Wie tief die weltumspannende Pandemie in unsere Gesellschaften und den Alltag der Menschen hineinwirkt, zeigt Karl Heinz Roth in diesem hervorragend recherchierten und elegant geschriebenen Buch – ein Grundlagenwerk für die kritische Aufarbeitung dieser Krise, zur Vermeidung kommender.
Seit zwei Jahren dominiert die durch das SARS-CoV-2-Virus ausgelöste Pandemie die Welt. Sie hat alle Kontinente und Regionen erfasst, sich in mehreren Wellen ausgebreitet und immer neue Epizentren gebildet. Sie hat das Alltagsleben der Menschen durchdrungen, soziale Beziehungen verändert, die Medien beherrscht, das politische Establishment herausgefordert und zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen auf die Probe gestellt.
Der Mediziner und Historiker Karl Heinz Roth stellt das Geschehen aus einer globalen Perspektive dar, berichtet über die Vorgeschichte, die bis in die 2000er Jahre zurückreicht, analysiert die Ausbreitung und die Dynamik von Covid-19 und erörtert die Eigenschaften und Auswirkungen der Pandemie auf den Menschen. Er thematisiert die Gegenmaßnahmen, die dabei zutage getretenen Versäumnisse und die mentalen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns.
Zum ersten Mal werden in diesem Buch die einzelnen Aspekte einer weltumspannenden Pandemie fachübergreifend betrachtet, aufeinander bezogen und kontextualisiert, wodurch sich auch strittige Fragen – wie etwa nach dem Virus als Laborflüchtling, nach der Rolle der internationalen Großstiftungen oder nach den Effekten und Kollateralschäden – diskutieren und klären lassen.
Karl Heinz Roth, geboren 1942, promovierte in Medizin und Geschichtswissenschaft und war bis 1997 in einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis tätig. 1986 gründete er mit anderen die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und ist seither Vorstandsmitglied. Er hat zahlreiche Publikationen zur Arbeits-, Medizin-, Sozial-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte des 20. und frühen 21. Jahrhunderts veröffentlicht.
Die Coronakrise und die Folgen
Verlag Antje Kunstmann
Vorwort
Einleitung: Krankheitserreger als blinde Passagiere
Der Schwarze Tod | Die Influenzapandemie 1918–1920 | Drei Geschwindigkeiten
Teil I – Ein vorausgesagtes Ereignis
1Zwei Coronapandemien als Menetekel: SARS und MERS
Die SARS-Pandemie 2002/2003 | Die MERS-Pandemie seit 2012
2Der Aufbau von Frühwarnsystemen
3Die medizinische Forschung: Erfolge und ungelöste Probleme
Das biomedizinische Umfeld des Coronavirus | Viren aus dem Labor: Die Synthese von Coronaviren | Wege und Irrwege der Impfstoffentwicklung
4Die globalen Großstiftungen und ihr Anspruch auf ›Public-Private-Partnership‹ bei der Pandemiebekämpfung
5Potemkinsche Dörfer?
Die Krise der World Health Organization (WHO) | Nationale Pandemiepläne im Griff der Pharmaindustrie
6Vom Atomkriegsszenario zur Pandemie-Übung
Von FALLEX zu LÜKEX: Die Entwicklung in Deutschland | Die Pandemie-Übungen 2007 und 2012 | Evakuierungspläne in den Vereinigten Staaten von Amerika | Pandemien als ›Live Simulation Exercises‹
7Das große Rätsel: Warum unterblieben die Vorsorgemaßnahmen?
Teil II – Die Covid-19-Pandemie
1Beginn und regionale Ausbreitung
Die Ursprünge | Das Übergreifen der Epidemie auf Ost- und Südostasien
2Ein Virus auf Weltreise (Januar–April 2020)
Die Ausbreitung in Europa | Covid-19 in den USA | Die Schwellen- und Entwicklungsländer
3Epizentren in der Neuen Welt und das weltweite Wiederaufflackern der Pandemie (Mai–August 2020)
Die Vereinigten Staaten von Amerika | Epizentrum Lateinamerika | Das weltweite Wiederaufflackern der Pandemie
4Die zweite Welle ab September 2020 und die Entwicklung bis Anfang Mai 2021
Teil III – Die Eigenschaften der Pandemie
1Das Virus erobert den Menschen
Das Virus in seiner natürlichen Umwelt | Die Übertragung auf den Menschen | Die Übertragung von Mensch zu Mensch | Neue Virusmutanten | Die wichtigsten Merkmale der Pandemie
2Krankheitsverläufe und medizinische Behandlung
Erkrankungsbeginn und Diagnosestellung | Klinische Krankheitszeichen und Behandlungsmethoden | Die Suche nach einer kausalen Therapie | Todesursachen | Die Genesenen und die längerfristig Geschädigten | Die Entwicklung neuer Impfstoffe
3Infizierte – Genesene – Verstorbene: Ein kritischer Blick auf die Statistik
Infektionshäufigkeit und Dunkelziffern | Die Schätzung der Genesenen, der Stellenwert der Impfkampagne und die kollektive Immunität der Bevölkerung | Fallstricke der Mortalitätsstatistik | Die ersten repräsentativen Stichproben
4Das Ausmaß und die Eigenschaften der Pandemie
Die erste Welle | Die Zwischenetappe (Juni bis Ende August 2020) | Das Ausmaß der zweiten und dritten Welle | Die Eigenschaften der Pandemie | Covid-19 im historischen Pandemievergleich
Teil IV – Die Gegenmaßnahmen
1China: Vom Vertuschen zum autokratischen Durchgreifen
2Die Gegenmaßnahmen in Ost- und Südostasien
3Lockdowns in Europa
Sechs verlorene Wochen: Fehlentscheidungen und mangelnde Ressourcen | Kassandra spricht | Panikreaktionen und Lockdowns | Verspätete Lernprozesse – Die Lockerungsphase im Sommer 2020
4Das Pandemie-Management in den USA
5Eindämmungsversuche in Lateinamerika
6Der zweite Lockdown ab Herbst 2020 und der Beginn der Impfkampagne
Der zweite Lockdown | Der Start der Impfkampagne
7Wie kam es zum ›Großen Lockdown‹? Eine Zwischenbilanz
Die spontanen Vorkehrungen der Bevölkerung | Das Versagen der epidemiologischen Sofortmaßnahmen | Die Preisgabe der Risikogruppen | Der ›Große Lockdown‹ – eine folgenreiche Panikreaktion?
