Für meine Enkelkinder: Albert und Hanno

Die Aufgabe des denkenden Menschen
ist die Wahrheitsfindung.

(Karl R. Popper)

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© 2021 Hans-Joachim Zietze

Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
ISBN 978-3-7557-6304-8

Inhalt

Vorwort

Beim Aufräumen meines Gartenhauses fand ich ein vergilbtes Manuskript, das ich kurz vor meiner Ausreise aus der DDR 1985 verfasst hatte. In diesem Manuskript hatte ich mich kritisch mit der Lebensmittelkontrolle in der DDR auseinandergesetzt. Inzwischen hatte ich mich beruflich verändert und viele Dinge waren in Vergessenheit geraten, an die ich mich nach nunmehr über 30 Jahren kaum noch detailliert erinnern konnte. Und so fragte ich mich, ob es nicht doch von Interesse sein könnte, den Nachgeborenen einen Eindruck davon zu vermitteln, mit welchen Schwierigkeiten die Lebensmittelüberwachung in der damaligen DDR konfrontiert war.

Ich hatte von 1964 bis 1969 an der Humboldt-Universität in Berlin Lebensmittelchemie studiert mit dem Ziel, den Beruf eines Lebensmittelchemikers auszuüben. Nach einer dreijährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Ministerium habe ich das getan, wofür Lebensmittelchemiker in erster Linie auch ausgebildet werden, nämlich in der Lebensmittelkontrolle zu arbeiten. Was ich dann im Rahmen meiner Tätigkeit von 1972 bis 1986 in der staatlichen Lebensmittelüberwachung in der DDR erlebt habe, darüber habe ich in diesem Manuskript berichtet.

Die Lebenswirklichkeit in der DDR war – wie auch in allen anderen kommunistischen Staaten – durch ein permanentes Mangelwirtschaftssystem geprägt. So manchem Zeitgenossen ist der Begriff eines Mangels vielleicht erstmals in der Corona-Pandemie bewusst geworden, als die Bereitstellung der vielerorts ersehnten Impfstoffe sich zunächst als mangelhaft erwies. Und es offenbarte sich einmal mehr, dass Mangelzustände – und seien sie auch nur temporär – eine Herausforderung an die Solidarität für die Gesellschaft darstellen. Je länger ein Mangelsymptom anhält, desto geringer wird die Geduld, es auszuhalten und auf Besserung zu warten. Wie aber haben die Menschen in einer Gesellschaft empfunden, in welcher der Mangelzustand ein dauerhafter Begleiter ihrer Lebenswirklichkeit war?

Mit der Aufarbeitung der deutschen Geschichte hat es auch heute noch so seine eigene Bewandtnis. Als ich mich an die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte mit dem Antrag wandte, eine Veröffentlichung meiner Dokumentation finanziell zu unterstützen, erhielt ich prompt eine Absage mit der Begründung, »wonach die vorhandenen Haushaltsmittel nicht ausreichend vorhanden wären. Kosten und Absatz einer solchen Veröffentlichung wären überschaubar …« (323). Im Klartext lautete also die Botschaft: »Dieses Thema interessiert weder uns noch andere. Wir werden die Veröffentlichung eines solchen Zeitzeugenberichtes daher auch nicht unterstützen.«

Eine seltsame Institution – wie ich finde –, die sich angeblich die Aufarbeitung der deutschen Geschichte auf ihre Fahnen geschrieben hat, aber Zeitzeugenberichten offenbar wenig Beachtung beimisst.

In den nachfolgenden Kapiteln hat der unvoreingenommene Leser nun die Möglichkeit, sich selbst ein Bild von den Verhältnissen in der damaligen Lebensmittelkontrolle zu machen. Ich berichte anhand ausgewählter Beispiele von den Schwierigkeiten derjenigen, die sich bemühten, unter den gegebenen Möglichkeiten noch das Beste zu machen, und die von dogmatischen Entscheidungsträgern immer wieder ausgebremst wurden.

