Julie Fraser
Große Mädchen weinen nicht
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Lektorat: Scriptmanufaktur
Für meine Kinder M. und L.
In Gedenken an U.R.,
die mir einst die Geschichte von der Kuhsprengung erzählte.
1
Inmitten von hunderten Menschen tanzte Melanie Fox, ließ ihre dunkelroten Locken wirbeln und ihre sinnlichen Hüften in rhythmischen Bewegungen zur Musik kreisen. Hier in diesem Club war sie in ihrem Element. Hoffte auf die Zerstreuung, die ihr die Musik, der Tanz und auch der eine oder andere Tanzpartner oder eine Begleitung für die Nacht verschaffen konnten. Versuchte, dem zu entrinnen, was seit Wochen nicht mehr mit ihr stimmte.
Fort mit diesen Gedanken!
Sie war voller Energie, tanzte sich frei und genoss die Aufmerksamkeit. Das gedämpfte Licht, die pulsierende Menge um sie herum.
Please don´t stop the music!
Erhitzt von ihrer letzten Tanzeinlage schlängelte sie sich durch die Menschen hindurch zur Bar, um sich eine Margarita zu genehmigen. Dabei fächerte sie sich mit dem U-Ausschnitt ihres enganliegenden grünen Oberteils ein wenig Luft zu, um sich abzukühlen. Ihren kurvigen Körper bestmöglich in Szene zu setzen, darauf war sie schon immer stolz gewesen. Und auch heute fand sie sich wirklich chic in ihrem schwarzen Mini-Lederrock, dem Top und ihren Pumps aus Spitze, die hoch genug waren, um ihre große Gestalt zu betonen, aber nicht so hoch, um damit nicht das Tanzbein schwingen zu können. Ihre hochgewachsene Erscheinung sowie die kastanienroten Haare hatte sie von ihrem Vater geerbt. Ihre Mutter war eine winzige Chinesin mit schwarzen glatten Haaren, die ihrer Tochter allenfalls einen leichten mandelförmigen Schwung ihrer stahlgrauen Augen vermacht hatte.
„Willst du noch einen, Mel?“, fragte der Barkeeper und warf einen Blick auf ihr leeres Glas.
„Klar“, entgegnete sie und nickte. Alkohol half dabei, das Gedankenkreisen zu verhindern, dem sie sich in letzter Zeit viel zu oft hingab.
Sie spürte, wie sie gemustert wurde, und blickte sich im Club unauffällig um.
Etwas abseits der Tanzfläche entdeckte sie ihn.
In dem schummerigen Licht war es schwierig, seine Haarfarbe zu erkennen, womöglich war er blond. Aber seinen intensiven Blick spürte sie durch die Menschenmenge auf sich ruhen. Er war groß, größer als sie, und das mochte bei ihren 1,80 m schon etwas heißen. Er hatte den Körperbau eines Schwimmers oder Ruderers mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Anerkennend bemerkte sie, wie gut ihm seine Jeans und das Hemd standen, das er perfekt ausfüllte. Vielleicht war es mal wieder an der Zeit, dass sie jemanden mit nach Hause nahm, überlegte sie, während sie ihn beobachtete, als er sich zielsicher seinen Weg durch die Menge auf sie zu bahnte.
„Ich habe dich tanzen sehen“, meinte er, nachdem er bei ihr angekommen war.
„Das tut man für gewöhnlich ein einem Club“, entgegnete sie nur und hoffte, ihr Gespräch würde zumindest etwas geistreicher werden als eine blöde Anmache.
„Nicht so wie du.“
Das erweckte ihre Aufmerksamkeit.
„Wie darf ich das verstehen?“
„Es hatte etwas … Provokantes. Als wüsstest du genau, welche Wirkung du damit auf deine Umgebung ausübst.“
Er hatte recht. Sie versuchte sich dadurch nicht verunsichern zu lassen.
„Für mich war es nur tanzen“, versuchte sie ihn zu entkräften und zuckte gleichmütig mit ihren Schultern. Die ganze Zeit über musterte er sie, und sie hatte das Gefühl, er versuchte etwas zu erkennen, das sie tief in sich verborgen halten wollte. Ein vollkommen unsinniger Gedanke.
Er nahm sie bei der Hand.
„Tanzt du mit mir?“
Es klang wie eine Frage, aber sie hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben. Sie umfasste seine Finger, wobei ihr ein elektrisierendes Kribbeln den Arm hinaufwanderte, und folgte ihm auf die Tanzfläche. Melanie lauschte der Musik, ergab sich dem Rhythmus und versuchte, sich nicht eingeschüchtert zu fühlen von ihm und seinem Röntgenblick. Das Tanzen half ihr. Damit fühlte sie sich wohl. Sie ließ ihre Hüften kreisen, berührte ihn kaum und war fasziniert, wie gekonnt auch er sich zur Musik bewegen konnte. Nicht viele Männer waren gute Tänzer.
Er schon.
Und das trotz seiner Größe, die es ihm unmöglich machen sollte, sich so geschmeidig zu bewegen. Er legte ihr seine Hände auf die Hüften und sie erschauderte. Sie war es nicht gewöhnt, die Kontrolle abzugeben, und so schmiegte sie sich etwas enger an ihn, brachte ihre Hüften an seine Hüften, ihren Oberkörper mit dem tiefen Ausschnitt näher an seinen, sodass ihre Brüste ihn so gerade eben berührten. Sein Blick flackerte nur kurz, aber sie bemerkte es. So war es also, sie hatte wieder die Oberhand. Sie begab sich enger in seine Arme, diesen Moment der Macht voll auskostend, spürte, wie sie ihn reizte, als sie sich umdrehte und sich mit ihrem Hintern an seinem Becken rieb. Melanie nahm seine Hände und legte sie auf ihre Taille, während sie sich weiter zur Musik wiegte.
