Astrid Sobczak, Oliver Radinger
Leben mit chronischer Krankheit
Ein Lehrbuch für Gesundheitsberufe
Mag.a Astrid Sobczak DGKP, Studium der Pflegewissenschaft an der Universität Wien, Lektorin im Hochschulbereich, akademische Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege. |
FH-Hon. Prof. Mag. Dr. Oliver Radinger, BA Studium der Pflegewissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Wien, Lektor im Hochschulbereich und Weiterbildungssektor, DGKP, Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege. |
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2. Auflage 2022
Copyright © 2018 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Verlag, 1050 Wien, Österreich
Umschlagfoto: © jc_design, istockphoto.com
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Lektorat: Laura Hödl, Wien
Druck: finidr
Printed in the E.U.
ISBN 978-3-7089-2166-2
e-ISBN 978-3-99111-480-2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Einführung in die Terminologie chronischer Krankheiten
1Konzepte zu Gesundheit und Krankheit
1.1Gesundheit
1.2Krankheit
1.3Chronische Erkrankung
1.4International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)
Teil II: Bedeutung chronischer Erkrankungen für das Gesundheitssystem, für die Betroffenen und für ihre An- und Zugehörigen
2Bedeutung und Kernkompetenzen der pflegerischen Versorgung chronisch Kranker
2.1Aufgabenbereich und Bedeutung für das Gesundheitssystem sowie Faktoren für wachsende Kosten der Gesundheitsversorgung
2.2Anforderungen einer alternden Gesellschaft an das Gesundheitssystem
2.3Entwicklungsszenarien chronischer Erkrankungen
3Die Bedeutung einer chronischen Erkrankung für die Betroffenen und deren An- und Zugehörige
3.1Wahrnehmung von Erkrankung und Krankheit
3.2Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff als beeinflussender Faktor von Selbstmanagement
3.3Krankheitsverläufe als Belastung
3.4Komplexität als Belastung chronischer Erkrankungen für die Betroffenen und ihre An- und Zugehörigen
3.5Merkmale chronischer Erkrankungen
Teil III: Theorie- und Modellbildung im Zusammenhang mit Chronizität
4Nutzen von Pflegetheorien im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen
4.1Das Trajektmodell als Vertreter einer interaktionstheoretischen Perspektive
4.1.1Phasenverläufe im Trajektmodell
4.1.2Neue Grundgedanken im Krankheitsverständnis durch Trajekt und interaktionstheoretische Perspektive als Bedeutung für den Krankheitsverlauf
4.1.3Phasenverläufe nach dem Trajektmodell
4.1.4Bedeutung des Phasenverlaufs für den Krankheitsverlauf
4.1.5Arbeitslinien nach dem Trajektmodell
4.1.6Beispielhafte Darstellung einer Arbeitslinie zur Alltagsbewältigung
4.1.7Aufgabenbereich der Praktiker*innen und Möglichkeiten der Umsetzung des Trajektmodells
4.2Ein Modell der Pflege chronisch Kranker von Mieke Grypdonck
4.2.1Positive und negative Sichtweisen chronisch kranker Betroffener – ein Modell von Mieke Grypdonck
4.2.2Zwei Arten, auf Krankheit zu reagieren
4.2.3Gründe für eine negative Sichtweise nach Grypdonck und das Handeln einer Pflegeperson
4.2.4Vier Aufgabenbereiche der Pflege und Betreuung nach Grypdonck
4.3Familien- und umweltbezogene Pflege von Marie-Luise Friedemann
4.3.1Umwelt
4.3.2Mensch
4.3.3Gesundheit
4.3.4Pflege
4.3.5Familie
4.3.6Familiengesundheit
4.3.7Zieldimensionen
4.4Das „Illness-Constellation-Modell“ nach Morse und Johnson
4.5Das Comfort Care-Konzept
4.6Praxisbezug der beschriebenen Theorien und Modelle
Teil IV: Phänomene und Ausprägungen chronischer Erkrankungen unmittelbar an den Betroffenen sowie Einflussnahme von Phänomenen im Krankheitsverlauf und auf das Krankheitsempfinden
5Phänomen Körperbild und zerbrochenes Selbstbild
5.1Phänomen Stigma
5.1.1Die beschädigte Identität bei Goffman
5.1.2Auswirkungen von Stigmata
5.2Das Phänomen Einsamkeit und soziale Isolation
5.2.1Definition Einsamkeit
5.2.2Faktoren für Einsamkeit
5.2.3Auswirkungen von Einsamkeit
5.2.4Sozialer Schmerz
5.2.5Sozialer Tod
5.2.6Soziale Isolation
5.2.7Zusammenhang von Einsamkeit und Vertrauen
5.3Phänomen Resilienz – was macht uns stark?