Teil V – Die Lockdowns: Effekte – Alternativkonzepte – Hintergründe
1Die Auswirkungen der Lockdowns auf den Verlauf der Pandemie
Beurteilungskriterien | Neue Modellrechnungen | Schädliche Nebeneffekte
2Die Marginalisierung alternativer Konzepte zur Pandemiebekämpfung
3Die tieferen Ursachen der Coronakrise
Die Umbrüche des globalen Gesundheitswesens | Begrenzte Zugänge zur medizinischen Grundversorgung | Der Um- und Rückbau des Krankenhauswesens | Der Zustand des Pflegebereichs für Alte und Behinderte
Teil VI – Die Folgen der Coronakrise
1Ängste, Gerüchte und Panikreaktionen
2Der veränderte Alltag
3Soziale Folgen und sozialpolitische Interventionen
4Die Politik im Ausnahmezustand
5Ökonomische Paradoxien der Coronakrise
Die lange Stagnation und der Krisenbeginn 2018/19 | Der Kollaps Chinas und die globale Kettenreaktion Februar–März 2020 | Die Finanzmärkte als Akzelerator: Die Corona-Panik im März 2020 und ihre Eindämmung durch die Zentralbanken | Der ›Große Lockdown‹ – Der Kollaps der Weltökonomie | Kreditausweitung und Fiskalpakete | Die Krisenverluste und der ›Wert des Lebens‹ | Die Lockdowns als Beschleuniger der Innovationsprozesse | Hypotheken auf die Zukunft? Zentralbankbilanzen und globale Verschuldung | Ein kritischer Ausblick im historischen Vergleich | Zusammenfassung und Ausblick
Anmerkungen
Anhang
Abkürzungsverzeichnis | Tabellenverzeichnis | Glossar | Hinweise zu Quellen und Literatur | Personenregister
Auch mich brachte die Coronakrise aus dem Gleichgewicht. In den Medien und in der Politik gab es nur noch dieses Thema. Ihm konnte sich niemand entziehen. Hinzu kam die zermürbende soziale Isolation. Veranstaltungen, Tagungen und Treffen im Freundeskreis wurden abgesagt. Der ›Große Lockdown‹ versperrte mir sogar zeitweilig den Zugang zu den Unterlagen eines laufenden Forschungsprojekts.
Das Leben im Ausnahmezustand weckte Erinnerungen an frühere epidemische Notlagen. Seit Beginn der 1980er Jahre war ich als Hausarzt in einem ›sozialen Brennpunkt‹ tätig gewesen und unverhofft zu einem ›Frontmann‹ der AIDS-Pandemie geworden. Es gab damals lebhafte Debatten über das angemessene Vorgehen gegen das Killervirus. Einige Politiker und Experten forderten, die besonders gefährdeten homosexuellen Männer zu überwachen, die Drogenabhängigen zu internieren und das Rotlichtmilieu trockenzulegen. Vor Ort erarbeiteten wir im Dialog mit den Betroffenen weniger drastische Lösungen. Zum Glück konnten sich unsere Alternativvorstellungen schließlich durchsetzen: detaillierte Aufklärung über die Übertragungswege und Eigenschaften des Erregers, kostenlose Verteilung von Kondomen und Ausbau der Drogenberatung.
Der Erreger von Covid-19 ist alles andere als harmlos. Aber die medizinischen Antworten zur Eindämmung seiner Ausbreitung wurden in Rekordzeit entwickelt, während wir noch heute auf den AIDS-Impfstoff warten. Trotzdem waren die Dispute über die effizientesten nicht-pharmazeutischen Gegenmaßnahmen weitaus heftiger und wurden vor einer breiten Öffentlichkeit ausgetragen. Das war durchaus verständlich, denn das Coronavirus bedroht nicht nur eine bestimmte soziale Gruppe.
Diesen Kontroversen wollte ich mich nicht entziehen. Ich bemerkte jedoch bald, dass das verfügbare Wissen für eine belastungsfähige Stellungnahme nicht ausreichte. Dafür war das Geschehen viel zu komplex und unkalkulierbar, denn neben den fachmedizinischen und gesundheitspolitischen Problemen machten sich gravierende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen bemerkbar.
In dieser Situation kamen mir meine jahrzehntelangen Forschungen auf zahlreichen Feldern der Medizin- und Sozialgeschichte zugute. Für ein tieferes Verständnis der sich ausweitenden Coronakrise waren diese Faktoren alle von Bedeutung. Voraussetzung war freilich, dass ihre verschiedenen Komponenten in ihren Wechselwirkungen analysiert wurden. So reifte in mir der Plan, das vor unseren Augen ablaufende Pandemiegeschehen zum Gegenstand einer zeitgeschichtlichen Analyse zu machen, in die alle wesentlichen Aspekte integriert sind.
Das Ergebnis dieser im April 2020 begonnenen und im Mai 2021 abgeschlossenen Anstrengung ist das vorliegende Buch. Ich habe es aus einer globalen Perspektive geschrieben – angesichts der weltweiten Dynamik erschien mir dies nötig. Davon ausgehend habe ich sechs Schwerpunkte gebildet, die aufeinander aufbauen und eine ausgewogene Beurteilung des Gesamtgeschehens ermöglichen sollen. Als Basis dient eine Skizzierung der Vorgeschichte von Covid-19, die bis zum Beginn des neuen Millenniums zurückreicht. Darauf folgt eine Übersicht über den bisherigen Pandemieverlauf, die durch eine Analyse seiner wichtigsten biomedizinischen und strukturellen Eigenschaften vertieft wird. Der vierte Schwerpunkt bietet eine kritische Darstellung der als ›Lockdown‹ bezeichneten behördlichen Maßnahmen zur Kontakt- und Mobilitätsbeschränkung. Im fünften Teil untersuche ich die dadurch sichtbar gewordenen gesundheitspolitischen Probleme der Coronakrise. Den Abschluss bildet sechstens ein Überblick über ihre mentalen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen.
