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für die Jahre 2021 – 2024 unterstützt.
Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg
Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern
ISBN: 978-3-039510-01-6
E-Book: CPI books GmbH, Leck
Inhaltsverzeichnis
Gesellschaft
•Der Dialog – reflektierte Kommunikation und Begegnung zwischen Menschen
•Die Weiterverwendung von Patientendaten zu (kommerziellen) Forschungszwecken
•Forschungsfreiheit mit Schattierungen
•Patente auf Gene
•Die Kontroverse um die Knabenbeschneidung – ethisches Spannungsfeld zwischen individuellem Integritätsanspruch und sozialem Frieden
•Essen – Ernährung – Menschenrecht und Menschenpflicht
•Survival of the Greediest?
•Kommentar zur politischen Stimmung
•Datenerfassung
•Trockenzeiten
•Von Strom- und Innovationslücken
•Heimat
•Wenn Lebensnotwendiges zum Luxus wird
•Frauenfrage und Sorgekultur
•Unsere Verantwortung
Demokratie
•Herrschaft von Wissenden als Alternative zur Demokratie?
•Die Rolle der Wissenschaft in der Demokratie
•Stellungnahme von Stiftungsrat und Institutsteam gegen die Selbstbestimmungsinitiative
•Gedanken zur bevorstehenden Wahl von National- und Ständerat
•Bundesratsentscheide, direkte Demokratie und Gesetze – eine ethische Grundsatzreflexion als Staatsbürgerin
•Alibaba und die chinesische Firma BGI: Datensammeln als geopolitisches Machtinstrument
Gesundheitswesen
•Wo bleibt der Raum für die Ethik? Ein Vergleich zwischen Pflege und Medizinausbildung – Teil I Medizin
•Wo bleibt der Raum für die Ethik? Ein Vergleich zwischen Pflege und Medizinausbildung – Teil II Pflege
•Autonomie hinterfragt: Ethischer Anspruch und gelebte Fähigkeit
•Sinn und Zukunft des Gesundheitswesens
•Ein Manifest für das Maßhalten im Gesundheitswesen – Kranksein als eine Provokation für den modernen Menschen
•Der Reanimationsentscheid – Reanimationsgespräche in Spitälern und Heimen
•Gesundheit – ein öffentliches oder privates Gut? Eine Frage der Gerechtigkeit
•«Advance Care Planning» und Patientenverfügung – Behandlung im Arzt-Patienten-Dialog planen
•Replik der Eid-Kommission
•Kommunikation in Einrichtungen des Gesundheitswesens – ein Kernthema der Ethik
•Qualität der gesundheitlichen Versorgung und Patientensicherheit in der Schweiz
Corona-Pandemie
•Abwägen verschiedener Güter und gerechte Verteilung von Solidaritätsleistungen
•Notstand bei pflegebedürftigen Menschen in den Heimen und zu Hause
•Impfstoffentwicklung – medizinische und ethische Herausforderungen
•Triage auf den Intensivstationen
•Einladung zum Dialog in der Covid-19-Pandemie
Fortpflanzungsmedizin
•Das «Zürcher Modell» zur Urteilsbildung in der Neonatologie (Teil I: Das ethische Dilemma)
•Beratung in der pränatalen Diagnostik
•Leihmutterschaft und Eizellenspende: reproduktive Autonomie – reproduktive Willkür
•Gefahren der In-vitro-Fertilisation
•Das Recht auf ein Kind?
Leben mit Einschränkungen
•Robotik und Behinderung
•Rechtmäßige Geburt beziehungsweise rechtmäßiges Leben?
•Leben mit Demenz – Fürsorge contra Selbstbestimmung bei an Demenz Erkrankten
Organtransplantation
•Von Tier zu Mensch: Xenotransplantation
•Lebendorganspende
•Initiative zur Einführung der erweiterten Widerspruchslösung bei einer Organentnahme
•Zwei Formen der Organentnahme
•Enge und erweiterte Widerspruchslösung: Gesinnungswandel und Paradigmenwechsel
•Organspende in der Schweiz: Sollte die Widerspruchslösung gelten?
•Widerspruchsregelung bei der Organentnahme: Nutzen statt Menschenwürde – Gegenvorschlag des Bundesrates
Lebensende
•Patientenverfügungen
•Im Spannungsfeld von tatsächlichem und mutmaßlichem Willen
•Ein Dilemma: Darf man Seniorin M. die Dialyse noch zumuten? Ein Beispiel aus der Intensivstation
•Die Patientenverfügung – Fallbesprechung: «Soll die lebenserhaltende Therapie eingestellt werden?»
•Autonomie und Abhängigkeit im Alter
•«Going to Switzerland»: Assistierte Selbsttötung – weder banal noch heroisch
•Palliative Care – Beitrag zu einem erfüllten Leben
•Gesundheitliche (Voraus)Planung
•Die Patientenverfügung und das Risiko eines Entscheids gegen den Willen von Betroffenen
•Patienteninformation und -beratung: Wissen – Können – Wollen
•Patientenverfügungen und Gesundheitskosten
•Der Tod – «Machsal» und Schicksal
Vom Menschen
•Hirnforschung
•Klonen
•Alter
•Fehlende Urteilsfähigkeit
•Gedanken zum Jahreswechsel
•Der Mensch – ein verbesserungsbedürftiges Wesen?