Im Gegensatz zu einer Demokratie, deren Fundament die Freiheit und die offene Diskussion bilden, wurde in der DDR ausschließlich nach politisch-ideologischen Doktrinen entschieden. Zu welchen Auswirkungen das speziell auch in der Lebensmittelüberwachung führte, darüber berichte ich in den nachfolgenden Kapiteln.

Die DDR war eine Diktatur. Und in einer Diktatur geht es in erster Linie darum, die nach ideologischen Doktrinen vorgegebenen speziellen gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen durchzusetzen. Im Kern lassen sich die Verhältnisse in einer Diktatur ziemlich einfach beschreiben: Die einen befehlen und die anderen gehorchen. Die Lebensmittelüberwachung in der DDR blieb davon nicht unberührt.

Im menschlichen Leben kommt der Ernährung ein Stückchen Lebensqualität zu, denn Ernährung, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensfreude sind untrennbar miteinander verbunden. Jeden Tag essen und trinken die Menschen und sie gehen davon aus, dass alles, was sie zu sich nehmen, auch hinreichend geprüft und in Ordnung ist. Denn schließlich gibt es ja auch ein Lebensmittelgesetz und eine Lebensmittelkontrolle, deren Aufgaben darin bestehen, darüber zu wachen, dass nur einwandfreie Lebensmittel dem Verbraucher angeboten werden.

Das Lebensmittelgesetz der DDR erhob den Anspruch, eine gesundheitspolitische Mission im Sinne eines umfassenden Gesundheitsschutzes des Verbrauchers zu erfüllen. Dem stand die Praxis der Lebensmittelüberwachung gegenüber. Ein Heer von Opportunisten, folgsamen und angepassten Mitläufern ordnete sich den ideologischen Doktrinen unter und war bemüht, sich der Obrigkeit anzudienen. Und natürlich gab es auch einen kleinen Kreis von engagierten Mitwirkenden, die sich bemühten, im Strom des Widersinnigen das Vernünftige zu realisieren. Aber auch jene Wenigen, die sich aufrecht haltend und mit Konsequenz in Konfrontation gingen, blieben oftmals wirkungslos.

So war die Lebensmittelkontrolle durch die Aneinanderreihung vieler Zugeständnisse geprägt, die vor allem durch ein Wirtschaftssystem bedingt waren, welches nur den Mangel kannte. Fachliche Beurteilungen hatten sich vorrangig politisch-ideologischen Zielstellungen unterzuordnen. Das begründete zu Recht den Ruf der Lebensmittelkontrolle in der DDR, zweifelhaft und schwach zu erscheinen. Von diesen Erfahrungen ausgehend muss ich retrospektiv eingestehen, dass die Vielzahl an teilweise unnötigen Zugeständnissen sich für den Verbraucher auch nicht ausgezahlt hat.

Nach heutigen Maßstäben bemessen, war die Lebensmittelkontrolle in der DDR ein einziges Desaster. Wenn Essen und Trinken zu einem Lebensrisiko werden und eine schwache Lebensmittelkontrolle keinen ausreichenden Schutz mehr bietet, ist etwas faul. In der DDR funktionierte die Lebensmittelkontrolle vor allem deshalb nicht, weil sie sich zahlreichen politischen Zielvorstellungen unterzuordnen hatte. Zu den geistigen Wegbereitern einer solchen Praxis gehörten auch zahlreiche Intellektuelle, deren Geisteshaltung sich darin offenbarte, sich für bestimmte politische Interessen herzugeben, anstatt sich in ehrbarer Weise ihrer eigentlichen fachlichen und wissenschaftlichen Aufgabe zu widmen.

Sowohl in der Lebensmittelproduktion als auch im Lebensmittelhandel offenbarten sich erhebliche Missstände. Sie äußerten sich in einer miserablen Qualitätsproduktion von Lebensmitteln und in einer Vielzahl lebensmittelhygienischer Probleme. Letztlich litten darunter der Gesundheitsschutz und damit auch die Lebensmittelsicherheit.

