Michael Thumser

Verpestete Bücher

Elf literarische Epidemien

und ein Epilog

Buchschmuck von

Stephan Klenner-Otto

Für all jene,

die während der Corona-Pandemie

nicht nachließen,

den Künsten beizutragen

und sich um die

Kultur zu kümmern.

Inhalt

1. Edgar Allan Poe: DIE MASKE DES ROTEN TODES

Der letzte Tanz

2. Giovanni Boccaccio: DAS DEKAMERON

Flucht aus der toten Stadt

3. Daniel Defoe: DIE PEST ZU LONDON

Sinnlose Notwendigkeit

4. Mary Shelley: DER LETZTE MENSCH

Das Requiem der Menschheit

5. Jeremias Gotthelf: DIE SCHWARZE SPINNE

Die Frau ist das Fremde

6. Jens Peter Jacobsen, Georg Heym, Isolde Kurz

In den Städten der Schmerzen

7. Thomas Mann: DER TOD IN VENEDIG

Dunst und Gefunkel

8. Jack London: DIE SCHARLACHPEST

Die neuen Wilden

9. Albert Camus: DIE PEST

Auf der Seite der Opfer

10. Andrzej Szczypiorski: EINE MESSE FÜR DIE STADT ARRAS

Was war, ist nicht gewesen

11. Philip Roth: NEMESIS

Gottes Krieg gegen Kinder

Epilog

Mathilda im Reißwolf

Über den Autor

Vorwort

Dieses Buch ist nicht das Buch zur Krise. Freilich ist es ein Buch zur Zeit. Es tut so, als wollte es einem traditionsreichen, aber noch unbenannten Genre der Weltliteratur einen passenden Namen geben: dem Seuchenbuch. Entstanden in Jahren der Corona-Pandemie, vom September 2020 bis zum September 2021, stellt es eine nicht willkürliche, doch subjektive Auswahl von Werken der deutschsprachigen und internationalen Erzählkunst vor, denen gemein ist, dass in ihnen Epi- und Pandemien eine Hauptrolle spielen. Dabei war es dem Verfasser nicht darum zu tun, durch die jahrzehnte- und jahrhundertealten Texte die Krise vergegenwärtigend zu erklären oder, umgekehrt, in der aktuellen globalen Situation Aufschlüsse zu entdecken, durch die sich die Texte in neuem Licht betrachten ließen. Er achtet ihren Anspruch, allein der Zeit und den Umständen ihrer Entstehung verhaftet zu sein. Allerdings belegen die Porträts der Werke, dass, aller berechtigten Gefühle unmittelbaren Bedrohtseins ungeachtet, die Furcht vor Seuchen wie der Pest, Grippe oder Cholera und die Hilflosigkeit des Einzelnen gegen ihr raumgreifendes Wüten die Geschichte der Menschheit als Konstanten durchziehen. Entsprechende Erfahrungen schlugen sich in vielen Werken namentlich der dichterischen Prosa nieder, beileibe nicht allein in den vorgestellten, wenn auch in ihnen mit einer greifbaren Beispielhaftigkeit, die ihnen über ihre Epoche hinaus Wirkung und Gewicht verleiht. Bewusst bedient sich der Autor nicht der strengen analytischen Methoden der Literaturwissenschaft und vermeidet deren Fachjargon. Um allgemeinverständlich einer interessierten Leserschaft nahezukommen, wählte er die narrative Form des literaturkundlichen Essays. Darum sind Sekundärquellen, die vereinzelt eingesehen wurden, nicht eigens angegeben, sofern sie nicht wörtlich oder inhaltlich zitiert werden. In jedem Fall gehen die Deutungen ausschließlich auf Überlegungen des Verfassers zurück und referieren keine Standardansichten der modernen Philologie, mögen sie sich auch hier und da mit ihnen überschneiden. Zehn der elf „Epidemien“ und der Epilog erschienen im Lauf des Jahres auf der Kulturwebsite www.hochfranken-feuilleton.de und wurden überarbeitet. Neu kam das Kapitel über Mary Shelleys Roman DER LETZTE MENSCH, einen Schlüsseltext des Genres, hinzu.

Hof, im Herbst 2021

Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.

Albert Camus

Aspirin gabs nicht, da hab ich dir Zigaretten mitgebracht.

Homer Simpson

Die erste Epidemie

Der letzte Tanz

Einleitung – Edgar Allan Poe: Die Maske des Roten Todes

Der eine ist Schweizer, der andere Südafrikaner. Und doch heißt einer wie der andere: Meyer. Obendrein schreiben beide.