5.3.1Resilienzverständnis
5.3.2Schutzfaktoren zur Resilienzförderung
5.3.3Ressourcen zur Unterstützung von Schutzfaktoren
5.3.4Resilienz ist ein protektives Persönlichkeitsmerkmal
5.3.5Resilienzförderliche Pflegebeziehung
5.3.6Einschätzungsmöglichkeiten der Resilienz
5.3.7Gedanken zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Resilienzkonzept
5.3.8Fazit für die Betreuung chronisch Kranker
5.4Phänomen der Adhärenz
5.4.1Definitorische Abgrenzung der Adhärenz von der Compliance
5.4.2Einflussfaktoren der Non-Adhärenz und ihre Bedeutung für die Betroffenen
5.5Interventionen zur Verbesserung der Adhärenz und Bedeutung des Medikamentenregimes für die Betroffenen
5.5.1Phasen der Medikamentenadhärenz
5.5.2Bedeutung des Medikamentenregimes im Alter
5.5.3Interventionen zur Verbesserung der Adhärenz
5.6Readiness for Treatment
Teil V: Health Literacy oder die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Entscheidungen zu treffen
6Selbstmanagement als Voraussetzung für Empowerment
6.1Health Literacy zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
6.1.1Interventionen und Selbstmanagementkompetenzen
6.1.2Beispiel eines Interventionskonzeptes im Sinne des Selbstmanagements bei komplexen Medikamentenregimen
6.2Self-care bei chronischer Krankheit am Beispiel von Riegel et al (2012): A middle-range theory of self-care of chronic illness
6.2.1Self-care maintance
6.2.2Self-care monitoring
6.2.3Self-care management
6.2.4Self-care und Entscheidungsprozesse
6.3Selbstmanagementstrategien pflegender Angehöriger schwerkranker Menschen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Noch immer ist das Versorgungssystem stark auf die Therapie und das Kurieren von akuten Erkrankungen ausgerichtet, obwohl die Zahl der chronisch Kranken stetig im Ansteigen ist. Die betroffenen Menschen müssen häufig Anpassungen in ihrem Leben vornehmen, dadurch kann es aber ebenso zu sozialen oder psychischen Belastungen kommen. Da chronische Erkrankungen zumeist nicht geheilt werden können, stehen die Reduktion der Symptome und die Anpassung an den Alltag an oberster Stelle. Dieses Buch richtet sich an Studierende in Aus-, Fort- und Weiterbildungen im Gesundheitsbereich, die sich mit den komplexen Phänomenen, Theorien und Modellen, die chronische Erkrankungen mit sich bringen, auseinandersetzen.
In diesem Buch wird versucht, die Komplexität chronischer Erkrankungen über das Theorieverständnis zu erklären. In den Hauptkapiteln werden verschiedene Themenbereiche in den Kontext der chronischen Erkrankung gestellt. Über ausgewählte Theorien, Modelle und Konzepte zu chronischen Erkrankungen sollen durch eine pflegewissenschaftliche Sichtweise die Auswirkungen auf die Bewältigung des Alltags identifiziert werden.
Es wurden auch Themenschwerpunkte und Aspekte unserer Lehrveranstaltung „Leben mit chronischen Krankheiten“ aufgegriffen, um eine Grundlage für den Umgang mit betroffenen Personen und deren Angehörigen zu schaffen.