Das System der Mangelwirtschaft brachte es mit sich, dass die Lebensmittelüberwachung häufig in einem vollzugsleeren Raum stand. Das, was die Lebensmittelkontrolle vorgab als Zielstellung zu verfolgen, stand im krassen Widerspruch zu dem, was sie tatsächlich zu leisten vermochte.

Man mag entgegenhalten, dass auch die gegenwärtige Lebensmittelüberwachung z.T. noch Defizite und Schwachpunkte offenbart. Das ist sicherlich so. Aber insgesamt gesehen wird heute – vor allem vor dem Hintergrund der Einführung eines europäischen Lebensmittelrechtes – eine Lebensmittelüberwachung praktiziert, die mit der z.T. laxen Handhabung der Lebensmittelkontrolle in der DDR in keinster Weise noch etwas gemeinsam hat. Die nachstehenden Ausführungen sind für den Leser vielleicht insoweit von Interesse, als sie einen Einblick vermitteln, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen eine vernünftige Lebensmittelüberwachung nicht bzw. nur unter großen Schwierigkeiten möglich war.

In der DDR bin ich vielen Menschen begegnet, die sich an die gesellschaftlichen Bedingungen weitestgehend angepasst hatten. Es war eine Art kollektiv vollzogene Verleugnung der Wirklichkeit, in welcher man zwar diesen oder jenen Widerspruch erkannte, diese aber als eine unumstößliche Tatsache hinnahm. Besonders nachdenklich stimmte mich das Verhalten zahlreicher Intellektueller, von denen zu erwarten gewesen wäre, dass sie sich im Hinblick auf ihre wissenschaftliche Berufung und ihre geistige Urteilskraft mehr der Wahrheit verpflichtet gefühlt hätten. Wer sich widerstandslos – aus welchen Gründen auch immer – irgendwelchen unsinnigen ideologischen Doktrinen oder sonstigen fragwürdigen politischen Interessen unterordnet, hat eigentlich seinen wissenschaftlichen Anspruch verloren. Auch heutzutage tendieren immer wieder einige Intellektuelle dazu, politischen oder sonstigen fragwürdigen Interessen zu Diensten zu sein, die Wahrheit zu verbiegen und der Laienwelt etwas vorzugaukeln.

Wenn es stimmt, was die amerikanische Politikwissenschaftlerin Karin Stenner (325) behauptet, »dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe«, dann heißt das einmal mehr, dass die Demokratie ein sehr fragiles Gebilde ist. Man ist gut beraten, mit kritischem und wachem Verstand allen denjenigen Kräften entgegenzutreten, die versuchen, die Demokratie verächtlich zu machen oder sie sogar abschaffen zu wollen. Vor einem Rückfall in eine Autokratie oder in die Tyrannei einer Diktatur kann ich nur warnen. Ich habe sie erlebt und weiß, wie sich das anfühlt.

Kapitel I: Grundsätze und Strategie der
Lebensmittelüberwachung

Geschichtlicher Überblick

Die Notwendigkeit einer Lebensmittelkontrolle wurde schon früh erkannt. Sie lässt sich weit in den geschichtlichen Ablauf zurückverfolgen. Erste Anfänge der Lebensmittelüberwachung gehen bis in das 2. Jahrtausend v.u.Z. zurück. Den Quellen aus der Zeit der hochentwickelten Gesetzgebung des Hammurapi (2133–2081 v.u.Z.) ist zu entnehmen, dass bereits schon damals zeitweilig eine Regelung des Lebensmittelverkehrs notwendig war und festgestellte Lebensmittelverfälschungen bestraft wurden. So lautete eine der ältesten Vorschriften aus jener Zeit:

»Wenn die Bierwirtin ein minderwertiges, dem Getreidepreis nicht entsprechendes Bier verkauft, soll sie überführt und alsdann im Flusse ertränkt werden!«

Damit bestand an sich schon damals vor 4.000 Jahren ein Bedürfnis zum Nachweis von Lebensmittelverfälschungen. Aus dem alten Ägypten ist bekannt, dass nicht nur die Technik der Lebensmittelherstellung relativ weit entwickelt war, sondern auch die Kunst der Fälschung und Erkennung.