•Nobelpreis für Medizin 2018 – Anstoß zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise in Medizin und Gesellschaft
•Lebensgestaltung zwischen Schicksal und Machsal im Zusammenhang mit genetischen Untersuchungen
•Wie hätten Sie die Eltern beraten? Locked-in-Syndrom
•Forschung an menschlichen Stammzellen
•Langsamer! Zeit zum Nachdenken
Mein Dank

Für Julia, Hanna und Nino
Einleitung
Die moderne Medizin hat die Lebensqualität vieler Menschen maßgeblich verbessert und ihre Lebensspanne stark verlängert. Diese medizinischen Verdienste und Errungenschaften erweisen sich jedoch – wie jedes menschliche Tun – in ihren Auswirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft als ambivalent. Die «Kommentare zur Zeit», erstmals erschienen in den Newsletters des Instituts Dialog Ethik, sowie einige Beiträge aus der Zeitschrift «Thema im Fokus» von Dialog Ethik bringen anhand konkret sich stellender Fragen Licht und Schatten des medizinischen Fortschritts zur Sprache. Thema sind individual- und sozialethische Reflexionen unter dem Aspekt der Menschenwürde und der Menschenrechte, die die normative Grundlage bilden.
Die Texte sollen Denkanstöße bieten. Geordnet sind sie sind nach Themenfeldern und – bis auf wenige Ausnahmen – auch chronologisch. Einzelne Fragen werden aufgrund jeweils neuer Gegebenheiten im Laufe der Jahre wiederholt thematisiert. Dabei zeigt sich auch, wie der Umgang mit dem menschlichen Leben von seinen Anfängen bis zum Tod sich verändert.
Das Ergebnis der Reflexionen ist kein abschließendes. Die hier vorgestellten Überlegungen werfen oft mehr Fragen auf, als sie beantworten können. Ethisch vertretbare Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit ergeben sich nur aus der gemeinsamen, gleichberechtigten Suche der Menschen mit all ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen und Wertvorstellungen. Und nur auf dieser Suche können wir füreinander zur Quelle neuer Erkenntnisse und Einsichten werden. Mit meinen Reflexionen hoffe ich dazu beizutragen, dass ein Dialog über die Ambivalenzen des medizinisch-technischen Fortschritts entsteht, aus dem ethisch vertretbares Entscheiden und Handeln erwachsen kann.
Im September 2021
Ruth Baumann-Hölzle

Gesellschaft
Der Dialog – reflektierte Kommunikation und Begegnung zwischen Menschen
Kommunikation findet auf verschiedenen Ebenen statt: visuell, beispielweise in Form von Bildern, Zeichen oder Gesten – akustisch, etwa in Form von gesprochener Sprache oder Lauten – oder sogar über Körperkontakt, und sie kann verschiedene Gefühle und Emotionen transportieren. Doch sicher ist: Bei jeder Begegnung mit einem anderen Menschen entsteht irgendeine Form der Kommunikation, sei es nun auf verbaler oder nonverbaler Ebene.
Die Kommunikation zwischen Menschen, die sich zum ersten Mal begegnen, beginnt mit einer blitzschnellen und unbewussten Reaktion auf das neue Gegenüber. Diese erste spontane Kommunikation kann zur «Liebe auf den ersten Blick» oder bereits zur kompletten Ablehnung des Gegenübers führen. Der erste Moment entscheidet darüber, ob sich Menschen überhaupt aufeinander einlassen, in welcher Form und in welchem Modus sie miteinander kommunizieren oder sich wieder voneinander abwenden.
Der Dialog – bestehend aus den beiden griechischen Wörtern dia, was «zwischen» oder «hindurch» bedeutet, und logos, was «Vernunft» heißt – ist somit ein vernünftiges und damit auch reflektiertes Zwiegespräch auf Augenhöhe zwischen Menschen, eine reflektierte Kommunikation zwischen ihnen. Der Begriff logos hat ein breites Bedeutungsspektrum, das viel umfassender ist als das gängige Verständnis von Vernunft. Unter Vernunft wird hier das Prinzip verstanden, welches die Welt im Innersten zusammenhält. Jeder Dialog birgt das Potenzial, neue Erkenntnisse über die Welt, die anderen Menschen und sich selbst zu gewinnen. Darüber hinaus kann der Dialog angemessenes Entscheiden und Handeln ermöglichen. Dieses Potenzial wird jedoch nur dann realisiert, wenn sich die an einem Dialog beteiligten Menschen einander als gleichwertige Partner mit eigenem Lebensentwurf in einer bestimmten Lebenswelt ernst nehmen und offen sind für die anderen Wahrnehmungsperspektiven, Erkenntnisinhalte und Interpretationsvorschläge. Zudem setzt ein echter Dialog Demut als Bewusstsein voraus – anzuerkennen, dass weder die eigene Wahrnehmung von Fakten, die eigenen Erkenntnisse über Gott und die Welt noch die daraus resultierenden Entscheidungen in einem absoluten Sinne gut sind, sondern stets nur eine bestimmte Wahrnehmungsperspektive, Erkenntnisform und Interpretationsweise wiederzugeben vermögen. Menschen sind daher sowohl bei ihrer Suche nach Erkenntnis als auch bei ihrer Suche nach angemessenen Entscheidungen und Handlungen aufeinander angewiesen.
