Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Barn 8 bei Graywolf Press in Minneapolis, USA.
E-Book-Ausgabe 2022
© 2020 Deb Olin Unferth
© 2022 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin Covergestaltung: Julie August unter Verwendung der Fotografie 30 Chickens © Holly Frean / Bridgeman Images.
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ISBN: 9783803143341
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3344 1
www.wagenbach.de
Für Matt
EIN NEST. Bestehend aus 6-Eck-Drahtgeflecht, verzinkt, fünfundzwanzigtausend Trinkventilen, einem Moos aus Futter- und Federstaub. Sechs Meilen Futtertröge in Reihen abwärts, Kolonnen aufwärts. Gestaffelte Ebenen, drei Meter hoch, nach oben zugespitzt wie ein A, das Universalsymbol des Bergs. Hölzerner Dachstuhl, Laufstege aus Sperrholz. Dunkelheit. Plötzliches Licht. Dreihunderttausend prähistorische Augen blinzeln. Der ganze Apparat tickend und surrend und rasselnd wie eine Weltuntergangsmaschine. Darüber das Gurren, Gackern, Singen von hundertfünfzigtausend Vögeln im Morgengrauen.
IN DER SEKUNDE, als Janey aus dem Bus stieg, ahnte sie ihren Irrtum.
Bis dahin (durch Stunde um Stunde, Ort um Ort, während der Tag sich neigte, die Bustür sich stöhnend öffnete und schloss, die Dämmerung kam und in Nacht überging, der Kopf im Halbschlaf vor und zurück kippte, während sie in Chicago, den Seesack auf dem Betonboden abgestellt, auf den Anschlussbus wartete, während sie wieder los- und weiter durch die Dunkelheit fuhren, bis irgendwann die Sonne aufging und der gesprenkelte Tag vorbeihuschte, in der Fensterscheibe das eigene Spiegelbild vor Straßenschildern und Gewerbegebieten) war sie sicher gewesen, dass sie am Beginn einer großen Reise stand. Sie hatte sich herausgeschält aus ihrem früheren Ich, die alte Janey zurückgelassen.
Sie konnte sie fast sehen, die alte Janey, die dort in der Stadt den gewohnten Schulweg ging, als Geist. Sie waren wie siamesische Zwillinge, die getrennt werden: Die eine wird leben, die andere sterben, und wer lebt und wer stirbt, wissen auch die Ärzte nicht, und daher wartet die Welt erst mal ab. Zitternd vor Erwartung (die Staaten werden weiträumiger, das Land flacher, Busch-und-Baum-Dickicht schwindet, Acker reiht sich an Acker, am Straßenrand flitzen die Gottesschilder vorbei) war sie, die neue Janey, aus der Reihe der Mitschüler getreten und davongegangen, und was weiter passierte, war völlig offen. Fast konnte sie zurückschauen und in der Ferne sehen, wie die Reihe ohne sie weiterzog, wie die alte Janey die anderen einholte und ihnen folgte wie eine Kuh.
Jetzt aber, eineinhalb Tage später, stieg sie auf Gummibeinen aus dem Bus die Stufen hinunter, und der Busbahnhof weckte erste Zweifel. Die sauberen Plastiksitze, der antiseptische Geruch, die Ansammlung sehr schlecht gekleideter Leute mit folienumwickelten Koffern, die sich wie die Bestandteile eines riesigen Lunchpakets auf dem Boden stapelten.
Und vor allem – ihr Vater. Nicht da. Sie wusste nicht, wie ihr Vater aussah, aber es stand kein Mann mit anlassangemessener Erwartung und Nervosität an der Tür. Niemand trat von einem Fuß auf den anderen, drehte eine Mütze in den Händen, blickte jeder aus dem Bus steigenden Person ins Gesicht. Oder, andere Version: Niemand stand mit Besitzerstolz mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt, in der einen Hand kopfunter einen Supermarkt-Blumenstrauß in Plastik. Niemand hier war auch nur im Geringsten interessiert an Janeys großer Fahrt. Niemand hier war seinerseits auf großer Fahrt.
Sie hatte nicht erwartet, dass er sie abholte. Er hatte es auch nicht gesagt. Er hatte überhaupt nichts gesagt, hatte nie geantwortet, wenn sie simste (die Dämlichkeit einer SMS unter diesen Umständen) oder anrief (»Äh, hi, hier ist Janey, deine … Tochter«). Janey stellte ihren Seesack auf dem blitzblanken Boden ab und kontrollierte ihr Handy (noch eine Nachricht von ihrer Mutter, die sie ignorierte). Aber insgeheim hatte sie schon erwartet, dass er da wäre.
Am anderen Ende des langen Bands, das diese Busfahrt war, am anderen Ende des Landes ging die alte Janey im selben Moment (um vier war die Schule aus, und bis sechs war noch Debatte) unter dem Baldachin der Baumkronen vom Bahnhof nach Hause. Janey konnte sie fast sehen, wie sie rucksackschwingend an den Stadtreihenhäusern entlangging, die Treppe zur Wohnung hinauftänzelte und rief: »Ma, bist du da?«
Nein, Moment. Die alte Janey war dieser hier eine Stunde voraus. Die alte Janey saß jetzt schon beim Abendessen, einen Fuß auf dem Sitz untergeschlagen, die Gabel mit redenschwingender Geste in der Luft, die Mutter lachend, an den Herd gelehnt. Unterdessen hatte die neue Janey, die jetzt vor einer Reihe Verkaufsautomaten stehenblieb – Selbstbedienungsautomaten, die mittels Schaufelwalze flache Sandwiches in Plastikbehältern und Zigaretten herausrückten – gar keinen Appetit, obwohl sie nicht viel gegessen hatte in dem langsamen, unbequemen Bus (das Unbequeme gestand sie sich jetzt ein, während sie unterwegs noch Fotos von Scheunen, Heu, Häusern, Bevölkerungsangaben zusammen mit allerlei Emojis gepostet hatte, die Entzücken, Belustigung, Überraschung, plötzliches Begreifen und sonstige Gefühle ausdrückten, die sie empfand oder auch nicht). Jesus. Sie hob den Seesack auf und ging hinaus in den kühlen Frühlingsabend.
