Standschützenbund
„Grund: Es liegt völlige Interesselosigkeit vor“
II. Konsolidierung und Kriegseinsatz. April 1940–August 1943
Der Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg
Das Ostmarkgesetz von 1939 und die Frage der „Gaueinheit“
Die Gauselbstverwaltung
Die Führungsebene der Gauselbstverwaltung
In den Wirren der Haushaltspläne
Exkurs: Der Entzug kirchlichen Vermögens
Der Gauausschuss für Volksmusik
Die Abteilung II: Erziehung, Volksbildung, Kultur- und Gemeinschaftspflege
Kultur- und Gemeinschaftspflege
Dezernat für Denkmalschutz, Heimatpflege und Musealwesen
Staatliche Volksbüchereistelle für Tirol-Vorarlberg und Salzburg
Landesbildstelle Alpen-Nord
Reichsgauarchiv
Der Propagandaapparat im Kriegseinsatz
Eine „halbe Behörde“: Reichspropagandaamt und Reichsstatthalter
Der Landeskulturwalter in Kriegszeiten
Der Veranstaltungsring Südtirol
Der NS-Gauverlag Tirol-Vorarlberg
Alpenheimat versus Reimmichls Volkskalender
Buchproduktion
III. Expansion und Endzeit. September 1943–April 1945
„Bespielung Südtirols“
Der Innsbrucker Propagandaapparat
Der letzte Akt: Totaler Kriegseinsatz
Schlussbemerkungen
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archive und Sammlungen
Datenbanken/Rechercheplattformen
Literatur und gedruckte Quellen
Register
Ortsregister
Personenregister
„Denn was hier geschah, ist wahrlich nach dem Plan geschehen, die Menschheit unter Beibehaltung einer Apparatur, die Schuld an ihrer Entartung trägt, auf den Zustand vor dem Sündenfall zurückzubringen und das Leben des Staats, der Wirtschaft, der kulturellen Übung auf die einfachste Formel: die der Vernichtung; und in das Wunder dieser Simplizität weiß sich der Zweifler einbezogen, der auch einmal ausspannen möchte.“
Karl Kraus (Die dritte Walpurgisnacht, 1933)
„Ich fürchte, würden Karl Kraus und Ernst Bloch im heutigen Tyrol leben, würden sie sich an Verhältnisse zu Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre erinnert fühlen. Immer stand die V O L K S – K U L T U R im Vordergrund. Alle autoritären und diktatorischen Regime dieser Welt haben verstanden, die Volks-Kultur in diffiziler und geschickter Weise in den Dienst der Ideologie zu stellen. Das Naziregime hat das mit seiner höchst wirksamen Volkstumspolitik, mit den Trachtenbildbänden, mit der Erbhofverleihung, mit der Blut- und Bodenverherrlichung und der geschicktesten Benützung anerkannter Wissenschafter auszuwerten verstanden.“ Hans Haid (Kultur – Tyrol anno 1984).
Dieses Buch ist die überarbeitete Version meiner im Dezember 2017 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck eingereichten Dissertation. Für die Betreuung dieser Arbeit am Institut für Zeitgeschichte danke ich zuvorderst Prof. Dr. Thomas Albrich und Prof. Dr. Dirk Rupnow. Außerdem danke ich dem Zweitgutachter der Dissertation Doz. Dr. Horst Schreiber sowie den beiden anonymen Reviewerinnen und Reviewern, die das überarbeitete Manuskript erneut begutachtet und zur Veröffentlichung empfohlen haben. Dr. Ingrid Böhler und Dr. Peter Melichar haben mich in der Phase der Überarbeitung auf verschiedene wertvolle Weise unterstützt, vor allem indem sie mich immer wieder zur raschen Fertigstellung gedrängt haben. Vielen Dank!
Die diesem Buch zugrundeliegende Forschung wurde durch eine großzügige Förderung des Landes Tirol ermöglicht. Zwischen 2014 und 2017 wurde meine Arbeit an der Dissertation aus der Förderrichtlinie „Erinnerungskultur“ finanziert, wofür ich mich stellvertretend bei den damaligen Mitgliedern des Förderbeirats bedanken möchte. Wertvoll und bereichernd waren zudem die Diskussion und gemeinsame Arbeit mit den weiteren Kolleginnen und Kollegen in der damals entstandenen Forschungsplattform.
Bei meiner Arbeit war ich auf die Unterstützung von zahlreichen Personen und Institutionen, vor allem den Archiven und Bibliotheken in Tirol und Vorarlberg, angewiesen. Besonders wichtig war die kontinuierliche und unbürokratische Unterstützung im Tiroler Landesarchiv, für welche ich dem Archivdirektor Dr. Christoph Haidacher und insbesondere auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Lesesaal herzlich danken möchte. Ebenso danke ich Landesarchivar Dr. Ulrich Nachbaur vom Vorarlberger Landesarchiv, der mich zu Beginn meiner Forschungstätigkeit auf die Akten der Gauselbstverwaltung hingewiesen hat. Ohne diesen Aktenbestand wäre die Arbeit in dieser Form gar nicht erst möglich gewesen. Zahlreiche wertvolle Hinweise und Auskünfte habe ich von Archivarinnen und Archivaren, Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sowie vielen Kolleginnen und Kollegen oft auf direktem Wege erhalten. Ich habe nach Möglichkeit an der entsprechenden Stelle im Text darauf hingewiesen. Herzlichen Dank dafür!