Philosophische Tradition
Der Dialog hat eine lange philosophische Tradition. Berühmtester Vertreter des Ansatzes, wonach Erkenntnis über das dialogische Gespräch gewonnen werden kann, ist der Philosoph Sokrates (469 v. Chr. bis 399 v. Chr.). Er entwickelte als Erster den strukturierten Dialog, die Mäeutik, die er auch als «Hebammenkunst» bezeichnete. Immanuel Kant (1724 – 1804), der Philosoph der Aufklärung, hat den Dialog nicht thematisiert. Ihm ging es um die Erkenntnis vernünftiger Wesen, die aufgrund ihrer Willensfreiheit das Gute zu erkennen vermögen: «Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.» Damit hat Kant Gott aus der Welt verabschiedet und das Gute an die Vernunft gebunden. Diese zur Erkenntnis fähige Vernunft aber hat er «transzendental» verstanden, als etwas, was unabhängig ist von jeglicher Leiblichkeit und Erfahrung.
Weltweit als plausibel durchgesetzt hat sich seine Forderung, wonach der Mensch nicht bloß als Mittel instrumentalisiert werden soll, sondern Anspruch auf Autonomie als Selbstgesetzgebung hat. Denn aufgrund seiner Vernünftigkeit hat der Mensch keinen Preis, sondern eine Würde. Kant hat den moralischen Anspruch des Menschen auf Würde, Integrität und Selbstbestimmung säkular mit der Vernunft begründet und nicht mehr mit der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott. Nach dem moralischen Imperativ sollen alle Handlungen so ausgeführt werden, dass sie universal für alle Menschen gültig sein können. Menschen müssen gefragt werden, wenn mit ihnen etwas geschehen soll. Damit hat Kant auch die Staatsform der modernen Demokratie begründet. Kant hatte gehofft, in Analogie zu den Naturgesetzen allgemeingültige Handlungsgesetze erkennen zu können. Er vermochte jedoch nur das allgemeingültige, rein formale Abwehrrecht aufgrund des Autonomieanspruchs zu begründen. Was dem Menschen aber allgemeingültig zustehen soll, konnte er nicht formulieren. In diesem Artikel wird davon ausgegangen, dass das, was einem Menschen zusteht, deshalb von den von einer Situation betroffenen Menschen gemeinsam im Dialog herauszuarbeiten ist.
Derzeit bedeutendster Vertreter des Erkenntnisgewinns durch den Dialog ist Jürgen Habermas. Er geht davon aus, dass Wahrheit eine Form gemeinsamer Erkenntnis von Menschen ist, die in einer bestimmten Lebenswelt leben. Basierend auf dieser These hat er seine Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt, mit welcher er den philosophischen und ethischen Diskurs über das Gute und das gute Handeln auch heute noch beeinflusst. Dazu im Folgenden ein paar Betrachtungen.
Die christliche Sprache
Sie ist eine Glaubenssprache. Sie erzählt Geschichten, welche vom liebevollen Verhältnis Gottes zu den Menschen handeln und die Menschen auffordern, sich untereinander dieser Liebe entsprechend zu verhalten und sich einander wohlwollend zuzuwenden. Die christliche Liebe, die Agape, umfasst jede Form der wohlwollenden Zuwendung zum anderen Menschen. In der christlichen Theologie wird Jesus Christus unter anderem als «Wort Gottes», als «logos», aber auch als «Inkarnation der Liebe Gottes» bezeichnet. In Jesus Christus sind Vernunft und Liebe vereint. Denn nach christlichem Verständnis reicht die Vernunft für das Gute allein nicht aus. Die Vernunft muss durch die Liebe inspiriert werden, wenn sie Gutes hervorbringen soll. Und dies wiederum ist nur möglich, wenn die Menschen frei sind in ihrer Rede und sie nach dem situationsgerechten Wort suchen können.
Der empirische Dialog
Er ist die gemeinsame Suche nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis und bezieht sich auf die Beschreibung, das Beweisen und die naturwissenschaftliche Einschätzung von Fakten. Hierzu braucht es den naturwissenschaftlichen Dialog mit anderen Menschen und ihren unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Beschreibungsperspektiven. Solche Perspektivenvarianz ist eine Voraussetzung für gute Naturwissenschaft. Auch in der Medizin braucht es für gute Diagnosen und Prognosen den empirischen Dialog. Die Wahl, welche Fakten man in einer Situation aufgreifen und reflektieren möchte, ist hingegen eine moralisch normative Entscheidung.
Der philosophische und theologische Dialog
Diese Dialoge sind die Suche nach philosophischer oder theologischer Erkenntnis über das, was die Welt im Innersten zusammenhält. In einer pluralistischen Gesellschaft zeichnen sich gute philosophische und theologische Dialoge durch Ansatzvarianz aus. Dabei werden verschiedene philosophische und theologische Ansätze thematisiert, wodurch Erkenntnisse gewonnen und Normen und Werte begründet werden können.
