Der Autor
© Peter Pulkowski
Prof. Dr. Jan Kusber lehrt seit 2003 osteuropäische Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das Russische Imperium, insbesondere auch in der Vormoderne, das Baltikum sowie Geschichtspolitik und Erinnerung im östlichen Europa.
Meiner Frau und meiner Tochter
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Umschlagabbildung: Gemälde von Vigilius Eriksen, Katharina die Große im Ornat der regierenden Zarin (ca. 1778/79). The David Collection, Inv. Nr. 14/1967.
1. Auflage 2022
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-021630-3
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pdf: ISBN 978-3-17-025515-9
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Dieses Buch über Katharina II. von Russland hat eine lange Entstehungsgeschichte – im Grunde eine, die in das Sommersemester 1988 zurückreicht, als ich als Student an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in einer Lehrveranstaltung von Eckhard Hübner ein Referat über Katharinas »Griechisches Projekt« zu halten hatte. Seitdem haben mich Person und Epoche immer wieder beschäftigt, in Lehre und Forschung.
Die Gewichtungen und Interpretationen, die in diesem Buch vorgelegt werden, verdanken sich einerseits den lebhaften Diskussionen mit unterdessen mehreren Generationen von Studierenden in Kiel und vor allem an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie sind aber auch in Gesprächen mit Maike Sach, Eckhard Hübner, Ludwig Steindorff, Claus Scharf, Ingrid Schierle, Francine-Dominique Liechtenhan, Galina Smagina, Matthias Schnettger, Heinz Duchhardt, Bettina Braun, Alexander Bauer, Christine Roll und anderen gewachsen.
Dem Charakter eines problemorientierten Überblicks entsprechend, wurde in den Anmerkungen knapp belegt; die Datumsangaben erfolgen, soweit nicht anders angegeben, in innerrussischen Kontexten nach dem julianischen Kalender; die Übersetzungen sind meine – soweit nicht anders angegeben. Für eine kritische Lektüre des Textes im Ganzen oder in Teilen danke ich herzlich Timo Nahler, M. A., Antonia Schlotter, M. A. und Dr. Regina Wenninger. Herrn Christian Zimmermann, B. A., danke ich für die Erstellung des Kartenmaterials. Peter Kritzinger und Ronja Schrand vom Kohlhammer-Verlag danke ich für die konstruktive Zusammenarbeit.
Katharina II. herrschte mehr als drei Jahrzehnte über das Russische Imperium. Als Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst in Stettin am 2. Mai 1729 geboren, bestieg sie 1762 den Thron Russlands an der Seite Peters III. Sie stürzte ihn keine sechs Monate später, um ohne jeden dynastischen Anspruch und unter Ausschluss ihres Sohnes Russland zu regieren. Ihre Zeit als Kaiserin gilt wie sonst nur die Peters I. als eine Periode herrschaftlicher Reform und außenpolitischer Expansion, die beide gleichermaßen imperiale Größe und Russlands Aufstieg zur Weltmacht bedeuteten.
Legitimation durch eine aufgeklärte und gute Regierung sowie durch eine Vergrößerung des Reiches waren die Leitlinien ihres herrscherlichen Selbstverständnisses bis zu ihrem Tode 1796.1 Das vorliegende Buch will diesen Leitlinien folgen. Zugleich soll es ein Beitrag zu einer politischen Biografie der Kaiserin im Kontext der Geschichte Russlands ihrer Zeit sein. Gesellschaftliche Strukturmerkmale des Zarenreiches wie Leibeigenschaft und geringe Urbanisierung, die Transformation der petrinischen Dienstgesellschaft und die Herrschaftsform der Autokratie sowie Multiethnizität und Multireligiosität werden ebenfalls Gegenstand sein, denn alle diese Bereiche waren Felder ihres herrscherlichen Handelns.
Katharina als Herrscherin ist hierbei im europäischen Vergleich zu sehen. Nicht selten wird sie als typische Vertreterin des viel diskutierten aufgeklärten Absolutismus gesehen und hier etwa mit Friedrich II. und Joseph II. oder aber dessen Mutter Maria Theresia verglichen.2 Zwar wissen wir heute, dass der Anspruch, absolut zu herrschen, in weiten Teilen bloßer Anspruch blieb, denn weder konnten die Herrscherinnen und Herrscher in der Fläche auf ihre ganz unterschiedlich verfassten Untertanenschaften zugreifen, noch konnten sie dies ohne die Herstellung eines Konsenses mit den Eliten tun, der immer wieder ausgehandelt werden musste; doch schon die Formulierung des Anspruchs und dessen Akzeptanz im zeitgenössischen Diskurs waren politikrelevant.3 Insofern diente (höfische) Repräsentation immer auch der kommunikativen Untermauerung eines herrscherlichen Anspruches.
Die Unterschiede zwischen den europäischen Herrscherinnen und Herrschern lagen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den repräsentativen und kommunikativen Strategien und in den Ressourcen, die hierfür zu Gebote standen. Katharinas Handeln hier im Vergleich darzustellen, ist deshalb interessant, weil sie anders als etwa Maria Theresia auch eine ›kommunikative Expansion‹ betrieb, indem sie sich mit ihren Briefen und Werken in die République des Lettres Europas einzuschreiben suchte.4
Damit sind die außenpolitischen Dimensionen ihrer Regierung und die internationale Verflechtung des Russischen Imperiums in Europa angesprochen. Die beiden Kriege gegen das Osmanische Reich mit ihrer jeweils folgenden Südexpansion und die drei Teilungen Polens, aber auch der Bayerische Erbfolgekrieg mit Russlands gestärkter Position im Reich, der Krieg gegen Schweden und die Französische Revolution heben ihre Herrschaft auf eine europäische Ebene. Expansion in Konzepte aufgeklärter Herrschaft zu integrieren, war eine Herausforderung, die sie annahm. Territoriale Expansion und geopolitische Einflussnahme waren für sie als Felder politischen Handelns ebenso bedeutsam wie die ›gute‹ Regierung des Imperiums und sollten dazu dienen, Russland Akzeptanz als europäischer Macht zu verschaffen.
Katharina sah sich als beispielgebende Herrscherin im Zeitalter der Philosophen, die ihre Herrschaft durch Lektüre von staatsrechtlicher und ›aufgeklärter‹ Literatur untermauerte. Bildung, Transfer von Kultur und Wissenschaft dienten ihr als Mittel der Modernisierung des Reiches5 und der Rationalisierung von Politik und Verwaltung. Die Schere zwischen dem Anspruch, den die Kaiserin selbst erhob, und den sozialen Spannungen, die sich etwa in dem größten Volksaufstand der russischen Geschichte unter Emeljan Pugačev (1773–1775) entluden, war ihrem Handeln eingeschrieben.6 Ebenso bedeutsam ist der Umstand, dass aufgrund ihrer langen Regierungszeit sowie vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der Entwicklungen der ›Sattelzeit‹7 ihre Art, Herrschaft auszuüben, schon vor ihrem Tod als ›vergangen‹ erschien.