Teil I
Einführung in die Terminologie chronischer Krankheiten
Im Zuge der Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit bzw. Erkrankung kommt man nicht daran vorbei, sich mit den einzelnen Begrifflichkeiten zu befassen. An erster Stelle wollen wir uns dem Begriff „chronisch“ widmen.
Das Wort „chronisch“ hat seine Wurzeln im Griechischen (chronikós = zeitlich) und im Lateinischen (chronicus = zur Zeit gehörig).
In der griechischen Mythologie stürzte der Gott Chronos (Kronos) seinen Vater Uranos vom Thron. Um demselben Schicksal zu entgehen, fraß er im Anschluss daran seine eigenen Kinder auf. Nur Zeus konnte gerettet werden und besiegte daraufhin seinen Vater. Chronos ist das Alte, das Mysterium der Zeit, und die Zeit frisst alle ihre Kinder auf. Die bildhafte Darstellung des Chronos findet man vor allem in der Barockzeit, oft auch zusammen mit der Gestalt des Todes. Vergänglichkeit und Todesnähe werden so oft in einen Zusammenhang gebracht.
Der Enkel des Chronos, Kairos, wird in der griechischen Mythologie als Gott des richtigen Momentes und des günstigen Augenblickes bezeichnet. Kairos schleicht an den Menschen vorbei; einige schaffen es, ihn zu erhaschen, anderen bleibt dies verwehrt. Ist er vorbei, kann er erkannt, aber nicht mehr ergriffen werden. Der Schatz des Chronos liegt dagegen in den Erfahrungen, die wir machen. Wer aber die Zeit nicht nützt, aus diesen Erkenntnissen zu lernen und zu reifen, den beginnt demnach die Zeit zu verschlingen. Es kommt zur Chronifizierung von Zustandsbildern, oft in Verbindung mit psychischen und physischen Problemen. Kann die Ursache nicht behoben werden, führt dies oftmals zu einer chronischen Erkrankung. Schon aus dieser Schilderung heraus liegt die allgemeine Erkenntnis nahe, dass der Ausbruch einer chronischen Erkrankung gleichzeitig einen Schatten auf unser Leben wirft und es auch zeitlich begrenzt. Kairos ist dann durchaus Thema bei chronischen Erkrankungen: Der richtige Zeitpunkt der Diagnose wurde verabsäumt, falsche Wege in der Therapie wurden eingeschlagen, Vorzeichen nicht richtig gedeutet …
Es gibt demnach nicht „die chronische Erkrankung“ an sich, sondern viele Ausformungen, Variationen und unterschiedliche Typen, die eine verallgemeinerte Aussage schwierig machen. So werden auch nicht alle Erkrankungen die gleichen Anforderungen an Betroffene, ihre An- und Zugehörigen und an die Professionen aus dem Gesundheitswesen stellen. Chronische Krankheiten nehmen demnach viele Gesichter an, sie können plötzlich, langsam oder in Schüben intermittierend auftreten. Sie können sich bezüglich der Prognosen unterscheiden, durch schwerwiegende Krankheitszeichen charakterisiert oder auch latent und über längere Zeit symptomfrei sein. Die Chronizität einer Erkrankung ist oftmals mit Symptomkontrolle oder der Aufrechterhaltung des Gesundheitszustandes verbunden, aber nicht mit einer kurativen Therapie. Palliative Care wird hier auch immer mehr zu einem bedeutenden Thema.
Die anhaltende Krankheitsdauer als Zeitfaktor und nicht die Ausprägung der Erkrankung ist allen Ausformungen chronischer Krankheiten gemeinsam. Das Ziel in der Betreuung und Begleitung chronisch kranker Menschen liegt demnach im Wohlbefinden, in der Alltagsbewältigung und in der Lebensqualität. Wenn man sich mit den Definitionen von chronischer Krankheit beschäftigen möchte, kommt man an der Auseinandersetzung mit Krankheit und Gesundheit nicht vorbei.