Davon abgesehen, unterscheiden sie sich durchaus, auch nach dem Grad der Bekanntheit in ihrer Zunft. Deon Meyer, Jahrgang 1958, verfasst seine Bücher in Afrikaans und zählt in seiner Heimat am Kap zu den prominentesten Autoren von Kriminalromanen. Martin Meyer hingegen, der als Journalist jahrelang das Feuilleton der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG leitete, machte sich publizistisch eher bei einem eingeweihten Kreis von Bildungsbürgern mit geistigem Interesse an klassischer Musik, Literatur und Kunst namhaft.

Was beide so wie ihr Name verbindet: Der eine wie der andere haben sich in fiktiven Texten mit der 2020 ausgebrochenen Corona-Pandemie auseinandergesetzt – der Schweizer ganz aktuell in einem Roman, der im Frühsommer des ersten Seuchenjahrs erschien; der Südafrikaner schon ein paar Jahre zuvor in einem dystopischen Thriller, der die Plage mit einem gerüttelt Maß an Ähnlichkeit zur Realität und mit endzeitlichem Ausgang durchdekliniert: Auch in FEVER, wie im richtigen Leben, flattert das Corona-Virus im Körper einer Fledermaus in die nur scheinbar entkeimte Lebenswelt der modernen Menschheit und rottet, rasend sich vermehrend und verbreitend, 95 Prozent von ihr aus. Zum schlimmen Stoff, sagt der Autor, hätten ihn die konstanten Klima- und sonstigen Katastrophenmeldungen aus aller Herren Ländern inspiriert. Da habe er sich die Welt gar nicht anders mehr vorstellen können, als dass in ihr „eine Apokalypse möglich wäre“.

Nun taugt Literatur, die leichtere wie die schwerere, so wie (fast) alle Kunst seit jeher als „Spiegel des Lebens“. Für Matteo, den Buchhändler in Martin Meyers CORONA, ist sie zudem „der Spiegel des Sterbens, das Inbild des Vergehens und der Vergänglichkeit“. So düster lässt der Schweizer Autor – sieben Jahre älter als sein südafrikanischer Namensvetter – seine Hauptfigur in dem Roman räsonieren, der gerade mal ein paar Monate, nachdem die Pandemie zu grassieren begonnen hatte, entstand. Um sich, selbst an Covid-19 erkrankt und in Quarantäne isoliert, durch den Geist der Dichter über das Dasein und dessen Ende belehren zu lassen, nimmt Matteo sich zum wiederholten Mal sechs Bücher einschlägiger Thematik vor, mal kürzere, mal umso ausgedehntere – verpestete Erzählwerke sozusagen.

Auf den folgenden Seiten sollen fünf Titel aus Matteos Reihe auch zu den Gegenständen des vorliegenden Buches werden (wobei der Autor versichert, dass die Planung abgeschlossen war, bevor CORONA, das Buch, auf den Markt kam). Man könnte sich beschäftigen mit José Saramagos STADT DER BLINDEN und den Bewachern, die sie internieren und terrorisieren; oder mit DUNKLES GOLD von Mirjam Pressler über die Pest im Mittelalter und den allzeitlichen Antisemitismus; oder mit THE STAND – DAS LETZTE GEFECHT, das sich in Stephen Kings Wälzer die wenigen Überlebenden der ausgelöschten US-Zivilisation mit der Macht des Bösen liefern. Die vorliegende Auswahl geht, wie Martin Meyers einsamer Bibliomane Matteo, über diese und andere Titel bedauernd hinweg. Ebenso über die – von Matteo hingegen studierten – zehn Plagen, die im ersten Buch der Bibel der hebräische Volksführer Mose über den Sklavenhalterstaat Ägypten heraufbeschwört. Aber wie bei Matteo wird auch hier im Folgenden auf das DEKAMERON des Italieners Giovanni Boccaccio (das umfangreichste der betrachteten Werke) die Sprache kommen; sodann auf Daniel Defoes Semifiktion über DIE PEST ZU LONDON (auf die später DIE PEST IN BERGAMO des Dänen Jens Peter Jacobsen folgt); es schließen sich an; DIE SCHWARZE SPINNE von Meyers Landsmann Jeremias Gotthelf, des weiteren Thomas Manns geradezu musterhafter TOD IN VENEDIG und natürlich DIE PEST des französischen Existenzialisten Albert Camus. Obendrein schlagen wir um die genannten Werke einen Rahmen, den Matteo auslässt: An vorletzter und letzter Stelle nähert sich die Umschau dem Ziel mit EINE MESSE FÜR DIE STADT ARRAS des Polen Andrzej Szczypiorski und, als jüngstem Buch, mit NEMESIS von Philip Roth, der 2018 in New York starb. Interessante Sonderfälle sind dazwischen zwei Werke, die sich als frühe Beiträge zum heute landläufigen Genre der Science-Fiction lesen lassen: Mary Shelley verfügte sich in DER LETZTE MENSCH an das von ihren Lebensumständen sehr weit entfernte Ende des 21. Jahrhunderts, um die Welt vollständig zu entvölkern. Nicht unähnlich versetzte sich Jack London ins Jahr 2073, um von dort aus wiederum den Blick zurück ins Jahr 2013 zu werfen, in dem eine weltumspannende SCHARLACHPEST die Menschheit heimsucht. Jede der Buchbetrachtungen steht weitestgehend für sich, ebenso gut und besser noch machen sie sich verständlich, wenn sie hintereinanderweg gelesen werden.