Der ethische Dialog
Er hat die Aufgabe, zu gemeinsamen moralischen Haltungen, Verhaltensweisen sowie zu guten Entscheidungen und Handlungen in konkreten Situationen zu führen. Hierzu ist der ethische Dialog auf die Informationen und die Erkenntnisse sowohl des empirischen als auch des philosophischen Dialogs angewiesen. Der ethische Dialog legt fest, welchen Wert und was für eine Bedeutung etwas hat. Er zeigt auf, welche ethischen Fragen, Probleme und ethischen Dilemmasituationen entstehen, wenn zum Beispiel ein Embryo entweder als Sache oder als Person bewertet wird oder wenn Ortungsgeräte von dementen Menschen entweder als Zwangs- oder als Schutzmaßnahme angesehen werden. In pluralistischen Gesellschaften, in denen zu solchen Fragen diametrale Wertvorstellungen bestehen, ist es die große Herausforderung des ethischen Dialogs, gleichwohl zu gemeinsamen Entscheidungen und Handlungen zu finden, die für alle Beteiligten plausibel sind. In solchen Situationen wird versucht, die unterschiedlichen Moralvorstellungen auszugleichen und sie in ein sogenanntes «reflexives Gleichgewicht» zu bringen. Dabei werden in konkreten Entscheidungssituationen auch unterschiedliche Entscheidungsmöglichkeiten miteinander abgewogen. Ein guter ethischer Dialog setzt daher Perspektivenvarianz, Ansatzvarianz und Entscheidungsvarianz voraus.
Menschenwürde und Menschenrechte als universale Wertorientierung
Wie die Weltgeschichte eindrücklich belegt, stimmt die Gleichung von Kant «vernünftig = gut» nicht. Auch Kant hat gegen Ende seines Lebens diese Gleichung zunehmend infrage gestellt und sich mit der Frage nach dem Bösen beschäftigt. Auch der rational geführte Dialog reicht allein nicht aus, um angemessenes Handeln hervorzubringen. Denn es gilt immer auch «Das Andere der Vernunft» zu berücksichtigen, wie Hartmut und Gernot Böhme ausführen. Mit dem «Anderen der Vernunft» sind die vielfältigen natürlichen und psychosozialen Abhängigkeiten des Menschen gemeint, welche durch die Leiblichkeit bedingt sind. Aufgrund ihrer Sterblichkeit und begrenzten Wahrnehmungs-, Urteils- und Autonomiefähigkeiten sind die Menschen aufeinander angewiesen, damit sie ihre individuelle Wahrnehmungs- und Sichtweise erweitern können. Dies ist in pluralistischen Gesellschaften Chance und Herausforderung zugleich. Im Dialog entsteht im Sinne von Martin Buber etwas Neues, was über die an einem Dialog beteiligten Menschen hinausgeht. Doch auch dieses Neue bleibt stets begrenztes Wissen und Erkennen. Deshalb erzeugen weder der Common Sense noch der demokratische Entscheid das Gute, beide können irren und schlechte Entscheidungen und Handlungen hervorbringen.
Es braucht daher allgemeingültige Prinzipien und eine übergeordnete Wertorientierung. Nur so lässt sich im Dialog die Grenze zwischen Toleranz und Beliebigkeit ziehen. Die Menschenwürde und die Menschenrechte sind die höchste je von Menschen gemeinsam errungene und international anerkannte Wertorientierung und Plausibilität für gutes Entscheiden und Handeln. Ihre Plausibilität hat sich – angesichts tiefsten Leids und größter Ungerechtigkeit im Zweiten Weltkrieg – als Völkerrecht universal verankert. Deshalb orientiert sich auch der ethische Dialog an diesen universalen Werten. Wie die bisherige Erfahrung zeigt, können humanes Entscheiden und Handeln nur im Horizont der Menschenwürde und der Menschenrechte erreicht werden.
Aufgrund der Menschenwürde ist der Mensch ein liebenswertes Wesen und zur Freiheit berufen. Der Mensch hat daher einen Autonomie- und Fürsorgeanspruch. Der ethische Dialog hat wiederum zum Ziel, Entscheidungen und Handlungen zu generieren, die Freiheit und Fürsorge garantieren. Da diese Ansprüche für alle Menschen in gleicher Art und Weise gelten, haben die Menschen auch Anspruch auf Gerechtigkeit.
Die ethische Entscheidungsfindung als Dialog
Sie hat die Aufgabe, für eine konkret anstehende Entscheidung zwischen den Beteiligten einen Konsens zu erreichen. Dieser muss sich aber stets an den Ansprüchen der Menschenwürde und den Menschenrechten messen lassen. Im ethischen Dialog werden die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Lebensentwürfe miteinander ins Gespräch gebracht und gemeinsam reflektiert. Hierzu braucht es bestimmte organisationale Rahmenbedingungen wie Raum und Zeit, auch muss jeder wissen, wie ein solcher Dialog zustande kommt, wie die Dialogrunde zusammengesetzt und organisiert wird und wie der Dialogprozess abläuft. Ausgebildete Moderatoren führen durch solche Dialogprozesse. Bei ethischen Dilemmasituationen haben sich ethische Entscheidungsfindungsverfahren bewährt.
Die integrative Verantwortungsethik
Das hier beschriebene Verständnis von Ethik als einem reflektierten Dialogprozess auf der Basis von Menschenwürde und Menschenrechten wird als «Integrative Verantwortungsethik» verstanden. Sie bedingt, dass man einander zuhört, das Gesagte aufnimmt und gemeinsam reflektiert. Und deshalb hat Dialog Ethik ein Ohr im Logo.