Das deutsche Lebensmittelrecht reicht bis in das 12. Jahrhundert zurück. So heißt es um 1120 im Soester Stadtrecht:

»Wer faulen (d.h. verfälschten) Wein mit gutem (d.h. reinem) Wein mischt, der hat, wenn er überführt wird, sein Leben verwirkt.«

Im Jahre 1250 wurde den Käufern in Dortmund verboten, das Fleisch bei Besichtigung zu wenden, also selbst anzufassen. Als äußerst drakonisch stellten sich z.T. auch die Strafen dar, die bei festgestellten Lebensmittelverfälschungen oder -betrugsmanövern verhängt wurden. Aus der Chronik der Stadt Nürnberg ist überliefert, dass im Jahre 1440 einem Bürger die Ohren abgeschnitten wurden, weil er beim Getreidemessen betrogen hatte. Zahlreiche Männer und Frauen wurden zwischen 1444 und 1456 mit ihren gefälschten Gewürzen teils verbrannt, teils lebendig begraben. Noch im Jahre 1693 wurde ein Bürger wegen überhöhter Preise an den Pranger gestellt.

Vorchemische Lebensmittelkontrolle

Schon im Mittelalter hatte man offenbar erkannt, dass Verordnungen zur Regelung des Lebensmittelverkehrs ihren Zweck nur erfüllten, wenn sie mit einer Kontrolle verknüpft wurden. Die ersten von Amts wegen durchgeführten Lebensmittelkontrollen beinhalteten eine Prüfung von Wein, Bier, Brot und Fleisch. Aus dem Jahre 1498 ist bekannt, dass die Weinkontrolle von praktischen Sachverständigen vorgenommen wurde, die offenbar in der Lage waren, zeittypische Fälschungen zu erkennen. Auf den Märkten waren Brotprüfer, Fleischbeschauer und Bierkieser tätig, die von den Zünften oder von den Stadträten bestellt waren (3).

Im Grunde konnten sie nur feststellen, was man sehen, riechen oder schmecken kann. Als kurios nimmt sich bereits die Bierprüfung im 15. Jahrhundert heraus. Sie soll als amtliche Bierbeschau so ausgeübt worden sein, dass die »Bierkieser« das Bier auf eine hölzerne Bank ausgossen und sich dann in ihren ledernen Hosen daraufsetzten. Wenn sie dann nach längerem Sitzen aufstanden, konnten sie aus der mehr oder minder starken Klebkraft des eingetrockneten Bieres auf dessen Extraktgehalt schließen (4).

Bis etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts erfolgte die Lebensmittelkontrolle nur mit Hilfe der Sensorik, d.h. noch ohne chemische und physikalische Methoden. Die ersten erfolgreichen Versuche, chemische Methoden bei der Lebensmittelprüfung anzuwenden, nahmen ihren Ausgang in Südwestdeutschland. In Frankreich und Süddeutschland war es am Ende des 17. Jahrhunderts zu umfangreichen Weinfälschungen gekommen. Saure Weine hatte man mit Bleiessig entsäuert. Über die Gesundheitsschädlichkeit dieser Behandlungsmethode wurde man sich offenbar erst im Klaren, als Massenerkrankungen mit Hunderten Opfern auftraten (5). Das veranlasste Gelehrte aus Freiburg, Ulm und Tübingen nach einer Nachweismethode für Blei im Wein zu suchen. So entstand die sog. »Würtembergische Weinprobe«.

Die Prüfung auf bleihaltige Weine erfolgte nach dieser Methode durch Abkochen mit Auripigment (Arsensulfid) und gebranntem Kalk. Beim Zusatz des calciumsulfidhaltigen Filtrats zu bleihaltigen Weinen bildete sich ein schwarzer Niederschlag von Bleisulfid. Nach Sperlich (6) handelt es sich bei dieser noch in ihrem Ursprung dem alchimistischen Zeitalter verhafteten Fällungsreaktion um die erste praktisch angewandte lebensmittelchemische Untersuchungsmethode. Das Jahr 1707, in welchem diese Methode (7) erstmals veröffentlicht wurde, ist demzufolge als Beginn der chemischen Lebensmittelanalytik zu bezeichnen.