Als sie 1796 starb, schrieb ein Zeitgenosse vielsagend, dass Katharina ›der Große‹ gestorben sei.8 Er zollte damit einer Regierung Tribut, deren Mittel und Strategien all jene Elemente aufwiesen, die Erfolg versprachen – und jene waren männlich konnotiert. Zugleich setzte mit dem Tod Katharinas ein Nachleben ein, das die öffentliche Wahrnehmung bis heute prägt und in dem Sensationslust und Kolportage die Frage nach ihrem politischen Handeln im klassischen Sinne oft in den Hintergrund treten ließen. Ihre Affären, ihre Favoriten, die in der europäischen Öffentlichkeit diskutierte Libertinage bei Hofe9 und nicht zuletzt die Ermordung ihres Gatten Peter haben Generationen immer wieder neu fasziniert, sodass diese Elemente der Biografie nicht selten aus dem politischen Kontext gelöst wurden.10 Durch ihre freie, unkonventionelle Lebensweise hat Katharina als Person immer fasziniert. Auch diese Elemente hatten in jedem Falle eine politische Qualität und interessieren in dieser Sicht, wenngleich sie nicht im Zentrum stehen, auch im vorliegenden Buch.11
Gegenstand dieses Buches ist die politische Dimension ihres Lebens – ihre Reformen und die von ihr vorangetriebene Expansion des Russischen Imperiums an sich, aber auch deren Inszenierung zur Erlangung von Geltung und Prestige. Zugleich geht es um die Diskussion der von ihr selbst aufgestellten Maxime, dass man den Herrscher an das Recht binden müsse – in einer dem Reich angemessenen Weise.12 Ein solcher Anspruch als Leitmaxime ist seit den Thronfolgemanifesten, mit denen sie ihre Thronbesteigung und den Sturz Peters III. begründete, ihre Legitimationsstrategie gewesen.
Wie gut kannte sie ›ihr‹ Reich und seine multireligiöse und multiethnische Untertanenschaft? Auch das Imperium als Herausforderung und Kategorie für herrscherliches Handeln wird darzustellen und in die Erörterung miteinzubeziehen sein.13 Eine allumfassende Biografie Katharinas II. ist nicht angestrebt und wohl auf absehbare Zeit unmöglich. Noch immer schlummern ungesehene Handschriften Katharinas in den Archiven und zugleich ist eine Unzahl von Publikationen über sie erschienen. Während sie in der Sowjetunion kaum im Zentrum des Interesses historischer Forschung stand und stehen durfte, hat man sich ihr in postsowjetischer Zeit intensiv und vor allem mit Blick auf die Hofgeschichte zugewandt. Dies bedient das Interesse an Personengeschichte einerseits, anderseits das Interesse an einer Erzählung der russischen Geschichte, die das Imperium im territorialen und im Sinne der Geltung ›groß‹ macht.14
In jedem Fall steht dieses Buch auf den Schultern von Riesen. Nach wie vor ist Isabel de Madariagas Russia in the Age of Catherine the Great15 in der Verbindung von biografischem Ansatz und Zeitpanorama unübertroffen. Dies gilt sowohl für die Detailliertheit der Darstellung als auch für den umfassenden Zugriff. Andere Autoren wie John T. Alexander und Simon Dixon betonten eher die Herrscherin in ihren persönlichen Beziehungen und ihrer höfischen Umwelt – Themen, die auch im postsowjetischen Umfeld neue Konjunkturen erlebten und erleben.16 Jüngst fügte Francine-Dominique Liechtenhan durch die Nutzung päpstlicher Archive neue Sichtweisen hinzu.17
Feststeht, dass jede Generation von Katharina II. und ihrer Herrschaft neu fasziniert ist, sie aber anders liest und deutet.18 Kategorien historischer Größe verändern sich; das Russische Imperium wird gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts neu konzeptualisiert und natürlich auch immer aus der jeweiligen Gegenwart heraus verstanden. Ich folge hier einem Ansatz, der die Kulturgeschichte des Politischen mit einer Gesellschaftsgeschichte Russlands zusammenbringt und dabei die Perspektive der Herrscherin in den Mittelpunkt stellt. Diese speiste sich im Falle Katharinas aus einem sich über Jahrzehnte hinweg entwickelnden Koordinatensystem, das sich schon in ihrer Großfürstenzeit ausprägte und erst recht in ihrer Regierung fortentwickelte.
Es ging ihr um Legitimation und Legitimität durch gute Herrschaft. Diese wurden befördert durch das öffentlichkeitswirksame Reden und Handeln. Hinzu traten das Implementieren und die Umsetzung von Reformen einer Herrscherin, die bereit war, oder es doch zumindest so postulierte, sich selbst an das Recht zu binden. Und es ging bei ihrem Handeln in den Kategorien des internationalen Prestiges auch um Geltung durch Expansion.
Katharina II. war nicht die erste Kaiserin von Russland. Peter I. hatte seine Frau Katharina I. nicht nur zur Kaiserin krönen lassen und selbst 1722 den Imperatortitel angenommen, um die von ihm beanspruchte Bedeutung zu unterstreichen; seine Frau folgte ihm in Amt und Titel nach.19 Kaiserin Anna, Peters Nichte, regierte Russland zehn Jahre, Elisabeth, Peters Tochter, regierte Russland 20 Jahre.20 Weibliche Herrschaft war also ein der Untertanenschaft des Imperiums wie den europäischen Mächten vertrautes Phänomen und wurde weder in Russland noch an den europäischen Höfen in Zweifel gezogen. Auch der legitimatorische Bezug auf Peter I., den Katharina immer wieder suchte, war insbesondere von Elisabeth ubiquitär genutzt worden.
Was Katharina von ihren Vorgängerinnen unterschied, war ihr enormes Arbeitspensum, ihr Interesse auch am Funktionieren von Staat und Gesellschaft insgesamt, ihre Liebe zum Detail und nicht zuletzt ihre Bildung und ihr Intellekt. Letztere bildete sie erst in Russland aus und zwar in jenen langen Jahren als Großfürstin an der Seite ihres Mannes, des Großfürsten Peter, der als Gottorfer Herzog Karl Peter Ulrich landfremd war wie sie selbst. Russland, seine Gesellschaft, die Hauptstadt, der Hof und die mit ihnen verbundenen Lebenswelten waren ihnen beiden unbekannt. Beide aber befassten sich auf ganz unterschiedliche Weise mit jenem Land, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen sollten.