„Möchtest du wirklich nur tanzen?“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Endlich hatte er es kapiert.
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus dem Club. Was sollten sie noch lange fackeln, wenn ihnen das Ziel dieser Begegnung klar war?
„Soll ich mich um die Verhütung kümmern?“, fragte er, während er ihr folgte. Wow, verantwortungsbewusst und rational.
„Ich habe Kondome zu Hause“, antwortete sie, schließlich ging es bei Safer Sex um mehr als die Verhinderung einer Schwangerschaft. Sie nahm zudem die Pille, was sie ihm aber nicht verraten würde. Melanie wäre nicht die Tochter ihrer Mutter, wenn Safer Sex für sie eine Lappalie wäre.
Ein einfaches Nicken war seine Antwort.
Sie hatten ohnehin genug geredet.
***
Melanie kickte ihre Pumps von den Füßen und schaltete das Licht in ihrer Altbauwohnung ein. Endlich konnte sie ihn auch bei vollem Licht bewundern. Er war ein attraktiver Mann: groß, blond, muskulös. Die grünen Augen allerdings sahen zu viel. Er wollte sich vorbeugen und sie küssen, doch sie wandte ihr Gesicht leicht ab, sodass sich seine Aufmerksamkeit auf ihren Hals richtete. Er war gut. Sanft liebkoste er die zarte Stelle unter ihrem Ohrläppchen, sodass sie eine Gänsehaut bekam. Sie zog ihn weiter in Richtung Schlafzimmer und knöpfte dabei sein Hemd auf. Wie sie erwartet hatte, erblickte sie eine definierte Brust, einen straffen Bauch und helles Haar, das unterhalb seines Nabels in seiner Jeans verschwand, einer Jeans, die er sehr gut ausfüllte und die aktuell nicht verbergen konnte, dass sie ihn scharf machte.
Gut so.
Sie entledigte sich auf dem Weg zu ihrem Bett noch ihres Rockes und wartete darauf, dass er ihr folgte. Als er dies nicht tat, warf sie einen Blick zurück. Er stand in der Tür und schaute sie abwartend an. Sein Blick hatte etwas Zögerliches, als er auf sie zutrat und sanft ihre Wange berührte. Mein Gott, warum musste er so zurückhaltend sein? Alles, was sie von ihm wollte, war eine schnelle Nummer, vielen Dank, Adieu! Offensichtlich musste sie seiner Lust ein wenig auf die Sprünge helfen. Sie schubste ihn sanft auf ihr Bett, beugte sich über ihn und öffnete seine Jeans.
„Was tust du da?“, fragte er und hob eine Augenbraue, als sie weiter an seiner Hose hantierte.
Beinahe hätte sie frustriert aufgestöhnt und ihre Augen verdreht. Er schien nicht die hellste Birne am Leuchter zu sein.
„Ich würde dich gerne mit einem Blow Job beglücken, wozu du dich aber deiner Hose entledigen müsstest“, entgegnete sie und versuchte, dabei nicht allzu genervt zu klingen.
Er räusperte sich kurz. „Ist das deine Vorstellung von Sex? Warum lässt du dich nicht von mir berühren? Mir ist schon bewusst, worum es hier geht, aber …“
Weshalb war er so aufmerksam? Er war schließlich ein Kerl.
„Komisch, ich dachte, das läuft immer so. Ausziehen, rein, raus, erledigt“, sagte sie und verschränkte ihre Arme. „Vielleicht bist du ja derjenige, bei dem etwas nicht stimmt“, schlussfolgerte sie und deutete auf seinen Schritt.
Er ignorierte ihren Kommentar und sagte: „Nach meinem Verständnis sollte auch die Frau dabei Vergnügen empfinden.“
Wo sie ihn eben noch erregt geglaubt hatte, schien er nun vollkommen erkaltet zu sein. Kein Wunder bei diesem Gespräch. Wie ein verdammter Physiklehrer saß er vor ihr und beäugte sie, als hätte sie gerade eine Frage falsch beantwortet.
„Raus!“, war alles, was sie dazu zu sagen hatte und deutete auf die Tür.
Ruhig stand er auf, knöpfte sein Hemd wieder zu und ging.
Melanie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
Vor einiger Zeit hatte sie lernen müssen, dass sie nicht die Frau war, in die man sich verliebte. Jetzt war sie offensichtlich nicht einmal mehr begehrenswert.
Melanie nahm dieses unschöne Erlebnis zum Anlass, einmal in sich zu gehen und sich zu fragen, was gerade bei ihr schieflief. Sie blickte sich in ihrer wunderschönen Altbauwohnung um, die im Herzen ihrer ehemaligen Studienstadt und Wahlheimat Mainz lag. Vor Jahren war sie hier eingezogen und hatte mit ihrer besten Freundin Helen in einer WG gelebt. Die Altbauwohnung unweit der Stadtmitte lag im Hochparterre. Durch eine massive hölzerne Eingangstür gelangte man auf eine breite knarzende Holztreppe. Die Wohnungstür, ebenfalls aus massivem Eichenholz, enthielt ein feines Glasmosaik mit einer Blume im Zentrum. Die großzügig geschnittene Diele mit altem Parkettboden beherbergte eine große Garderobe, gerade richtig für eine Frau, die viele Accessoires, Kleidung und Schuhe besaß. Es gab einen mit cremefarbenem Teppichboden ausgelegten großen Wohn- und Essbereich, den sie modern eingerichtet hatte, einen Raum, den sie als Schlafzimmer, und einen, den sie als Büro nutzte. Alle Räume besaßen große Fenster, Stuckleisten an den Decken und waren nach Helens Auszug und nach Abschluss ihres Studiums von ihr komplett neu eingerichtet worden. Dies sowie die Neuausstattung der Küche hatten sie ein Vermögen gekostet. Warum sie in die Küche so viel investiert hatte, obwohl sie nicht einmal gerne kochte, war ihr bis heute ein Rätsel. Womöglich musste sie irgendetwas kompensieren.