Der Beginn der wissenschaftlichen Lebensmittelkontrolle

Die Würtembergische Weinprobe wurde in verbesserter Form noch bis ins 19. Jahrhundert angewandt (8). Die eigentliche systematische und wissenschaftliche Überwachung des Verkehrs mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen wurde erst im 19. Jahrhundert mit der Entwicklung der Naturwissenschaften möglich. Sie war auch dringend notwendig geworden. Ausschlaggebend war die soziale Umschichtung der früher weitgehend landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung zu Industriearbeitern. Der frühere Selbstversorger wurde zum abhängigen Konsumenten, der fast völlig auf den Kauf seiner Lebensmittel angewiesen war. Viele Menschen zogen vom Land in die rasch wachsenden Städte, in denen eine große Nachfrage nach Nahrungs- und Genussmitteln herrschte. Nahrungsmittel wurden in zunehmendem Maße industriell hergestellt und behandelt. Sie wurden entweder in konservierter Form oder bereits mehr oder weniger gebrauchsfertig in den Verkehr gebracht. Unlautere Gewerbe- und Industriebetriebe nutzten diese Situation aus, indem sie die Lebensmittel verfälschten. Sie bedienten sich dabei auch zunehmend der erweiterten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse.

Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Lebensmittelkontrolle begann zunächst mit der Erforschung der Zusammensetzung von Lebensmitteln. Mit dem analytischen Nachweis von schädlichen Metallen (z.B. Hahnemann’sche Bleiprobe in Wein) um 1800 wurden die ersten Analyseverfahren entwickelt. Um 1830 waren bereits die ersten relativ vollständigen Lebensmittelanalysen ausgeführt. Einen chronologischen Überblick über die einzelnen Entwicklungsetappen gibt u.a. Maier (1).

»Ab Mitte des 19. Jahrhunderts«, so berichtet Maier (1), »führten überwiegend gewerbliche Laboratorien im Auftrag von Behörden und Unternehmen unabhängige chemische Untersuchungen durch. Als Gründervater gilt Remigius Fresenius, der sein Laboratorium 1848 in Wiesbaden begründete. Die selbstständigen öffentlichen Chemiker etablierten damit ein weiteres Berufsfeld … Waren die Nahrungsmittel- und Handelschemiker einerseits freie Unternehmer, sahen sie sich andererseits einem strengen wissenschaftlichen Ethos und dem Gemeinwohl verpflichtet, um dem Verdacht zu begegnen, in erster Linie die Interessen der Auftraggeber zu bedienen.«

So entstand einer der ersten reichsweit regulierten Chemikerberufe in der Nahrungsmittelchemie. Und ergänzend führt Maier (1) hierzu aus:

»Die Nahrungsmittelchemiker galten zunächst als Gewerbetreibende. Als Teil der staatlichen Gewerbeaufsicht und Gesundheitsvorsorge fiel den »geprüften Nahrungsmittelchemikern« die Aufgabe zu, chemische Analysen vorzunehmen und gerichtliche Gutachten zu erstellen. Um ihre Neutralität und allgemein gültigen Untersuchungsstandards zu garantieren, musste als Voraussetzung für die Einstellung als Gewerbeaufsichtsbeamter eine Nahrungsmittelchemiker-Prüfung abgelegt werden. Die ab 1897 gültige Ordnung sah ein 3-jähriges Referendariat mit abschließender 2. Prüfung vor, nach der die Amtsbezeichnung ‚Gewerbeassessor‘ verliehen wurde. Ab 1901 organisierten sie sich in der Freien Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker mit rund 400 Mitgliedern im Jahre 1908.«

Mit der nach 1870 einsetzenden raschen industriellen Entwicklung stiegen auch in zunehmendem Maße die Fälle von groben und gewissenlosen Lebensmittelverfälschungen. Sperlich (6) schreibt hierzu:

»Es waren die sogenannten Gründerjahre, als nach dem siegreichen Krieg in das Deutsche Reich Milliarden der französischen Kriegsentschädigung hineinströmten. Die Folge war ein ungesunder Wirtschaftsboom. Zahlreiche neue Unternehmen wurden gegründet – daher der Name Gründerjahre – darunter viele unsolide. Im Zusammenhang damit stiegen auch die Lebensmittelverfälschungen in einer für uns kaum vorstellbaren Weise. Butter wurde mit Kartoffelmehl oder mit ‚Kunstbutter‘ aus Talg, Wurstwaren wurden mit Mehlkleister gestreckt, zum Brotbacken wurde Alaun oder Kupfervitriol als Backhilfsmittel verwendet. Bier wurde zwecks Hopfenersparnis mit der bitter schmeckenden Pikrinsäure versetzt. Es gab Firmen, die aus Ton künstliche Kaffeebohnen herstellten, die dem Bohnenkaffee zugemischt wurden.«

So etwa stellte sich die Situation Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts dar. Sie führte 1877 zur Einrichtung eines chemischen Laboratoriums in dem ein Jahr zuvor gegründeten Kaiserlichen Reichsgesundheitsamt.

Die Lebensmittelgesetzgebung in Deutschland

Parallel zu den ersten Bemühungen, Lebensmittelkontrollen durchzuführen, entwickelte sich auch eine Rechtsauffassung und Rechtsprechung. Die erste Reichsverordnung, die den gesamten Verkehr mit Lebensmitteln berücksichtigt, wurde 1532 in Freiburg vom Reichstag des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erörtert und noch im gleichen Jahr erlassen. Sie klingt in unserem jetzigen Hochdeutsch etwa so:

»Wer in böser Absicht und gemeingefährlicher Weise Maße, Waagen, Gewichte, Spezereien oder andres Kaufmannsgut fälscht und als ehrlich gebraucht oder ausgibt, der soll in empfindliche Strafe genommen, des Landes verwiesen oder an seinem Leibe mit Ruten ausgehauen werden, sofern die Fälschung oft, umfangreich und böswillig geschehen ist, soll der Täter mit dem Tode bestraft werden.«

Eine systematische Ausgestaltung hat die Lebensmittelgesetzgebung des alten Reiches jedoch nicht erfahren. Das Lebensmittelrecht ging in den Landesgesetzen (Polizei- und Strafgesetzbüchern und -Verordnungen) auf. In dem erlassenen Reichsstrafgesetzbuch vom 01.01.1872 sind die Lebensmittel noch stiefmütterlich behandelt. Jedoch war der Verkauf von gefälschten Esswaren und Getränken bereits landesweit strafbar.

Der Beginn der amtlichen Lebensmittelüberwachung in Deutschland ist eng mit dem Namen Bismarck verknüpft. Es wird ihm nachgesagt, dass er aus Furcht vor einer Verfälschung seines geliebten Weines mit Chemikalien die Einrichtung des chemischen Laboratoriums im Kaiserlichen Gesundheitsamt unterstützt habe (1). Obwohl das 1876 gegründete Kaiserliche Gesundheitsamt eigentlich zur Bekämpfung von Epidemien, vor allem der Cholera, geschaffen wurde, bekam es auf Drängen von Bismarck als erste große Aufgabe die Regelung der Nahrungsmittelgesetzgebung übertragen. Bismarck hat damit wesentlich die Nahrungsmittelgesetzgebung initiiert. Das Kaiserliche Gesundheitsamt löste mit dem 1879 erlassenen Nahrungsmittelgesetz diese Aufgabe sehr schnell. Das erste deutsche Nahrungsmittelgesetz betreffend den Verkehr mit Nahrungsund Genussmitteln sowie Gebrauchsgegenständen ist vom 14.5.1879 datiert.