Janey war fünfzehn Jahre und fünf Tage alt, und seit fünf Tagen wusste sie, wo (zum Teufel) ihr Vater die ganze Zeit gesteckt hatte. Bis dahin war sie mit der alten Samenbankstory abgespeist worden, und Janey hatte sie geglaubt, obwohl es unfassbar war, wie sie so einen Schwachsinn hatte glauben können. Schon als sie alt genug fürs Zählen gewesen war, hätte sie sich ausrechnen können, dass sie kein Reagenzglaskind war. Welche Frau gibt denn mit achtzehn schon auf, in der Hoch-Zeit von Liebe und Abtreibung, und lässt sich künstlich befruchten? Aber Janey hatte ihrer Mutter die Geschichte abgekauft und sich zeitlebens nach einem Vater gesehnt. Dann wurde sie fünfzehn, und ihre Mutter fand, Janey sei jetzt alt genug, um aufgeklärt zu werden: Ihr Vater sei quicklebendig und noch immer in dem Kaff, in dem Janeys Mutter ihn hatte sitzenlassen, als sie schwanger nach New York durchgebrannt war, um ihrer künftigen Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Das Kaff war im südlichen Iowa, einem grauen Land voller Fernfahrerkneipen, überfüllter Gefängnisse und Monokulturen. Janey könne sich glücklich schätzen, dass sie die Gegend nie erblickt habe. Sie dürfe jetzt nur keine lähmenden Elternprobleme entwickeln, die ihr den Rest des Lebens vergällen könnten. Sie sei reif genug, um zu entscheiden, ob sie ihn kennenlernen und den Ort ihrer Zeugung sehen wolle. In dem Fall werde sie, ihre Mutter, persönlich mit ihr hinfahren, wenn das Schuljahr vorbei sei.
Mit anderen Worten, ihre Mutter (dieses Miststück!) hatte gelogen.
Das Schuljahr war noch einen ganzen Monat nicht vorbei, und niemand darf einer Tochter derart lang den Vater vorenthalten. Schon gar nicht fünfzehn Jahre und mehr.
Auf einer Hauptstraße mit künstlich antiken Laternenpfählen ging Janey durch den Ort; die Läden hatten um sieben Uhr abends schon geschlossen. Sie schulterte ihren Sack wie ein Bankräuber und folgte der leuchtenden Straßenkarte ihres Handys. Sie fand die Adresse hinter den Häusern und Rasenquadraten; es war der eine von zwei identischen Wohnblocks aus tristen hellbraunen Ziegeln. Keine Türklingel, sie ging einfach die Treppe hinauf zur Nummer 209 und klopfte. »Hallihallo«, rief sie, mit Kasperstimme, um das Zittern zu überdecken. »Gibt’s da drin ein Bier?« Dämliche Sprüche lagen ihr sonst nicht, aber was soll’s, man muss auch mal eine Ausnahme machen. Sie plüschte kurz ihr Haar auf.
Die alte Janey (das Band der Straße verknüpfte sie miteinander wie ein Draht zwei Dosen oder eine Stille-Post-Runde mit zunehmend verfälschten, zunehmend sinnfreien Nachrichten) wäre jetzt zu Hause in Brooklyn und würde behaupten, sie sei nicht mit Abspülen dran. Die Mutter der alten Janey säße am Computer und würde behaupten, sie sei leider immer mit Abspülen dran. Die Mutter der neuen Janey rief an. Janey hörte das Telefon in der Tasche vibrieren. Sie sah, wie sich der Türknauf von 209 drehte. Das Schloss klickte, und in der Sekunde zwischen dem Klicken und dem Erscheinen ihres Vaters schwappte ein Schwall Hoffnung und Sehnsucht über die neue Janey hinweg, so vertraut und zusammengedrückt, als käme er aus dem innersten Kern ihres Wesens, ein Alt-Janey-Schmerz.
Sie erschrak über die erschrockene Grimasse vor ihr. Sie korrigierte das Erschrecken schnell zu einem Lächeln.
»Überraschung!«, sagte sie und hob die Arme. »Es ist ein Mädchen.«
Er war fred-feuersteinweiß und hatte die Arme und Haltung eines Schlägers.
Sie hörte ihn (ihren Vater?) sprechen: »Du bist früh dran.«
Sie zog eine Scheinschnute. »Hätte ich warten sollen, bis ich dreißig bin?«
Die neue Janey grinste draufgängerisch wie die alte (die alte Janey, die den Mut gehabt hatte, die neue Janey auf den Weg zu schicken, während die Mutter noch in der Arbeit war, ihre Sachen zu packen und zum Abschied aus dem Fenster zu winken) und betrat das Apartment.
Janey saß am einen Ende des Sofas. Ihr Vater am anderen. Selbst in ihrem burschikosen Outfit fühlte sie sich lächerlich feminin, wie eine Invasion von Weiblichkeit in diesem eigensinnig männlichen Apartment. Sie führten ein Gespräch, das wie folgt verlief:
ER: [ihrem Blick ausweichend] Ich dachte, dein Bus kommt erst um acht.
SIE: Macht nichts. Ich geh gern zu Fuß.
ER: Ich wollte dich abholen.
SIE: [manisch nickend und sich umsehend] Wirklich kuhl. Hier lebst du also.
ER: Ist nur vorübergehend. Zwischenlösung.
SIE: Ach ja? Wo willst du hin?
ER: [Blick aufs Handy] Moment. Wir müssen deine Mutter anrufen.
SIE: Wir haben ein Sofa, das irgendwie ähnlich ist. Was machst du so?
ER: Oh. LW.
SIE: [keine Ahnung, was das sein soll] Kuhl.
[Schweigen. Weiteres Nicken.]
Sogar sein Fernseher, fand sie, sah altmodisch aus. Sie hatte nie einen Fernseher gehabt. Ihre Bildschirme waren Monitore unterschiedlicher Größe und Form gewesen. Sie kam sich vor, als sei sie auf ihrer Vatersuche durch die Zeit gefallen und in einem Smithsonian-Diorama gelandet, das so uralt war, dass es schon wieder futuristisch wirkte. Und was noch schlimmer war: Der gefundene Vater sah aus, als wollte er unbedingt weg von hier und alles ausschließen, was in seiner Umgebung passierte. Er hatte jetzt ungefähr so viel Publikum, wie er in einem Tag bewältigte. Die Sache lief nicht, wie sie sollte.
ER: Ein Bier willst du, hast du gesagt?
SIE: Ich bin fünfzehn.
ER: Stimmt. Ich ruf deine Mutter an. [tastendrückend] Es läutet. [einen Finger hebend] Hey, sie ist hier … ja … ja … [Blick auf Janey] Äh, glaub ich nicht … okay … [das Handy hinhaltend] Sie will mit dir reden.
Janeys letzter Satz an ihre Mutter, nachdem diese ihr die Identität ihres Vaters offenbart hatte und Janey ausgerastet war und ihre Mutter angeschrien hatte: wie sie es habe fertigbringen können, sie so viele Jahre anzulügen, sie derart lang von dem Mann fernzuhalten, der nicht mal die Chance gehabt habe, ihr Vater zu sein, was man für ein abartiger Mensch sein müsse, um so was zu tun … – Janeys allerletzter, geschriener Satz an ihre Mutter lautete: »Ich rede nie mehr ein Wort mit dir!« (wie hätte sie es wissen sollen?), und am folgenden Morgen fragte sie ihr Handy: »Wie komme ich günstig von hier nach Iowa?«
Jetzt, auf dem Sofa ihres Vaters (?), verschränkte sie die Arme und blickte trotzig. Ihre Mutter sollte nicht mal ihre Stimme hören.