Am 2. Januar 1939 vermerkte ein Referent der Innsbrucker Landeshauptmannschaft, dem ein Antrag des Künstlers Alfons Walde (1891–1958) um Rückstellung seines Reisepasses zugegangen war, die politische Einschätzung der Geheimen Staatspolizeistelle (Gestapo) Innsbruck über den Gesuchsteller:
„Mangels Beweise für eine strafbare politische Handlung musste von einer Schutzhaftnahme Abstand genommen werden. – WALDE wird jedoch auch weiter vertraulich überwacht. – WALDE wird von der nationalen Bevölkerung Kitzbühels und Umgebung vollkommen abgelehnt. – Die Reichskulturkammer, Reichskammer für bildende Künste, hat die Verbreitung der Werke Waldes, im Reiche als unerwünscht bezeichnet. – Seine künstlerische Tätigkeit versandete in den letzten Jahren, bezw. entwickelte sich mehr nach der geschäftlichen Richtung. – Wenngleich WALDE völkisch wenig sympathisch erscheint und ihm auch wenig soziales Gefühl nachgesagt wird, dürften doch die im § 11 der Passvorschriften im Lande Österreich vorgesehenen Voraussetzungen für eine Versagung des Reisepasses, nicht als vorhanden anzusehen sein.“1
Alfons Walde, akademischer Maler und Architekt sowie zeitweise Kommunalpolitiker der Vaterländischen Front aus Kitzbühel, war damals einer der erfolgreichsten lebenden Künstler des Landes. Ihm und seiner Ehefrau waren Mitte 1938 auf Veranlassung der Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel die Reisepässe entzogen worden, mit der Begründung, dass „die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass der Pass in den Händen des […] akad. Malers Alfons Walde die Sicherheit des Reiches gefährdet“.2 Ende Oktober 1938 intervenierte Walde deswegen bei der Bezirkshauptmannschaft. Er habe sich „seit dem Umsturze gegen den Staat oder gegen die nat. soz. Partei nicht das geringste zu schulden kommen lassen“. Zwar sei er in der Vergangenheit „in manchen Dingen ein Gegner des Nationalsozialismus“ gewesen, aber dies sei „hauptsächlich auf persönliche Gehässigkeiten zurückzuführen, durch welche ich der Partei entfremdet wurde“. Er benötige dringend seinen Reisepass, um seinen beruflichen Aufgaben als Architekt nachzukommen.3 Der Beschwerde wurde vorerst nicht stattgegeben, weil der Akt, der eigentlich zur Begutachtung nach Innsbruck überstellt werden sollte, versehentlich an die Landeshauptmannschaft in Bregenz gelangte, von wo er erst Ende November an den eigentlichen Bestimmungsort übersendet wurde. Inzwischen sammelte die Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel Material gegen Walde und übermittelte es nach Innsbruck. Ein Augenzeuge hatte im Frühherbst verdächtige Vorgänge wahrgenommen, die möglicherweise den Ausschlag für die Passentziehung gegeben hatten:
„Kunstmaler Walde aus Kitzbühel habe ich im Verlaufe der letzten Zeit beobachtet, dass er mit seinem Auto beim Stangenwirt in Going anhielt und sich mit dem Insassen des Autos 4474 R L 8 F und C D (Corps Diplomatic) traf. […] Mir kommt die Sache insoferne verdächtig vor, dass Kunstmaler Walde so häufig nach Going kommt, sich dort in einem Bauernwirtshaus mit einem eleganten Herrn trifft und noch dazu in Gesellschaft eines mir als übel bekannten Kommunisten.“4
Handelte es sich bei Walde gar um einen Spion in ausländischen Diensten? Die Gestapo Innsbruck ermittelte aufgrund des dringenden Verdachts „staatsfeindlicher Umtriebe“, stellte ihre Ermittlungen aber schließlich ergebnislos ein. Die ganze Angelegenheit habe auf einem Irrtum des Anzeigers beruht.5 Mitte Januar 1939 erhielt Walde seinen Pass zurück – mit der Warnung, er könne jederzeit wieder entzogen werden, „[s]ollten Fälle unvölkischen oder unsozialen Verhaltens“ bekannt werden.6
Nicht einmal zweieinhalb Monate später war Alfons Walde mit vier Gemälden in einer großen Ausstellung im Wiener Künstlerhaus vertreten. Die offiziöse Ausstellung mit dem Titel „Berge und Menschen der Ostmark“, beworben als die größte Schau lebender Künstler und Künstlerinnen seit dem „Anschluss“, stand unter dem Ehrenschutz des österreichischen Reichsstatthalters Dr. Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) und des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Gauleiter Josef Bürckel (1895–1944). Im Ehrenausschuss war außerdem der Salzburger Kunsthistoriker und Staatssekretär für Kunst, Dr. Kajetan Mühlmann (1898–1958), ein persönlicher Freund Waldes.7 Kein anderer Künstler Tirols war stärker in der Ausstellung vertreten als der Kitzbüheler Maler.8 Ende Mai wanderte die Großausstellung, angereichert um eine neue Sektion zur Wirtschaft und zahlreiche Volkskunstobjekte, nach Berlin. Die Schirmherrschaft über das Gastspiel in der Reichshauptstadt übernahm niemand Geringerer als der preußische Ministerpräsident Generalfeldmarschall Hermann Göring (1893–1946). „Mit dieser Ausstellung wird die Ostmark ein geschlossenes Bild ihres Lebens und Wirkens, ihrer Kultur und ihrer Wirtschaft geben“, hieß es in der heimischen Tagespresse.9 Der Gauleiter von Tirol-Vorarlberg, Franz Hofer (1902–1975), wohnte der Eröffnung in Berlin persönlich bei und nahm an einem Rundgang durch die Ausstellung teil. Ob er Waldes Werke zu Gesicht bekam, ist unbekannt. Gelegenheit dazu hätte er jedenfalls gehabt. Denn abermals war der Tiroler, dessen Werke die Reichskammer der bildenden Künste, nach den eingangs zitierten Angaben der Gestapo Innsbruck, „im Reiche als unerwünscht bezeichnet“ hatte, mit vier Gemälden vertreten.10 Auf einer der Fotografien vom Ausstellungsrundgang der Parteiprominenz sieht man den Innsbrucker Gauleiter vor anderen Exponaten aus Tirol: Es waren mehrere typische Trachten- und Fasnachtkostüme aus der Umgebung von Hall und Innsbruck, die als neue Objekte Eingang in die Berliner Ausstellung gefunden hatten.11 Der Einbezug Tiroler Folklore in die Berliner Variante der Ausstellung war ein Vorzeichen für den Stellenwert, den gerade die vermeintliche „Volkskultur“, maßgeblich gefördert durch die regionalen Kulturstellen, in den nächsten Jahren in Tirol und Vorarlberg gewinnen sollte.
Für Alfons Walde sollte es dagegen die letzte prominente Ausstellungsteilnahme der NS-Zeit sein. In seiner näheren Heimat, dem Gau Tirol-Vorarlberg, wurden seine Werke in den Folgejahren nicht mehr ausgestellt. Ein offizielles Berufsverbot gab es nicht, aber offensichtlich boykottierten ihn die regionalen Stellen und Institutionen im kulturellen Feld.