Im Januar 1744 reiste Sophie Friederike, die spätere Katharina II., nach Russland, wohin sie Kaiserin Elisabeth, die Tochter Peters des Großen eingeladen hatte,1 um den ausersehenen Thronfolger Karl Peter Ulrich, ihren Neffen, zu heiraten. Diese Reise von Zerbst nach Russland führte sie über Berlin, wo sie Friedrich II. traf, nach Reval (Tallinn), und von St. Petersburg nach Moskau, wo sie im Februar 1744 eintraf. Ihre ersten Eindrücke von Russland hatte die Zerbster Prinzessin also reisend erfahren: Sie lernte das Baltikum kennen, St. Petersburg, die wachsende Kapitale Peters I. an der Neva, den beschwerlichen Weg nach Moskau, der sich freilich im tiefen Winter mit dem Schlitten vergleichsweise komfortabel und schnell zurücklegen ließ. Alles war um vieles größer und weiträumiger als das, was sie kannte – Stettin, Zerbst, Berlin. Der Raum, so reflektierte Katharina als Großfürstin, aber auch als Herrscherin immer wieder, war für jede Regierung des Russischen Imperiums eine Herausforderung ersten Ranges.
Dieses Reich erstreckte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts von der Ostsee bis an den Pazifik. Peter I. hatte Livland, Estland und Ingermanland im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) von Schweden gewonnen. St. Petersburg, 1703 gegründet, hatte dem bis dahin führenden Hafen am Weißen Meer, Archangel’sk, schon in den ersten Jahren seiner Existenz den Rang abgelaufen. Im Osten des Reiches war die Eroberung Sibiriens bereits im 17. Jahrhundert erfolgt: 1639 erreichte man bereits das Ochotskische Meer, 1689 und 1727 wurden mit den Verträgen von Nerčinsk bzw. Kjachta erste Verträge mit der Ching-Dynastie Chinas geschlossen. Scharfgezogene Grenzen zum Mandschureich bedeutete dies freilich nicht.2 Sibirien und der Ferne Osten waren extrem dünn besiedelt. In Westsibirien etwa gab es breite Übergangszonen zu Ethnien, die nomadisch lebten, Kasachen, Kirgisen und andere. Auch im Süden des europäischen Russlands existierten keine festen Grenzen. Während man an den Mündungen von Wolga und Don mit Astrachan und Azov Festungen hatte, war das ›wilde Feld‹ (dikoe pole) zu den Krimtataren und mit dem autonomen Kosakenhetmanat der sogenannten linksufrigen Ukraine von einer ebensolchen breiten Übergangszone geprägt.3
Dieses Reich war das größte Flächenland der Welt, und seine Herrscherinnen und Herrscher kannten es nur wenig: Die bedeutenden Expeditionen nach Sibirien, die noch Peter der Große veranlasste, dienten etwa dazu, Kenntnis über das Reich, seine Menschen und seine naturräumliche Gestalt zu erhalten. Zwischen 1720 und 1727 bereiste der deutsche Mediziner Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735) West- und Zentralsibirien. Die Erste und Zweite Kamčatkaexpedition (1728–1730 bzw. 1733–1743) waren Forschungs- und Entdeckungsreisen unter der Leitung des Marineoffiziers Vitus Bering, deren Teilnehmer Sibirien erforschten, die nördlichen Küsten des Russischen Reiches vermaßen und Seewege vom ostsibirischen Ochotsk nach Nordamerika und Japan erkundeten.4 Die Informationen, die auf diesen und anderen Expeditionen über die Zahl und Lebensweise der Völker gewonnen wurden, führten zu etwas genaueren Vorstellungen, wie dieses Reich sich zusammensetzte, funktionierte und wie es zu entwickeln sei.
Russland war ein multiethnisches und multireligiöses Imperium. Nach in ihrer Zuverlässigkeit umstrittenen Schätzungen lebten 1719 etwa 16 Millionen Menschen, um 1750 aber schon etwa 25 Millionen und am Ende der Herrschaft knapp 38 Millionen Menschen im Russischen Reich:5 Viel als absolute Summe, wenig mit Blick auf die Fläche. In Teilen war Russland eine monarchia mixta, ein Herrschaftsgebiet mit durchaus unterschiedlichen Rechtsverhältnissen und jeweils verschieden verfassten Untertanenschaften. Der gemeinsame Bezug war die Autokratie, die das bindende Element darstellte.6 Davon konnte sich die nach Moskau reisende Sophie Friederike einen ersten Eindruck verschaffen. In Reval stieß sie auf eine Stadt mit einer ganz anderen Tradition und Stadtverfassung als in St. Petersburg oder in russischen Provinzstädten. Während die Selbstverwaltung der Städte des Baltikums auf den Traditionen mittelalterlicher Stadt- und Handelsrechte beruhte, kannten Städte seit den Städtereformen Peters I. am Beginn des 18. Jahrhundert zwar Begrifflichkeiten wie Magistrate oder Bürgermeister. Doch Selbstverwaltung und Autonomie kannten sie kaum.7
Die ersten Adligen, denen die Zerbster Prinzessin begegnete, stammten aus den Ritterschaften des Baltikums.8 Sie gehörten zu jenen Adelsgruppen, die ihre fortgeschriebenen Privilegien, was ständische Rechte und Schutz des Protestantismus anging, zu behaupten suchten. Sie waren nicht die einzigen Gruppen mit Sonderrechten. Die Kosakenverbände, etwa das erwähnte Hetmanat, aber auch am Don und am Jaik, genossen Autonomie.