1Konzepte zu Gesundheit und Krankheit
Das menschliche Verlangen, Krankheiten zu verhindern, zu beseitigen und Gesundheit zu fördern, zieht sich durch alle Kulturkreise und ihre Geschichte. Paracelsus (1493–1541) bringt mit seinem Werk „De vita longa“ (übersetzt: Über das lange Leben) als einer der Ersten die Gesundheit mit einem langen Leben in Verbindung. Schon damals spricht er der Beeinflussung des menschlichen Körpers durch Medikamente eine entscheidende Bedeutung zu (Haug 1991).
1.1Gesundheit
Eine der ersten Definitionen von Gesundheit aus der Neuzeit ist wohl die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1948: „Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen.“ (WHO 1948)
In der Neuzeit gewinnen aber nicht nur die medikamentösen Einflüsse an Geltung, sondern es fließen auch soziale, ökonomische, psychische und physische Dimensionen in die Definitionen von Gesundheit ein. Während die ursprüngliche Version sehr am Individuum orientiert war, wurde sie 1986 in der Ottawa-Charta um einen gesellschaftlichen und politischen Auftrag erweitert: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selbst Entscheidungen zu fällen und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allen ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ (WHO 1986)
Durch die immer umfassenderen Ansichten zum Thema Gesundheit veränderten sich auch die Definitionen in Richtung immer komplexerer Formulierungen. So entwickelte der deutsche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann 1988 eine abstraktere Definition von Gesundheit: „Gesundheit bezeichnet den Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist beeinträchtigt, wenn sich in einem oder mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person in der jeweiligen Phase im Lebenslauf nicht erfüllt oder nicht bewältigt werden können. Die Beeinträchtigung kann sich, muss sich aber nicht, in Symptomen der sozialen, psychischen und physisch-physiologischen Auffälligkeit manifestieren.“ (Hurrelmann 1988)
Zusammenfassend kann man sagen, dass es keine einheitliche, fest umrissene Definition gibt. Die Definitionen unterscheiden einerseits eine subjektive Einschätzung (Wohlbefinden) und andererseits eine objektivierende Perspektive. Die Gesundheit bezieht sich nicht alleine auf physische und psychische Komponenten, sondern auch auf soziale und ökonomische (eventuell auch spirituelle) Dimensionen. Vor allem bei den neueren Definitionen findet sich auch der prozesshafte Charakter von Gesundheit widergespiegelt. Generell kann man aber festhalten, dass eine naturwissenschaftliche medizinische Abgrenzung zu kurz greift und eine Reduktion auf „Gesundheit ist Abwesenheit von Krankheit“ nicht der Komplexität eines umfassenden Verständnisses von Gesundheit Genüge tut.
Vor diesem Hintergrund hat sich auch das salutogenetische Modell nach Aaron Antonovsky entwickelt. Aus dem Perspektivenwechsel heraus, was Menschen denn gesund hält – und nicht, was sie krank macht –, stellt sich dabei die Salutogenese in Abgrenzung zur Pathogenese in den Mittelpunkt. 1987 entwickelt Antonovsky die These, dass es kein „absolut krank“ und kein „absolut gesund“ gibt, sondern dass die Menschen sich vielmehr auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum bewegen. Krankheit und Gesundheit befinden sich am jeweiligen Ende des Kontinuums und können nicht als isolierte Phänomene betrachtet werden. Dieser Ansatz „verhindert, dass wir der Gefahr unterliegen uns ausschließlich auf die Ätiologie einer bestimmten Krankheit zu konzentrieren“. Das beinhaltet, dass nicht nur die Krankheit, sondern immer die ganze Geschichte des Menschen einbezogen werden muss (Antonovsky 1997, S. 29). Dieser Ansatz gewinnt eine ganz wesentliche Bedeutung in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit chronischen Erkrankungen.