Die Causa Walde verdeutlicht einige der Kernprobleme, mit denen die Erforschung nationalsozialistischer Kulturpolitik, besonders auch im regionalen Rahmen, konfrontiert ist: erstens eine schwer durchschaubare Gemengelage an Interessen, die – vertreten durch unterschiedlichste Repräsentanten diverser Institutionen des Feldes Kulturpolitik – sich im Kampf um Macht und Bedeutung durchzusetzen versuchten.12 Zweitens irritiert ein offensichtlich nicht vorhandener Konsens über den inhaltlichen und ästhetischen Kern nationalsozialistischer Kulturpolitik unter diesen Interessenvertretern und Kulturpolitikakteuren, in Wahrheit selbst das Fehlen einer Grundübereinkunft über deren bestimmende Wesensmerkmale.13 Was der einen Stelle als „unerwünscht“ und „unvölkisch“ galt, konnte die andere, wie im Falle Waldes, sogar als besonders wertvoll und exemplarisch fördern und ausstellen.14 Und drittens eine inhärente Verknüpfung von Kunst- und Kulturpolitik mit der Verfolgungs- und Repressionspolitik des NS-Regimes.15
Als Aufgabenstellung für die zeithistorische Forschung formuliert, könnte man von drei grundlegenden Problemkomplexen sprechen, die es in den Blick zu nehmen gilt: dem organisatorisch-institutionellen Gefüge, den inhaltlichen und ideologischen Eckpfeilern und Grundlinien sowie der Funktion und dem Zweck nationalsozialistischer Kulturpolitik. Bricht man diese drei Grundfragen auf eine Region wie Tirol und Vorarlberg herab, wird die Lage keineswegs übersichtlicher.
Schon vor über zwei Jahrzehnten hat der Historiker Volker Dahm ein Desiderat in der Erforschung nationalsozialistischer Kulturpolitik ausgemacht, nämlich die Frage, „wie sich die zentralisierte Kulturpolitik des nationalsozialistischen Staates auf die kulturellen Verhältnisse in bestimmten Regionen, Landschaften oder Städten auswirkte“.16 Auch der Historiker Michael Wedekind hat 2013 auf die für Tirol bestehende Forschungslücke und die sich daraus ergebende Notwendigkeit hingewiesen, „die institutionellen Rahmen regionaler Kulturpolitik […] darzustellen bzw. für die durch ‚Dienststelleninflation‘ und intendierte Zuständigkeitskonflikte charakterisierte NS-Zeit überhaupt deutlicher als bisher zu rekonstruieren“.17 Diese Studie ist der Versuch, diese Lücke für Tirol und Vorarlberg zu schließen.
Der eingangs skizzierte Umgang mit dem Künstler Alfons Walde fügt sich in das Bild einer von Rivalitäten, Machtkonflikten, Partikularismus und Reibungsverlusten gezeichneten Bürokratie ein, das die NS-Forschung seit den wegweisenden Studien von Ernst Fraenkel18 und Franz Neumann19 immer wieder kontrovers, aber nicht zuletzt auch fruchtbar diskutiert hat. Schon diesen zeitgenössischen Beobachtern, beide als Flüchtlinge im amerikanischen Exil, waren die enormen bürokratischen Verwerfungen innerhalb des NS-Systems aufgefallen. Im Jahr 1942 führte das bei Neumann zur entscheidenden Frage, ob das Deutsche Reich in seiner damaligen Verfassung überhaupt noch einen Staat, im Sinne von Max Weber idealtypisch als integrierte und rechtlich legitimierte Herrschafts- und Verwaltungsstruktur vorgestellt,20 darstelle. Seine damalige These lautete, es handle sich vielmehr um eine informelle Bandenherrschaft, die an die Stelle des normierten, in sich verfassten Staates getreten sei. „Es wäre ein fataler Fehler“, ergänzte er zwei Jahre später, „diese Formlosigkeit für eine Schwäche zu halten. Sie ist im Gegenteil eine Stärke des Systems.“21 In dieser ambivalenten Einschätzung, die an der These des Staatsverfalls festhielt, aber die ausbleibende Implosion des NS-Systems zur Kenntnis nehmen musste, war bereits ein Problem angelegt, das die Forschung bis heute beschäftigt: Trotz der ständigen Kompetenzstreitigkeiten auf und zwischen allen Ebenen, dem Aufbau ständig neuer Sondergewalten und der damit einhergehenden Erosion traditioneller Verwaltungsstrukturen, die man als Staatsverfall deuten konnte, entwickelte das NS-System, nicht zuletzt in seinem antisemitischen Vernichtungsprogramm und seinen Kriegsanstrengungen, eine erschreckende Effizienz. Polykratische Herrschaftsgeflechte, Hybridisierung und Amalgamierung von Verwaltungsstrukturen und die Etablierung neuer, mächtiger Schnittstellen durch mannigfaltige Personalunionen erwiesen sich, wie jüngere Studien gezeigt haben, offenbar nicht als Hemmnisse, sondern kennzeichneten diese besonders fatale Dynamik geradezu.22
Wegweisende Forschungsansätze von Peter Hüttenberger23 und später Dieter Rebentisch24, die sich, wenn auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, diesen Problemstellungen erstmals eingehend widmeten, sind besonders auch in der Erforschung der regionalen Strukturen der NS-Zeit fruchtbar gemacht worden. Gerade die regionalen Mittelinstanzen des nationalsozialistischen Herrschafts-systems, insbesondere die Gaue als nationalsozialistisches Spezifikum und deren kulturpolitische Rolle, sind in jüngerer Zeit wieder in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt.25 Die neuere Forschung begreift diese Gaue nicht mehr nur als „Satrapien“ mächtiger Unterführer von Hitlers Gnaden26 – oder, wie das im österreichischen Forschungskontext noch immer häufig der Fall ist, als mehr oder weniger nahtlose Fortsetzung der traditionellen föderalen Länderverwaltung –, sondern als in sich gefasste sozio-kulturelle und politische Einheiten sui generis, die überhaupt konstituierend waren für das dynamische NS-System. „Die Frage, was die Gaue waren“, so der Historiker Jürgen John, „ist letztlich die Frage nach dem Charakter der NS-Diktatur und ihren inneren Bewegungsgesetzen“.27 Franz Neumann war bereits 1944 aufgefallen, dass die politischen und bürokratischen Mittelinstanzen, insbesondere die ab 1939 in den annektierten Randgebieten des Deutschen Reichs etablierten Reichsgaue, zu denen auch der in dieser Studie behandelte Reichsgau Tirol und Vorarlberg gehörte, gerade im Krieg eine immer bedeutendere Stellung im Herrschafts- und Verwaltungsgefüge erlangt und sich die Gauleiter sukzessive zu den eigentlichen Herrschern im NS-System emporgearbeitet hatten.28 Die Reichsgaue seien, so Neumann, „ein völlig neuer Typ von politischer Einheit“, deren zwei Merkmale „die totale Koordination von Partei- und Staatskontrolle sowie die Zentralisation aller Befugnisse in Händen der Gauleiter-Reichsstatthalter“ darstellten.29 Diese Beobachtung war, bei aller grundsätzlichen Richtigkeit, auf die persönliche Stellung der Gauleiter und deren Rolle als „Herrschaftsträger“ in Partei und Verwaltung verengt und vernachlässigte die systemimmanenten Besonderheiten der Reichsgaue. Diese neuen Mittelinstanzen des NS-Systems, als solche einzigartig in der deutschen und österreichischen Verwaltungsgeschichte, wiesen geradezu exemplarisch Merkmale von extremer Hybridisierung (staatliche Verwaltung, Parteiinstanzen, Selbstverwaltungskörperschaften), vertikaler und horizontaler Integration und polykratischen Herrschaftsstrukturen auf. Zu ihrer besonderen Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge trugen, so eine Grundannahme dieser Arbeit, nicht zuletzt die ihnen inhärenten regionalen Identifikationsangebote bei, die zu einer besonderen Mobilisierungskraft im Sinne des NS-Systems führten.