Ein gut ausgestattetes Büro war ihr wichtig gewesen, da sie als freiberufliche Übersetzerin von zu Hause arbeitete. Ursprünglich hatte sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin Medizin studiert, vor allem, weil ihre Mutter Gynäkologin war und Melanie immer bearbeitet hatte, ihr in die Praxis zu folgen. Gerne hätte sie mit ihrer Mutter zusammengearbeitet, schließlich verstanden sie sich sehr gut. Da sie allerdings dazu neigte leicht hypochondrisch zu sein, hatte das Studium sie vor Herausforderungen abseits des Lernens gestellt. Irgendwann war es derart ausgeartet, dass sie bei jedem Kopfschmerz glaubte, einen Hirntumor zu haben. Dann hatte sie sich auch noch einer völlig überflüssigen Magenspiegelung unterzogen, mit dem Ergebnis, dass sie wie fast jeder Medizinstudent lediglich eine Magenschleimhautentzündung von zu viel Stress und zu viel Kaffee hatte, und nicht, wie befürchtet, ein Magenkarzinom. Nachdem Helen ihr ins Gewissen geredet hatte, hatte Melanie sich ihrer Mutter gestellt und ein ernstes Gespräch mit dieser geführt, dass sie das Studium abbrechen würde. Ihre Mutter hatte es besser aufgenommen als erwartet. Da sie noch vier jüngere Söhne hatte, würde schon einer von ihnen in ihre Fußstapfen treten, hatte sie gesagt. Weil Paul lieber Rechtsmediziner geworden war, blieb nun nur noch Ben, der gerade mit dem Studium begonnen hatte. Die Zwillinge Matt und Aidan waren als Polizisten aus dem Schneider. Da Melanie zweisprachig aufgewachsen war – ihr Vater war Amerikaner –, war ihr die Idee gekommen, Übersetzungswissenschaften zu studieren. Aufgrund ihrer Vorbildung hatte sie sich während des Studiums auf medizinische Übersetzungen spezialisiert.
Anfangs war der Weg als Freiberuflerin frisch von der Universität schwierig gewesen, aber nach und nach bekam sie feste Kunden und hatte zuletzt einen Vertrag mit einer englischen Zeitschrift abgeschlossen, die sie nun monatlich übersetzte, was ihr ein regelmäßiges Einkommen verschaffte.
Im Gegensatz zur ihrer Freundin Helen, die bald ihr zweites Kind erwartete, hatte Melanie Beziehungen nie einen großen Wert beigemessen. Natürlich konnte sie einen Freund haben, wenn sie einen wollte, aber als größte Nichtromantikerin auf Erden, wie sie sich gerne selbst bezeichnete, war sie nicht so der „happily ever after“-Typ. Sie war weder sentimental noch besonders rührselig, empfand sich immer als locker, abenteuerlustig und temperamentvoll. Auch war sie nicht besonders traditionell. Allein ihres gläubigen Vaters wegen, hatte ihre Mutter der Taufe ihrer Kinder zugestimmt. Nur Helen zuliebe war Melanie nicht aus der Kirche ausgetreten, um Taufpatin ihrer Kinder werden zu können.
Dann hatte sie Kevin getroffen und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann Ende dreißig und hatte sie glatt umgehauen.
Bis er sich von ihr trennte.
Weil er mit einer jüngeren Frau zusammen sein wollte, die Familie und Kinder als ihren Lebensinhalt ansah. Melanie erinnerte sich noch an seine Worte, als er mit ihr schlussgemacht hatte.
„Machen wir uns nichts vor, Melanie. Du bist die Frau, die von einer Party zur anderen zieht und ihr Leben lang nur Spaß haben will. Ich habe inzwischen ein Alter erreicht, in dem ich mehr brauche. Du bist die Frau, die man vögelt, für alles andere hast du nicht genug Tiefgang. Wenn du willst, können wir weiterhin eine Affäre haben, der Sex mit dir ist immerhin spektakulär.“
Nach diesen Worten war sie das erste Mal in ihrem Leben sprachlos gewesen.
Dann hatte sie ihn als Arschloch beschimpft und ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.
Sie hatte ihre Lektion gelernt. Wenn man liebte, wurde man auf eine Art verletzlich, die einen kaputtmachte. Noch vor fünf Jahren hätte sie ihn abgetan, als den Arsch, der er war, aber Kevin war ihr unter die Haut gegangen und hatte etwas in ihr defekt zurückgelassen, das sie seitdem verzweifelt zu reparieren versuchte. Ihrem Umfeld vertraute sie diese Wahrheit allerdings nicht an. Sie schimpfte über Kevin, wie froh sie sei, ihn endlich los zu sein. Sprach darüber, welch belanglose Beziehung sie geführt hätten, deren Ende sie unbeteiligt ließ. Keinem erzählte sie, wie tief sie verletzt worden war. Wieso auch? Sie konnte seiner Einschätzung ihrer Person nicht zustimmen. Sie hatte einen festen Job, der ihr ein regelmäßiges Einkommen sicherte, und auch sonst war sie nicht unbedingt eine hohle Nuss, die sich ohne Ziele durchs Leben treiben ließ. Seine Worte konnten ihr im Grunde schnuppe sein, da sie selbst sich nicht als flatterhafte und frivole Persönlichkeit sah. Sie war eine starke Frau. Wegen eines Kerls würde sie nicht in die Knie gehen.