Literatur:
•Böhme, H., Böhme G. (1985): Das Andere der Vernunft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag.
•Baumann-Hölzle, R. (1999): Freiheit und Autonomie in der Medizinethik. Freiburg i. Br., Alber.
•Baumann-Hölzle, R. (2009): Wertorientierung – Integrative Verantwortungsethik in Medizin und Pflege. In: Arn, Ch., Weidmann-Hügle, T.: Ethikwissen für Fachpersonen. Handbuch Ethik im Gesundheitswesen, Bd. 2. Basel, EMH Schwabe, S. 151 – 162.
•Buber, M. (1979): Das dialogische Prinzip. Heidelberg, Lambert Schneider Verlag.
•Ebeling, G. (2012): Dogmatik des christlichen Glaubens. Tübingen, Mohr Siebeck, Bd. 2.
•Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag.
•Römpp, G. (2006): Kants Kritik der reinen Freiheit. Eine Erörterung der «Metaphysik der Sitten». Berlin, Duncker & Humblot.
•Patzer, A. (1990): Sokrates. Das Gute. In: Speck, J. (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 4. Auflage.
Februar 2017
Die Weiterverwendung von Patientendaten zu (kommerziellen) Forschungszwecken
Die elektronische Revolution findet auch in den Praxen und Spitälern statt: Informationen über Patienten und Patientinnen, die bisher in handgeschriebenen Krankengeschichten festgehalten wurden, werden zunehmend elektronisch erfasst und gespeichert. Zwar sind es heute erst vereinzelte Spitäler und Praxen, die elektronische Dossiers führen, doch der Trend nimmt zu. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Technologiefolge-Abschätzungsprogramms des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats. Ein wichtiges Projekt in der Schweiz ist «Patientendossiers 2003», mit dem die Patientendaten der fünf Schweizer Universitätsspitäler vereinheitlicht werden sollen.
Die Digitalisierung der Patientendossiers hat Auswirkungen. Sind mit dem manuellen System die Angaben zu Patientinnen und Patienten bei verschiedenen ärztlichen Praxen, Spitälern und Labors verteilt und müssen bei all diesen Stellen einzeln abgefragt werden, besteht mit der elektronischen Datenspeicherung die Möglichkeit, diese Angaben zu vereinheitlichen und damit zentral abrufbar zu machen. Zur Diskussion stehen heute einerseits Dossiers, die zentral gespeichert über Internet abrufbar sind, oder andererseits sogenannte Chipkarten. Dies bedeutet auf der Ebene der individuellen Patientin oder des individuellen Patienten, dass über sie in kürzester Zeit ein umfassendes medizinisches Profil erstellt werden kann. Dies kann im Hinblick auf die medizinische Versorgung ein Vorteil sein: Doppelspurigkeiten können vermieden, die Diagnose dank Einbezug von älteren Daten verbessert werden. Die Nachteile liegen auf der Hand: Ein Profil über die Gesundheit eines Individuums ist hochsensibel, und seine elektronische Speicherung beinhaltet die Gefahr des Datenmissbrauchs.
Auf der sozialen Ebene entsteht durch diese elektronischen Dossiers eine medizinische Datenmenge von bisher nicht gekanntem Umfang. Werden die Daten der einzelnen Patientinnen und Patienten nämlich zusammengeführt, entstehen Datenpools von fast flächendeckendem Ausmaß. Für die Forschung ist dies von höchstem Interesse. So kann mit einem solchen Datenpool beispielsweise die Wirkung eines Medikaments an einer viel größeren Gruppe getestet werden, als dies bis jetzt der Fall war, und dementsprechend präziser sind die Resultate. Auch im Bereich der genetischen Forschung sind große Datenmengen sehr wichtig, können doch damit die statistischen Zusammenhänge zwischen Genmutationen und Krankheiten geschaffen werden. Meldungen, das Gen für diese oder jene Kondition sei gefunden worden, sind das Resultat von dieser Art von Berechnungen.
Angesichts dieses Potenzials ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Stellen dabei sind, systematisch solche Datenpools aufzubauen. Die Bandbreite geht von staatlich finanzierten Forschungsstellen bis hin zu kommerziellen Firmen. Diese Datensammler haben ein Interesse, möglichst viele und möglichst lückenlose Daten zu speichern.
Auf der anderen Seite stehen die Patientinnen und Patienten. Ihr Interesse ist eine optimale medizinische Behandlung. Aus Patientensicht müssen nur so viele Daten gesammelt werden, wie das zur Therapie nötig ist. Um sich davor zu schützen, dass ihre Daten an Unbefugte weitergegeben werden, müssen sie wissen, welche Daten gespeichert werden und was mit ihnen geschieht.
Hier entstehen neue Fragestellungen. Wir illustrieren das Problem mit zwei Datenpools im Aufbau und gehen den ethischen Fragen nach: Geht das Eigentumsrecht einer Person über ihre persönlichen Daten bei einer Anonymisierung verloren? Soll bei der Anonymisierung die Widerspruchslösung gelten, muss also die Person ihren Widerspruch unaufgefordert anbringen? Oder soll die Zustimmungslösung gelten, also die Person explizit gefragt werden? Gibt es Daten in Genpools, die per se nicht Eigentum sein sollen?