Von St. Petersburg nach Moskau9 aber reiste Sophie durch von Russen besiedelte Gebiete und hier mochte sie einen ersten Eindruck von der Orthodoxie als Bestandteil der russischen Lebenswelt bekommen haben. Die russische Bevölkerungsmehrheit des Imperiums war orthodox, ihre Kirche vielleicht die einzige Institution, die den Staat in der Fläche repräsentierte. An den Peripherien des Reiches lebten aber auch Millionen von Untertanen, die sich nach der Kirchenspaltung (raskol) um die Mitte des 17. Jahrhunderts den sogenannten Altgläubigen zurechneten. Im Wolga-Kama-Raum lebten muslimische Ethnien, die nach der Eroberung Kazans 1552 durch Ivan IV. Groznyj unter die Herrschaft der Zaren geraten waren – muslimische nomadische Baschkiren sahen sich orthodoxen Kolonisten gegenüber.10 In Sibirien und im hohen Norden existierte zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht nur der Doppelglaube (dvoverie), das Nebeneinander von naturreligiösen und orthodoxen Traditionen, sondern lebten Jakuten und Kamčadalen pagan.11 Unter Kalmücken und Tuwinern war der Buddhismus verbreitet. Mission durch die orthodoxe Kirche konnte also aus der Sicht des Staats ein Vorantreiben von Territorialisierung bedeuten, stieß aber, als sie etwa in der Zeit der Kaiserin Elisabeth im Wolga-Kama-Raum intensiver betrieben wurde, auf Widerstand.12 In der Regel dominierte ein pragmatischer Umgang mit religiöser und ethnischer Differenz. Eine Ausnahme sei genannt: In Russland gab es keine nennenswerte jüdische Bevölkerung, sondern es existierte ein verbreiteter Antijudaismus. Kaiserin Elisabeth selbst war ein Beispiel dafür.13
Sophie reiste in ein agrarisch geprägtes Reich, darin unterschied sich Russland nicht von anderen frühneuzeitlichen Herrschaftsbildungen. Eine Besonderheit war jedoch der geringe Urbanisierungsgrad. Die neue Hauptstadt St. Petersburg besaß etwa 150.000 Einwohner, die alte Hauptstadt Moskau um die 200.000 Einwohner, aber die weit auseinanderliegenden Provinzstädte, oft aus mittelalterlichen burgstädtischen Siedlungen hervorgegangen, nur wenige Tausend. Sieht man einmal von den markanten Kirchenbauten und den Kreml- und Klosteranlagen ab – und natürlich von St. Petersburg, für das bereits Peter I. befohlen hatte, es dürfe nur Stein als Baumaterial verwendet werden –, war es ein Reich der Holzbauweise.14 Die Städte und Dörfer waren aus Holz und damit aus einem Material, das die naturräumlichen Gegebenheiten hergaben und das sich dem Klima, den kalten langen Wintern, den heißen Sommern und der kurzen Übergangszeit in Herbst und Winter, der Zeit der Wegelosigkeit, in idealer Weise anpasste. Steine hingegen mussten über weite Entfernungen herantransportiert werden. So übernachteten Sophie und ihre Mutter auf dem Weg von St. Petersburg des Öfteren in Gasthäusern aus Holz; die Gaststuben mögen ihr verraucht und fensterlos vorgekommen sein, aber sie hielten auf diese Weise effektiv Hitze oder Kälte ab.
Die überragende Mehrheit der russischen Bauern (ca. 90 %) war von ihrem Grundherrn abhängig. Die Leibeigenschaft, strukturgebend für den gesamten ostelbischen Raum seit der frühen Neuzeit, erreichte im Russischen Reich ihre wohl bindendste Form.15 Ob der Grundherr ein Adliger, ein Kloster oder die Krone war, der Bauer war an das grundherrliche Land gebunden. Sophie mochte sich in Zerbst keine Gedanken darüber gemacht haben, ob es den Zerbster Bauern auch so ging. In der zu Zerbst gehörenden ostfriesischen Herrschaft Jever, die sie als junges Mädchen besucht hatte und wo sie sich wohl gefühlt hatte,16 waren die Bauern frei. Solche freien Bauern, die sogenannten Einhöfer (odnodvorcy) gab es auch im Russischen Reich, etwa im hohen Norden oder in Sibirien als naturräumlichen Ungunsträumen. Ihre Zahl war jedoch gering. Menschen flohen vor der Leibeigenschaft, etwa an die südliche Peripherie (u krania) in das sogenannte wilde Feld (dikoe pole) und schlossen sich dort mit anderen Kosaken zusammen. Oder sie versuchten vor der Indienstnahme auf Gebiete auszuweichen, in denen sie auf nomadisierende Ethnien trafen, etwa im Kaukasusvorland oder im bzw. östlich des Ural. Durch die Verleihung von Land an den Adel in peripheren Räumen rückte das Prinzip der Leibeigenschaft in Form der Kolonisation jedoch nach.17
In Zentralrussland war der Bauer im Wesentlichen an die Scholle gebunden. Er leistete je nach Region und, aus Sicht des Grundherrn, ökonomischem Zweck Frondienste (barščina) oder Zins (obrok), oder gar beides. Nachdem sich diese Form der Leibeigenschaft seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert gebildet hatte, wurde sie im Gesetzbuch des Zaren Aleksej von 1649, das auch hundert Jahre später noch die Grundlage jeder Rechtsprechung darstellte, festgeschrieben. Dies bedeutete theoretisch zwar nicht, dass der Bauer ›seinem‹ Grundherren auch physisch gehörte, doch die Praxis sah anders aus.18 Bauern konnten Manufakturen als Arbeitskräfte ›zugeschrieben‹ werden und wurden faktisch samt ihren Familien gehandelt. Zeitungen in der Zeit Kaiserin Elisabeths offerierten solche unter Annoncen. 1713 erlaubte Peter I. den Grundherren ausdrücklich, die Bauern mit der Knute zu züchtigen, 1741 verloren sie ihre Rechts- und Geschäftsfähigkeit und wurden vom Untertaneneid ausgeschlossen. Immerhin ging es hierbei um mehr als 80 % der Bevölkerung. Die Bauern trugen also in mehrfacher Hinsicht das Reich ökonomisch. Sie finanzierten den Adel und trugen die Kopfsteuer sowie Naturalleistungen. 1722 machte Peter I. die Gutsbesitzer zur denjenigen, die die Steuer einzutreiben und die Ordnung auf den Gütern aufrechtzuhalten hatten.19
Während man im Zeitalter der Aufklärung die Leibeigenschaft publizistisch unter Feuer nahm, argumentierten die Grundbesitzer, dass sie ihren Bauern auch Schutz und Schirm böten. Die bäuerliche Gesellschaft des Zarenreiches war eine paternalistische und patriarchalische zugleich. Mochte die Leibeigenschaft im fortschreitenden 18. Jahrhundert auch zunehmend in die Kritik geraten und immer öfter mit der Sklaverei verglichen werden. Ökonomisch gesehen existierte auf Seiten der Grundbesitzer offensichtlich kein Handlungsbedarf. Mit ihrem ersten Eindruck von der Bauerngesellschaft wurde Sophie auf ein Thema gestoßen, welches sie in ihrer Herrschaft noch intensiv beschäftigen sollte.20
Die zur Gattin des Thronfolgers ausersehene Zerbster Prinzessin machte in dem Moment, in dem sie den Boden des russischen Reiches betrat, Bekanntschaft mit dem Adel des Imperiums. Insbesondere in St. Petersburg und Moskau lernte sie jenen Adel kennen, der sich spätestens seit Peter dem Großen nach Westen orientierte. Ob freiwillig oder nicht – die mittel- und westeuropäische Hofkultur entwickelte eine Sogkraft, der sich die Adligen nicht entziehen konnten. In der Zeit der Kaiserin Anna waren Deutsch, zunehmend aber auch Französisch die Sprachen des hauptstädtischen Adels.21
In den Hauptstädten wurde Sophie mit jenen Adligen bekannt, die in der Rangtabelle, die seit Peter I. dem Großen jeden Adligen kategorisierte (1722) und ihm seine Position im Militär, in der Verwaltung oder bei Hofe zuschrieb, relativ weit oben rangierten.22 Die großen Familien der Voroncovs, der Šeremetevs, der Dolgorukij und anderer hatten wenig gemein mit dem Provinzadel, dem Sophie auf ihrer ersten Reise begegnete, geschweige denn mit den wenigen, die über die Rangtabelle überhaupt erst in den Adel aufgestiegen waren. Die reichen und einflussreichen Familien – in der Forschung ist gar von ruling families gesprochen worden23 – kämpften um Herrschernähe und verfügten über derart umfangreiche Ressourcen, dass sie in der Lage waren, aufwendig zu repräsentieren und in Imitation des Zarenhofes ihrerseits Hof zu halten, ohne freilich die politische Selbstständigkeit und Macht etwa polnisch-litauischer Magnaten zu besitzen. Ihre Herrschernähe bedingte, dass ihre Lebenswelt zu der Sophies wurde, als sie russischen Boden betrat.