Melanie legte sich eine „Jetzt erst recht“-Manier zu, die sie irgendwie überleben ließ. Wenn sie also die Frau fürs Bett war, dann war sie die Frau fürs Bett. Das Ergebnis war: zu viel Alkohol, zu viele Partys und zu viele Männerhände auf ihrem Körper. Früher hatte sie Sex immer gemocht und würde sich auch nicht dafür entschuldigen. Trotzdem war sie immer wählerisch gewesen, was ihre Liebhaber anging. Diese Praxis behielt sie bei. Nur wenige Flirts nahm sie mit in ihr Schlafzimmer, nur, wenn sie die Einsamkeit übermannte, so wie heute. Und zu ihren Bedingungen. Bei all diesen Begegnungen hatte sie es sich zuletzt nicht mehr gestattet, Vergnügen zu empfinden. Vielleicht, um sich zu bestrafen für ihren Fehltritt mit Kevin? Vielleicht, um die Kontrolle zu behalten? Nur so konnte sie schließlich ihre Gefühle außen vor lassen. Aber die heutige Begegnung zeigte ihr, dass es aus dem Ruder gelaufen war. Himmel, sie wusste nicht einmal, wie der Kerl hieß, mit dem sie ihr Bett hatte teilen wollen! Das musste ein Ende haben. Von nun an würde sie sich in ihre Arbeit stürzen und ihre Freizeit dazu nutzen, sich über sich selbst Klarheit zu verschaffen. Keine Alkoholexzesse mehr, keine Partys und vor allem: keine Männer.
An diesen Plan hielt sich Melanie nun schon einige Wochen und befand, dass es ihr guttat. Auch die Pille hatte sie abgesetzt, wovon ihre Haut und ihre Stimmung profitierten, und sie arbeitete wie ein Tier, was ihre Kasse zum Klingeln brachte. Alles in allem also eine Win-win-Situation, wenn sie es vermeiden konnte, über Kevin nachzudenken, und das konnte sie gut. Melanie bemerkte auch, dass sie langsam wieder fröhlicher wurde und zu sich selbst zurückfand. Sie ging zu ihrem regelmäßig stattfindenden Übersetzerinnen-Stammtisch, bei dem sie mit einer ihrer Kolleginnen eine Sprachreise in die USA plante, während der sie auch ihre Verwandten besuchen wollte. Außerdem nahm sie wieder an ihrem Step-Aerobic Kurs teil und genoss den anschließenden Lunch mit einigen Kursteilnehmerinnen. Sie hielt sich beschäftigt, und das half, so wenig wie möglich über sich nachzugrübeln.
Nachdem sie die letzten Wochen ihr obligatorisches Mittagessen mit ihrer Mutter abgesagt hatte, zu dem sie sich ansonsten etwa einmal im Monat trafen, hatte sie nun wieder ein Treffen vereinbart. Ihre Mutter konnte sie einfach zu gut lesen, und Melanie hatte zuvor einfach keine Lust gehabt auf bohrende Fragen. Melanies Mom war wie eine beste Freundin für sie, nur dass sie blutsverwandt waren. Daran änderte auch die manchmal distanzlose Art ihrer werten Erzeugerin nichts. Melanie kannte und liebte sie genauso, wie sie eben war, mit all ihren Marotten. Und es war schön, neben ihrer besten Freundin Helen jemanden zu haben, mit dem man sich auch über sehr persönliche Dinge austauschen konnte und sich verstanden fühlte.
Die Praxis ihrer Mutter lag nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, sodass sie zu Fuß hingehen konnte. Es war ein sonniger Junitag, und so war Melanie in ein frühsommerliches Blumenkleid und Ballerinas geschlüpft. In der Praxis angekommen begrüßte sie freundlich die Sprechstundenhilfen, die sie schon seit Jahren kannte.
„Sie hat gerade noch eine Patientin, ist danach aber fertig.“
„Prima“, sagte Melanie und unterhielt sich dann mit den beiden Frauen über den Alltag im Betrieb. Dabei erfuhr sie, dass die Praxis trotz oder vielleicht gerade aufgrund ihrer exzentrischen Mutter sehr gut lief, dass die Belegbetten im örtlichen Krankenhaus mit ihren Schwangeren und den Patientinnen, die sie operierte, gut gefüllt waren, und dass überlegt wurde, neues Mobiliar für das Wartezimmer anzuschaffen. Melanie war sich nicht sicher, ob die Idee ihrer Mutter, der Praxis ein Motto zu geben – Viva la Vulva – nicht wieder über das Ziel hinausschoss. Zeitgleich waren die Räume, dem Thema entsprechend, mit Bildern geschmückt worden, die detailgetreu und übergroß die weibliche Anatomie darstellten. Wenn der Anblick schon Melanie irritierte, wie würde es anderen Frauen gehen? Die Sprechstundenhilfen schien es jedenfalls nicht zu stören, denn sie beklagten sich eher über die fehlende Klimaanlage und die damit zu erwartende Hitze in der Praxis während der Sommermonate.
So plätscherte das Gespräch dahin, bis ihre Mutter aus ihrem Sprechzimmer kam, die Patientin verabschiedete und sie dann mit „Hi, Liebes“ begrüßte, bevor sie sie in eine kurze Umarmung zog.
Sogar im Vergleich mit anderen Chinesen war ihre Mutter wirklich winzig, und Melanie musste sich zu ihr herunterbeugen, um sie in die Arme nehmen zu können. Ihr schwarzes Haar war kurz, und sie trug ihre übliche Arbeitskleidung: eine weiße Hose und ein weißes Polo-Shirt.