1.2Krankheit
Während Gesundheit schwer zu beobachten, zu messen und einzuschätzen ist, können wir unterschiedlichste Krankheiten dagegen sehr wohl benennen und diagnostizieren. Nur Krankheiten sind für die Ärzt*innen von Bedeutung. „Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit“, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann. Die Krankheitsterminologien wachsen mit der Medizin, dagegen wird der Begriff der Gesundheit problematisch und inhaltsleer (Luhmann 1990, S. 179). Krankheit ist aber der notwendige Reflexionsbegriff von Gesundheit, auch wenn dieser schwer zu fassen ist. In Anlehnung an Heidegger argumentiert Medard Boss in der „Phänomenologie des Krankseins“, dass sich Gesundheit immer nur am Auftreten von Krankheit begreifen lässt (Boss 1971, S. 440).
Die Krankheit ist im Gegensatz zur Gesundheit über Symptome erfahrbar. Diese Krankheitszeichen zeigen somit auf, was Gesundheit nicht ist bzw. was wieder sein kann, wenn die Erkrankung ausgeheilt ist (Simon 2001, S. 23). Krankheiten sind auf diese Weise über ihre Symptome zu spüren, voneinander zu unterscheiden, zu klassifizieren, zu bewerten, zu diagnostizieren und zu erklären.
Marcel Proust beschreibt die Abhängigkeit von körperlichen Krankheitssymptomen in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ folgendermaßen: „Im Zustand der Krankheit merken wir, daß wir nicht allein existieren, sondern an ein Wesen ganz anderer Ordnung gefesselt sind, von dem uns Abgründe trennen, das uns nicht kennt und dem wir uns unmöglich verständlich machen können: unseren Körper.“ (Proust 2000, S. 1649)
So gesehen ist Gesundheit erst bei Anwesenheit von Krankheit erfahrbar.
1.3Chronische Erkrankung
Chronische Erkrankungen sind aber keine „Errungenschaft“ oder Entwicklung der Neuzeit. So wird in einem Schaufenster des Naturhistorischen Museums Wiens neben einer akuten Verletzung an der linken Schulter auf die chronisch degenerativen Erkrankungen von „Ötzi“, dem „Mann aus dem Eis“, hingewiesen. Er litt an Arthrosen an der Lendenwirbelsäule, an Rheuma und einer Zyste am Rückenmark. Seine Lunge war durch langes Sitzen am offenen Feuer durch Rauchpartikel schwarz verfärbt. Der Darm war mit Eiern des Peitschenwurms kontaminiert, und die Beaulinien auf seinen Fingernägeln lassen möglicherweise auf akute Schübe einer chronischen Krankheit schließen (Naturhistorisches Museum Wien).
Chronische Krankheiten sind in der Regel abhängig von:
•der spezifischen Diagnose;
•der Schwere der Erkrankung;
•dem Tempo ihres Fortschreitens;
•dem psychologischen Profil der Erkrankten;
•der Erwartungshaltung der betroffenen Person;
•der Anzahl der Erkrankungen.
(Lubkin 2002, S. 21)
Die große Anzahl der Definitionen von chronischer Krankheit lässt schon auf die Komplexität der Thematik schließen. Die Commission of Chronic Illness legte 1949 die erste Definition vor, unter der alle Schädigungen oder Abweichungen vom Normalzustand beschrieben waren: „Alle Schädigungen oder Abweichungen vom Normalzustand mit folgenden Merkmalen: Dauerhaftigkeit, zurückbleibende dauerhafte Einschränkung aufgrund irreversibler pathologischer Veränderungen, Notwendigkeit von Rehabilitation oder ggf. Überwachung, Beobachtung oder Pflege über einen längeren Zeitraum.“ (Weisz 2014, S. 108)
Die Definition war jedoch schon aufgrund der Verwendung des Begriffs „Normalzustand“ kritisch zu hinterfragen. Ein neuerer Versuch, eine Definition zu finden, kommt von Ilene Morof Lubkin (2002). Für sie spielen neben der Krankheitsbeschreibung auch die Auswirkungen und Einflussfaktoren der Erkrankung auf die Fähigkeiten und Alltagsbewältigung eine Rolle.