Die großen Familien verfügten über Zehntausende von Leibeigenen, die ihren Wohlstand sicherten, weniger wohlhabende Adlige vielleicht nur über knapp Hundert – für ein aufwendiges Leben bei Hofe zu wenig. Der ärmere Adel blieb also auf den Dienst im Militär, in der Verwaltung und bei Hofe zur Sicherung eines in seinen Augen angemessenen Lebensunterhaltes angewiesen. Der Dienst verband den Adel somit aus unterschiedlichen Gründen. Peter I. hatte ihn verbindlich gemacht, und diese Dienstpflicht galt mit Einschränkungen, die seine Nachfolgerinnen vorgenommen hatten, weiterhin.24 Der Adel des Imperiums war mithin ein Dienstadel, der für seinen Dienst Steuerfreiheit und die Einkünfte aus leibeigener Arbeit genoss. Idealtypisch kann von einer auf die Person des Herrschers zugeschnittenen Dienstgesellschaft gesprochen werden, die Abstufungen und Schattierungen natürlich immer einschloss.
Was Sophie Friederike jedoch sofort aufgefallen sein dürfte, war die Herrscherzentrierung auf die Kaiserin Elisabeth. In dem kleinen Fürstentum Anhalt-Zerbst konnte ihr Vater praktisch überall schnell präsent sein, eine 30-Kilometer-Reise führte ihn von Zerbst aus in fast jeden Winkel seines Territoriums, sieht man einmal von der Herrschaft Jever ab. Im Russischen Imperium hingegen vergingen Monate, bis ein kaiserlicher Befehl aus St. Petersburg etwa Irkutsk erreichte. Herrschaftsdichte nach dem Prinzip, durch herrschaftliche Anwesenheit Vertrauen und Akzeptanz zu schaffen, war im Russischen Imperium nicht möglich. Die Verwaltung vor Ort war nur locker ausgebildet, die petrinische Reform, die das Reich in elf Gouvernements und mehr als 40 Provinzen eingeteilt hatte, hatte die Administration verdichtet, jedoch keine intermediären Gewalten mit einer Delegation von Entscheidungsrechten geschaffen. Im riesigen Imperium lief strukturell alles auf den Herrscher zu, und dies lag in der Autokratie als Herrschaftsprinzip begründet.
Schon lange hat sich die Frühneuzeitforschung von der Vorstellung, die Herrscherinnen und Herrscher dieser Epoche hätten absolute Herrschaft durchsetzen können, verabschiedet.25 Die Herrscherinnen und Herrscher des Russischen Reiches trieben diesen Anspruch mit der Autokratie auf die Spitze. Diese Autokratie hatte sich seit Ivan III., der den Zarentitel im Umgang mit auswärtigen Mächten durchzusetzen versuchte, verfestigt. Die Selbstherrschaft (Samoderžavie, Autokratie) meinte die Verfügungsgewalt des Herrschers über alle seine Untertanen, deren Dienst auf ihn hin ausgerichtet war. Die Großfürsten und seit 1547, als mit Ivan IV. erstmals ein Moskauer Herrscher zum Zaren gekrönt wurde, die Zaren hatten in ihrer Politik alles getan, um die Herausbildung von Ständen zu verhindern. So hatte der rechtlich nivellierte Adel keine ständische Identität herausgebildet, sondern blieb über den Dienst auf den Herrscher bezogen. Die Autokratie blieb im Grunde unhinterfragt.26
Als in der Zeit der Smuta (Zeit der Wirren) um 1600 das Moskauer Reich daniederlag und 1613 der erste Romanov-Herrscher Michailvon einer Landesversammlung gewählt wurde, ging das mit keiner Machtbeschränkung einher. Peter I. mit seinen grundstürzenden Reformen und seiner expansiven Außenpolitik hatte die Autokratie neu legitimiert, kommuniziert und begründet. Neben das Auserwähltsein durch und zugleich die Verantwortung vor Gott traten naturrechtliche Begründungen. Aber bei allen Wandlungen blieb die unbedingte Unterordnung unter die Person des Herrschers Kern der Idee. Als 1730 Anna, der Nichte Peters I. und Herzogin von Kurland, die Krone angeboten wurde, gab es in verschiedenen Gruppen des höheren und niederen Adels die Vorstellung, die Macht der Herrscherin in einer Wahlkapitulation zu begrenzen.27 Doch Ergebnis der autokratischen Politik war eine Fragmentierung des Adels als Gruppe gewesen, die sich auch in der Situation von Wahl und Krönung 1730 zeigte. Anna musste keinerlei die autokratische Macht beschränkende Kapitulation annehmen, die Autokratie existierte fort, auch wenn gerade diese Kaiserin das Regieren weitgehend ihren Beratern überließ.28 Auch ein Putsch stellte offensichtlich die Autokratie nicht in Frage. Als die Kaiserin Anna starb, wurde ihr zwei Monate alter Großneffe Ivan (VI.) Zar. Elisabeth, die aus verschiedenen Gründen übergangene Tochter Peters I., nutzte die Unzufriedenheit mit der Regentschaftsregierung, um sich 1742 mit Hilfe der Garden an die Macht zu putschen. Mit den kolportierten Worten, die Untertanen wüssten, wessen Tochter sie sei,29 führte sie eine umgehend akzeptierte Palastrevolution durch. In der Uniform eines Obersten der Garderegimenter, der seit Peter I. prestigereichen Elitetruppen des Reiches, setzte sie ihre Gegner fest, nahm den Untertaneneid entgegen und ließ sich im April 1742 in Moskau in einer Zeremonie zur Kaiserin des Russischen Reiches krönen, die von einer bis dato einmaligen Prachtentfaltung war. Das aufwendig gestaltete Krönungsbuch, das aus diesem Anlass an alle kleinen und großen Herrscher Europas geschickt wurde, kündete von dem ungeschmälerten Anspruch der Autokratie und von einem starken Sinn für Symbolpolitik und Prestige.30 Elisabeth war unverheiratet und kinderlos. Die schnelle Bestellung ihres Neffen Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorf als Thronfolger am 7. (18.) November 1742 und die Einladung Sophies nach Russland dienten ihrer Machtsicherung und der Dynastie.