„Wie ich höre, weigerst du dich noch immer, eine Klimaanlage anzuschaffen?“, griff Melanie das Thema der Angestellten auf, in der Überlegung, für diese Partei zu ergreifen, da eine Klimaanlage schon seit Jahren auf deren Wunschliste stand und es im Sommer in der Praxis sehr heiß sein konnte.
„Ich habe nur Klimakterium anzubieten“, erwiderte ihre Mutter augenzwinkernd und deutete auf einen Ventilator neben der Anmeldung. „Der wird es noch eine Weile tun müssen. Zuerst sind die Möbel im Wartezimmer fällig.“
Sie ging zurück zur Tür ihres Sprechzimmers und winkte Melanie hinein, was diese aufstöhnen ließ. „Echt jetzt?“
„Komm, Mädchen, einmal im Quartal bekommst du deinen Abstrich von mir verpasst!“
Melanie glaubte zwar, langsam zu alt zu sein, um sich von der eigenen Mutter so herumkommandieren zu lassen, aber so war es immer schon gewesen. Bei jedem Besuch in der Praxis nötigte ihre Mutter sie auf „den Stuhl“. Melanie ahnte schon, was ihr auch diesmal wieder blühen würde, fügte sich aber ins Unvermeidliche und verdrehte ihre Augen, während sie ihr in den Untersuchungsraum folgte.
„Hüpf drauf, Liebes.“
Melanie entkleidete sich und setzte sich dann auf besagtes Folterinstrument.
Ihre Mutter, nun mit dem Ultraschallkopf bewaffnet, näherte sich ihr.
„Alles okay bei dir? Wir haben uns so lange nicht getroffen.“ Dabei tätschelte sie sanft Melanies Unterschenkel, der in der Fußschale lag.
„Klar“, entgegnete Melanie nur und ließ ihre Mutter ihren Job tun. Wie immer drehte diese den Bildschirm in ihre Richtung, damit sie auch ja nichts von dem wunderbaren Innenleben ihrer Organe verpasste.
„Du weißt, meinen Augen entgeht nichts, klar? Ich sehe doch, dass du etwas auf der Seele hast.“
„Nicht mehr und nicht weniger als auch beim letzten Mal, Mom.“
„Gut, du willst also nicht drüber reden. Ich bin ein geduldiger Mensch.“
„Seit wann?“, lachte Melanie auf, was ihre Mutter ignorierte.
„Oh schau nur, ein wunderbar reifer Follikel, ich schätze, am Wochenende wirst du deinen Eisprung haben. Und deine Schleimhaut ist wie gemacht zum Einnisten.“ Ihre Mutter deutete auf die schwarzweiß-Version eines Eierstockes und ihrer offenbar sehr empfänglichen Gebärmutter.
„Vielen Dank für die Information“, entgegnete Melanie trocken.
„Melanie, bedenke, dass die Organe im menschlichen Körper alle einen Sinn haben. Auch dein Uterus, meine Liebe. Ich dachte, jetzt, da du dir schon länger kein Pillenrezept abgeholt und einen normalen Zyklus hast, könnte ich endlich auf mein erstes Enkelkind hoffen.“
Melanie stöhnte nur. Dieselbe Litanei. Jedes. Verdammte. Mal.
„Bedaure, Mom, ich wollte einfach nur keine Hormone mehr nehmen.“
„Wenigstens Sex könntest du haben“, ergänzte ihre Mutter dann.
„Mutter, ich habe Sex!“
Ihre Mom, bis zum Anschlag mit dem Ultraschallkopf in ihrer Vagina, warf ihr ein wissendes Lächeln zu, das besagen sollte: Glaub mir, ich weiß es besser.
„Machst du wenigstens deine Kegelübungen? Du musst dafür sorgen, dass dir nicht mit 70 der Uterus da unten rausquillt!“
„Selbstverständlich, jedes Mal, wenn ich mir die Zähne putze“, erwiderte Melanie pflichtergeben, weil sie den Vortrag, wenn sie verneinte, schon auswendig kannte.
„Gut, gut“, entgegnete ihre Mutter versonnen. „Es ist wichtig sowas in den Alltag zu integrieren, sonst vergisst man es einfach. Weißt du, ich mache meine Übungen immer, während ich den Abwasch erledige.“
„Ich weiß, Mom.“
„Ich habe mir jetzt auch solche Yoni Eggs bestellt, die ich mir immer unter der Dusche einführe. Ist eine tolle Ergänzung zu meinen Beckenbodenübungen. Für dich habe ich auch ein paar besorgt.“
Melanie legte sich eine Hand vor ihre Augen und seufzte ergeben.
„Und denke an die Selbstbefriedigung! Weißt du, ich sage allen meinen Patientinnen, die keinen Partner haben: So ein schöner handgemachter Orgasmus, wenn alles zuckt, ist einfach das Beste für den Beckenboden.“
„Natürlich“, antwortete Melanie resigniert und war dankbar, als ihre Mutter sie vom Schallkopf befreite.
„Samenspende liegt jetzt übrigens voll im Trend“, winkte ihre Mutter weiter mit dem Zaunpfahl. „Oder aber auch Eizellspende. Also, ich habe eine 65-jährige Patientin, die hat sich jetzt Eizellen aus Spanien geholt, weil sie schwanger werden will. Davon halte ich ehrlich gesagt nichts. Noch in dem Alter!“
Da sie nicht auf eine Antwort zu warten schien, zog Melanie sich wortlos wieder an und hoffte, es damit überstanden zu haben. Die Distanzlosigkeit ihrer Mutter war manchmal anstrengend, aber sie war es gewohnt. Es mochte für den einen oder anderen befremdlich sein, dass sie sich von ihrer eigenen Mutter gynäkologisch untersuchen ließ, aber sie kannte es nicht anders, und deshalb war es für sie nicht unangenehm, zumindest, wenn das Thema ihrer biologischen Uhr nicht angeschnitten wurde.