Schon Ende 1938 betonte die Reichspressestelle, interessanterweise unter Verweis auf die Abtrennung des Kleinwalsertals, das hier im „Gau Tirol“ verortet wurde, die Zentralität der Gaue im öffentlichen Diskurs und als Identifikationsrahmen:
„In der innenpolitischen Entwicklung des Reiches sind die Gaue der NSDAP allmählich zu stärkeren Begriffen gegenüber der noch aus früherer Zeit stammenden Ländereinteilung geworden. Es empfiehlt sich dieser Entwicklung insbesondere auch in der Heimatberichterstattung Rechnung zu tragen. Wenn z. B. kürzlich zu lesen war, dass das vom Gau Tirol an den Gau Schwaben abgetretene Kleine Walsertal ‚ein Bestandteil Bayerns‘ geworden sei, so ist das zwar juristisch richtig, aber für das Volksempfinden ein Anachronismus.“30
Gerade neu geschaffene Herrschaftsstrukturen wie der Reichsgau Tirol und Vorarlberg, dessen Grenzen den politischen Raum traditioneller Verwaltungs- und Länderstrukturen sprengten, waren in besonderem Ausmaß gefordert, sich identitätspolitisch und damit auch kulturell zu legitimieren. Zwar konnte auch hier in Teilen „an die Tradition staatlicher Pflege des Landesbewusstseins“31 angeschlossen werden – im Falle Tirols und Vorarlbergs etwa unter Berufung auf die gemeinsame Verwaltungsgeschichte bis 1918, die Fronterlebnisse des Ersten Weltkriegs oder durch die geschichtspolitische Konstruktion eines gemeinsamen „Abwehrkampfes“ in den Napoleonischen Kriegen –, andererseits forderte der konstruierte Charakter des erst parteilichen und schließlich auch verwaltungsmäßigen politischen Gebildes Tirol und Vorarlberg, das von erheblichen gebietlichen Abtrennungen (Osttirol, Jungholz und Kleinwalsertal) und dem außenpolitisch motivierten Verzicht auf Südtirol zusätzlich belastet war, eine besonders dynamische identitätspolitische Innovationskraft. Regionale Kulturpolitik war ein zentraler Pfeiler in der Konstruktion derartiger Identifikationsangebote und der damit bezweckten Festigung der NS-Herrschaft. Nach Martina Stebers überzeugender Argumentation konstituierten sich die Gaue „im Laufe des Dritten Reiches mithin als zentrale Einheiten im polykratischen Gefüge der NS-Kulturpolitik“.32 Den Reichsgauen kam dabei – anders als im „Altreich“, wo Länder und Gaue nicht deckungsgleich waren – besonders zugute, dass sie im kulturpolitischen Feld, abgesehen von den übergeordneten Reichsinstanzen, nahezu konkurrenzlos waren. Das heißt im Wesentlichen, dass ab 1940 beinahe alle Kompetenzen und Verwaltungsstellen in der Mittelinstanz in den Apparaten der Gauleiter-Reichsstatthalter vereint waren. Vor wenigen Jahren hat der Historiker Wolfgang Benz die Zentralität der Kulturpolitik für das nationalsozialistische System als Gesamtes erneut betont: „Das Monopol zur Gestaltung der öffentlichen Meinung und die Hoheit über die Kultur waren Pfeiler nationalsozialistischer Macht.“33 Und erst jüngst argumentierte der Historiker Michael Kater, Untersuchungen zur Kulturpolitik seien besonders dazu geeignet, die inneren Bewegungsmechanismen und den Charakter der NS-Diktatur herauszuarbeiten.34 Insofern weist eine Regionalstudie zur nationalsozialistischen Kulturpolitik weit über ihren engen Untersuchungsgegenstand hinaus.
Wie lässt sich diese Kulturpolitik in der Region unter den Bedingungen des NS-Regimes, das keine traditionellen und öffentlichen Foren der Ausverhandlung oder der politischen Debattenführung, wie Parlamente und beratende Gremien oder eine freie Publizistik, kannte, untersuchen? Die Historiker Wolf Gruner und Armin Nolzen haben Anfang der 2000er Jahre ein an Hüttenberger angelehntes, dynamisches Polykratiemodell vorgeschlagen, das die Bürokratisierung des NS-Staates zum Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen nimmt. In den Blick solle nicht nur der Prozess von der bürokratischen Problemstellung über die politische Willensbildung bis zur praktischen Umsetzung genommen werden, sondern vor allem „die personelle Struktur des Behördenapparates und die biografische Sozialisation des Personals […], außerdem deren handlungsleitende Motive und Interessen“. Personelle und institutionelle Vernetzungen mit anderen Behörden seien ebenso zu berücksichtigen „wie die Wechselwirkungen zwischen lokaler, regionaler und zentraler Verwaltungsebene“.35 Diese hier skizzierte Vorgehensweise bietet sich für eine Regionalstudie zu einem österreichischen Gau besonders an. Nicht nur traten die systemimmanenten Kämpfe zentraler Machtblöcke und Cliquen des NS-Systems in der Gauebene besonders hervor, diese wurden in den Verteilungskämpfen nach dem „Anschluss“ und im Zuge ihrer Transformation zu Reichsgauen geradezu potenziert. Insbesondere lässt sich das für das Feld der Kulturpolitik feststellen.