ER: [das Handy wieder ans Ohr haltend] Ähm, ich sag ihr, sie soll dich zurückrufen.
Er legte das Telefon hin. »Deine Mutter sagt, du sollst was essen.« Er stemmte sich vom Sofa hoch und tappte in die Küche.
Übrigens war jetzt auch klar, warum der Samenspender weiß war: weil ihre Mutter Sex mit ihm gehabt hatte – nicht, weil sie das Kästchen weiß angekreuzt hatte. Janeys Großvater stammte aus Mexiko, und Tochter und Enkelin trugen seinen Namen. Flores. Warum hast du keinen Latino genommen?, hatte Janey immer genörgelt. Auch das war jetzt klar.
»Willst du eine Limo?«, rief er aus der Küche. »Sie hat immer gesagt, du würdest mich schon eines Tages suchen kommen. Hättest du ein bisschen länger gewartet, wäre ich besser untergebracht gewesen.«
»Nein«, rief sie sofort zurück und war schon drauf und dran, ihre Anerkennung zu beteuern – für … für … »Nein, ist doch schön hier. Es ist …« Sie sah sich nach irgendeinem Haushaltsgegenstand um, der gelobt werden konnte. Dann verstummte sie. »Moment – was?«, sagte sie. »Wann?«
Mit einer No-name-Orangenlimodose in der Hand kam er zurück. »Wann was?«
»Wann hat sie immer gesagt?«
»Gesagt? Gestern.«
In ihrem Kopf war ein Dröhnen. »Nein, wann hat sie dir gesagt, dass es mich gibt?«
Er blickte sie verwirrt an. »Sie hat mir immer gesagt, dass es dich gibt. Seitdem es dich gibt.«
Jähe Übelkeit. Auf einmal fiel ihr auf, dass ihre Mutter keineswegs behauptet hatte, er habe es nicht gewusst. Das Dröhnen im Kopf wurde lauter. Sie rang nach Luft. Sie stellte fest, dass sie ihre gesamte mentale Kraft brauchte, um nicht zu weinen. Sie stieß hervor: »Und du bist überhaupt nicht auf die Idee gekommen, mich zu suchen?«
Er räusperte sich. »Na ja, ich …«
Irgendwoher schaltete sich eine Luftreserve ein.
Und in dem Moment stand ihr schlagartig alles sonnenklar vor Augen, die Vergangenheit und eine Ahnung von der Zukunft, die Schwere ihres Irrtums, der ganzen Serie von Irrtümern, von Fehleinschätzungen, nämlich: (1) Er wollte sie nicht hier haben. (2) Er hatte sich die ganzen Jahre vor dem Tag gefürchtet, an dem sie ihn aufsuchen würde. (3) Er hatte Angst vor ihr, seiner Tochter, hatte Angst vor allem Weiblichen. Er war einer von denen, ihr Vater. (4) Dieses Apartment war unvergleichlich schlimmer als ihre Wohnung, und dieses Kaff war unvergleichlich schlimmer als ihre Stadt. (5) Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn lieben oder mögen oder überhaupt kennenlernen sollte, diesen Fremden, der (6) ihr Vater war. (7) Sie war total gekränkt, wütend, (8) (und ja, sehr beschämt), dass sie (9) nicht wusste, wie sie wieder heimkommen sollte.
Wie lang schwiegen sie? Drei Minuten? Zwanzig Sekunden? Sie hielt mit beiden Händen den Kopf.
Er stellte die Limo auf den Couchtisch und setzte sich vorsichtig ans andere Ende des Sofas. »So, Kind«, sagte er schließlich, »wie lang bleibst du?«
Sie hob den Kopf. In dem Moment spürte sie (wie lang sie bliebe? So durchsichtig und feig) den Wert des entzweigebrochenen Lebens, auf der einen Seite die alte Janey, die zurückgeblieben war, und auf der anderen die neue, die gegangen war; sie rauschten aneinander vorbei, und der Wert der beiden Leben wechselte die Seiten – das eine, in das sie sich kopfüber hineingestürzt hatte, fiel mit rasender Geschwindigkeit in die Tiefe, unaufhaltsam, und das andere, das alte Leben, schnellte jäh in die Höhe. Sie spürte das Vinyl unter sich (natürlich besaß ihre Mutter kein potthässliches Plastikteil wie dieses und würde nie so was besitzen), sie roch seine alten Klamotten, die Kakerlaken in den Mauern, und genau in diesem Moment (sie spürte es wie ein einrastendes Schloss) begann die Abstumpfung (die allerdings Jahre andauern sollte), denn sie packte nicht noch am selben Abend ihre Sachen und marschierte zum Busbahnhof zurück, was das Richtige gewesen wäre. Sie blieb, wo sie war, denn sie würde dafür sorgen, dass dieser Mann sie kennenlernte; zumindest würde sie ihn dafür büßen lassen, dass er sie nicht kannte.
»Die frohe Botschaft, Dad«, sagte sie und trat gegen den Seesack zu ihren Füßen. »Für immer!« (Wie hätte sie es wissen sollen?)
Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Vielleicht zuckte er ganz leicht zusammen. Er rutschte vor zur Sofakante, seine Hand legte sich auf den freien Platz zwischen ihnen – um sie zu umarmen? ihr eine runterzuhauen? ihr den Weg zur Tür zu zeigen? Sie beugte sich ihm entgegen. Sie war auf alles gefasst. Er hatte etwas in der Hand. Rechteckig.
Es ist nie ein einzelner Fehler, der über das weitere Schicksal entscheidet, obwohl man uns dazu erzieht, so zu denken, angefangen bei der Bibel – ein einziger falscher Schritt, und du bleibst draußen im Regen, während die Arche ohne dich davonzieht, oder du wanderst für die nächsten Jahrzehnte durch die Wüste. (Janey hatte eine katholische Mädchenschule besucht, bis sie zehn war und sich endlich durchsetzen konnte und an eine Charterschule wechseln durfte.) In Wahrheit haben wir viele, viele Chancen, Scheiße zu bauen. Und wenn wir draufkommen, wie gebaute Scheiße sich reparieren lässt, tun wir’s gleich noch mal.
»Na schön«, sagte ihr Vater, und sein Gesicht zuckte (Lächeln oder Stirnrunzeln? Sein Gesicht war von einer Art, dass man es nicht genau sagen konnte). »Schauen wir uns kurz die Spielergebnisse an.« Mit der Fernbedienung schaltete er den Fernseher ein.
Nein, es war nicht ihr einziger Fehler, aber sicher ihr größter – der Große Fehler, so wie anderen Leuten große Lieben, große Ideen oder große Tragödien widerfahren. Neben diesem Irrtum konnten alle sonstigen Fehler einpacken, sei es Mord oder Ertrinken in einem Eimer oder die Chance verpassen, einem Politiker das Handwerk zu legen, der sich anschickt, Millionen zu foltern – was immer sie im weiteren Verlauf ihres Lebens anstellen könnte, ginge auf diesen Moment zurück, den Nadir, das Alpha.