Bei meinem integrierend-historischen Blick auf die Gegenwart habe ich immer wieder Unterstützung erfahren. An dieser Stelle möchte ich mich vor allem bei vier Personen bedanken. Vom Beginn bis zum Abschluss der Untersuchung hat mir Malte Heuer bei der Erschließung der Materialen, den statistischen Berechnungen und den Korrekturarbeiten zur Seite gestanden. Angelika Ebbinghaus und Roland Herzog haben das Manuskript lektoriert und auch wichtige Hinweise zur Umstellung und Straffung des Texts gegeben; selbstverständlich bin ich für den Inhalt allein verantwortlich. Sehr gefreut hat mich, dass Antje Kunstmann das Buch in ihr Verlagsprogramm aufgenommen hat.
Das Manuskript wurde im Mai 2021 abgeschlossen, als die Pandemie ihren dritten Höhepunkt überschritt, und bis Ende Juli überarbeitet. Auch wenn Covid-19 noch lange nicht in die endemische Phase übergegangen ist, war ein erster Überblick möglich.
Krankheitserreger, die weltweite Epidemien auslösen, sind blinde Passagiere. Ihre Reservoire haben sie häufig in der Tierwelt. Die Flöhe beherbergen die Pestbakterien und die Erreger des Fleckfiebers. Die Influenzaviren sind bei den Wildvögeln heimisch, und die Coronaviren nisten in den Fledermäusen. Von dort breiten sie sich seit Jahrtausenden auf weitere Zwischenwirte aus. Die Pesterreger besiedeln die Populationen der wilden Nager und Hausratten, die Grippeviren die Geflügel- und Schweinezuchten, und die Coronaviren exotische Wildtiere.
Wenn die Erreger die Populationen ihrer Zwischenwirte verlassen, wird es für den Menschen gefährlich. Die Flöhe der Hausratten springen auf sie über und infizieren ihre eigenen Flöhe, die Kleiderläuse. Auch von den Geflügel- und Schweinefarmen ist es nicht weit zum Menschen. Und viele exotische Wildtiere werden in Asien als gesundheitsfördernde Delikatessen gehandelt und verspeist.
Wenn die Krankheitserreger die Artenbarriere überspringen, ist es zu Anpassungsvorgängen gekommen, die auf kleineren oder größeren Veränderungen ihres Erbguts beruhen. Die dann in Gang kommende Ausweitung der tierischen Infektionskreisläufe auf die Lebenssphäre der Menschen ist nicht häufig. Oft ist sie harmlos, weil das menschliche Immunsystem sie in Schach hält. Aber manchmal versagt die Immunabwehr. Dies ist vor allem bei neu auftretenden Krankheitserregern häufig. In solchen Fällen bleibt ihre Weiterübertragung von Mensch zu Mensch nicht auf bestimmte Siedlungsgebiete beschränkt. Wenn diese Gebiete über Verbindungen zu ihren Nachbarregionen verfügen, begeben sich die Bakterien und Viren mit auf die Reise. Sie verstecken sich in den mitgeschleppten Zwischenwirten – Hausratten, Kleiderläusen, Geflügel und Schlachtvieh sowie in exotischen Wildtieren. Häufig haben sie vor Reisebeginn auch schon die Menschen befallen. Es kommt aber auch vor, dass sie sich ausschließlich bei den Menschen als unerkannte blinde Passagiere einnisten. Infolgedessen verlaufen die Reiserouten und Geschwindigkeiten, in denen sich die Krankheitserreger in der menschlichen Zivilisation ausbreiten, sehr unterschiedlich. Dazu zwei Beispiele: Der Schwarze Tod des 14. Jahrhunderts und die Influenzapandemie 1918/20.
Seit Jahrtausenden koexistieren die Pestflöhe mit den wilden Nagern der zentralasiatischen Hochebene.1 Als der Klimawandel diese Weltregion im 14. Jahrhundert auszutrocknen begann, begaben sich die Nager – und mit ihnen die Pestflöhe – auf Wanderschaft. Sie kamen in näheren Kontakt mit menschlichen Siedlungen. Die Flöhe sprangen auf die dort heimischen Hausratten über. Ende der 1330er Jahre brach bei einer nestorianischen Christengemeinde in Issyk-Kul im heutigen Kirgistan die Pest aus. Von hier aus bildeten sich größere Infektionsherde, die sich nach und nach über Nordindien nach China ausbreiteten. Dort herrschten Hungersnöte und Kriegswirren, die ohnedies Millionen Menschen das Leben kosteten. Bis Mitte der 1340er Jahre sind in China und im übrigen Asien etwa 25 Millionen Menschen der Pest zum Opfer gefallen. Wie dies im Einzelnen geschah, ist unbekannt.
Über die Ausbreitungswege der Pest in die übrigen Weltregionen2 sind wir besser unterrichtet: Sie folgten den Routen des Fernhandels, der unter der Mongolenherrschaft neu aufgeblüht war. Händlerkarawanen und Mongolenheere kreuzten Zentralasien auf den Verzweigungen der Seidenstraße, die nördlich des Kaspischen Meers verliefen. Gegen Mitte der 1340er Jahre erreichten die in den Handels- und Armeetrecks mitreisenden blinden Passagiere die untere Wolga und die Don-Region. Dort sprangen sie auf den Armee-Tross der Goldenen Horde über, die sich gerade anschickte, die Krim zurückzuerobern. In den Jahren 1345/46 belagerte sie die an der Ostküste der Krim gelegene genuesische Handelsniederlassung Kaffa (heute Feodosia), um sie auszuhungern. Die Pest dezimierte jedoch ihren Belagerungsring. Daraufhin katapultierten die Mongolen die Leichen ihrer Gestorbenen über die Mauern, und so erreichte der tödliche Erreger Europa.3 Es gelang den Genuesen, auf mehreren Galeeren zu fliehen. Im Frühjahr 1347 machten sie in Trapezunt und anschließend in Konstantinopel, der Metropole des Byzantinischen Reichs, Zwischenstation. Dort lösten sie eine katastrophale Epidemie aus und infizierten die Besatzungen weiterer genuesischer Handelsschiffe. Von hier an folgte die Pest den Seerouten des genuesischen Fernhandels, und nun wurde die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Epidemie durch die Rudergeschwindigkeit ihrer Galeeren bestimmt.
Eine Hauptroute verlief nach Alexandria, wo die ersten todbringenden Schiffe im Frühsommer 1347 ankamen. Die Hafenstadt wurde zum Knotenpunkt der weiteren Ausbreitung, die die Küstenstädte der Levante und Nordafrikas sowie den gesamten Nahen Osten erfasste.