Erfreulicherweise sind in den letzten Jahren zu verschiedenen Aspekten nationalsozialistischer Kulturpolitik zahlreiche neue Arbeiten entstanden,36 die sowohl methodische und inhaltliche Anknüpfungspunkte bieten als auch weiterführende Vergleiche und Einordnungen ermöglichen. Zweifelsohne hat, wie Thomas Schaarschmidt feststellt, der kulturwissenschaftliche Boom der letzten Jahrzehnte Regionalstudien zur Kulturpolitik, gerade solche zur Zeit des Nationalsozialismus, begünstigt.37 Für Österreich muss man diesen Befund allerdings relativieren. Die im Jahr 2008 endgültig abgeschlossene umfassende Edition der sogenannten „Goebbels-Tagebücher“38 hat ebenfalls zu neuen Studien über zentrale Akteure des nationalsozialistischen Propagandaapparates und der Kulturpolitik, nicht zuletzt den Reichspropagandaminister selbst,39 aber auch zum neuerlichen Nachdenken über das Verhältnis zwischen zentralisierter und regionaler Kulturpolitik angeregt.40 Gerade die Funktion und Tragweite von regionaler Kultur- und Kunstpolitik ist dabei immer wieder kritisch hinterfragt und relativiert worden. Hatte Regional-oder „Volkskultur“ überhaupt nur eine „Ersatzfunktion für tatsächlichen Einfluss“ und waren „regionale Folklore und heimatgebundene Identifikationsangebote letztlich nur Mittel zum Zweck der zentralistisch gesteuerten NS-Propaganda“, wie Schaarschmidt auf eine von ihm konstatierte Tendenz von Regionalstudien zur NS-Kulturpolitik, „dem schönen Schein der Heimat-Propaganda“ zu erliegen, kritisch reagiert hat?41 War sie „staatlich verordneter und geförderter Triumph spießiger Provinzialität und institutionalisiertes Mittelmaß, aber auch genau kalkuliertes Mittel zum Transport von Ideologie und zur Formierung der ‚Volksgemeinschaft‘“, wie Wolfgang Benz überhaupt der gesamten Kunst und Kultur im Nationalsozialismus bescheinigt? Oder war dieser Provinzialismus letztlich überhaupt konstituierend für die nationalsozialistische Kulturpolitik, wie Gerwin Strobl suggeriert:
„The party and the culture it favoured both wore their regional badges with defiance. Embracing ‚small town‘ Germany promised electoral gains. It also allowed the Nazi party to portray itself as the true heir and defender of German tradition. After all, the spiritual home of German Kulturpatriotismus – the town of Weimar – was itself a small provincial town.”42
Tatsächlich wäre es falsch, dem „schönen Schein der Heimat-Propaganda“ zu erliegen. Auch im Falle Tirols und Vorarlbergs gäbe es dazu genügend Gelegenheiten. Das NS-System publizierte dutzende Erfolgsberichte und Erfolgsmeldungen über kulturelle Großereignisse und die eigenen kulturpolitischen Bestrebungen, nicht zuletzt im Feld der Brauchtumspflege und „Volkskultur“. Viele davon waren, bei näherer Betrachtung, übertrieben oder entsprachen schlichtweg nicht der Realität. Zahlreiche Initiativen kamen – nicht zuletzt aufgrund der systemimmanenten Hierarchiekonflikte – nicht über das Ankündigungsstadium hinaus. Man könnte deshalb leicht geneigt sein, diese kulturpolitischen Bestrebungen als rein kompensatorische Handlungen einer weitgehend machtlosen Mittelinstanz abzutun, der reale Einflussmöglichkeiten durch fortschreitende Zentralisation abhandengekommen waren.
Das wäre wohl verkürzt, denn bei allen realen Defiziten lässt sich am Beispiel Tirols und Vorarlbergs feststellen, dass die regionalen kulturpolitischen Anstrengungen bis zu einem gewissen Grad tatsächlich als Identifikationsangebot und als Mittel zur Verwirklichung einer „Volksgemeinschaft“ im Sinne einer sozialen Praxis, mit gemeinschaftlichen Ritualen, Erzählungen und Erlebnissen,43 funktionierten und damit nicht zuletzt zur Bindung und Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung an und durch das NS-Regime führten. Diese regionalen Initiativen standen dabei durchwegs nicht in Konkurrenz zur zentralisierten Kulturpolitik des Reichs, die sich vorwiegend auf die Massenmedien stützte, sondern ergänzten und stützten diese.
Der Blick der vorliegenden Arbeit geht deshalb gleichermaßen in zwei Richtungen. Zum einen werden die regionalen Spezifika nationalsozialistischer Kulturpolitik herausgearbeitet, zum anderen wird deren Einbettung in die reichsweiten Strukturen, ebenso wie deren fallweise Kollision mit diesen, stets berücksichtigt. Methodisch folgt die vorliegende Untersuchung dabei im Wesentlichen der von Gruner und Nolzen vorgeschlagenen Vorgehensweise. Im Mittelpunkt des Interesses stehen insbesondere die zentralen staatlichen und parteiamtlichen Verwaltungsapparate und ihr jeweiliges Personal sowie deren Vernetzungen und allfällige Konkurrenzverhältnisse untereinander und mit anderen Stellen. In zweiter Linie werden exemplarisch auch die Auswirkungen dieser Kulturpolitik auf die jeweils betroffenen Akteure im kulturellen Feld und, soweit das die Quellen zulassen, die allgemeine Öffentlichkeit untersucht.
Die Darstellung gliedert sich in drei chronologische Abschnitte, die jeweils unterschiedliche kulturpolitische Phasen widerspiegeln. Teil I behandelt die „Anschluss“- und Aufbauphase zwischen März 1938 und März 1940, mithin die „erfolgreichste Zeit“44 des Nationalsozialismus im österreichischen Kontext und damit auch, zumindest bis inklusive August 1939, die einzige Phase der NS-Herrschaft, die nicht durch Kriegsgeschehnisse geprägt war. In Teil II (März 1940 bis August 1943) werden die drei Jahre zwischen der Einrichtung des Reichsgaus Tirol und Vorarlberg und der Ausweitung des Luftkrieges auf den Alpenraum behandelt. Es handelte sich dabei um jenen Zeitabschnitt, in dem das NS-Regime seine neue verwaltungsmäßige Struktur entfaltete und zugleich erstmals eine eigenständige regionale kulturpolitische Linie erkennbar wurde. Der abschließende Teil III (ab September 1943 bis Kriegsende im Mai 1945) beginnt mit der Ausweitung der regionalen NS-Herrschaft auf Norditalien und der damit einhergehenden Ausdehnung regionaler Kulturpolitik auf Südtirol. Diese Phase endete in vielerlei Hinsicht schon im September 1944, als der „totale Kriegseinsatz“ des Regimes die Einstellung und Schließung sämtlicher Kulturinstitutionen bedingte. In sich sind die drei Teile des Buches im Wesentlichen nach verwaltungsorganisatorischen Gesichtspunkten gegliedert. Dabei wird allerdings nicht strikt am behördlichen oder parteiamtlichen Organisationsprinzip festgehalten. Gerade um dem amalgamierenden Charakter des NS-Herrschaftsapparats Rechnung zu tragen, werden verwandte Institutionen und vergleichbare Phänomene an gemeinsamer Stelle behandelt. Eine augenscheinliche Gewichtung zugunsten der Frühphase der NS-Herrschaft ist einerseits der disparaten Quellenlage geschuldet, andererseits vor allem der Tatsache, dass zwischen 1938 und 1941 große organisatorische, bürokratische und rechtliche Weichenstellungen in der Kulturpolitik getätigt wurden. Das eigentliche und öffentliche Kulturleben nahm dagegen insbesondere nach dem Kriegsbeginn im Herbst 1939 kontinuierlich ab.