Auf dem Weg zum Restaurant lauschte sie dem Plappern ihrer Mutter vom Praxisalltag, anderen Kollegen, dem Freundeskreis und zuletzt natürlich ihren Brüdern. Neben Melanies Eisprung war dieses Thema ein weiteres der Sorgenkinder ihrer Mutter. Aber sie war eben eine Glucke, da konnte sie nicht aus ihrer Haut.
„Weißt du, Melli, ich überlege, ob Ben nicht vielleicht schwul sein könnte.“
Ben, ihr jüngster Bruder, hatte gerade mit dem Medizinstudium begonnen. Er war ein Nachzügler, das Nesthäkchen der Familie. Und auch wenn es keiner von ihnen laut aussprach, er war ihrer aller Liebling.
„Weißt du, er ist so zart, der sanfteste von euch allen. Und er hat noch nie eine Freundin mit nach Hause gebracht.“
„Was daran liegen könnte, dass du jedes weibliche Wesen, das durch unsere Tür kommt, sofort mit deinen Fragen nach ihrem letzten PAP-Abstrich und ihrem Zyklusverlauf verschreckst!“
Ihre Mutter winkte nur ab. Aber Melanie wusste, dass sie recht hatte.
„Außerdem steckt er gerade mitten in der Vorklinik. Das heißt Pauken pur. Der hat gar keine Zeit für eine Freundin.“
Ihre Mutter seufzte. „Womöglich. Manchmal frage ich mich, wofür ich fünf Kinder geboren habe, wenn mir keines ein Enkelkind schenkt.“
Also waren sie wieder bei diesem Thema.
„Weißt du, Melli, ich begleite viele Frauen bei ihren Geburten, und Patientinnen mit Tumorerkrankungen auch an ihrem Lebensende. Eine jede, die ich frage, gibt mir die gleiche Antwort. Das prägendste Erlebnis im Leben einer Frau ist die Geburt eines Kindes. Und viele kinderlose Frauen haben es schon bereut auf Nachwuchs verzichtet zu haben.“
„Du bis voreingenommen. Wegen deines Berufes und weil du selbst fünf Kinder hast.“
„Ich bin nicht voreingenommen. Nur weise“, entgegnete ihre Mutter und schürzte die Lippen.
„Mom, eine Schar Kinder in die Welt zu setzen, gehört nicht zu meinem Lebensplan. Und ganz ehrlich, kannst du dir mich in deiner Rolle vorstellen?“
Ihre Mutter musterte sie.
„Sehr gut sogar. Ich habe dich schon mit deinem Patenkind zusammen gesehen. Der Kleine vergöttert dich. Du hast ein Händchen für Kinder.“
Das bezweifelte Melanie stark und vermutete, ihre Mutter wollte ihr diese Rolle einfach nur schmackhaft machen.
„Solange ich die Kinder nach zwei Stunden wieder bei ihren Eltern abgeben kann, soll´s mir recht sein, aber alles darüber hinaus … Meine Wohnung gleicht dem Zustand nach einem Tsunami, wenn Helen mich mit ihren Kindern besucht hat.“
Ihre Mutter schnaubte.
„Du bist doch sonst nicht so ein Ordnungsfanatiker. Außerdem bereichern Kinder jedermanns Leben. Auch wenn man sich ständig um sie sorgt.“
„Ich werde Helen sagen, sie soll dir ihre zwei Satansbraten einmal vorbeibringen.“
„Mach das, damit ich wenigstens so tun kann, als sei ich Großmutter.“
Im Restaurant angekommen bestellten sie beide das Übliche – ihre Mutter einen Salat, Melanie Pasta – und tranken ein Glas Wein.
„Wann war noch mal die Taufe von Helens Jüngster?“
„Morgen.“
„Wie schön. Es war so eine angenehme Geburt bei der Kleinen. Helen hat sie sozusagen zur Welt meditiert. Ich bin selten Zeuge eines so schönen Starts in ein neues Leben gewesen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob Helen das genau so sehen würde“, gab Melanie zu bedenken und verzog allein bei der Vorstellung einer Geburt das Gesicht.
„Schmerzen gehören dazu. Aber die vergisst man, sobald man das Kind im Arm hält.“
„So was in der Art hat Helen auch erwähnt. Trotzdem, ein weiterer Punkt, der mich davon abhält, selbst Kinder zu bekommen. Du weißt, wie zartbesaitet ich bin, was Schmerzen betrifft.“
„Papperlapapp“, winkte ihre Mom ab, ging aber glücklicherweise nicht weiter auf das Thema ein und schob sich eine Gabel voll Salat in den Mund, was sie für die nächsten zwei Minuten schweigen ließ und Melanie eine Verschnaufpause von diesem Thema verschaffte.