Die zweite Hauptoute führte in die Hafenstädte Siziliens und danach Italiens: Messina, Pisa, Genua und Venedig. Italien wurde um die Jahreswende 1347/48 zum europäischen Epizentrum des Schwarzen Todes. Von hier aus wurde ganz Süd- und Westeuropa in die Pandemie einbezogen: Frankreich schon im Herbst 1347 von Marseille aus, das spätere Österreich über Tirol, den Brennerpass und Venedig, Spanien über Barcelona und die Balearen. Danach zog die Pest stromaufwärts nach Mittel- und Nordeuropa, vor allem über die Rhône und das Rheintal bis zu den Städten der Nordseeküste, nach England und zum Handelsnetz der Hanse. Schließlich verlangsamte sich ihr Tempo, zugleich verstärkte sich jedoch die regionale Ausbreitung.
Lange wurde über die Frage diskutiert, was dazu geführt hatte, dass sich der Pesterreger im Tempo der Handelskarawanen, der mongolischen Heere, der genuesischen Galeeren und anschließend der Flussschifffahrt sowie der Pferdefuhrwerke der Binnenhändler ausbreiten konnte. Der Grund dafür war, dass man in der klassischen Seuchenhygiene die Hausratte für den einzigen Zwischenwirt hielt, von dem die infizierten Flöhe auf den Menschen übersprangen. Hausratten aber sind sesshaft. Sie verlassen auch die Schiffsräume nur selten, und deshalb war ihr Transmissions- und Reproduktionsverhalten weitaus gemächlicher als die tatsächliche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schwarzen Todes. Das Rätsel konnte erst in den 1890er Jahren durch den bakteriologischen Nachweis des Erregers4 und die nachfolgenden epidemiologischen Untersuchungen geklärt werden. Der zweite Zwischenwirt, der Menschenfloh, folgte dem Menschen in seinen Kleidern auf Schritt und Tritt. Zudem konnte die Pest auch direkt von Mensch zu Mensch, nämlich durch Tröpfchen, übertragen werden. Somit gab es insgesamt drei mögliche Übertragungswege gleichzeitig. Da der in mehreren genetischen Varianten auftretende Erreger der Beulen- und Lungenpest zudem hoch pathogen war, war der Schwarze Tod ein furchtbares Ereignis. Er raffte ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung dahin, in den übrigen Weltregionen war es wohl ähnlich. Die Pest blieb seither jahrhundertelang endemisch. Selbst heute flackert sie noch manchmal auf. Wir wissen inzwischen recht gut, wie die blinden Passagiere der Pest die damals bekannte Welt heimsuchten und entvölkerten. Über die Frage, wie und warum sie überhaupt seit 1351 wieder abklang, wird hingegen noch immer gerätselt.
Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte die als ›Spanische Grippe‹ bezeichnete Influenzapandemie von 1918–1920 ihren Ursprung in einem County des US-Bundesstaats Kansas, in dem sich viele Schweinezuchtfarmen befanden. Dort wurden ab Januar 1918 zahlreiche schwere Atemwegserkrankungen beobachtet.5 Mehrere Rekruten aus diesem Landstrich verschleppten das Virus in ein benachbartes Camp der US Army, in dem 56.000 junge Männer für ihren Europa-Einsatz in den Expeditionary Forces ausgebildet wurden. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten zahlreiche Soldaten Symptome, die sich von den seit langem bekannten Influenza-Zeichen durch ihre Heftigkeit unterschieden. Der Infektionsherd breitete sich rasch in weiteren Militärcamps aus, griff auf die Ausbildungszentren der US Navy über und erfasste die Zivilbevölkerung der benachbarten Großstädte.6 Im März 1918 stiegen in Detroit, in South Carolina und im Zuchthaus San Quentin die Infektionszahlen. Da die Militärbehörden keine wesentlichen Unterschiede zu den Influenza-Saisons der vergangenen Jahrzehnte feststellten, hielten sie an ihren Transportplänen fest. So konnte sich die erste Pandemiewelle fast gleichzeitig in den USA und in der Transatlantikregion ausbreiten.
Im April traf ein erstes Schiff, dessen Besatzung infiziert war, in Bordeaux, einem der größten Umschlagszentren der Entente in Europa, ein. Die Epidemie griff rasch um sich und erfasste auch Einheiten des britischen Expeditionskorps und der britischen Marine. Zudem dehnte sie sich auf das Hinterland aus und erreichte im Mai–Juni Italien und Spanien sowie über Kriegsgefangene und direkte Frontkontakte auch Deutschland. Die weltweite Ausbreitung folgte hingegen den Routen der britischen Flottenverbände. Sie erreichte im Mai über Murmansk das europäische Russland, griff auf Nordafrika über und breitete sich im Juni ausgehend von Bombay und Kalkutta in Indien, auf den Philippinen und in China aus; zuletzt wurde sie von der britischen Navy bis nach Neuseeland verschleppt. In allen Ländern und Regionen breitete sich die Pandemie innerhalb weniger Wochen aus, um ebenso rasch wieder abzuklingen. Da sich die Sterblichkeit trotz der heftigen Symptome (die Soldaten und Matrosen nannten die Influenza ›three day fever‹ oder ›knock-down fever‹) in Grenzen hielt, schrieben die Militärärzte und -behörden der ersten Welle der Pandemie, die vom März bis Juli andauerte, keine besondere Schwere zu.
Das änderte sich schlagartig, als die zweite Welle losbrach. Im August 1918 legte ein britisches Kriegsschiff in Free Town (im späteren Sierra Leone) an. Die Besatzung begab sich wegen gravierender Symptome in Krankenhausbehandlung. Die Infektion griff rasch auf die Hafenarbeiter und die übrigen Stadtbewohner über. Auch im zentralen Umschlaghafen der Entente im französischen Brest entstand ein neuer Infektionsherd, der dem Auftreten eines weitaus virulenteren Erregers mit einer zehnfach höheren Sterblichkeitsrate geschuldet war. Den dritten Hotspot der zweiten Welle bildete Boston, wo eine aus Europa zurückkehrende Einheit mit schweren Krankheitssymptomen anlandete. Bis Herbstbeginn hatte eine weitaus aggressivere Variante der Pandemie drei Kontinente im Griff – Afrika, Europa und die Vereinigten Staaten. Darüber hinaus kam es in allen betroffenen Ländern – insbesondere in Asien – zum Wiederaufflammen der Infektionsketten der ersten Welle. Ab Januar 1919 war schließlich auch Australien in das weltweite Pandemiegeschehen einbezogen.