Menschliches Leben ist Informationsträger und Informationsspender. Es gehört zum Persönlichkeitsschutz, dass Menschen nur freiwillig zu Spendern gemacht werden sollen, sonst findet eine Integritätsverletzung statt. Bevor Patientendaten anonymisiert werden dürfen, ist also die Zustimmung der betroffenen Person einzuholen. Der Zustimmungslösung ist deshalb vor der Widerspruchslösung der Vorzug zu geben. Dies umso mehr, als mit diesen Daten oft sehr viel Geld verdient werden kann.
International gibt es einen Disput darüber, ob es Daten gibt, die nicht zum Eigentum werden dürfen. Ein solcher Disput wird derzeit über die Frage nach der Legitimität von Patenten auf Gene bei Mensch, Tier und Pflanze ausgefochten. Dabei ist meiner Ansicht nach wichtig, dass zwischen dem Patent als Schutz des Verfahrens und dem Patent als Inbesitznahme unterschieden wird. Inwieweit Natur an und für sich zum Besitz werden kann, ist ethisch bedenklich.
In Bezug auf den Menschen ist eine ungefragte Instrumentalisierung jedoch grundsätzlich abzulehnen. Und auch eine indirekte Instrumentalisierung von menschlichem Leben, wie dies bei der Inbesitznahme von anonymisierten Gendaten der Fall wäre, stellt eine menschliche Integritätsverletzung dar.
Dezember 2000
Forschungsfreiheit mit Schattierungen
Im Zentrum der ethischen Debatte rund um die Forschungsfreiheit stehen Fragen nach dem moralischen Status der Natur allgemein und der Kreatur im Speziellen sowie nach dem vertretbaren Risiko. Zu beiden Fragen lässt sich in einer pluralistischen Gesellschaft kein Wertekonsens finden. Am ehesten lässt sich Einigkeit bezüglich der Schadenvermeidung oder zumindest Schadenbegrenzung erzielen. Aber selbst der Begriff des «Schadens» bedarf eines Wertekonsenses. Ich vertrete die These, dass Schaden letztlich allgemeinverbindlich nur in Bezug auf den Menschen formuliert werden kann. Diesbezüglich scheint mir das Konsenspotenzial innerhalb der ethischen Debatte noch nicht ausgeschöpft. Hierfür bedarf es einer neuen Fokussierung auf die Abhängigkeiten des Menschen von seiner Mitwelt. Die Menschen sind eingebunden in das Lebensnetz von gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten auf diesem Planeten. Die Menschen partizipieren mit ihrer Leiblichkeit an der Natur, welche für sie neben dem Guten zum Überleben und dem Guten Leben auch Todesmittel und verletzendes Handeln enthält. Je mehr Möglichkeiten die Menschen haben, mit einer Kreatur Beziehungen aufzunehmen, desto mehr ist ihnen diese Kreatur Mittel zum Guten Leben.
Die Kreatur partizipiert deshalb nicht nur am Guten der Mitwelt, sondern auch am Guten Leben des Menschen. Die beziehungsfähige Kreatur erhält so einen der menschlichen Würde ähnlichen Status. Der Begriff der «Würde der Kreatur» führt hingegen meiner Ansicht nach in die Aporie, denn der Würdebegriff ist ein Abwehrbegriff gegen ungefragte Instrumentalisierung. Da kein Tier auf dieser Welt je gefragt werden kann, ergibt es auch keinen Sinn, bei einem Tier von Würde zu sprechen.
Der Zuspruch der Menschenwürde und der Anspruch der Menschenrechte sind die normativen Vorgegebenheiten, welche als moralisches Minimum das Handeln am und mit dem Menschen prägen. Bei ihrer Suche nach dem Guten Leben haben die Menschen die Freiheit, dieses moralische Minimum auf das Maximum des Guten Lebens hin zu entwerfen. Die Menschenwürde und das Gute Leben setzen Grenzen fest und ermöglichen gerade dadurch Freiheit. Ohne solche Grenzen pervertiert Freiheit zur Willkür, welche die Freiheit ihrerseits aufhebt. Neben der Menschenwürde und dem Guten Leben begrenzt Zeitlichkeit die Freiheit und die Verantwortung des Menschen. Die Würde, das Gute Leben und die Zeitlichkeit bestimmen den Menschen als ein freies, verantwortliches und begrenztes Wesen.
Diese Existenzmerkmale sollen auch in der Forschung handlungsleitend sein. Sie werden ergänzt durch die sozialethischen Kriterien der Gerechtigkeit und Solidarität. Dies führt dahin, dass dem Menschen geplante irreversible Handlungen nicht zustehen. Die Tatsache, dass mit menschlichen Handlungen unbeabsichtigt immer irreversible Handlungen einhergehen können, ist als ethische Argumentation nicht gültig. Der Grundstruktur des Handelns zum Guten wie zum Schlechten ist bei jedem Forschungsvorhaben Rechnung zu tragen. Auch neue Erkenntnisse und Technologien stehen unter diesem Verdikt der Ambivalenz. Geplante irreversible Handlungen oder Handlungen, bei denen irreversible Konsequenzen absehbar sind, sind deshalb ethisch nicht zu verantworten. Angesichts der Kontrasterfahrungen, die die Menschen heute mit ungeplanten, irreversiblen Nebenwirkungen moderner Technologien machen, stellt sich die Frage, ob es verantwortet werden kann, der Mitwelt noch weitere Schadenpotenziale zumuten zu dürfen.