Dann deutete ihre Mutter nach draußen und sagte:
„Das Wetter soll sich so gut halten. Optimale äußere Umstände für die Tauffeierlichkeiten morgen.“
„Bestimmt. Helen macht sich schon seit Tagen verrückt wegen der Vorbereitung. Dabei haben sie mit Absicht keine so große Gesellschaft eingeladen.“
„Du weißt ja, wie sie ist.“
Melanie nickte und musste beim Gedanken an ihre bisweilen perfektionistisch veranlagte beste Freundin lächeln, die sich manchmal selbst im Weg stand. „Es ist bestimmt alles perfekt bis ins Detail geplant.“
„Dann bestelle Helen und Julien auf jeden Fall liebe Grüße. Und Helens Mutter auch! Ich muss mich unbedingt mal wieder mit ihr auf einen Kaffee treffen“, überlegte sie. „Ach, das Taufgeschenk habe ich in der Praxis vergessen. Das wollte ich dir noch mitgeben.“
„Wir können es auf dem Rückweg abholen, dann komme ich noch mal kurz mit rauf.“
„Sehr schön.“
Beide verspeisten ihr Mittagessen und plauderten über dies und das. Melanie befand, dass es eine gute Idee gewesen war, mal wieder mit ihrer Mom zu lunchen.
Auf dem Rückweg erkundigte sie sich: „Wie geht es Dad?“
Ihre Eltern lebten getrennt, hatten aber weiterhin einen guten Kontakt zueinander.
„Ich habe letzte Woche mit ihm telefoniert. Er plant nächsten Monat oder so mal vorbeizukommen. Es ist alles gut bei ihm.“
„Schön. Ich muss ihn auch unbedingt mal wieder anrufen.“
Ihr Vater hatte zum Glück nicht die Angewohnheit, ihr ständig ihre limitierte Eierstockreserve vorzuhalten.
„Mach das. Das würde ihn sicher freuen.“
„Was hält er denn von deiner Theorie, dass Ben schwul sein soll?“, fragte Melanie belustigt. Ihr Vater war, was Homosexualität anging, mit Sicherheit nicht ganz so aufgeschlossen wie der Rest seiner Familie. Er war sehr konservativ, allerdings war er daran gewöhnt, in der Familie immer wieder mit unkonventionellen Themen konfrontiert zu werden. Ihre Mutter war das beste Beispiel.
„Das habe ich noch nicht mit ihm diskutiert“, erwiderte diese spröde.
„Ihr wart wohl zu beschäftigt mit eurem Telefonsex, wie?“, nutzte Melanie die Gelegenheit, ihre Mutter etwas zu foppen.
„Wir sind zu alt für Telefonsex“, wiegelte diese ab.
„Wer soll dir denn diesen Quatsch glauben?“, lachte Melanie. „Ich wünschte, du wärest mal zu alt für irgendwas, leider hat sich dieser Wunsch noch nie erfüllt.“
„Melanie, du solltest stolz sein, dass ich trotz nahender Menopause noch genauso sexuell aktiv bin wie mit zwanzig. Das sind gute Vorzeichen für dich. Was glaubst du, wie viele meiner Patientinnen mir von mangelnder Libido oder Scheidentrockenheit berichten? Dieser Kelch wird an uns vorübergehen.“
Hätte ich doch bloß nicht damit angefangen, dachte Melanie und nahm sich vor, den Rest des Weges zu schweigen.
Der nächste Tag war ein strahlend sonniger Junitag, und es herrschten perfekte Temperaturen, um die Tauffeierlichkeiten nach dem Gottesdienst draußen stattfinden zu lassen. Melanie hatte sich zur Feier des Tages in ein enges pfirsichfarbenes Kleid gezwängt, bei dem sie mit einem etwas züchtigeren Schnitt, als sie ihn normalerweise bevorzugte, vorliebgenommen hatte, um den Pastor nicht zu verärgern. Dazu hatte sie sich einen passenden Hut mit breiter Krempe gekauft, der leider viel zu teuer gewesen war. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, strich sich eine rote Locke hinters Ohr und schwang sich aus dem Auto. Vor Helens und Juliens Haus richtete sie noch einmal ihr Kleid, bevor sie klingelte.
Kleine trippelnde Schritte vor dem Hoftor und Helens: „Das wird Tante Melli sein“, gaben Melanie Auskunft über ihr Begrüßungskommando.
Im Hintergrund hörte Melanie Geräusche, die über das geschäftige Treiben der Gastgeber Auskunft gaben. Melanie sah Helens gestresste Miene schon vor ihrem geistigen Auge, noch bevor diese das Hoftor geöffnet hatte.
„Ah, komm rein, komm rein“, sagte Helen, zerstreut wie immer. „Wir sind noch nicht ganz fertig und mussten etwas umdisponieren, da wir uns mit den Tischen etwas verkalkuliert haben. Jetzt haben wir für das Buffet einfach den Esstisch aus dem Wohnzimmer draußen aufgebaut.“
Helen, eine zierliche Rotblonde, wirkte zwar gestresst, aber ihre Miene strahlte auch Zufriedenheit und Glück aus. Die zwei Kinder hatten sie insgesamt etwas ruhiger werden lassen, und sie konnte nun auch mal ihren Hang zum Perfektionismus beiseiteschieben. Melanie fand, dass ihr das nur guttat.
Helen war formvollendet in ein rosafarbenes enganliegendes Etuikleid gehüllt, das sich an ihren zarten Körper schmiegte wie eine zweite Haut.
„Ich schwöre dir, Helen, keine Frau sollte so eine Figur haben wie du, nachdem sie zwei Kinder auf die Welt gebracht hat. Wärest du nicht meine beste Freundin, ich würde dich dafür hassen“, kommentierte Melanie Helens Erscheinung.
„Was formende Unterwäsche so alles vollbringen kann“, erwiderte Helen und zwinkerte.
„Dein knochiger Hintern füllt eine formende Unterhose nicht mal ansatzweise aus. Ich spreche da aus Erfahrung, nachdem ich versucht habe, mein fettes Hinterteil heute Morgen in meine zu packen und gescheitert bin.“
Helen lachte nur und nahm ihre Freundin in eine feste Umarmung. „Du siehst umwerfend aus, wie immer.“
Eric, der nun der Meinung war, lange genug ignoriert worden zu sein, zupfte penetrant an Melanies Kleid.