„Unter chronischer Krankheit versteht man das irreversible Vorhandensein bzw. die Akkumulation oder dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder Schädigungen, wobei im Hinblick auf unterstützende Pflege, Förderung der Selbstversorgungskompetenz, Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und Prävention weiterer Behinderung das gesamte Umfeld des Patienten gefordert ist.“ (Lubkin 2002, S. 26)
Fachleute im Gesundheitswesen können Chronizität auf zweierlei Weise betrachten:
•positiv – und damit als Zustand, der zur Weiterentwicklung von Klient*innen, deren Familien oder der Gesellschaft beitragen kann;
•negativ – und damit als Zustand, der das Versagen der vollständi
gen Wiederherstellung zum Ausdruck bringt.
(Lubkin 2002, S. 22)
Chronische Krankheiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie langfristig, umfassend und zumeist irreversibel sind. Dementsprechend wirken sie sich bei den Betroffenen (aber damit auch bei ihren Zu- und Angehörigen) aufgrund ihrer körperlichen, sozialen und psychischen Beeinträchtigungen auf viele Lebensbedingungen aus.
Dieser Umstand macht in vielen Fällen eine unterstützende Pflege, eine flächendeckende Betreuung, eine Förderung der Selbstversorgungskompetenz und Prävention erforderlich. Im Vordergrund stehen oftmals die Linderung der Symptome und die Stabilisierung des Gesundheitszustandes, aber auch die Erhaltung der Alltagstauglichkeit und die Förderung des Wohlbefindens der Betroffenen. Die Einschätzung der Lebensqualität ist stark an das Auftreten von chronischen Krankheiten gekoppelt. Daraus resultiert als Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Zu- und Angehörigen zu erhalten bzw. wiederherzustellen.
Die Lebensqualität gibt Auskunft über das körperliche, psychische, soziale und umweltbezogene Wohlbefinden. Sie gewinnt vor allem im Kontext einer steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitigem Ansteigen chronischer Krankheiten, aber auch einer verbesserten medizinischen Versorgung, an Bedeutung (Ellert/Kurth 2013, S. 643).
Das Vorhandensein von chronischen Krankheiten ist ein wesentlicher Parameter zur Bewertung von Lebensqualität, der auf einer äußerst subjektiven und individuellen Einschätzung basiert.
1.4International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)
Die „International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ hat die „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH)“ von 1980 abgelöst.
Im ICIDH wurde eine Klassifizierung chronischer Krankheiten anhand der Differenzierung zwischen „impairment“, „disability“ und „handicap“ vorgenommen. Diese Begriffe wurden folgendermaßen definiert:
•impairment bezieht sich auf die Beeinträchtigung der Strukturen und Funktionen des Körpers;
•disability, die Behinderung, ist die verringerte Fähigkeit, Aktivitäten auszuüben;
•handicap bezieht sich auf die sozialen und psychischen Konsequenzen von impairment und disability.
Das ICIDH wurde mit dem bio-psycho-sozialen Modell des ICF erheblich erweitert und entspricht eher der Lebenswirklichkeit der Betroffenen, indem der gesamte Lebenshintergrund berücksichtigt wird. Ein weiterer Grund für die Veränderung war, dass der Terminus Handicap selbst in den USA ein negativ besetzter Begriff ist und sich in diesem Zusammenhang als ungünstig erwiesen hat.
Da es für den englischen Begriff „functioning“ im Deutschen keine entsprechende Übersetzung gibt, wurde er in Abstimmung mit Österreich und der Schweiz mit „Funktionsfähigkeit“ übersetzt, sollte aber nur als klassifikationstechnischer Begriff verwendet werden. Die Übersetzung des englischen Begriffs „participation“ ist „Teilhabe“. Dieses Wort hat in der Schweiz aber eine engere Bedeutung als in Deutschland. Daher wird der englische Originalbegriff in der deutschen Übersetzung mit „Partizipation [Teilhabe]“ klassifiziert. Der englische Begriff „health condition“ wurde mit dem etwas engeren Terminus „Gesundheitsproblem“ übersetzt. Die „Funktionsfähigkeit“ eines Menschen umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Der Behinderungsbegriff der ICF ist der Oberbegriff zu jeder Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen. Eine Person gilt als funktional gesund, wenn unter Einbeziehung ihrer Kontextfaktoren
1.ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen);
2.sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten);
3.sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und in dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen).