Wie die Mehrzahl der historischen Untersuchungen zur NS-Kulturpolitik folgt auch diese einem engen Kulturbegriff, der im Kern das soziale Feld oder die gesellschaftliche Sphäre der Künste und der Literatur sowie der Populärkultur und die damit verbundenen jeweiligen Medien beschreibt.45 Im erweiterten Sinn fallen auch Teilaspekte der Wissenschaft, Bildung und Erziehung sowie der Religion unter diesen Oberbegriff. Diese enge Begriffsverwendung spiegelt damit im Wesentlichen jene Materien und Zuständigkeiten, die im Rahmen der staatlichen Verwaltung sowohl auf gesamtstaatlicher Ebene als auch in den Ländern in den jeweiligen Kulturressorts noch heute bearbeitet werden.46 Der Historiker Achim Doppler hat in einer Regionalstudie zu Niederösterreich – einer der wenigen, die bislang zu diesem Thema zur österreichischen Provinz erschienen sind – Kulturpolitik in diesem Sinne als „Ausdruck staatlichen Engagements im Bereich der Produktion, Reproduktion und Vermittlung von Kultur“ definiert.47 Kulturpolitik wird damit letztlich zu einem Synonym der Kulturverwaltung; wobei man kritisch einwerfen könnte, wie dann das Engagement von nicht-staatlichen Akteuren in diesem Feld zu werten wäre.
Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk konstatiert eine „verdächtige Neigung des Begriffs Kultur […] sich in eine Liaison mit anderen Begriffen zu begeben und sich in einem Doppelnamen zu vereinigen“.48 In den Komposita Kulturpolitik und Kulturverwaltung kann man unschwer eine derartige gefährliche Liaison erkennen. In den Teilbegriffen schwingen, je nach historischem, geografischem oder auch weltanschaulichem Kontext, sehr widersprüchliche und teils schwer vereinbare Konnotationen mit. Eine allgemeingültige Definition des Begriffs „Kulturpolitik“ sucht man deshalb, wie in einschlägigen Untersuchungen immer wieder festgestellt wird,49 vergeblich – in den großen historischen Fachwörterbüchern kommt er gar nicht erst vor. Es gibt also weder einen verbindlichen Konsens über die Eingrenzung des Gegenstands der Kulturpolitik noch über den Kreis der Akteure im Feld der Kulturpolitik.
Eine Untersuchung zur nationalsozialistischen Kulturpolitik ist mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert. Der Begriff erlangte schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg große Popularität bei Angehörigen völlig unterschiedlicher politischer Lager und weltanschaulicher Strömungen, die ihn jeweils für sich reklamierten und entsprechend konträre Vorstellungen damit verbanden. Beispielsweise wurde Kulturpolitik von zahlreichen Pazifisten als Mittel zur Völkerverständigung und Alternative zum Krieg propagiert. Nationalisten unterschiedlichster Couleur wiederum galt Kulturpolitik als probates Mittel zur Festigung der nationalen Identität und des „Volkstums“ – oder zur Durchsetzung nationaler Interessen auf dem internationalen Parkett. Zu den wenigen zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Begriff, die sowohl praktisch orientiert und politisch betont neutral waren, gehört ein 1932 erschienener Beitrag von Adolf Morsbach (1890–1937), der damals dem reichsdeutschen Akademischen Austauschdienst vorstand und sich damit, nach eigener Definition, im Feld der „äußeren Kulturpolitik“ bewegte. Nach Morsbach umfasste der Begriff zwei Bedeutungen:
„Versteht man unter Politik die auf Machtgewinnung und Machtbehauptung gerichtete Tätigkeit, so ist Kulturpolitik – als machtpolitischer Faktor gesehen – diejenige Willensrichtung, die Kultur durch Macht oder Macht durch Kultur erstrebt. Im ersten Falle sind alle Kulturgebiete – historisch gewordene und durch gesellschaftliche Wechselwirkung erzeugte geistige Wertgebilde – wie Religion, Kunst, Wissenschaft, Erziehung, Sittlichkeit, Moral – Ziel des Machtstrebens. Im zweiten Falle ist die Eroberung der Macht das Ziel, das durch Kultur als politisches Feld erreicht werden soll.“50
In der Praxis würde sich innenpolitisch stets eine Überschneidung dieser beiden Tendenzen zeigen. Außenpolitisch dagegen ziele Kulturpolitik beinahe ausnahmslos auf die machtpolitische Durchsetzung eigener staatlicher Interessen ab. Politik ist hier als Streben nach Herrschaft definiert und Kulturpolitik damit folglich entweder ein Mittel zur Erlangung und Festigung dieser Herrschaft oder überhaupt jedes herrschaftliche Agieren im kulturellen Feld.