Die Entwicklung zeigte bald, dass die Begriffe Nahrungs- und Genussmittel bei der Anwendung des Gesetzes nicht umfassend waren. Engst (41) bemerkt hierzu:

»Substanzen, die weder der Deckung des Nahrungsbedarfes noch dem Genuss dienten, wurden durch die Begriffsbestimmungen des Gesetzes nicht erfasst. Backpulver, Konservierungsmittel, Farbstoffe und andere artfremde Substanzen konnten nur indirekt beanstandet werden, z.B. wenn sie einem Nahrungsmittel eine gesundheitsschädliche Beschaffenheit verliehen oder den Tatbestand der Verfälschung oder Nachahmung unterstützt bzw. bewirkt hatten.«

Diese Situation machte bald die Überarbeitung dieses Gesetzes notwendig. In der Neufassung des Gesetzes von 1927 wurde deshalb der Begriff »Lebensmittel« eingeführt. Er umfasste alle Stoffe, »die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand von Menschen gegessen oder getrunken zu werden, soweit sie nicht überwiegend zur Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind.«

Diese Formulierung gestattete alles, was mit der Nahrung zugeführt wird, unter die strengen Bestimmungen des Lebensmittelgesetzes zu stellen. Lebensmittelfarbstoffe, Konservierungsmittel, Backpulver, also Stoffe, die dazu bestimmt sind, mit der Nahrung gegessen und getrunken zu werden, waren demnach ebenso Lebensmittel wie die Genussmittel oder Stoffe, die der Deckung des Energiebedarfes dienten.

Bis zum derzeitigen Stand der Lebensmittelgesetzgebung hat das Lebensmittelrecht in Deutschland zwischenzeitlich zahlreiche Änderungen erfahren. Es wurde mehrmals den veränderten Bedingungen des Lebensmittelverkehrs angepasst (1927, 1935, 1943, 1958 und 1974 in der BRD (2), 1962 in der DDR).

Mit der Auflösung der DDR und der Etablierung einer neuen gesamtdeutschen Rechtsordnung wurde auch das Lebensmittelgesetz (LMG) der DDR außer Kraft gesetzt. Das zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung geltende Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (LMBG) der BRD erweiterte seinen Geltungsbereich auch auf die neuen Bundesländer. Im Jahre 2002 wurde es gemäß VO (EG) Nr. 178/2002 als Nachfolgegesetz durch das Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) ersetzt. Es waren vor allem die Lebensmittelskandale der 90er Jahre – allen voran der europäische Dioxinskandal in Futtermitteln –, die dazu führten, dass die bis dahin auf EU-Ebene erlassenen produktbezogenen Einzelvorschriften zum Lebensmittelrecht durch ein fachübergreifendes Gesamtkonzept ersetzt wurden. Durch direkt geltende Verordnungen wurde somit eine Harmonisierung des Lebensmittelrechts als »Gemeinschaftsrecht« im gesamten europäischen Raum eingeführt. Schrittweise wurde nunmehr von 2002 bis 2005 auf der Grundlage des sog. Weißbuches zur Lebensmittelsicherheit ein neues übergeordnetes Recht eingeführt, welches heute als europäisches Lebensmittelrecht auf nationaler Ebene angewandt wird.

Entwicklungsetappen der Lebensmittelüberwachung
in Deutschland

Schon sehr früh erkannte man die Notwendigkeit, dass zur Einhaltung der lebensmittelgesetzlichen Bestimmungen ein gut funktionierendes Überwachungssystem mit den dafür notwendigen Befugnissen und einer entsprechenden Autorität erforderlich ist. Mit der Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes wurden gleichzeitig auch die ersten Voraussetzungen für den Aufbau eines Überwachungssystems geschaffen. In diesen Jahren erfolgte die Gründung der ersten Chemischen Untersuchungsämter, deren Hauptaufgabe die Untersuchung der Lebensmittel- und Bedarfsgegenstände war.