Die ICF wurde für verschiedene Disziplinen und Anwendungsbereiche im Gesundheitssektor als Mehrzweckklassifikation entwickelt. Folgende Ziele werden dabei verfolgt:
•Sie liefert eine wissenschaftliche Grundlage für das Verstehen und das Studium des Gesundheitszustands und der mit Gesundheit zusammenhängenden Zustände, der Ergebnisse und Determinanten;
•sie stellt eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung des Gesundheitszustandes und der mit Gesundheit zusammenhängenden Zustände zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen verschiedenen Benutzer*innen wie Fachleuten im Gesundheitswesen, Forscher*innen, Politiker*innen und der Öffentlichkeit, einschließlich Menschen mit Behinderungen, zu verbessern;
•sie ermöglicht Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf;
•sie stellt ein systematisches Verschlüsselungssystem für Gesundheitsinformationssysteme bereit.
(Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005, S. 4–12)
Teil II
Bedeutung chronischer Erkrankungen für das Gesundheitssystem, für die Betroffenen und für ihre An- und Zugehörigen
Die Komplexität vieler Pflegesituationen in der Praxis nimmt durch epidemiologische, demografische und organisatorische Veränderungen stetig zu.
Als Parameter zur Beurteilung des subjektiven Gesundheitszustandes und dadurch auch der Lebensqualität wurde 2019 die letzte österreichische Gesundheitsbefragung durchgeführt. Zusätzlich zu klinisch erhobenen Befunden werden auch soziale, ökonomische und umweltbezogene Aspekte von Gesundheit miterfasst. Mit zunehmendem Alter verschlechtert sich nach Angaben der Befragten der subjektive Gesundheitszustand. Ein wichtiger Parameter zur Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes und der gesundheitlichen Lebensqualität ist das Auftreten einer dauerhaften, chronischen Krankheit.
Auf eine der Fragen aus der Gesundheitsbefragung 2019 „Haben Sie eine dauerhafte Krankheit oder ein chronisches Gesundheitsproblem?“, antworteten 2,8 Millionen Menschen über 15 Jahre mit „Ja“ (Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz 2020). 38.3% der Bevölkerung leiden an einer chronischen Krankheit. Diese Zahl erhöht sich mit zunehmendem Alter. Bei den 75-Jährigen und älteren Menschen liegt ein chronisches Gesundheitsproblem bereits bei 64,8% vor (Statistik Austria 2019). Das bedeutet, dass ein großer Teil von chronisch Kranken eine angemessene und bezahlbare medizinische und pflegerische Versorgung benötigen wird.
2Bedeutung und Kernkompetenzen der pflegerischen Versorgung chronisch Kranker
Die Möglichkeit für Gesundheitsprofessionen, zur Verbesserung der Gesundheit innerhalb der Bevölkerung beizutragen, wird in Zukunft ein auschlaggebender Tätigkeitsbereich professioneller Pflege und Betreuung sein. Weltweit muss es langfristig gelingen, einen Schwerpunkt der Gesundheitsversorgung auf die Prävention chronischer Krankheiten zu legen. Professionell Pflegende und andere Gesundheitsberufe müssen in der Lage sein, aus ihren Kernkompetenzen heraus auf die Entwicklung chronischer Erkrankungen positiv Einfluss zu nehmen. Dazu zählen Aufgaben der Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsberatung. Wissenschaft und besonders Pflegeforschung stellen Ergebnisse aus empirischen Studien dazu bereit (Bundesgesetzblatt 2016, S. 4).
Für Gesundheitsberufe ist es wichtig, die Dimension des Problems infolge der Zunahme chronischer Erkrankungen und die Dringlichkeit der damit verbundenen komplexen und systemübergreifenden Problematik zu erkennen. Die im Gesundheitssystem agierenden Personen müssen sicherstellen, dass einerseits Maßnahmen zur Gesundheitsförderung sowie zur Vermeidung von Krankheiten und andererseits Maßnahmen zur angemessenen Versorgung und Pflege im Falle einer Erkrankung sichergestellt werden.