Erst seit den 1990er Jahren vermochte die medizinhistorische Forschung die ganze Tragweite der Katastrophe zu rekonstruieren.7 Nachdem die Pandemie von Free Town ausgehend alle größeren Hafenstädte Afrikas erfasst und entlang der Flussrouten und Eisenbahnlinien durchdrungen hatte, starben dort innerhalb weniger Wochen 15–20 Millionen Menschen. In Indien traf die Pandemie ab Oktober 1918 auf eine katastrophale Hungersnot und forderte 7–12 Millionen Todesopfer. In den USA starben etwa 600.000 Menschen, in England und Wales waren es 200.000, in Deutschland zwischen 240.0000 und 260.000. Unter Berücksichtigung der teilweise stark differierenden Bevölkerungsgrößen waren ähnliche Sterblichkeitsraten auch im übrigen Kontinentaleuropa sowie in Russland, Australien und Neuseeland zu beobachten. Weitaus höher waren sie dagegen beispielsweise auf Samoa und in Alaska, wo jeweils ein Viertel der Bevölkerung dahingerafft wurde. Der zweiten Pandemiewelle fielen vor allem 20–40-Jährige zum Opfer – ein außergewöhnliches Phänomen der an Überraschungen so reichen Geschichte der Influenza. Dies war sicher auch auf den Erschöpfungszustand der Millionenheere zurückzuführen, die nach Kriegsende auf den Truppentransportern und in den überfüllten Militärzügen vom europäischen Kriegsschauplatz zurückkehrten. Die Opfer, die die ›Spanische Grippe‹ der Weltbevölkerung auferlegte, waren gewaltig. Zwar kamen viele mit dem Schrecken einer heftigen Grippe davon. Wo medizinische Versorgungssysteme existierten, mussten jedoch etwa 25 % aller Infizierten klinisch (zumeist in Lazaretten und ad hoc eingerichteten Hilfskrankenhäusern) behandelt werden. Mindestens die Hälfte der Weltbevölkerung (800 Millionen Menschen) hatte sich angesteckt. Hochrechnungen, die auch die weitgehend unregistriert gebliebenen Zivilopfer des Globalen Südens einbeziehen, schätzen die Gesamtzahl der Opfer der Influenzapandemie heute auf 40–50 Millionen.8
In zahlreichen Ländern gab es 1919/20 noch eine dritte Welle, die auf einige kleinere Schwerpunkte beschränkt blieb. Sie wurde noch stärker als ihre beiden Vorläufer durch die Kriegsfolgen und die weltweiten sozialen Massenkämpfe überlagert. Der Erreger war jedoch genauso virulent wie in der zweiten Etappe der Pandemie, die im August 1918 in Free Town, Brest und Boston begonnen hatte.
Der Schwarze Tod und die Influenzapandemie von 1918–1920 gehören zu den größten Katastrophen der Weltgeschichte. Sie lagen fast 600 Jahre auseinander. Sie unterschieden sich in vielen wichtigen Aspekten voneinander. Erstens waren die Ausbreitungswege anders. Die Pest hatte ihren Ursprung in den Hochebenen Zentralasiens. Der neue Subtyp des Influenzavirus trat dagegen im US-amerikanischen Mittelwesten auf, sodass die Infektionsrouten von der Neuen Welt ausgingen, die zur Zeit des Schwarzen Todes noch vollkommen von Eurasien abgetrennt gewesen war. Zweitens unterschieden sich die Übertragungswege grundlegend: Die Pestbakterien erreichten ihre Opfer gleichzeitig über Rattenflöhe, Kleiderläuse und direkte Übertragung von Mensch zu Mensch; bei der Influenza nutzten die Viren ausschließlich die Menschen als Infektionsquellen. Drittens gab es gravierende Unterschiede hinsichtlich der Pathogenität der Erreger und der Krankheitsverläufe. Die Pest suchte alle Infizierten heim. Sie starben in den meisten Fällen mit entstellten Körpern und unter unerträglichen Schmerzen. Infolgedessen sind auch die Mortalitätsstatistiken völlig anders. Die Pest raffte in den betroffenen Regionen ein Drittel und manchmal auch die Hälfte der Bevölkerung dahin. Bei der Influenzapandemie waren annähernd katastrophale Effekte (Mortalitätsraten bis zu 25 %) nur in einigen Regionen Afrikas und Südasiens zu verzeichnen.
Aufschlussreich ist auch der Vergleich der Ausbreitungsgeschwindigkeit. Sie war in beiden Fällen vom Grad der damaligen Mobilität der Weltbevölkerung und dem durchschnittlichen Tempo der von ihnen benutzten Transportmittel abhängig. Bei beiden Pandemien war die Mobilität aus spezifischen historischen Gründen erheblich gesteigert. Der Erreger des Schwarzen Tods traf auf eine Konstellation, in der sich das mongolische Weltreich gerade konsolidiert hatte, sodass es zu einer markanten Wiederbelebung des asiatisch-europäischen Fernhandels gekommen war. Zudem befand sich die Herrschaft der Mongolen und der aus ihr hervorgegangenen Goldenen Horde noch in der Expansionsphase, sodass die Seidenstraße und die an sie anschließenden Transportrouten des unteren Wolga- und Don-Gebiets bis hin zum Schwarzen Meer von ihren Truppen genutzt wurden. Diese asiatische Mobilitätskette kreuzte sich dann in Kaffa am Ostufer der Krim mit Europa. Von hier aus wurden die unheilbringenden blinden Passagiere von den Galeerenflotten der Genuesen weitergetragen.