Zukünftige Generationen haben ein Anrecht auf die gleichen Handlungsfreiheiten, wie sie die Menschen heute für sich in Anspruch nehmen. Entsprechend ist die heutige Forschungsfreiheit durch diesen Anspruch der künftigen Generationen begrenzt.
Juli 2001
Patente auf Gene
Die Tatsache, dass im Gesetzesvorschlag des Bundesrates nicht zwischen «Erfindung» und «Entdeckung» unterschieden wird, macht die Grundproblematik der Patentierung von lebender Materie oder ganzen Organismen deutlich: Der Mensch will die Natur in Besitz nehmen, um sie vermarkten zu können. Damit geschieht ein Übergriff: Wird die «Entdeckung» zur «Erfindung», nimmt der Mensch eine Eigenleistung für sich in Anspruch, zu welcher er selber überhaupt nichts beigetragen hat. Das, was bei Publikationen als großes Vergehen geahndet wird, nämlich fremdes geistiges Eigentum missbräuchlich als Eigenleistung auszugeben, würde hier bei der Patentierung der Natur offiziell erlaubt. Bei diesem Übergriff blendet der Mensch jegliche Abhängigkeit seinerseits von der Natur aus und nimmt sich selbst als absoluter Beherrscher wahr. Diese Art der Patentierung ist die Institutionalisierung der menschlichen Tyrannei über die Natur. Damit einher geht eine Monopolisierung zukünftiger Handlungsmöglichkeiten, wie das Beispiel der Patentierung des Brustkrebsgens deutlich macht. Es erstaunt denn auch nicht, dass weder der Begriff der «Menschenwürde» noch derjenige der «Würde der Kreatur» in diesem Gesetzestext zu finden sind.
Es ist erschreckend zu sehen, wie sehr die gleichen ethischen Probleme jetzt beim Menschen auftreten, wie sie in der Tierzucht und in der Landwirtschaft vorgezeichnet sind. Vor ein paar Jahren führten wir bereits eine hitzige Debatte rund um den sogenannten Züchtervorteil bei genveränderten Organismen. Dabei geht es darum, dass z. B. die Bauern, die eine genveränderte Kuh kaufen, ihren Züchtervorteil verlieren und auch für die Nachkommenschaft dieser Kuh ständig Tantiemen an die Firma, die ihnen die genveränderte Kuh geliefert hat, bezahlen müssen. Jetzt kämpfen wir nicht mehr um den Züchtervorteil bei der Kuh, sondern um das gemeinschaftliche Welterbe der Gene. Noch kämpfen wir nicht um den Züchtervorteil bei den Menschen.
Angesichts der fehlenden klaren Unterscheidungen im Gesetzestext, ob das Verbot der Patentierung der Verfahren für reproduktives Klonen auch das Verbot der Patentierung der Verfahren des therapeutischen Klonens beinhaltet, wird aber deutlich, dass sich diese Auseinandersetzung um den Züchtervorteil – stets im Namen der therapeutischen Anwendung – auch beim Menschen abzuzeichnen beginnt. Gegen diese Tendenzen ist vehement das Veto einzulegen!
Es ist verständlich, dass die Firmen ihre Verfahren schützen wollen. Dieses Eigeninteresse muss sich aber an den übergeordneten Grundwerten menschlichen Zusammenlebens orientieren, welche sich aus der Menschenwürde ergeben: Menschliches Leben darf nicht ungefragt instrumentalisiert werden. Zukünftigen Generationen ist gegenüber heute Chancengleichheit zu gewähren. Dies ist aber nicht mehr der Fall, wenn das Welterbe der gesamten Menschheit zum Eigentum weniger wird!
April 2002
Die Kontroverse um die Knabenbeschneidung – ethisches Spannungsfeld zwischen individuellem Integritätsanspruch und sozialem Frieden
Eltern fällen stellvertretend für ihre Kinder in vielen Bereichen existenzielle Entscheide, die das weitere Leben der Kinder prägen. In der Schweiz ist die stellvertretende Entscheidungsfreiheit der Eltern keine Willkürfreiheit, bei der sie mit ihren Kindern tun und lassen können, was sie wollen. Sie sind in ihren Entscheidungen juristisch gesehen an das Wohl des Kindes gebunden, dürfen also keine Entscheidung treffen, die dem Kind Schaden zufügt. Diese stellvertretende Verantwortung erwächst den Eltern aus dem moralischen Status des Kindes im modernen Rechtsstaat: Von der Geburt an bis zum Tod wird das Kind als Person und Subjekt betrachtet, das Anspruch auf Menschenwürde hat und Menschenrechte besitzt. Dieser moralische Anspruch hat sich nach der politisch-moralischen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in den Nürnberger Gerichtsverfahren 1948 als ethische Orientierung und Voraussetzung für humanes Handeln als Grundlage des Völkerrechtes durchgesetzt. Die Menschenrechte garantieren sowohl das Recht auf körperliche Integrität und Unversehrtheit als auch das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit.