Sie lehnte sich wieder zurück, die »Spielergebnisse« flackerten über ihr Gesicht. Sie dachte an die alte Janey, ihr anderes Ich, das originale, das geblieben war, fünf Staaten entfernt, in einem Brooklyner Reihenhaus schimmern. Sie konnte sie fast sehen. Diese Janey saß krumm vor ihrem Laptop und kaute an ihrer Arbeit über Malcolm X, und ihre Mutter brachte ihr eine Schale Eis, weil es Zeit dafür war. Die Eis-Zeit.
SEIT ZWEI MONATEN lebte sie jetzt hier mit ihrem Vater, zwei Monate, von denen ihr jede Minute zuwider war, doch sie war zu stolz, um ihre Mutter anzurufen und zu sagen, dass sie heim wollte. Sie wusste, dass sie miteinander telefonierten, ihre Mutter und ihr »Vater«, und sich Gedanken machten, wie sie Janey still und leise nach Hause zurückbrächten, – das wusste sie deshalb, weil ihre Mutter anschließend lange Nachrichten hinterließ, in denen sie mitteilte, dass sie miteinander geredet hätten und ob Janey eine Ahnung habe, was für eine Heidenangst sie ihr mit ihrem wortlosen Verschwinden eingejagt habe? Ob sie sich bewusst sei, welches Glück sie gehabt habe, dass sie heil angekommen sei, ohne gekidnappt oder vom Lkw überfahren zu werden oder mit dem falschen Bus in Alaska zu landen?
Janey und ihr Vater lebten in diesem Apartment wie Fremde, bewahrten ihre Sachen in Plastiktüten auf und ernährten sich von Fertiggerichten mit Ketchup in der Küche. Ein paarmal bemühte sie sich, »Kontakt« herzustellen. Zog ihr Minischach heraus (an ihrer Schule war sie im Schachclub gewesen), stellte die Figuren auf und fragte, ob er Lust auf ein Spiel habe. Sie führte ein Mülltrennungsprogramm für das Apartment ein, Plastik und Papier in einen Sack, Restmüll in einen anderen, ertappte ihn aber dabei, wie er alles in denselben Container warf.
Nie forderte er sie auf zu gehen. Bald las sie den TV Guide (der jede Woche in Papierform kam) und schaute sich alles an, was im Fernsehen kam. Er arbeitete irgendwas im Auftrag des US-Landwirtschaftsministeriums, als irgendwas in einem Geflügelverarbeitungsbetrieb, konkret: Er inspizierte Leichen von früh bis spät. Sie schlief bis mittags in dem Zimmer, das er für sie »eingerichtet« hatte – Luftmatratze auf dem Boden –, und danach schlich sie im Apartment herum, bis er heimkam. Sie durchforstete seine Schränke, Schubladen, klebrigen Küchenkästen, auf der Suche nach was? Beweisen. Nicht nur für sein Versagen als Vater, sondern als Mensch insgesamt, und davon gab es reichlich: Seine riesigen, ausgebeulten T-Shirts, den rostigen Nagelclip, abgetretene Schuhe, abgelaufene Dosensuppen, die totale Abwesenheit von Büchern, von Fotos an der Wand. Jeden Nachmittag um 16:50 Uhr kam er zurück, nach Fleischabfällen stinkend, und brachte eine Tüte von immer demselben billigen IHOP-Lokal mit denselben Gerichten von der Speisekarte für sie beide. Er hatte Milchbehälter aus Plastik, die mehrere Liter fassten, mit Wasser gefüllt im Kühlschrank stehen; daraus trank er zum Essen.
Ihre Mutter hinterließ täglich Nachrichten. Ob Janey es für richtig halte, einfach zu schwänzen? Ob sie wisse, dass ihre Malcolm-X-Arbeit fällig sei? Ob sie noch wisse, dass nächste Woche der Debattierwettbewerb auf Regionalebene sei, auf den sie sich so lang vorbereitet hatte, und ihr Debattiercoach sei … Also sie habe den Schuljahresabschluss vermasselt, ob sie stolz auf sich sei?
Sie beobachtete ihn, wie er gebückt am Spülbecken stand oder mit zittrigen Fingern Plastikteller aus Küchenkästen nahm. Sie fragte sich, was ihre Mutter an dem Typen gefunden hatte. Und dann fragte sie es sich nicht mehr, denn offensichtlich hatte ihre Mutter nichts an ihm gefunden, sonst wäre sie nicht gegangen und hätte Janey nicht die ganzen Jahre von ihm ferngehalten.
Die alte Janey hatte sich, soweit sie wusste, selten mit einem Erwachsenen gestritten, doch die neue Janey hatte ein Mundwerk und sagte, was ihr einfiel, um ihren Vater zu ärgern oder zu verletzen oder überhaupt ein Wort aus ihm herauszukitzeln. Die neue Janey und der pflichtvergessene Vater hatten einige spektakuläre Auseinandersetzungen. Einmal verbarrikadierte sie die Tür. Einmal warf sie seine Klamotten durchs Fenster auf den Parkplatz, wo sie wie Farbkleckse auf dem heißen Asphalt liegen blieben, bis er schließlich hinunterging und sie einsammelte. Er pickte jedes Stück mit einer langen Fleischgabel auf und ließ es in eine Tüte fallen, wie ein verurteilter Straftäter, der müllsammelnd seinen Sozialdienst ableistet.
Ach, warum war sie von zu Hause fortgegangen? Aber war es nicht verzeihlich – eine Tochter möchte doch wissen, wer ihr Vater ist, oder? Man sucht. Man fährt herum.
Sie sah ihr anderes Ich, den imaginären Zwilling, die alte Janey, die Treppe zur Straße hinunterspringen und dabei rasch einen High five mit dem Hausmeister austauschen (dieses Detail fügte sie hinzu, denn geredet hatte sie eigentlich kaum mit ihm, aber ihr New Yorker Ich wurde mit der Zeit immer cooler und netter, als die echte Janey je gewesen war).