Fast alle berühren die von der Menschheit seit jeher immer neu aufgeworfene Frage, warum ein guter Gott, so es ihn gibt, Pestilenzen und anderen furchtbaren Übeln erlaubt, die von ihm geschaffene, geliebte, zur Erlösung bestimmte Menschheit zu terrorisieren. Theodizee nennt die Philosophie seit den Tagen Gottfried Wilhelm Leibniz’ den Versuch, ein von vielen sowohl als liebevoll wie auch als allmächtig geglaubtes höchstes Wesen angesichts einer Weltlage zu rechtfertigen, die in noch jeder Epoche mehr oder weniger als heillos empfunden wurde. Bereits in der Antike formulierten Denker bündig die drei brisanten Kerngedanken des Problems: Falls Gott den Leiden wehren will, es aber nicht vermag – dann ist er nicht allmächtig; falls ers vermag, jedoch nicht tun will – dann ist er nicht gütig; falls er es aber will und auch vermag – dann dürfte es auf Erden kein Elend geben, wie es doch überall Ungerechte wie Gerechte bedrängt. Theologischem Erkenntnisinteresse gehen die folgenden Werkporträts nicht nach; ebenso wenig indes soll von Fall zu Fall unterschlagen werden, wie sehr sich die Schreibenden mit ihren Texten in jener existenziellen Zwickmühle gefangen wussten.

Den Anfang aber machen, bevor die Chronologie der Literaturgeschichte eingehalten wird, hier und jetzt Edgar Allan Poe und seine MASKE DES ROTEN TODES, ein Nachtstück aus der Vor- und Frühzeit des Symbolismus – und, seiner idealen Kürze wegen, der alles Kommende beispielhaft umreißende Modellfall eines Seuchenbuchs.

Ein Totentanz: Mit Chiffren der Vergänglichkeit und vanitas hat Poe die Erzählung gehörig aufgeladen, die er, 33-jährig, im Jahr 1842 veröffentlichte und die seither zu seinen populärsten Dichtungen zählt. Mit dem Pathos ihres rhythmisierten Satzbaus erinnert sie eher an ein Gedicht, eine Schauerballade in Prosa, und gäbe, mit ihrem musikalischen, in erhabenen Dunkelfarben gewichtig registrierten Orgelton, gut die Vorlage für ein Endzeit-Oratorium ab: Memento mori, bedenke, dass du sterben musst.

Sie müssen alle sterben, die Gäste, mit denen sich Prinz Prospero für Monate in den erlesen funkelnden Räumen seines Schlosses umgibt. Hier will die frivole Schar dem „Roten Tod“ eine lange Nase drehen, der draußen, vor den zugeschweißten Burgtoren, die weniger privilegierte Bevölkerung sturmschnell dahinrafft. Wie zum Hohn hat Prospero zum Maskenball geladen, zu einer Apotheose der Libertinage, bei der jede noch so exzentrische Verkappung, Lustigkeit und Lust erlaubt sind, solange das Gesetz eines manierlichen Ästhetizismus gewahrt bleibt, das im minuziös duchgestylten (und beschriebenen) Nobelambiente kategorisch gilt. Ein Verkleideter taucht, mit den dräuenden Mitternachtsschlägen einer riesigen Standuhr, als Letzter auf, im schwarz und blutrot ausstaffierten letzten, westlich sonnenuntergangsnahen Raum der Zimmerflucht, und durchbricht die Ordnung derart, dass der Prinz seine sofortige Exekution befiehlt: Denn geschmackloserweise als Tod geht der Fremde; wobei sich schnell erweist: Er trägt gar keine Larve, er ist es selbst, der „Rote Tod“ in seiner „blutbespritzten Urgestalt“. Und grausam hält er Ernte.