Die Kosten, die durch chronische Krankheiten entstehen, betreffen nicht nur wirtschaftliche Aspekte, sondern insbesondere auch den Menschen in seinem sozialen Umfeld. Die Zunahme von chronischen Erkrankungen hindert nicht nur Einzelne daran, im Laufe ihres Lebens ihr erwünschtes Ziel zu erreichen, sondern beeinflusst verschiedene Systeme (Familie, Arbeit, Gesundheitssystem). Den Betroffenen wird durch die Krankheit ihre geplante und erwünschte Zukunft genommen. Die dadurch anfallenden Kosten sind schwer quantifizierbar, ergeben sich aber durch größere finanzielle Abhängigkeit der Erkrankten bzw. ihrer Familien und geringerer Produktivität in Volks- oder Privatwirtschaft. Die Kosten für Diagnostik, Therapie, Folgeerkrankungen und Pflege stellen für das Gesundheitssystem einen erheblichen wirtschaftlichen Aspekt dar.
Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen werden gut ausgebildet, um kreative und innovative Lösungen für die Betreuung und Begleitung chronisch kranker Menschen zu entwickeln. Sie stellen die größte Berufsgruppe im Gesundheitssystem dar und sind eine wichtige gesundheitspolitische Ressource. Diese Ressource muss in die Planungs- und Entscheidungsprozesse der Gesundheitsversorgung miteingebunden werden. Durch die Kenntnis in Umgang, Begleitung und Betreuung chronisch kranker Menschen und durch das professionelle Handeln, das damit möglich wird, kann eine optimale Patientenversorgung positiv beeinflusst werden.
2.1Aufgabenbereich und Bedeutung für das Gesundheitssystem sowie Faktoren für wachsende Kosten der Gesundheitsversorgung
Die Kosten für die Gesundheitsversorgung steigen weltweit, vor allem durch die Zunahme nicht übertragbarer und psychischer Erkrankungen. Eine alternde Gesellschaft, technologischer Fortschritt, aber auch eine Zunahme der Bedürfnisse der Betroffenen sind Gründe für die wachsenden Kosten. Die Alterung der Bevölkerung spiegelt die verbesserten Lebens- und Gesundheitsbedingungen insgesamt wider. Die Lebenserwartung bei der Geburt stieg zwischen 1990 und 2017 um 2,5 Jahre an. Durch das Anwachsen der älteren Bevölkerung steigt aber auch die Prävalenz vieler chronischer Erkrankungen an.
Die Prävalenz gibt an, wie viele Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Erkrankung betroffen sind oder ein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung aufweisen. In vielen europäischen Ländern wird beispielsweise prognostiziert, dass 75% der ab 65-Jährigen an Herz-Kreislauf- oder onkologischen Erkrankungen sterben werden (WHO 2009, S. 61 f.).
2.2Anforderungen einer alternden Gesellschaft an das Gesundheitssystem
Eine alternde Gesellschaft braucht mehr Versorgungs- und Pflegeleistungen. Spätfolgen der Erkrankungen führen zu längeren Spitalsaufenthalten. Daraus resultieren häufig Einschränkungen der Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung und ein erhöhter Pflegebedarf zu Hause.
Ein Problem stellt weiters die Zunahme der Multimorbidität dar – das bedeutet das gleichzeitige Vorliegen von zwei oder mehr chronischen Erkrankungen. Multimorbidität, mitverursacht durch Polypharmazie (Übermedikation) und mangelnde Übereinkunft und Absprachen zwischen Behandlungssystem und Betroffenen, beeinflusst das Gesundheitsrisiko weiter negativ: Umso anspruchsvoller werden Pflege und Betreuung in medizinisch sehr komplexen Situationen, wo mitunter die Dauer der ärztlichen Versorgung multimorbider Patientengruppen als kurz beschrieben wird (Søndergaard/Grauers Willadsen 2015, S. 124). In Industrieländern sind 25% der 65- bis 69-Jährigen und 50% der 80- bis 84-Jährigen von Multimorbidität betroffen (WHO 2008, S. 5–9).