Die Nachrichten ihrer Mutter wurden noch länger. Sie erzählte, wie sie in dieser Kleinstadt in Iowa aufgewachsen war, wie ihr Vater als Jugendlicher in die USA gekommen war, in der Landwirtschaft gearbeitet hatte, US-Bürger geworden war und seine (weitgehend gescheiterte) Mission darin gesehen hatte, Farmarbeiter in verschiedenen Landesteilen gewerkschaftlich zu organisieren. Monatelang war er unterwegs, kam für ein paar Wochen zurück und ging wieder, bis er eines Tages nicht mehr wiederkam. Seine Frau arbeitete in der Landwirtschaftsverwaltung, sprach Englisch und erzog ihre Tochter dazu, keinen Mann zu lieben, den es in die Ferne zog. Doch Janeys Mutter zog es selbst in die Ferne, sie war eine Frau mit der Sprache ihrer Mutter und dem Herzen und Namen ihres Vaters. Im fünften Monat schwanger, mit fast neunzehn, packte sie ihren Koffer und schleppte ihn bis nach New York, allein. Sie würde, schrieb sie, Janey ein Flugticket kaufen, wann immer sie bereit sei. Sie käme selbst mit dem Flugzeug, um sie abzuholen. Sie werde sie nicht zwingen, wolle sie nicht drängen, aber sie liebe Janey und vermisse sie, und es tue ihr leid …
Inzwischen war Juli und die Mückenplage derart schlimm, die Luftfeuchtigkeit derart hoch, dass Janey kaum noch das Apartment verließ. Das Eingeschlossensein machte sie und ihren Vater noch verrückter. Sie war so einsam, dass sie glaubte, ihre Mutter rufen zu hören. Ob es ihre Schuld sei, dass sie mit dem Trampel geschlafen hatte?, schien sie zu fragen. Immerhin sei Janey dabei herausgekommen.
Eines Abends hatte ihr Vater seit Stunden kein Wort gesagt, und Janey war nahe daran auszurasten. Sie kam aus der Küche, wölbte die Hände vor dem Mund und schrie: »Ist wer zu Hause?«
Er blickte kurz auf, dann zurück auf den Fernseher.
Sie war maßlos wütend. Sie packte sein Handy, das auf dem Tisch lag, was erst eine Indiskretionsgeste war, dann, als ihr einfiel, dass sie die PIN nicht kannte, eine Drohung. Sie rannte zum Spülbecken, drehte das Wasser auf und hielt das Telefon einen Zentimeter neben den Strahl. »Gib das her«, brüllte er. Er sprang auf, und aus einem seltenen Bedürfnis nach Heimzahlung heraus griff er nach ihrem Handy auf dem Couchtisch, ließ es auf den Boden fallen und hob den Fuß. Beide hielten entsetzt inne. Dann: Sie tunkte. Er stampfte.
Festnetz gab es nicht. Jetzt hatten beide kein Telefon mehr.
An diesem Abend schaltete er den Fernseher aus, und sie schlichen telefonlos durch die stillen Räume, gemeinsam einsamer denn je. Durch den langen Atem der Klimaanlage drang Grillenzirpen. Janey setzte sich aufs Sofa, die Arme um die Beine geschlungen. Er ging in sein Schlafzimmer und schloss die Tür.
Als er am nächsten Morgen herauskam, saß sie noch immer auf dem Sofa und wartete auf ihn. Sie folgte ihm in die Küche und zeterte: »Unfassbar, dass ich immer noch hier bin, oder? Du hast keine Ahnung, wie du mich wieder loswerden sollst. Nicht so leicht wie wegrennen, stimmt’s?«
»Ich wüsste sehr gern, wie ich dich wieder loswerde!«, sagte er schließlich, die Arme schützend um den Kopf gehoben. »Ich habe ein wildes Tier in der Wohnung. Warum gehst du nicht einfach wieder nach Hause?«
Sie hielt inne. Seitdem sie hier war, hatte er sie nie aufgefordert zu gehen. Diesen einen nichtgesagten Satz hatte sie als Beweis für etwas genommen, so dünn es auch sein mochte, und jetzt war er gesagt. Geh. Ich wollte dich nie.
»Weißt du was?«, schrie sie ihn an. »Du wirst mich nie wieder los!« (Wie hätte sie es wissen sollen?) Sie stürmte aus der Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.
Erst rannte sie, dann wurde sie langsamer. Sie sehnte sich dermaßen nach ihrer Mutter, dass sie fast meinte, sie berühren zu können. Sie sah ihre Gestalt zurückweichen.
Ihre Mutter! Telefonlos, hatte sie seit gestern ihre Stimme nicht mehr gehört. Wie sehr hatte Janey sie verletzt, indem sie einfach gegangen war, nicht antwortete und nicht zurückrief und sich überhaupt aufführte wie die schlimmste Tochter, die man zur Welt gebracht, der man sein Leben gewidmet haben konnte. Wie recht sie gehabt hatte, mit Janey im Bauch aus diesem Kaff hier abzuhauen, wie mutig sie gewesen war, als sie sich auf den weiten Weg in umgekehrter Richtung gemacht hatte. Dabei war sie ein Kind gewesen, nicht viel älter als Janey jetzt, und sie war aus Liebe zu ihrer ungeborenen Tochter gegangen, während Janey aus Zorn davongelaufen war, aus Zorn auf ihre Mutter.
Janey rannte zum Shop Stop, um vom letzten Münztelefon dieses Planeten (das natürlich hier in diesem Dreckskaff stehen musste) ihre Mutter anzurufen. Für ein paar zerknitterte Scheine besorgte sie sich Kleingeld. (Wie war es so weit gekommen? Dass sie nicht mal mehr ein Telefon hatte? Und ihre gesamten Ersparnisse draufgegangen waren?) Ihre Mutter hob nicht ab, und Janey hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox. »Hey, ich bin’s.« Sie achtete auf einen ausgeglichenen, gleichmäßigen Tonfall, um nicht zu verzweifelt zu klingen – dafür sorgte der letzte Rest Stolz, der sich noch nicht abgeschält hatte. »Ruf mich an, wenn du das hörst.« Sie hinterließ die Nummer des Münztelefons.
Sie legte auf und setzte sich auf einen Parkplatzpoller aus Beton einen Meter vom Telefon entfernt und wartete in der Sommersonne. Sie hatte alles gesehen, was sie hatte sehen wollen. Sie hatte gesagt, was sie hatte sagen wollen, mehrfach. Sie war fertig. Sie wollte heim. Ihre Mutter würde ihr ein Ticket für den nächsten Flug kaufen, und Janey würde nicht mal mehr im Apartment vorbeischauen, um ihre Sachen zu holen. Nur noch ein paar Stunden. Mit nichts als den Kleidern, die sie trug, würde sie heimkehren. Notfalls zu Fuß zum Flugplatz laufen, abheben, übers Land davonfliegen und dieses Arschloch von Vater nie wiedersehen. Sie wartete. Das Telefon läutete. Es hatte nicht mal zwanzig Minuten gedauert. Sie stürzte hin.
»Janey?«, sagte eine Frau, die nicht ihre Mutter war.
»Judy?«, sagte Janey. Judy war eine Freundin ihrer Mutter, eine Nachbarin. »Judy, wo ist meine Mom?«
»Janey, Gott sei Dank. Wir haben andauernd versucht, dich und deinen Vater zu erreichen. Wir wollten schon die Polizei verständigen.«
»Unsere Handys sind kaputt.«
»Beide?«
»Ich …«
»Janey, hör zu. Es hat einen Unfall gegeben. Wo bist du?«
»Ein Unfall?«, sagte Janey.