„Und wer ist dieser hübsche kleine Bursche?“, fragte Melanie ihn, während sie ihn auf den Arm nahm.
Eric war ein aufgewecktes Kind und, ganz der Vater, ein kleiner Charmeur. Helen strich ihrem Sohn einmal kurz über den schwarzen Haarschopf und war dann hektisch betriebsam schon wieder im Haus verschwunden.
„Mama sagt, Eric nicht dreckig machen“, sagte der kleine Mann und deutete an sich hinunter auf einen süßen Overall, der eine Anzughose und ein Hemd mit Fliege imitieren sollte.
„Ich passe auf dich auf“, entgegnete Melanie und drückte ihm ein kleines Küsschen auf den Scheitel.
Da kam auch Helens Mann Julien aus dem Haus, mit einem kleinen weißen Bündel im Arm.
„Hey Melli, gut siehst du aus!“ Er nahm sie, soweit ihm das mit dem Baby im Arm möglich war, in seine Arme.
Joceline – nach Juliens verstorbener Mutter benannt – schlief friedlich in seinen Armen und gab auch keine Regung von sich, als Melanie ihr über die winzige Nase strich. Das entzückende weiße Kleidchen war so riesig, dass das kleine Kind fast darin versank. Ihr weicher schwarzer Haarflaum wurde von einem weißen Häubchen bedeckt.
„Nimmst du kurz die Kleine? Helen bekommt sonst, glaube ich, noch einen Blutsturz, wenn das so weitergeht.“
„Sicher“, sagte Melanie, setzte Eric ab, der seinem Vater hinterherwatschelte und irgendetwas davon brummte, dass er mit Melanie spielen wolle.
Mit dem schlafenden Kind im Arm, das den Stress, der um es herum ablief, vollkommen ignorierte, ging Melanie über den Hof bis in den Garten, in dem unter einem riesigen Pavillon mehrere Tische und Bänke standen, die weiß und bordeauxfarben dekoriert worden waren. Pfingstrosen- und Hortensiengestecke schmückten den Tisch und verbreiteten einen frühsommerlichen Duft. Nahe beim Haus wurde gerade ein kleines Buffet vorbereitet, das nachher die verschiedenen Speisen bieten würde. Daneben, an einem schattigen Plätzchen, saß auf ihren Rollator gestützt Helens Großmutter Annemarie und beobachtete das Treiben um sich herum. Sie war eine Greisin, die im Alter erheblich geschrumpft sein musste, sodass ihre Haut ein paar Nummern zu groß für den kleinen Körper schien. Sie trug ein wildes Arrangement aus purpurroter Bluse zu einer türkisfarbenen Hose und hatte sich einen knallorangefarbenen Haarkamm in Form eines Schmetterlings in das lichte weiße Haar gesteckt, das Melanie an Zuckerwatte erinnerte. Sie war eine Frau, die überall gefürchtet war, da sie kein Blatt vor den Mund nahm. Melanie mochte sie sehr und ging auf sie zu.
„Hi, Annemarie.“
„Melanie, wie schön, dass du auch hier bist.“ Mit ihren alten, aber immer noch aufmerksam blickenden Augen unterwarf sie Melanie einer Musterung: „Hast zugenommen, Kindchen. Bist jetzt auch endlich mal schwanger?“
Hatten Annemarie und ihre Mutter sich gegen Melanie verschworen?
„In letzter Zeit mal wieder jemanden vergiftet? Bei deinem Ehemann hat das damals ja auch ganz gut geklappt vor all den Jahren“, überging Melanie die Frage.
Die alte Frau kicherte wie eine Hexe.
„Der Einzige, den ich in meiner Familie noch im Griff habe, ist mein Schwiegersohn. Sei´s drum, das mag ich so an dir. Du lässt dich nicht ins Bockshorn jagen. Lass mich mal einen Blick auf mein Urenkelkind werfen.“
Melanie beugte sich etwas vor und hielt der alten Frau den Säugling unter die Nase. Annemarie nickte zufrieden.
„Aber mal im Ernst, Mädchen. Wer wird mal dein Bett warmhalten? Es wird ein Alter kommen, da wirst du das zu schätzen wissen.“
„Ich werde es mir merken“, entgegnete Melli nur. „Und gelobe Besserung.“
„Natürlich wirst du das. Bist ja nicht auf den Kopf gefallen“, sagte Annemarie und tätschelte ihr die Wange. „Guck mal nach, was die da alle so lange treiben. Ich habe keine Lust, den Pastor warten zu lassen. Sonst nimmt er mir das bis zu meiner nächsten Beichte wieder übel.“
„Ich schaue mal nach“, versprach Melanie, stieg die zwei Eingangsstufen hinauf und betrat das Wohnzimmer, darauf achtend, nicht in irgendeines der Spielzeuge zu treten, die Eric dort hinterlassen hatte. Der Kleine bemerkte ihr Eintreten und klammerte sich an ihr Bein, um wenigstens einen Teil ihrer Aufmerksamkeit gesichert zu haben.
Melanie wusste nicht, warum, aber mit Kindern war sie immer gut klargekommen, auch wenn sie manchmal nicht wusste, wie sie mit ihnen sprechen sollte, und sich unbeholfen vorkam. Aber vielleicht war sie das auch nur in ihrer Vorstellung. Vor allem Eric hatte gerne mit ihr zu tun, und das machte sie froh, da sie sich anfangs nicht sicher gewesen war, ob sie den Aufgaben einer Patentante würde gerecht werden können.