Als „Heer von Träumen“, als „Wahnsinnsausgeburten“ gar schildert Poe den schwelgerisch feiernden Schwarm der Seuchenflüchtlinge. Sie haben, wie der Ausgang der Kurzgeschichte erweist, sich nicht vor der kranken Welt abgeschlossen, sondern sich eingeschlossen in einen Kerker aus Gold und Edelsteinen. So wird Prosperos Schloss in seinem morbiden Prunk zeichenhaft zum Ort der Unentrinnbarkeit, an dem die Verdammten, lange sorg- und ahnungslos, endlich das von der Seuche über die Menschheit verhängte Schicksal als Strafe erleiden. Die ahndet den Frevel des höchsten Hochmuts mit dem tiefsten Fall.

Wahrscheinlich hatte Poe bereits 1832 den Artikel einer New Yorker Zeitung gelesen, worin berichtet wurde, bei einem Kostümball in Paris sei einer der Tanzenden in der Maske der Pest erschienen. Und noch ein Jahr vorher war ihm das Sujet beängstigend auf den eigenen Leib gerückt, als er in Baltimore Zeuge einer Cholera-Epidemie wurde. Die Erinnerung an beides mag sich unter die mancherlei Inspirationen gemischt haben, die zu seiner berühmten Erzählung führten. Schon einmal tauchte die Ekstase, wie sie Prosperos blasphemische Fest-Korona triebhaft genießt, im erzählerischen Œuvre des großen amerikanischen Dichters auf: als Bier- und Schnapsrausch „über alle Vernunft hinaus“. Den genehmigen sich – in der 1835 erstmals erschienenen Posse KÖNIG PEST – zwei Handelsmatrosen im London des vierzehnten Jahrhunderts. Als Zechpreller flüchten sie aus einer Hafenkneipe in einen abgeriegelten, „gebannt-verbotenen“ Seuchenbezirk der Stadt, wo die „Pestilenz“ regiert – und zwar in Person, als leibhaftiger, freilich reichlich schäbig-menschlicher König. Alkoholschwer umringt ihn ein Hofstaat schrägster Damen und Herren aus der Zunft der Tagediebe. Sie konferieren in einem verlassenen Spirituosenlager, um, freilich nur aus Jux und Sauferei, „die Wohlfahrt jenes unirdischen Herrschers zu befördern, dess’ Gewalt über uns allen ist, dess’ Reich kein Ende hat, und der da heißet ‚Tod‘.“

Was den schlagkräftig wehrhaften „Teerjacken“ da in Wahrheit begegnet, ist die übermütige Spiegelung von Prosperos den Himmel und die Mitmenschlichkeit lästernder Prachtentfaltung inmitten einer universalen Krise. Hier parodiert Edgar Allan Poe sich selbst, der ja nicht nur ein fein psychologischer Meister der Unheimlichkeit, des Unbewussten und Abgründigen war, sondern immer wieder mal, und gern, auch makabrer Spaßmacher, sarkastischer Satiriker, kunstreicher Clown

Als Auftakt für dieses Buch eignet sich das grausig-groteske Novellengespann Poes doppelt. KÖNIG PEST weist auf Daniel Defoe und sein Londoner Pest-Buch voraus. Und die Grundkonstellation zur MASKE DES ROTEN TODES entlieh sich Poe von Giovanni Boccaccios DEKAMERON. Übrigens schob sich Poes Totentanz-Stück seit April 2020, dem ersten Höhepunkt der globalen Corona-Pandemie, ins Blickfeld auch der Politik-Kommentatoren in den USA: Sie standen, wie die Wochenzeitung DIE ZEIT berichtete, nicht an, den damals amtierenden Präsidenten Donald Trump mit dem Prinzen Prospero gleichzusetzen, als „Narren und tödlichen Dämon in einer Person“, als pflichtvergessenen Leugner der Wirklichkeit. Verschwenderisch in seiner goldverbrämten Arroganz, ignorant bis zur massenhaften Lebensgefährlichkeit, so trat der Weltmachtführer bevorzugt – und abstoßend – auf. Narr Prospero muss weichen. Prinz Donald stellte sich zur Wiederwahl.

Die Zitate stammen aus der Übersetzung
durch Arno Schmidt und Hans Wollschläger