Bei der Ausbreitung der Influenzapandemie knapp 600 Jahre später trugen die kriegerischen Auseinandersetzungen entscheidend zu ihrer Verbreitung bei. Die US Navy transportierte in der Zeit vom März bis August 1918 fast eine Million Soldaten zur Verstärkung der in Europa kämpfenden Expeditionary Forces über den Atlantik und sorgte dafür, dass sich die Epidemie nicht nur in den USA, sondern fast zeitgleich in Europa ausbreitete. Es blieb dann der weltweit operierenden britischen Kriegsflotte vorbehalten, die Pandemie in die Hafenstädte der Dominions und Kolonien des Empire zu exportieren. Da die involvierten Militärführungen das Risiko dieses allen bewussten rapiden Transfers der blinden Passagiere trotz der Warnungen einiger Mediziner unterschätzten, war auch die Ausbreitung der zweiten besonders verheerenden Pandemiewelle in erster Linie auf die uneingeschränkte Mobilität ihrer Kriegsflotten zurückzuführen.
Eine bedeutende Rolle spielte aber auch der jeweilige Zustand der Transportmittel. Das Ausbreitungstempo des Schwarzen Tods folgte den täglich zurückgelegten Wegstrecken der Kamelkarawanen der Seidenstraße, der Schiffstreidler an Don und Wolga und der Trecks der Mongolenheere, bevor dann der Schlagrhythmus der von Sklaven vorangetriebenen genuesischen Galeeren das Tempo bestimmte. Für die damaligen Verhältnisse waren dies erhebliche Geschwindigkeiten (eine Steigerung von 3–5 auf etwa 15 Stundenkilometer), und dies erklärt die dramatische Beschleunigung, die die Pest 1347/48 nach ihrer anfänglich langsamen Ausbreitung von Zentralasien nach China und Südrussland auszeichnete. Danach verlangsamte sich das Tempo wieder, denn die von der Rhône, dem Rhein und dem Brenner ausgehenden innereuropäischen Handelsrouten erforderten häufig wechselnde Transportmittel. Erst nach ihrer Ankunft am Niederrhein und in den Nordseehäfen beschleunigte sich die Pandemie nochmals. Die fünf Ausbreitungsetappen des Schwarzen Tods waren somit durch recht unterschiedliche Geschwindigkeiten geprägt.
Bei der Influenzapandemie von 1918–1920 war dies anders. Auch sie verlief in mehreren Phasen, die sich teilweise überlappten. Aber ihr Tempo war ziemlich homogen, sobald sich in den USA die ersten großen Infektionsherde gebildet hatten. Die Marinekommandos der USA und Großbritanniens verfügten über technisch hoch entwickelte Schiffseinheiten. Auch die großen Truppenbewegungen zu den Fronten und die anschließende massenhafte Demobilisierung waren erheblich beschleunigt, da sie in der Regel über die großen Eisenbahnnetze führten. Insgesamt dominierte somit eine Transportkette aus Schiff und Schiene, deren Tempo durch die teilweise schon auf Mineralöl umgestellten Schiffsantriebe und die Lokomotiven bestimmt wurde (durchschnittlich 15 bis 60 Stundenkilometer). Selbstverständlich ließ bei den Transporten dieser Massenheere nach Europa und von dort zurück in alle Weltteile die Logistik häufig zu wünschen übrig. Deshalb kam es in den großen Umschlaghäfen immer wieder zu Stauungen, die das Übergreifen der Pandemie auf deren Zivilbevölkerung und von dort ins Hinterland begünstigten. Die unfreiwilligen ›superspreader‹ der ›Spanischen Grippe‹ waren dabei von Anfang an die infizierten Besatzungen der US-amerikanischen und britischen Kriegsschiffe.
Fast genau einhundert Jahre später brach die Covid-19-Pandemie aus. Auch bei ihr handelt es sich um eine akute Infektion der Atemwege und des Atemsystems, und deshalb ähneln die Übertragungswege und Krankheitsverläufe der Influenza. Aber je länger sie dauert, desto stärker unterscheidet sie sich von den saisonal auftretenden Influenzapandemien der letzten Jahrzehnte. Dieses Phänomen legt es nahe, auch die Coronapandemie als eine historische Zäsur anzusehen, bei der sich der Vergleich zur Influenza-Pandemie aufdrängt, um die veränderten Rahmenbedingungen und Abläufe zu verstehen.
Wer sich auf eine solche Perspektive einlässt, wird zunächst danach fragen, wie sich die heutige Mobilität der Weltgesellschaft auf die Covid-19-Pandemie auswirkt, und wie sich das rasant beschleunigte Tempo der heute benutzten Transportmittel (150 bis 800 Stundenkilometer) auf ihre Dynamik auswirkt. Unter diesen Gesichtspunkten werde ich Ausbreitungswege und Eigenschaften der Covid-19-Pandemie untersuchen. Damit werde ich es jedoch nicht bewenden lassen. Ich werde vielmehr zuvor der Frage nachgehen, inwieweit die gesundheitspolitischen Institutionen auf dieses lange vorausgesagte Ereignis vorbereitet waren.
Im November 2002 erkrankten in der südchinesischen Provinz Guangdong einige Bauern und mehrere Köche exotischer Tierrestaurants mit influenza-ähnlichen Symptomen: Fieber, Atembeschwerden sowie Kopf- und Gliederschmerzen. Häufig verschlimmerte sich ihr Zustand, sodass sie teilweise hospitalisiert und wegen atypisch verlaufender Pneumonien behandelt werden mussten. Einige Patienten waren hoch infektiös: So infizierte ein Koch, der wegen der Ausbildung eines akuten Atemwegssyndroms in mehrere Kliniken verlegt wurde, nacheinander zahlreiche Mitpatienten und Angehörige des Krankenhauspersonals. Zu ihnen gehörte auch ein Lungenspezialist, der im Februar 2003 zu einer Familienfeier nach Hongkong reiste. Auch er erwies sich als unfreiwilliger ›Superspreader‹ und infizierte binnen kürzester Frist zahlreiche Hotelgäste, die die blinden viralen Passagiere auf ihren anschließenden regionalen und Interkontinentalflügen mitnahmen und nach Kanada, Singapur, Vietnam und in die USA exportierten. Auch aus der Provinz Guangdong fanden derartige Transfers statt, insbesondere nach Taiwan. Zunächst beschränkten sich die von den Angesteckten ausgehenden Infektionsketten auf Familienangehörige, Mitpatienten, Krankenhausangestellte und Hotelgäste. Im Verlauf des Februars kam es zu den ersten Übertragungen außerhalb dieser engen Kontaktnetze. Der erste und wichtigste Infektionsherd war und blieb die Provinz Guangdong mit der Perlfluss-Metropole Guangzhou, gefolgt von Hongkong, Taiwan, Toronto, Singapur und Vietnam.