Welche Aufgabe Sophie hier zufiel, wird ihr ihre Mutter auf der Reise eingeschärft haben. Welche Größe, welche Vielgestalt dieses Reich hatte, wird ihr sicherlich kaum bewusst gewesen sein. Und auch die europäische Bedeutung wird sich ihr nur indirekt erschlossen haben – über eine preußische Perspektive. Sophies Vater hatte zur Zeit ihrer Geburt im pommerschen Stettin in preußischen Diensten gestanden; nachdem er die Regierung des Fürstentums Zerbst 1742 übernommen hatte, blieb Preußen der politische Referenzrahmen. Sophie und ihre Mutter Johanna besuchten den Berliner Hof mehrfach.
Die Selbstwahrnehmung Friedrichs II. war die eines Königs, der eine aufsteigende Großmacht im Krieg um Schlesien gegen Österreich in Stellung brachte. Der Feldherr überlagerte in dieser Zeit die Selbstinszenierung als aufgeklärter Monarch. Die Kaiserin Elisabeth verachtete er, auch wenn ihm ihre Neutralität im ersten und zweiten Krieg um Schlesien (1740–1742, 1744–1745) wichtig war.31 Ebenso bedeutend war für ihn eine Abstimmung mit dem Zarenreich über eine gemeinsame Politik gegenüber der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Während die russischen Herrscher seit dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721) und insbesondere seit dem stummen Reichstag von Grodno das Ziel hatten, die gesamte Adelsrepublik als Protektorat zu lenken und ihnen dies auch weitgehend gelang, etwa im russisch-polnischen Thronfolgefolgekrieg (1733–1736)32 zur Zeit der Kaiserin Anna, bezogen sich die preußischen Ambitionen, wie sie in den Hohenzollerntestamenten niedergelegt wurden,33 vor allem auf Danzig, Thorn und Westpreußen. Sophie und ihre Mutter ›umfuhren‹ dieses Feld außenpolitischer Aspirationen, da sie den Seeweg von Lübeck über Reval nahmen, durchschifften aber gleichsam ein weiteres Politikfeld – die Ostsee.
Die Auseinandersetzung um das dominum maris baltici war im Großen Nordischen Krieg mit Schwedens Verlust seiner baltischen Provinzen an Russland 1721 nur teilweise entschieden worden. 1741 beschloss die im schwedischen Reichstag dominierende Adelsgruppierung der sogenannten Hüte, den Versuch zu unternehmen, die Ergebnisse des Friedens von Nystadt zu revidieren, und Russland den Krieg zu erklären. Auf diesen Krieg war mit Hilfe der französischen Außenpolitik länger hingearbeitet worden, und man hatte gehofft, das Zarenreich in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Seit 1735 befand sich St. Petersburg im Krieg gegen das Osmanische Reich. Doch 1739 hatten Russen und Osmanen in Belgrad bereits Frieden geschlossen. Von dem Staatsstreich Elisabeths, der von Frankreich unterstützt worden war, erhoffte sich die schwedische Kriegspartei einen schnellen Friedensschluss, doch sie hatte sich getäuscht. Elisabeth befahl ihrem General Peter Lacy die Gegenoffensive an den Küsten des finnischen Meerbusens, und die Region um Helsinki konnte eingenommen werden. Der Frieden von Åbo 1743 brachte leichte Gebietsgewinne für Russland und es konnte durchgesetzt werden, dass mit Adolf Friedrich, Onkel des für Russland ausersehenen Neffen Elisabeths, ein Gottorfer als schwedischer Thronfolger benannt wurde.34 Als Sophie 1744 russischen Boden betrat, hatte Elisabeth also ihre ersten Feuerproben in der Außenpolitik bestanden und sich als unabhängig von französischen Interessen, die ihr Subsidien gebracht hatten, gezeigt.
Dieses Russische Imperium in den ersten Jahrzehnten nach den Reformen und Kriegen Peters des Großen, in das Sophie 1744 gereist war, war eines des Wandels und der Beharrung zugleich. Dem Transfer und der ›Verwestlichung‹ der Eliten – die sich übrigens in einer erstaunlichen Geschwindigkeit vollzog – stand eine Beharrungskraft der traditionalen Gesellschaftssegmente gegenüber, insbesondere außerhalb der Metropolen. Die Entfaltung einer glanzvollen Hofkultur und die Verfestigung der Sozialstruktur einer Dienstgesellschaft begünstigten einander. Das Imperium war als kontinentale Flügelmacht nach der Eroberung des Ostseezugangs in der Zeit Peters I. als Akteur in Europa eine feste Größe, auch wenn der Anspruch der Autokratinnen auf Gleichrangigkeit in Europa insbesondere bei den Habsburgern auf Widerstand stieß.35 Die Gattin eines Großfürsten zu werden, der der Kaiserin Elisabeth nachfolgen sollte, war eine Chance, deren Tragweite Sophies Familie sicher deutlich vor Augen stand. Ob sich die kaum 15-jährige Zerbster Prinzessin auf ihrer Reise dessen klar bewusst war, wie Katharina später in ihren Memoiren behaupten sollte, wissen wir nicht.
Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst-Dornburg wurde am 2. Mai 1729 im pommerschen Stettin geboren. Ihr Vater, Christian August, Fürst von Anhalt-Zerbst, gehörte zur regierenden Anhaltinischen Familie, die jedoch nicht in der Lage war, ihre männlichen und weiblichen Mitglieder standesgemäß zu ernähren. Damit stand Christian August, der immerhin aus dem traditionsreichen Geschlecht der Askanier stammte, keineswegs allein. Viele Mitglieder der Fürstenhäuser des Heiligen Römischen Reiches waren entweder, wenn männlich, auf den Dienst an bedeutenderen Höfen und Staaten oder, wenn weiblich, auf eine ökonomisch auskömmliche Heirat angewiesen. So ging es auch Christian August, der einen Generalsrang in preußischen Diensten bekleidete, zum Zeitpunkt der Geburt seiner Tochter jedoch als Gouverneur von Stettin amtierte. Stettin war am Ende des Großen Nordischen Krieges 1720 in preußischen Besitz gekommen. Die Preußen siedelten wichtige Verwaltungseinrichtungen an und bauten Stettin weiter zu einer Festungsstadt aus. Das Altpreußische Infanterieregiment Nr. 7 wurde nach Stettin verlegt, und Stettin wurde so zur preußischen Garnisonsstadt. Es war also kein höfisches Umfeld, in dem Sophie ihre ersten Jahre verbrachte.1 Christian August war, im Gegensatz wohl zu seiner Frau, ein tiefgläubiger Lutheraner.
Sophies Mutter, Johanna Elisabeth von Gottorf, entstammte einer Dynastie, die in der Politik der Mächte eine Rolle spielte. Peter der Große hatte eine seiner Töchter mit einem Gottorfer Herzog verheiratet. Wegen der Besetzung des Stammschlosses in Schleswig durch Dänemark hatte die Tochter in Kiel residiert und dort wurde Karl Peter Ulrich am 21. Februar 1728 geboren, ein Cousin zweiten Grades der jungen Sophie. Die Familie Johanna Elisabeths stand also in einem ganz anderen Maße im Fokus (nord)europäischer Politik als die Askanier, die im kleinen Zerbst regierten. Und Johanna Elisabeth hatte ganz offensichtlich ein hohes Bewusstsein ihrer eigenen Bedeutung und der ihrer Nachkommen.2 Für Sophie, Prinzessin und Tochter eines preußischen Generals, war eine gute Heirat eine echte Zukunftschance. Über die Kindheit der späteren Kaiserin Katharina ist nicht allzu viel bekannt, wobei ihre Bemerkung gegenüber ihrem Korrespondenten Baron Friedrich Melchior Grimm,3 sie habe nichts von Interesse aus ihrer Kindheit zu berichten, vor dem Hintergrund der Position, die sie nach der Thronbesteigung 1762 innehatte, sicher als Koketterie einzuordnen ist.
Wir besitzen über ihre Kindheit, Jugend und ihre Zeit als Großfürstin nach 1744 vor allem eine zentrale Quelle – die Memoiren, an denen sie schon als Großfürstin, aber auch als Kaiserin vor allem bis etwa 1772, danach nur sporadisch, arbeitete. Von den verschiedenen kurzen und langen Versionen sind fünf französische und zwei russische Textstücke bekannt, die erst 1859 erstmals und nur in Teilen erschienen, nach einer nicht ganz zuverlässigen Abschrift herausgegeben von Alexander Herzen in London. Die Memoiren haben Generationen von Historikerinnen und Historikern fasziniert, weil sie eine Sogkraft entwickeln, der man sich bis heute kaum entziehen kann.4 Insbesondere für die Kindheit sind sie zudem die einzig verwertbare Quelle. Blickt man auf die Stationen ihrer jungen Jahre – die Jahre in der Garnisonsstadt Stettin und in der den Zerbstern gehörenden Herrschaft Jever,5 die wiederholten Aufenthalte in Berlin und den kurzen Aufenthalt in Eutin 1739, wo sie ihren späteren Ehemann, Karl Peter Ulrich, kennenlernte –, so sind weder in der Erziehung her noch über die Nähe oder besser Distanz zu den Eltern außergewöhnliche Vorkommnisse festzuhalten. Dies wollte zumindest Katharina selbst später so gesehen wissen. Als ihr gelehrter Briefpartner, Baron Friedrich Melchior Grimm, 1776 den Wunsch äußerte, nach Stettin zu reisen, antwortete sie ironisch: »In all diesem sehe ich durchaus nichts interessantes, es sei denn, Sie glaubten, die Örtlichkeit sei von Bedeutung und habe Einfluss auf die Geburt passabler Kaiserinnen.«6 Ob und inwieweit die Frömmigkeit und das Pflichtbewusstsein des Vaters oder die Ambitionen der Mutter auf sie gewirkt haben, erfahren wir aus den Memoiren so, wie Katharina es überliefert wissen wollte. Bei Rückschlüssen, Orte, Menschen und Ereignisse hätten sie und ihr späteres Regierungshandeln in dieser oder jener Weise geprägt, ist schon aufgrund der relativen Quellenarmut Vorsicht geboten.7
Sophie wurde als erstes von fünf Kindern in der Stettiner Domstraße geboren, wo dem Festungskommandanten und Gouverneur ein Eckhaus zustand. In ihren Memoiren meinte Katharina später, ihre Mutter sei enttäuscht darüber gewesen, dass ihr erstes Kind ein Mädchen gewesen sei. Schon im Alter von zwei Jahren wurde Sophie von der Obhut der Amme in die Aufsicht einer Erzieherin, Madelaine Cardel, zwei Jahre später deren jüngeren Schwester Elisabeth Cardel übergeben. Beide entstammten einer ins Brandenburgische geflohenen calvinistischen Hugenottenfamilie. Katharina erinnerte sich an Elisabeth als »geduldig, sanft, heiter, gerecht, beständig«,8 während der wohl auf Wunsch des Vaters mit der Erziehung befasste pietistische Regimentsprediger und Pfarrer Christian Wagner für die fromme Erziehung sorgen sollte. Katharina erinnerte ihn als streng und langweilig. Viel mehr als die Fabeln La Fontaines durch Cardel und Luthers Tischreden durch Wagner wurden ihr, so die Memoiren, nicht zur intellektuellen Verkostung geboten. Sie langweilte sich.9 Das Interesse an Lektüre und Selbstbildung mochten ihre Erzieher in Stettin und dann in Zerbst aber in ihr angelegt haben.10