Ihre Mutter war auf der Stelle gestorben. Im anderen Fahrzeug war nicht mal jemand verletzt.
Also flog Janey tatsächlich an diesem Tag nach Hause, allerdings nicht wie erwartet. Ihr Vater fuhr sie zum Flughafen, murmelte Entschuldigungen, die sie beim Lärm des Motors nicht hörte, sie sah nur am Rand ihres Gesichtsfelds die verhassten Lippen sich bewegen. Ihr Vater, der sie durch die Sicherheitskontrolle begleitete, reichte ihr ein paar Zwanziger, damit sie am anderen Ende mit dem Taxi fahren konnte; das Geld warf sie in der Damentoilette in den Mülleimer. Sie wollte nichts von diesem Mann. Sie brachte die Totenwache hinter sich, die Beerdigung. Leute stellten Teller mit Essen vor sie hin und nahmen sie wieder weg. Leute traten in ihr Gesichtsfeld, berührten ihre Schultern, blickten ihr ernst in die Augen, bewegten den Mund. Sie war immer noch eingefroren, hatte auch zwei Wochen später nicht zu tauen begonnen, als das Jugendamt sie umdrehte und zurückschickte – zu ihrem Vater. Er war schließlich ihr Vater, und er hatte gesagt, er nähme sie auf. Sie hatte zum Zeitpunkt des Unfalls bei ihm gelebt (dieser Umstand erwies sich als Todesurteil: sie hatte bei ihm gelebt), und sie stimmte zu, notgedrungen, es gab ja sonst niemanden, keine weiteren Angehörigen. Im Testament ihrer Mutter war Janeys Großmutter genannt, die jetzt auf dem Land in einem Pflegeheim war; Janey sah sie zweimal im Jahr für jeweils einen Tag. Ansonsten gab es noch ein paar Verwandte in Mexiko, die Janey nie gesehen hatte. Warum war ihre Mutter nie nach Mexiko gefahren, um sie bekanntzumachen? Also kehrte sie zurück, erstarrt und wortkarg. Weder sie noch ihr Vater schienen eine Idee zu haben, wie es mit der Schule weitergehen sollte, daher ging sie nicht. Sie war nicht bereit, zusammen mit den Provinzlern diese Provinzler-Highschool zu besuchen, solange sie nicht dazu gezwungen wurde. Dann erschien ein Sozialarbeiter und zwang sie. Ihr Vater meldete sie in der lokalen Highschool an, in der Elften, der vorletzten Klasse.
Die ersten paar Jahre war Janey derart niedergeschmettert von Trauer und Schuld und dem Gefühl völliger Ausweglosigkeit, dass sie aus ihrem erstarrten Zustand nicht herausfand, ohne zu explodieren. Ihr Ziel war es, so abwesend wie möglich zu bleiben – darin ganz der Vater. Aber was hätte sie sonst tun sollen?
Dass sie den Rest ihres Lebens für einen kindischen Fehler büßen müsste, den sie mit fünfzehn gemacht hatte und der jedem hätte passieren können, schien ganz schön brutal. Wäre sie in New York gewesen, hätte sie sicher niemand gezwungen, bei einem Vater zu leben, dem sie nie begegnet war, der nie was von ihr hatte wissen wollen, der nie Unterhalt gezahlt hatte. Sicher hätte man sie einer Freundin ihrer Mutter ans Bein gebunden. Andere Leute bauen ebenfalls Mist, wenn sie fünfzehn sind, und dann ist es nicht gleich ein Desaster. Dann müssen sie halt mal eine Klasse wiederholen oder in den Winterferien abarbeiten, was sie kaputtgemacht, gestohlen oder zu Schrott gefahren haben, oder sie kriegen einen Monat lang Wochenendhausarrest oder müssen einen Entzug machen. Janeys Fehler hingegen war katastrophal.
Es war dieses Verständnis ihres Fehlers, das zur Entwicklung des Spiels führte, eines Spiels mit ernstem Kern. Es bestand darin, sich die alte Janey auszumalen, das Original, und das Leben, das sie mit ihrer Mutter führte – in dem sie nicht abgehauen war, weshalb ihre Mutter an jenem Tag nicht Auto gefahren war (theoretisch) und daher noch lebte, in dem alles zwischen ihnen und rings herum genauso war wie immer. Was die alte Janey, das Original, die echte, in diesem Moment wohl tat?
DAS FRAGTE SIE SICH an ihrer neuen Highschool, wo die Lehrer halbherzigen Unterricht mit halbherzigen Lehrbüchern machten, wobei die alte Janey diese Gleichungen natürlich schon zwei Jahre früher gelernt hatte und der neuen Janey das Thema Schule scheißegal war. Die neue Janey hatte eine lange Liste mit Dingen, die ihr scheißegal geworden waren: das Debattierteam, der Schachclub, Clubs jeglicher Art, Mitschüler jeglicher Art, Sport und alle Unterkategorien, das College, die Zukunft im Allgemeinen. Nach dem ersten Monat ließen die Lehrer sie in Ruhe, die Mitschüler nach dem zweiten. Die Kunde von ihrem Schicksal verbreitete sich, und fortan ging ihr die ganze Schule aus dem Weg. Vom Tod gezeichnet, von der Großstadt geprägt, nur zu einem Viertel Latina, aber auch nicht mittelwestweiß. Sie hätte sich einen Platz schaffen können, wenn sie sich bemüht hätte, aber sie bemühte sich nicht. Wie in einer Blase ging sie durch die Korridore, im Klassenzimmer verdrückte sie sich in die letzte Reihe. Ihre Jungfräulichkeit gab sie schnell und ohne Umschweife auf (vier Monate nach ihrem Sechzehnten, mit einem Supermarktmitarbeiter). Unterdessen war die alte Janey, das Original, in ihrer Original-Highschool umgeben von Kumpeln – die der neuen Janey anfangs jeden Tag geschrieben hatten, bald aber seltener, weil auch Janey seltener schrieb, und innerhalb eines Jahres schlief die Kommunikation komplett ein, weil beide Seiten nicht recht wussten, was sie schreiben sollten.
Sie fragte sich, was die alte Janey in ihrem letzten Schuljahr wohl trieb. Die neue Janey (»neu und verbessert« war ein kleiner Scherz, den sie sich gönnte) hatte nur ein halbes letztes Schuljahr. Sie hörte früher auf, machte die Prüfungen im Dezember zusammen mit den Schwachsinnigen, die im Vorjahr durchgefallen waren, brachte es schnell hinter sich und trat einen Job bei einer riesigen Spedition an (immerhin nicht in der Landwirtschaft). Sie machte immer dieselbe, gleichbleibende Arbeit, neun Stunden am Tag, vier Tage die Woche; während im ganzen Land die Leute per Mausklick rosa Rucksäcke, Lärmschutzkopfhörer, Discount-T-Shirts, Holzlöffelsets bestellten, war es Janeys Job, dafür zu sorgen, dass Lkws durch die Nacht über Land fuhren, um diese Waren mit der dem Staatsbürger zustehenden Priorität auszuliefern. Die neue Janey betrachtete die alte Janey, die sich mit ihren Freundinnen bei Colleges bewarb und mit ihrer Mutter durch Innenhöfe und gotische Gebäude spazierte und Probevorlesungen hörte, bei den »Spitzenoptionen« (Option war jetzt ein infizierter Begriff, er hatte ihr einen hundsgemeinen Streich gespielt) ebenso wie bei den »sicheren Kandidaten« (auch das, Sicherheit: verbranntes Wort).