Morsbachs Beitrag erschien in einem Sammelband mit dem vielsagenden Titel „Volkstum und Kulturpolitik“, der dem katholischen Kirchenhistoriker und Zentrumspolitiker Georg Schreiber (1882–1963) gewidmet war. Im Vorwort behaupteten die Herausgeber Heinrich Konen (1874–1948) und Johann Peter Steffes (1883–1955), zwei prominente katholische Wissenschaftsfunktionäre, einen inhärenten Zusammenhang der beiden titelgebenden Begriffe. Der erste sei „jene echte und lebensvolle Seinswelt“, die den Menschen in seinem Wesen präge und historisch forme. Der zweite, die Kulturpolitik – eine explizite Definition blieben sie schuldig –, sei damit eng verbunden, ziele Kulturpolitik doch über die staatlichen Grenzen hinaus und damit auch auf die auslandsdeutschen Minderheiten, also das gesamte deutsche Volk. Kulturpolitik sei durch die zeitbedingten Umstände, nämlich den verlorenen Krieg, zu einer Sache geworden, „die das ganze Volk angeht“ und sich „nicht mehr in den engen Rahmen ressortmäßiger Beamtenverwaltung einzwängen“ lasse.51 In diesem Sinne war Kulturpolitik gerade eben nicht Ausdruck des staatlichen Handelns, sondern eine Angelegenheit des gesamten Volkes. Auch wenn sie den Begriff „Identität“ nicht verwenden, schwingt hier die identitätsschaffende oder -erhaltende Funktion der Kulturpolitik, die Konen und Steffes ihr zuschrieben, bereits mit.
Georg Schreiber, auf den sich Konen und Steffes beriefen, begründete in einem Beitrag für das Staatslexikon von 1929 die enge Verbindung zwischen Volkstum und Kulturpolitik mit dem Charakter des zeitgenössischen Nationalstaates.52 Die Grundlage der Kulturpolitik, so Schreiber, stelle der moderne Kulturstaat dar. Dieser beruhe „auf der Überwindung der Aufklärung“, den Auswirkungen von Industrialisierung und Demokratisierung sowie der Idee des Volkstums, allesamt realisiert im Nationalstaat:
„Ist dieser Gedanke auch in modernen Ausläufern manchmal zum reinen Machtkult im Dienst des Nationalstaats od. zu voreiligen Rasse- u. Absonderungsprinzipien übersteigert worden (völkischer Gedanke), so ist er doch für die Entwicklung des nationalen Kulturstaats formgebend geworden.“
Die Kulturpolitik sei demnach sowohl eine „Funktion des Kulturstaats“ als auch die „Betätigung innerhalb des Kulturstaats“. Zu den einzelnen Teilgebieten der Kulturpolitik seien Wissenschaft, Schul- und Volksbildung und die Kunst sowie die kulturelle Sozial- und Wirtschaftspolitik zu zählen. Letzteres, da die allgemeine soziale Not „Rückwirkungen auf Familien- u. Volksleben u. damit auf die gesamte Volkskultur“ zeitige.53 Kultur, Volk und Staat waren hier als eins gedacht und bedingten sich geradezu gegenseitig. Die besonders enge Verknüpfung mit der Vorstellung vom Volkstum war nur eine mögliche zeitgenössische Deutung des Begriffs Kulturpolitik. Ihre Verbreitung nicht nur in deutschnationalen, sondern auch in katholischen Kreisen, wenn auch anders gelagert, zeigt jedoch, wie hegemonial sie bereits Anfang der 1930er Jahre war.
Im Nationalsozialismus erhielt der Begriff noch einmal eine spezielle anti-semitische Punzierung. Ab 1933 gingen immer mehr reichsdeutsche Zeitungen dazu über, ihre Kultur- und Kunstspalten unter das Schlagwort „Kulturpolitik“ zu stellen. Sie grenzten sich damit erklärtermaßen von den liberalen Feuilletons ab, denen eine Mitschuld am angeblichen kulturellen und künstlerischen Verfall der Zwischenkriegszeit angelastet wurde. Implizit suggerierte das, dass sich die Politik unter nationalsozialistischer Führung nunmehr wieder dem Feld Kultur, das zuvor brachgelegen hatte oder gar devastiert worden war, zugewandt habe. Im Völkischen Beobachter hieß es anlässlich der Einführung der Reichskulturkammergesetzgebung in Österreich im Sommer 1938, Kultur sei „Sache des Volkes“ und dieses zugleich „Quell und Träger künstlerischer Leistungen“. Diesen Ursprung habe Adolf Hitler, „selbst ein schaffender Künstler[,] freigelegt und sie in seinem Staate, im nationalsozialistischen Deutschland, zur Grundlage seiner Kulturpolitik gemacht“.54 Im selben Sinne formulierte der Journalist Heinrich Zerkaulen (1892–1945) in einer 1934 erschienenen Schrift zur „kulturpolitischen Sendung der deutschen Zeitung“, das einzige Ziel nationalsozialistischer Kulturpolitik seien das Bekenntnis und der Wille zur Einheit. Diese Einheit gründe auf der nationalsozialistischen Weltanschauung, wie sie vom „künstlerischen Menschen Adolf Hitler“ dargelegt worden sei:
„Wir wissen, wie jede seelisch errungene Erkenntnis des Führers in der Weltanschauung des Nationalsozialismus letzte Verankerung erfuhr. Dann ist es selbstverständlich, dass die Zeitung des nationalsozialistischen Staates in kulturpolitischer Hinsicht zum Abbild des künstlerischen Menschen Adolf Hitler selbst werden muss.“55
Eine banalere Definition nationalsozialistischer Kulturpolitik bot der gebürtige Wiener Dr. Wolfgang Schultz (1881–1936), Professor für Philosophie an der Universität München und Hauptstellenleiter des Amts Rosenberg, in einem 1939 posthum veröffentlichten Handbuch. Ihre Inhalte, so Schultz, „bestimmen und vollziehen der Führer und die von ihm zu den einzelnen Aufgaben Berufenen“. Wolle man wissen, „was nationalsozialistische Kulturpolitik ist, dann sehe man auf diese Männer, auf das was sie tun, und auf die Anleitungen, die sie geben um verantwortliche Mithelfer heranzuziehen, und auf die Gesetzgebung, die dieser Arbeit die Bahn bereitet“.56 Alfred Rosenberg (1893–1946), einer jener führenden NS-Kulturpolitiker, erklärte am Reichsparteitag 1938 kurz und knapp, sämtliche Kultur gründe auf Rasse: „Jede große Kunst predigt ein klares Schönheitsideal, und jede Nation hat einen von ihrem Rassenkern bedingten, ihr eigenen Kulturwillen“.57 Auf den Kopf gestellt, lassen sich „Rasse“ und „Volk“ – die vermeintlichen Ursprünge der Kultur – hier rasch als geistige Produkte von Kulturpolitik entlarven.