Die chinesischen Behörden unterdrückten die Nachrichten über die rätselhafte neue Infektionskrankheit drei Monate lang. Sie informierten die WHO erst am 10. Februar 2003 über dieses Ereignis und berichteten über 305 Infizierte und fünf Todesfälle. Deshalb blickten die Gesundheitswissenschaftler zunächst nach China, um aus dem Vorgehen der Gesundheitsbehörden im glücklicherweise einzigen Epizentrum der ersten Coronakrise ihre Lehren zu ziehen.1 Dort hatte eine Expertenkommission im Januar 2003 einen Bericht über die Ausbreitung der SARS-Epidemie in Guangdong verfasst. Die Provinzregierung hatte ihn als ›streng geheim‹ eingestuft. Dies hatte erhebliche Verzögerungen in der internen Kommunikation zur Folge gehabt. Als das nationale Gesundheitsministerium schließlich davon erfuhr, unterdrückte es die Weiterverbreitung des Berichts. Auch das im Jahr 1983 gegründete Chinese Center for Disease Control and Prevention (CCDC) hielt sich bedeckt und unterließ eine Warnmeldung an die Hospitäler. Obwohl sich inzwischen in der Provinz Gerüchte und Panikreaktionen ausbreiteten, unterblieb jegliche Aufklärung. Einer am 22. März angereisten WHO-Delegation wurde erst eine Woche später der Zutritt zur Provinz Guangdong erlaubt, auch die anschließende Genehmigung zum Besuch der Krankenhäuser in Beijing verzögerte sich. Nun mussten die Behörden die Gesundheitskrise öffentlich zugeben, aber noch zu dieser Zeit erklärte der damalige Gesundheitsminister, man habe die Situation unter Kontrolle. Doch dann geriet die chinesische Regierung unter internationalen Druck. Das Wall Street Journal forderte den Erlass eine Reisewarnung für China. Als der Arzt eines Militärhospitals den Gesundheitsminister in einer E-Mail der Lüge bezichtigte, wurde nichts gegen ihn unternommen, als seine Stellungnahme in den westlichen Medien zu zirkulieren begann. Die Gründe für dieses Verhalten waren naheliegend: Die Feiern zum chinesischen Neujahr sollten nicht gestört werden. Darüber hinaus tagte im März 2003 der Nationale Volkskongress. Er war von besonderer Bedeutung, weil durch ihn eine Umbildung der Zentralregierung verabschiedet werden sollte.
Am 2. April diskutierte der chinesische Staatsrat erstmalig über die SARS-Krise, kurze Zeit später befasste sich auch der Ständige Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei mit ihr. Nun wurde das Ruder herumgerissen, denn es zeichneten sich die größten politischen Loyalitätsverluste seit dem Massaker von 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens ab. Der Gesundheitsminister, der Bürgermeister von Beijing und weitere 120 höhere Funktionsträger wurden entlassen; hinzu kamen über 1.000 Disziplinarverfahren. Der Staatsrat und die Armeeführung bildeten einen Krisenstab, dem ein Expertenteam aus dem Gesundheitsministerium und den medizinischen Forschungszentren zugeordnet wurde. Es kam zu einschneidenden Maßnahmen. Lokale Task Forces entstanden, die umfangreiche Isoliermaßnahmen anordneten und überwachten. Zahlreiche Betriebe des Perlfluss-Deltas und der Provinz mussten schließen. In den Kliniken hielt ein strenges Hygiene- und Desinfektionsregime Einzug. Alle an SARS-CoV Erkrankten wurden kostenfrei behandelt, um die Ausbreitung der Epidemie auf die Bauern und Wanderarbeiter einzudämmen. Für diese Akutmaßnahmen stellte die Zentralregierung umgerechnet 250 Millionen US-Dollar zur Verfügung, von den Provinz- und Lokalregierungen kamen 875 Millionen hinzu.
Im Verlauf des Juni 2003 konnte die Epidemie eingedämmt und schließlich – wenn auch nur zeitweilig – eliminiert werden. Die dreimonatige Unterbindung adäquater Gegenmaßnahmen und der anschließende Lockdown reduzierten die chinesische Wirtschaftsleistung um einen knappen Prozentpunkt. Weitaus gravierender war der politische Loyalitätsverlust. Vor allem aus diesem Tatbestand zog die chinesische Führung weitreichende Konsequenzen – wenn auch, wie wir heute wissen, nur zeitweilig. Immerhin setzte sich die Erkenntnis durch, dass die extremen sozialen Verwerfungen zwischen Stadt und Land sowie die hinter der ökonomischen Entwicklung herhinkenden sozialen Sicherungssysteme den Ausbruch weiterer Epidemien begünstigen konnten.
In den folgenden Wochen verdichteten sich die Informationen über den klinischen Verlauf der Krankheit. Die Inkubationszeit betrug zwei bis sieben Tage. Die Übertragung erfolgte über Tröpfchen, der Erreger drang über den Rachen und die oberen Luftwege rasch in die Lungen ein. Da die Erkrankten erst mit Beginn der markanten Symptome ansteckend wurden, war die Ausbreitungsgeschwindigkeit langsam. Hinzu kam, dass nur ein Teil der Patienten hochinfektiös war, sodass die von den relativ wenigen ›Super-Überträgern‹ ausgehenden Infektionsketten rasch identifiziert und eingedämmt werden konnten. Trotzdem waren bis zum Frühjahr 2003 dreißig Länder – darunter auch acht europäische Nationalstaaten – und fast alle Kontinente betroffen. Ab Juli traten nur noch Einzelfälle auf. Nach dem Abklingen der Pandemie im Jahr 2004 wurden weltweit 8.096 Infizierte und 774 Verstorbene registriert, davon 7.083 bzw. 648 in China. Dies entsprach einer Fallsterblichkeit von 9,6 %.