Sie wunderte sich, als sie das Wahlalter erreichte. Als ihre Mutter in dem Alter gewesen war, hatte sie diese Stadt mit Janey im Bauch hinter sich gelassen, um ihnen beiden ein reicheres Leben zu ermöglichen, und jetzt war Janey wieder da, unbereichert; sie besaß nicht mehr als ihre Mutter eine Generation vor ihr – ein Highschool-Zeugnis und einen falschen Ausweis –, aber was ihr fehlte, war die Inspiration, um dem Geist ihrer Mutter zu folgen.
Unterdessen bestieg die alte Janey ein Flugzeug (die neue Janey verfolgte die alte im Geist, sah sie durch die Flure des JFK-Flughafens gehen) und entflog in einen Vor-College-Sommer in … Marokko!, um dort Französisch und (endlich: nach jahrelangem Drängen ihrer Mutter) Spanisch zu lernen, zwei Sprachen in vier Monaten plus ein paar schmückende Phrasen Arabisch, um die Architektur eines fremden Landes zu durchstreifen, sich zum ersten Mal zu verlieben und vieles mehr. Die neue Janey sann über Intelligenz und Leidenschaft der alten nach.
Die neue Janey, die jetzt »diese Janey« war oder einfach »Janey« oder »Supergeschmack, das muss man ihr lassen« (privater Scherz, wenn sie mit Männern, gelegentlich auch einer Frau nach Hause ging, die sie online kennenlernte), wohnte immer noch bei ihrem Vater. Wenn sie nicht den Transport eiliger Güter für die Öffentlichkeit begleitete, saß sie auf demselben Sofa, auf dem sie schon am ersten Abend gesessen hatte, neben ihrem Vater und schaute sich mit ihm Football an, weil ... Wer weiß, warum. Er reichte ihr Styroporschachteln mit gebratenem Fleisch, Krautsalat als »gesunde Beilage« für seine Tochter und riesige durchweichte Behälter Diätlimonade. Dies, während die Originaljaney, die eigentlich die reale Janey hätte sein sollen, ihr erstes Jahr an der Uni mit perfektem Notenschnitt abschloss, mit ihren drei besten Freundinnen in einer WG in einem der cooleren Stadtviertel lebte und jede Menge Spaß hatte. Abends spazierte die alte Janey über Brücken und durch Straßen, die Gehsteige entlang. Tagsüber folgte sie ihren Träumen, die nicht diffus waren, sondern klar und scharf, auch wenn die neue Janey sie nicht genau erkennen konnte. Die alte Janey, weltgewandt und dennoch romantisch, hatte keine Mühe, sich auf den Gemeinschaftsgeist einzuschwingen, der bei jeder Notlage die Stadt erfasste – bei Hurrikanen, Netzausfällen, jedem Krieg, der mit schwarzen Fingern nach den Rändern der Stadt griff, jedem Anlass, der die New Yorker auf die Straßen trieb. Und gleichzeitig sah sie immer noch wöchentlich ihre Mutter. Sie trafen sich bei Vernissagen und speisten frühlings unter Sonnensegeln in Straßencafés, die Mutter Weisheit von sich gebend, während Janey so tat, als hörte sie kaum zu, in Wahrheit aber begierig jedes Wort aufsog.
Am meisten interessierten Janey die möglichen Schnittstellen der beiden Janeys. Das war ein Spiel. Was, zum Beispiel, wenn die alte Janey und die neue gleichzeitig dasselbe Wort sagten? Was, wenn beide Janeys gleichzeitig, 2:04 Zentralzeit/3:04 Östliche Zeit, hey sagten, oder gesagt hätten? Oder synchron denselben Namen? Sie sagte die Namen der Männer, mit denen sie sich traf – »Bill«, »Shorty«, »Bus« –, sagte sie ein-, zweimal extra, obwohl sie bezweifelte, dass die Originaljaney einen Mann namens Bus kennengelernt, geschweige denn mit ihm geschlafen hätte. Eine Frau, »Vicky«, mit langem schwarzem Haar. Sie flüsterte ihr den Namen ins Haar, drei Mal, »Vicky, Vicky, Vicky«, um der Originaljaney drei Extrachancen zu geben, in Verbindung zu treten.
Sie dachte es jeden Abend, wenn ihr Vorgesetzter seinen Restkaffee in den Ausguss leerte. »Nacht, Manny«, sagte Janey. Und während Manny ihr zuwinkte und ging, sang sie den Namen ein paarmal halblaut vor sich hin, »Manny, Manny, Manny«, als riefe sie ihn der anderen Janey zu, damit die andere auf ihrer überfüllten, fernen Insel jemanden ausfindig machen konnte, der so hieß, und auf diese Weise eine Verbindung zwischen ihnen herstellte.
»Ist noch was?«, fragte Manny und streckte noch einmal den Kopf herein.
Es war das Gegenteil von Science-Fiction. Es ging ihr nicht um Alternativwelten, in denen eine winzige Handlungsabweichung dazu führt, dass die parallelen Leben auseinanderbrechen und sich von da an in unterschiedliche Richtungen bewegen. Das hatte Janey ja hinter sich und litt jetzt unter den Folgen. Es ging um die umgekehrte Version: Man macht eine einzige Sache anders, und das Leben bleibt exakt gleich.
Es passiert bestimmt andauernd. Denken Sie nur an die immergleichen Handlungen, die man irgendwo auf der Welt ausführt. Alles, was man sich irgendwo von irgendwem gefallen lässt. Alle Schuhe, die man sich an- und auszieht. Alle Idioten, denen man hallo sagt. Alle Lügen, die man den Leuten auftischt, damit sie einen mögen. Alle Flure, durch die man geht, alle Gelegenheiten, bei denen man den eigenen Namen schreibt. Denken Sie an den Quatsch, den man den ganzen Tag von sich gibt wie ein Lied in Dauerschleife. Gesagte Sätze könnten herbei- und wieder wegflattern, sich treffen und trennen und wiedertreffen. So gesehen, sind die meisten Leben praktisch identisch.