1742 verbesserte sich die Situation der Familie von Christian August, der gerade zum preußischen Feldmarschall befördert worden war: Gemeinsam mit seinem Bruder Johann Ludwig trat er die Nachfolge des anhaltinischen Fürsten Johann August an, dessen Linie mit seinem Tod ausstarb. Das Fürstentum war klein, verbesserte aber die materielle Grundlage der Familie. Die barocke Hofhaltung seines Vorgängers in Zerbst und die damit verbundenen Dienste sowie die Baumaßnahmen an Schlössern und anderen Gebäuden trugen wesentlich zum kontinuierlichen Aufschwung von Wirtschaft und Handel in Anhalt-Zerbst bei. Zerbst war im Rahmen der Möglichkeiten ein Hof der Musen. Dies galt nicht nur für das Zerbster Schloss, sondern auch für Schloss Dornburg an der Elbe, das insbesondere Johanna Elisabeth liebte und mit ihren Kindern gerne aufsuchte. Zahlreiche namhafte und bedeutende Künstler, Handwerker, Schauspieler und andere ließen sich über Jahrzehnte in Zerbst nieder. Schon seit 1722 wirke Johann Friedrich Fasch als Hofkapellmeister, der bis zu seinem Tode 1758 zahlreiche bedeutende Stücke komponierte und mit der Hofkapelle aufführte. Die Zerbster Residenz genoss Sophie (Fiegchen, so berichtet sie in ihren Memoiren, wurde sie genannt) jedoch nur kurze Zeit. Was sich ihr in Zerbst eher mitgeteilt haben mochte als in Stettin, Braunschweig oder Berlin, war die Anciennität des Geschlechts der Askanier, dem sie entstammte.11
Wie geriet eine Prinzessin, wie es sie im Alten Reich nicht wenige gab, in den Lichtstrahl der Politik? Schon bald nach ihrem Putsch ging die Kaiserin Elisabeth daran, ihre Nachfolge zu sichern und ließ ihren Neffen Karl Peter Ulrich nach Russland holen. Karl Peter Ulrich, der am Hofe seines Onkels Adolf Friedrich, des Fürstbischofs von Lübeck und Administrator des Herzogtums aufgewachsen war, wurde 1739, in jenem Jahr, in dem er der jungen Sophie begegnet war, Gottorfer Herzog.12 Adolf Friedrich lud seine Schwester Johanna Elisabeth und Sophie ein, um sein Mündel Karl Peter Ulrich zu präsentieren. In ihren Memoiren legt Katharina bereits mit der Schilderung dieser ersten Begegnung das Fundament für ein düsteres Bild ihres späteren Gatten, das sich mit jeder Version der Memoiren noch dunkler einfärbt. Ein Mensch mit Hang zum Alkohol und einer unangebracht kindlichen Neigung zu seinen Spielzeugsoldaten: Diesen Eindruck soll er bei ihr nach dem Eutiner Besuch hinterlassen haben.13 Er wurde schon vor der Palastrevolution seiner Tante als Kandidat für den russischen, vor allem aber auch für den schwedischen Thron diskutiert. Elisabeth ernannte ihn kurz nach ihrer Machtübernahme zum Thronfolger, war doch die Sicherung der Nachfolge für sie von vorrangiger Bedeutung. Als er nach Russland eingeladen wurde, war es wohl keine Alternative, dieses Angebot auszuschlagen und auf den schwedischen Thron, der ihm ebenfalls im November 1741 angeboten worden war, zu setzen. Nichts zeigt den Bedeutungsverlust Schwedens nach dem Großen Nordischen Krieg im Vergleich zu Russland deutlicher. Karl Peter Ulrich reiste 1742 mit einer kleinen holsteinisch-gottorfer Entourage nach St. Petersburg und musste – eine unbedingte Voraussetzung für den Thron – zur Orthodoxie konvertieren. Ob ihm dies schwerfiel, wissen wir aus zeitgenössischen Berichten nicht. Er blieb jedenfalls auch Herzog von Holstein-Gottorf und seinem Herzogtum immer stark verbunden.14
Für den Fortbestand der Dynastie in der Linie Peters des Großen war eine baldige Eheschließung sinnvoll. Und Elisabeth wählte die Braut für ihren Neffen nicht zufällig. 1727 war sie selbst mit dem Bruder von Johanna Elisabeth, mit dem in Russland in Diensten stehenden Gottorfer Herzog Karl August verlobt worden, der jedoch an Pocken verstarb. Offensichtlich war die Verlobung nicht nur arrangiert gewesen, sondern von Zuneigung getragen. Offiziell sollte Elisabeth nicht mehr heiraten. Schon unter Zeitgenossen wurde allerdings spekuliert, ob sie ihren langjährigen Favoriten Aleksej Razumovskij geheiratet hatte.15
Das Haus Gottorf war also in mehrfacher Hinsicht im Fokus. Die Idee, Sophie mit Karl Peter Ulrich zu verheiraten, wurde Elisabeth jedoch von Friedrich dem Großen nahegebracht, der sich dazu ihres einflussreichen Leibarztes Johann Hermann von L’Estocq als Mittelsmann bediente. Friedrich wollte eine Kandidatin, die dazu beitragen konnte, dass Elisabeth sich nicht an der Seite Österreichs gegen Preußen wende. Für eine solche österreichische Orientierung stand während des österreichischen Erbfolgekrieges und der darin eingewobenen Schlesischen Kriege Russlands Staatskanzler Aleksej Bestužev-Rjumin. Seine Vorschläge gingen etwa in Richtung einer sächsischen oder französischen Prinzessin für Karl Peter Ulrich.16 Friedrich steuerte gegen und wies nun direkt seinen Gesandten Heinrich Freiherr von Mardefeld an, er solle doch »eine Prinzessin aus irgendeinem alten herzoglichen Hause Deutschlands«17 vorschlagen, um das sächsische Heiratsprojekt zu torpedieren. Er war im Übrigen keinesfalls bereit, Elisabeth, auf die er herabsah, eine seiner Schwestern als Gattin für den russischen Thronfolger anzubieten.
Ob die Entscheidung für Sophie tatsächlich einem sentimentalen Affekt für das Haus Gottorf entsprang, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls folgte Elisabeth Friedrichs Vorschlag, weil er in ihre Dynastiepolitik passte,18 und wenn Friedrich gehofft hatte, mit Sophie in St. Petersburg eine Parteigängerin aufbauen zu können, musste er nicht erst mit ihrer Thronbesteigung lernen, dass Dankbarkeit für Katharina in der Realpolitik keine relevante Kategorie war.
Elisabeth lud Sophie im Dezember 1743 nach Russland ein, das Schreiben erreichte Zerbst am 1. Januar 1744. Eingeladen wurden sie und ihre Mutter, die adressiert wurde, nicht aber Friedrich August:
»Auf ausdrücklichen und besonderen Befehl Ihrer Kaiserlichen Majestät habe ich Ihnen mitzuteilen, dass die erhabene Kaiserin es wünscht, dass Eure Durchlaucht, begleitet von der Prinzessin, Dero ältesten Tochter, sich so bald wie möglich und ohne Zeitverlust in unser Land begibt, an den Ort, an dem der kaiserliche Hof sich dann befinden wird.«19
2021