Aufgrund der monatelangen Vertuschungspraktiken der VR China konnte das Genom des Erregers erst im März 2003 entschlüsselt und der inzwischen als SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) bezeichneten Krankheit als SARS-Coronavirus (SARS-CoV) zugeordnet werden.2 Ein halbes Jahr später erkannten Virologen auch den Mechanismus, mit dessen Hilfe das Virus an den menschlichen Lungenzellen andockte und in sie eindrang: Das Spike-Protein nutzte den ACE2-Rezeptor als Schlüssel zum Schloss. Das war eine ominöse Entdeckung. Da zusätzlich festgestellt wurde, dass das Virusgenom trotz seines einsträngigen Aufbaus sehr flexibel war, konnte es jederzeit zu weiteren Ausbrüchen kommen.
Im Verlauf des Jahres 2004 wurden auch die Herkunft des Virus und die Ursache der Pandemie aufgeklärt. Das SARS-CoV(-1)-Virus hatte sein Reservoir in mehreren Fledermausarten. Es nutzte bestimmte Schleichkatzen, die über einen dem menschlichen Organismus entsprechenden ACE2-Rezeptor verfügen, als Zwischenwirt; es wurde aber auch in Marderhunden nachgewiesen. Die zoonotische Übertragung auf den Menschen hatte im fernöstlichen Milieu des exotischen Wildtiergewerbes stattgefunden, wo Menschen auf Tierfarmen, Großmärkten und in Esslokalen eng mit den in Käfigen gehaltenen und erst kurz vor dem Verzehr geschlachteten Tieren zusammenleben. Zwar erließ die Regierung der VR China nach der Aufklärung der Übertragungswege einige Verordnungen zur Einschränkung und Regulierung dieses Gewerbes. Es war jedoch derart stark in der Gesellschaft verankert, dass es mehr oder weniger unangefochten weiterbestand. Tatsächlich wurde die SARS-CoV(-1)-Infektion in China endemisch, und in den folgenden Jahren entstanden immer wieder kleinere Infektionsherde.
Zehn Jahre nach dem Ausbruch der SARS-Pandemie stellte sich heraus, dass die von den Coronarviren ausgelösten Zoonosen des Atemsystems nicht nur in Ostasien und China entstehen. Dies wurde im Juni 2012 erkannt, als bei einem in London verstorbenen Patienten aus Saudi-Arabien die Gensequenzen eines bislang unbekannten Betacoronavirus nachgewiesen worden. Der Mann war wegen einer schweren atypischen Pneumonie und eines Nierenversagens von Dschidda in die Intensivabteilung einer Londoner Spezialklinik ausgeflogen worden. Drei Monate später wurde ein weiterer Patient aus Katar, der sich zuvor in Saudi-Arabien aufgehalten hatte, mit den gleichen Symptomen nach London verlegt. Die bei ihm isolierten Viren stimmten mit denjenigen des ersten Falls überein, sodass man von einem neuen Erreger ausgehen musste, der in der Bevölkerung der Arabischen Halbinsel zirkulierte. Im November erhöhte sich die Zahl der Erkrankten auf neun, nachdem auch bei mehreren, wegen atypischer Pneumonie behandelten Patienten nachträglich die gleichen Genomsequenzen nachgewiesen worden waren. Ende März 2013 berichtete die WHO über 17 laborbestätigte Erkrankte, von denen elf gestorben waren; genau ein Jahr später waren von insgesamt 206 Erkrankten 86 verstorben. Da sich die Epidemie anfänglich auf die Arabische Halbinsel und den Nahen Osten (mit Clustern in Saudi-Arabien, den Vereinigten Emiraten, Katar und Jordanien) beschränkte, erhielt sie die Bezeichnung Middle East Severe Respiratory Syndrome (MERS), und das sie auslösende Virus wurde ihr als MERS-Coronavirus (MERS-CoV) zugeordnet.
Im Verlauf des Jahrs 2014 breitete sich die Epidemie regional und weltweit aus. Dies geschah diskontinuierlich und sporadisch, weil die Erstinfizierten zwar ihre engere Umgebung (Familie, Arbeitskollegen und Krankenhauspersonal) ansteckten, von diesen aber keine weiteren Sekundärinfektionen (Sekundärpassagen) ausgingen. In Dschidda und Ryadh entstanden krankenhausspezifische Infektionsherde. Aus den meisten arabischen Ländern und dem Iran wurden Einzelfälle gemeldet, ebenso aus Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Dabei handelte es sich immer um arabische Reisende oder um Touristen, die von der Arabischen Halbinsel zurückgekehrt waren, und deren persönliches Umfeld. Sie waren überwiegend männlich. Besonders gefährdet waren 50–69-Jährige, die an chronischen Krankheiten (vor allem obstruktive Lungenerkrankungen und Diabetes) litten. Die Fallsterblichkeit war hoch und unterstrich die Schwere der Infektion. Im Januar 2020 meldete die WHO über 2.519 bestätigte MERS-Infektionen und 866 Verstorbene. Davon entfielen auf Saudi-Arabien 2.121 Patienten und 788 Todesopfer. Bei dieser hohen Fallsterblichkeit (34,3 % weltweit und 37,1 % in Saudi-Arabien) muss indessen berücksichtig werden, dass es auch bei der MERS-CoV-Infektion zahlreiche Fälle gibt, die asymptomatisch oder mild verlaufen und nicht erkannt werden. Einer in Saudi-Arabien durchgeführten Studie zufolge gab es mehrere zehntausend Immunisierte. Die Letalitätsrate ist somit mit großer Wahrscheinlichkeit wesentlich niedriger. Sie kann aufgrund der unsicheren Datenlage nicht geschätzt werden.
Auch die MERS-Pandemie zog ausgedehnte virologische und epidemiologische Studien nach sich. Dabei konnten ihre Besonderheiten, nämlich ihr sporadischer, aber durch schwere Erkrankungen gekennzeichneter Verlauf, rasch aufgeklärt werden. Beim Erreger handelt es sich um ein typisches Betacoronavirus, dessen Nukleotidsequenzen jedoch in einigen Abschnitten erhebliche Besonderheiten aufweisen. Als Eintrittspforte zum Menschen benutzt es einen sich auf der Oberfläche der Lungenzellen befindlichen Peptidase-Rezeptor (DPP 4). Der Schlüssel-Schloss-Mechanismus ist jedoch instabil, sodass die Viren nur in die tief im Lungeninneren gelegenen Lungenzellen einzudringen vermögen. Dies erklärt zum einen, warum die Infektionsketten in der Regel auf die Erstpassage beschränkt bleiben, zum andern aber auch die Schwere der Erkrankung.