Sie dachte an diesen einen Abend auf dem Sofa ihres Vaters, im Fernsehen eine Talkshow, sie mit dem Laptop auf dem Schoß und der JobLizard-Seite offen. Manny war weg, gekündigt oder in einer anderen Abteilung oder tot umgefallen oder in eine andere Stadt gezogen, nachdem er, am letzten von sechs Dienstagen in Folge in einem Motel hinter Ausfahrt 67, den Vorschlag gemacht hatte, seine Frau zu verlassen, und Janey gelacht hatte. Im Winter hatte sein Nachfolger sie gefeuert – »verhaltensbedingt«, wegen Unbotmäßigkeit –, und jetzt scrollte sie sich durch die Stellenausschreibungen, durch alle denkbaren Scheißjobs, für die sie infrage kam, eine ungelernte, ungebildete Frau, zwanzig Jahre alt, die mal im Schachclub gewesen war, im Debattierclub, die …
Es gab natürlich noch ein drittes Leben, das sie schon mal erwogen hatte; jetzt fiel es ihr wieder ein: Darin wäre Janey tot. In diesem dritten Leben hätte sie sich nicht auf die Dreißig-Stunden-Busfahrt gemacht. Sie hätte ihren Vater nie kennengelernt. Er wäre ein Rätsel in ihrem Herzen geblieben. (Wär das so schlimm gewesen?, fragte sie sich mit einem Blick auf ihn, die Schnecke. Auf eines immerhin konnte man sich verlassen: dass er da war, mit Hamburger und Limo auf dem Sofa.) Stattdessen hätte sie an besagtem Tag auf dem Highway mit ihrer Mutter im Auto gesessen, und sie wären gemeinsam auf der Brücke gestorben. (Wohin war ihre Mutter unterwegs gewesen? Darüber hatte Janey sehr oft nachgedacht und war nie zu einem Ergebnis gekommen. In der ganzen weiteren Umgebung gab es nur Ikea.) Wäre sie an jenem Tag zusammen mit ihrer Mutter gestorben, würde die Welt von beiden Janeys schweigen. (Schlimm?)
Sie war am unteren Ende hunderter Stellenangebote angelangt. Ihr Vater reichte ihr eine Schachtel Pommes. Dann warf er ihr ein Papier auf die Tastatur. Es war ein Prospekt, dreifach gefaltet. »Hab ich mitgenommen«, sagte er. »Im Pausenraum war ein ganzer Stapel davon.«
Sie griff danach. Auf der Vorderseite ein Bild von lächelnden, hässlichen weißen Menschen in Uniform. »Was ist das?«
»Nichts. Hab ich für dich mitgenommen.«
»Du brauchst nichts für mich mitnehmen.« Sie steckte den Prospekt zwischen die Sofapolster.
»Deine Mutter hätte sich gewünscht, dass du was aus dir machst.«
»Hätte sie sich gewünscht«, sagte Janey, zog den Prospekt wieder heraus und las von der Vorderseite ab: »dass ich eine Legehennenbetriebsprüferin aus mir mache? Was ist das überhaupt für ein Scheiß?«
Manchmal, wie jetzt, stellte sie sich die tote Janey vor, die mit ihrer Mutter bei dem Autounfall »tragisch« ums Leben gekommen war. Sie stellte sich vor, wie die tote Janey aus der Höhe auf beide Janeys hinabblickte, die Nichttote in New York, die andere Nichttote in Iowa. Die tote Janey schwebte hoch über ihnen, eine Überjaney sozusagen, die jetzt, als die neue Janey in Iowa »Legehennenbetriebsprüferin« sagte, ein Wort, das der alten Janey wohl kaum begegnet wäre, in den Geist der neuen Janey blicken und sehen konnte, dass deren Gedanken fünf Sekunden zuvor, als ihr Vater das Wort Mutter ausgesprochen hatte, ins Stocken geraten waren. Die Überjaney konnte das Wort Mutter quer über Janeys Geist geschrieben sehen, wie aufgebügelt. Und vielleicht konnte die Überjaney die alte Janey in New York sehen, und nur vielleicht hatte auch sie genau in diesem Moment das Wort Mutter im Sinn, weil, sagen wir, ihre (ihrer beider) Mutter eben nach Hause gekommen war, atemlos, den Regenmantel abwarf und sich sofort in eine Geschichte stürzte, und die alte Janey blickte grinsend auf. Die neue Janey fragte sich flüchtig, ob die Gedankenüberlappung zählte, ob die Überjaney auch eine derart dünne Verbindung zwischen ihnen wahrnahm, eine, die gleichzeitig stark und zart war wie ein Spinnennetz, der elementarste Gedanke, gewiss der erste Gedanke des Säuglings, bevor er ein Wort dafür hat: Mutter.
»Es ist regelmäßige Arbeit«, sagte ihr Vater. »Sie vergeben Stipendien. Du kriegst eine Ausbildung.«
»Kommt nicht infrage, dass ich dasselbe mache wie du.«
»Das mach ich ja gar nicht. Du entwickelst dich weiter.«
»Ich bin entwickelt genug, scheiß drauf.«
Aber vielleicht zählen Gedanken ja doch? Gedanken, die mit Lichtgeschwindigkeit vorbeisausen – sind Gedanken wie Licht? – und von so viel anderem begleitet werden. Gedanken sind wie Netze auf dem Meeresgrund, die Materie und Missmut und Muscheln und Mist mitschleppen. Sie sah sich den Prospekt an. »Diese ganzen Eignungen, die sie da verlangen, die hab ich nicht.«
»Lässt sich umschiffen. Ich bin mit der Dame bekannt.«
»Welcher Dame? Du kennst doch keine Damen.«
»Sie sagt, sie gibt dir einen Job.«
»Eine Dame. Deine neue Freundin?«
»Ha ha.« Er räusperte sich. »Sie hat deine Mutter gekannt.«
Nachmittagslicht, das es nicht durch die Jalousien schaffte, Sieg oder Pseudosieg im Fernsehen, vom Publikum beklatscht, lächelnde Gesichter auf dem Schirm, freudig oder pseudofreudig erhobene Hände, die Luft rings um Janey voller Sauerstoff und Ionen, Ozon, Staub.
»Deine Mutter hat auf sie aufgepasst, als sie Kinder waren.«
An diesem Tag spürte Janey die Bedeutung jedes einzelnen Wortes, das sie sagte, glitzern. Sie spürte die Überjaney, die beobachtete.
»Du musst natürlich die Schulung machen. Dauert aber nur vier Tage.«
Sie war sicher, dass es passierte, dass jeden Moment ein Wort die beiden Janeys, die alte und die neue, vereinen konnte. Beide öffneten den Mund, um eine Frage zu beantworten. Aber was wurde die alte Janey gefragt, von ihrer Mutter, die ihren Regenmantel über den Stuhl legte und dabei Wassertröpfchen auf die Fliesen rieseln ließ? Sollten sie rausgehen und Regeneisbecher essen? Sollten sie dieses Wochenende in den Zoo gehen?