Das Recht auf körperliche Integrität impliziert – außer in Situationen der Fremdgefährdung oder im medizinischen Notfall – ein fast absolutes Abwehrrecht des urteilsfähigen Menschen gegenüber Eingriffen in seine physische und/oder psychische Integrität. Das bedeutet: Für Eingriffe in den Körper eines anderen Menschen braucht es dessen Einwilligung. Deshalb betrachtet das Strafrecht prinzipiell auch jede medizinisch begründete Handlung als Körperverletzung. Sie ist nur straffrei, wenn der Betroffene seine Zustimmung dazu gibt bzw. wenn man von dessen Zustimmung ausgehen kann. Die Fürsorgepflicht des Staates ist diesem Abwehrrecht denn auch subsidiär untergeordnet. Während nun aber das Abwehrrecht eindeutig ist, gibt es – außer dem Recht auf Nothilfe – keine allgemeinverbindlichen Anspruchsrechte. Jeder Mensch hat das Recht, sein Wohl nach seinen eigenen Wertvorstellungen zu bestimmen. Im Rahmen des demokratisch verbrieften Rechtsstaates bestimmen die Eltern stellvertretend für ihr Kind, was zu dessen Wohl ist.
Bei der Kontroverse um die Zulässigkeit der rituellen, nicht medizinisch indizierten Beschneidung geht es daher nicht um den Anspruch der Eltern auf ihre eigene Religionsfreiheit – diese ist im modernen Rechtsstaat unbestritten –, sondern um die Frage, wie weit die elterlichen Stellvertreterentscheidungen in einem modernen Rechtsstaat gehen dürfen und sollen. Es geht dabei insbesondere um die Frage, inwiefern Eltern die physische und/oder psychische Integrität ihrer Kinder zugunsten des von ihnen bestimmten Kindeswohles verletzen dürfen.
Dass es sich bei der Beschneidung um eine Körperverletzung handelt, ist ebenfalls unbestritten. Körperverletzungen sind bei Kindern dann zulässig, wenn sie medizinisch indiziert sind, das heißt, wenn der Eingriff einen Schaden abwendet, zum Beispiel eine Krankheit. Wäre der medizinische Nutzen der Beschneidung eindeutig, so ginge es bei der ethischen Güterabwägung um die Frage, ob das aktuelle Risiko des Eingriffes dem damit zu vermeidenden späteren Schaden angemessen ist. Bei der Impfung zum Beispiel handelt es sich um eine solche Güterabwägung: Die Integritätsverletzung durch den medizinischen Eingriff wird dadurch legitimiert, dass damit größerer Schaden abgewendet werden kann. Die Eingriffstiefe der aktuellen Handlung muss dabei in einem vertretbaren Verhältnis zur damit gewonnenen Schadensvermeidung stehen. Religiöse Überzeugungen spielen bei dieser Güterabwägung keine Rolle.
Religiöse Überzeugungen oder andere Wertvorstellungen kommen aber dann ins Spiel, wenn Körperverletzungen beim Kind zu dessen Wohl entweder eingefordert oder abgelehnt werden, ohne dass hierfür ein medizinischer Nutzen gegeben ist. Und um diese Fragen geht es in der Debatte bei der medizinisch nicht indizierten Beschneidung.
Aus der Perspektive des Kindes stellt sich folgende individualethische Kernfrage: Inwieweit ist die nicht medizinisch indizierte Beschneidung einem urteilsunfähigen Knaben aus soziokulturellen Gründen (soziales Kindswohl) zumutbar, auch wenn damit seine körperliche Integrität irreversibel in einem höchst intimen Bereich verletzt wird?
Die Debatte um die Knabenbeschneidung wird deshalb so heftig geführt, weil es sich dabei sowohl aus Sicht des menschenrechtlich verbrieften modernen Rechtsstaates als auch aus Sicht bestimmter Glaubensgemeinschaften um eine Handlung mit hoher ethischer und moralischer Eingriffstiefe und Reichweite handelt: Das menschenrechtlich verbriefte Abwehrrecht, einer der zentralsten Grundwerte des modernen Rechtsstaates, steht der religiösen Forderung nach einer Handlung gegenüber, die für bestimmte Vertreter dieser Religionsgemeinschaften im eigentlichen Sinne für die Religionszugehörigkeit existenziell ist.
Insofern stehen sich zwei moralische Grundaxiome gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen. Moderner Rechtsstaat oder Religion? Gibt es nur ein Entweder-oder, stehen sich die Positionen unvereinbar gegenüber. Solch kompromisslose Haltungen können nun aber sowohl das Kindeswohl als auch das friedliche Zusammenleben der Menschen mit unterschiedlichen Moralvorstellungen und Lebensentwürfen gefährden.
Für den modernen Rechtsstaat geht es um den Wert der körperlichen Integrität. Die Eingriffstiefe der Knabenbeschneidung ist deshalb hoch, weil es sich um eine irreversible Körperverletzung in einem höchst intimen Bereich handelt. Doch das Ausmaß der Körperverletzung ist weder lebens- noch gravierend funktionseinschränkend, sondern kann sogar präventiven Charakter haben.
Es stellt sich folgende sozialethische Kernfrage: Inwiefern ist ein Kulturkampf zwischen demokratisch verbrieftem Rechtsstaat und religiösen Gemeinschaften um die faktisch geringe Körperverletzung bei der Knabenbeschneidung angemessen, wenn dadurch der soziale Friede aufs Spiel gesetzt wird?