Es ist kaum verwunderlich, dass sich zahlreiche antisemitische und rassistische Pamphlete und Abhandlungen aus den Jahren 1933 bis 1945 als Beiträge zur Kulturpolitik verstanden wissen wollten. So etwa eine antisemitische Abhandlung zur Musik von Karl Blessinger (1888–1962), der betonte, jede nationalsozialistische Kulturpolitik sei zugleich Rassenpolitik, denn die Juden hätten die „kulturellen Werte […] innerlich zersetzt und verfälscht“. Die deutsche Kultur sei „von jüdischer Unart angekränkelt und so in eine Abhängigkeit von einer unsichtbaren jüdischen Lenkung hineinmanövriert worden“. Ziel dieser Abhängigkeit sei die jüdische Weltherrschaft gewesen – das Heilmittel dagegen sei der Nationalsozialismus.58
Im gleichen Sinne hatte sich der Innsbrucker Lehrer und Komponist Josef Eduard Ploner (1894–1955) schon Ende April 1938 in einem längeren antisemitischen Traktat geäußert:
„Jede echte und wahre Kunst ist weltanschaulich bedingt. Weltanschauungen gründen sich nicht nur auf das Denken und die Vernunft, sondern auch auf das Gefühl. Dieses ist wieder in einem besonderen Maße rassisch bedingt […] Diese Tatsachen stehen auf dem Boden der Naturgesetze und damit auf dem gottgeschaffenen Grundsatz von ‚Blut und Boden‘, da ja auch die Naturgesetze göttlichen Ursprungs sind. Die blutleeren und naturwidrigen Formeln der demokratisch-liberalistischen Zeit stammen alle von Juden oder Judenknechten […] Dass der deutsche Mensch in seinem Fühlen, Denken und Handeln sich nun wieder von diesen trugvollen Lehren befreit und zu seinem artgemäßen Leben und seiner Kultur zurückgefunden hat, verdankt er der Tat Adolf Hitlers. Diese Befreiung verlangt als Dankabstattung die letzte Hingabe von jedem volksbewussten Deutschen innerhalb seines Wirkungskreises; von dem musikalisch begabten und tätigen Volksgenossen daher sein bestes Wirken im Dienste der nationalsozialistischen Weltanschauung.“59
Der aus Innsbruck gebürtige Soziologe Gunther Ipsen (1899–1984), der ebenfalls antisemitische und rassistische Positionen vertrat, argumentierte 1938 andererseits für eine Unterscheidung zwischen Kulturpolitik, als Angelegenheit des Staates, und der „Heimatpflege“, als Sache der Region und des Volkes:
„Kultur wird geschaffen, gelebt, politisch geleitet – aber gepflegt, nein, es sei denn in musealer Erstarrung. Das Eine ist Sache des Volkes und der schöpferischen Menschen in ihm; Kulturpolitik ist die Sache des Staats. Allein die heimatlichen Quellen unserer Kraft und Art bedürfen der Pflege und lassen diese Weise öffentlichen Handelns zu.“60
Es geht hier nicht darum, jede mögliche Begriffsverwendung und Begriffsdeutung von Kultur oder Kulturpolitik im Nationalsozialismus en détail zu belegen oder die Botschaften der regionalen NS-Kulturfunktionäre in Tirol und Vorarlberg vorwegzunehmen. Vielmehr sollen diese einleitenden Überlegungen verdeutlichen, dass selbst in der alltäglichen Praxis nationalsozialistischer Kulturpolitik, die von oftmals sehr banalen verwaltungstechnischen Vorgängen, von Finanzierungs- und Personalfragen und dergleichen geprägt war, nationalsozialistische Ideologeme, Antisemitismus und völkisches Denken, stets grundlegend präsent und prägend waren.
Während die nationalsozialistische Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg bislang nicht Gegenstand einer eigenständigen und umfassenden Untersuchung geworden ist, existiert zur Geschichte der NS-Herrschaft, samt ihrer Vorgeschichte und ihren Auswirkungen, ein umfangreiches Repertoire an Forschungsliteratur.61 Einen besonderen Anknüpfungspunkt für die vorliegende Studie bietet Horst Schreibers bereits 1994 in der Reihe „Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte“ veröffentlichte Regionalstudie zum „Anschluss“.62 Das nicht nur, weil Schreiber ebenfalls einen Forschungsansatz verfolgte, der die politischen und bürokratischen Strukturen fokussierte, sondern auch weil diese Studie erstmals der regionalen Kulturpolitik des NS-Systems, vor allem der Jahre 1938 und 1939, einen eigenen Abschnitt widmete. Dabei beschränkte sich Schreiber nicht nur, wie seither immer wieder geschehen, auf „Regionalkultur“ oder „Volkskultur“, sondern berücksichtigte auch wichtige Aspekte der Massen- und Populärkultur, wie Theater, Kino und Rundfunk.63 Zwei Jahre darauf legte Schreiber einen weiteren umfangreichen Band zur regionalen Schulpolitik der Jahre 1938 bis 1948 vor,64 der aufgrund der zeitweise gemeinsamen Verwaltungsgeschichte von Schul- und Kulturpolitik ein wichtiges Referenzwerk für diese Studie darstellt. Der im Jahr 2002 in derselben Reihe erschienene Sammelband „Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit“, herausgegeben von Rolf Steininger und Sabine Pitscheider, ist nach wie vor ein wichtiges Standardwerk und vereint Einblicke in ein weites Forschungsspektrum zum Nationalsozialismus in Tirol und Vorarlberg, von der Kirchenpolitik über das antisemitische Verfolgungs- und Vernichtungsprogramm bis hin zu einzelnen Aspekten der Kunstpolitik und der Baukultur.65 In den letzten Jahren entstanden einige sehr wichtige Beiträge zu verschiedenen Teilaspekten der regionalen NS-Kulturpolitik. Den Anfang machte Kurt Drexels bereits 2014 erschienene ausführliche Untersuchung zu Tiroler Musikern und Komponisten und deren Schaffen im Nationalsozialismus, die außerdem zahlreiche wichtige Quellendokumente enthält.66 Im Jahr 2018 folgte eine Monografie von Michael Forcher zu den Tiroler Schützen in der NS-Zeit.67 Im selben Jahr erschien zudem der Katalog zu einer von Günther Dankl mit Helena Pereña am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum kuratierten Ausstellung zu Kunst und Nationalsozialismus in Tirol.68 Auch der von Reinhard Bodner konzipierte Band „Tracht. Eine Neuerkundung“ erschien 2020 begleitend zu einer Ausstellung am Tiroler Volkskunstmuseum, in deren Zentrum der Umgang mit Trachten im Nationalsozialismus stand.69 Zuletzt erschien 2021 ein voluminöser Band zur Geschichte der Südtiroler Blasmusik 1918–1948, in dem Hubert Mock unter anderem die Tätigkeit des nationalsozialistischen Standschützenverbandes in Südtirol umfassend aufgearbeitet hat.70
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