Es wurden Chemische Untersuchungsämter gegründet 1876 in Nürnberg, 1877 in Hannover, 1878 in Hamburg, 1879 in Krefeld, 1881 in Breslau und 1884 in München, Erlangen und Würtemberg. Maier (1) schreibt hierzu:

»Bald waren es 107 Anstalten auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Die Organisation war in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Zum Beispiel unterstanden sie in Preußen den Kommunen, in Bayern waren sie staatlich und an Universitätsinstitute angeschlossen. Auch die Größe war und ist unterschiedlich. Heutzutage variieren die Einzugsgebiete der Ämter zwischen 140.000 bis 6 Millionen Einwohner.«

Die alliierten Militärregierungen, denen in der Zeit nach 1945 »die höchste Autorität« in Deutschland zustand, haben weder in Westdeutschland und auch nicht in Ostdeutschland in das deutsche Lebensmittelrecht eingegriffen. Auf dem Gebiet der damaligen DDR wurden noch 1945 Zentralverwaltungen gebildet, darunter diejenigen für das Gesundheitswesen und für Handel und Versorgung. Teils durch eigene Anordnung, teils durch Empfehlungen an die Länder schuf die Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der DDR ab 1946 ein neues Lebensmittelrecht, welches das bestehende erneuerte bzw. ergänzte.

In der alten Bundesrepublik entstand eine Überwachungsstruktur nach den föderalen Gegebenheiten, wonach die einzelnen Bundesländer und die jeweiligen Stadtstaaten für die amtliche Lebensmittelüberwachung zuständig waren. Den zuständigen Landesministerien bzw. in den Stadtstaaten den jeweiligen Senatsverwaltungen oblag es nun, die Lebensmittelüberwachung zu organisieren.

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands wurde diese Struktur übernommen und ist bis heute so erhalten.

Die Lebensmittelgesetzgebung in der DDR

Die Grundlage der Lebensmittelgesetzgebung in der DDR bildete das Gesetz vom 30.11.1962 über den Verkehr mit Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen – Lebensmittelgesetz (LMG) (10). Dieses Gesetz stellte als Rahmengesetz in Verbindung mit einer Vielzahl von Ergänzungsbestimmungen (11) die allgemeine Rechtsorientierung für die Lebensmittelüberwachung dar.

Mit Inkrafttreten des Lebensmittelgesetzes am 3.12.1962 wurde das bis dahin in der DDR noch im Wesentlichen gültige Lebensmittelgesetz aus dem Jahre 1927 durch ein neues Lebensmittelgesetz abgelöst. Entgegen der bisher geltenden Definition schränkte es den Begriff »Lebensmittel« auf Substanzen ein, die nur zur Deckung des Nahrungsbedarfes oder zum Genuss bestimmt sind. Wörtlich hieß es hierzu im § 2 (1) des neuen Lebensmittelgesetzes (LMG):

»Lebensmittel sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, zur Befriedigung des Nahrungsbedarfes oder zum Genuss in unverändertem, zubereitetem, be- oder verarbeitetem Zustand von Menschen gegessen, getrunken oder auf andere Weise aufgenommen zu werden.«

Alle übrigen Stoffe, die bestimmungsgemäß einen verbleibenden Bestandteil im Lebensmittel bilden und daher mit verzehrt werden (§2 (4) LMG), d.h. also Backpulver, Konservierungsmittel, Lebensmittelfarbstoffe und anderes, standen den Lebensmitteln (in der gesetzlichen Behandlung) – wie Tabakwaren – gleich, ohne jedoch selbst »Lebensmittel« zu sein. Die erwähnten übrigen Stoffe wurden im § 4 des Lebensmittelgesetzes als Fremdstoffe näher definiert.

Das Lebensmittelgesetz in der DDR war ein Rahmengesetz. Die dazu erlassenen Ergänzungsbestimmungen dokumentierten einen kaskadenförmigen Aufbau des weiteren Lebensmittelrechts. Als Rahmengesetz enthielt das LMG grundsätzliche Festlegungen, von denen man erwartete, dass sie unverändert viele Jahre den Verkehr mit Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen bestimmten (51). Detaillierte Reglementierungen blieben gemäß § 11 dieses Gesetzes Durchführungs- und Nachfolgebestimmungen überlassen.

Sie waren schneller abzuändern als das Gesetz selbst, dessen Festlegungen bei derartigen Abänderungen allerdings nicht verletzt werden durften. Damit sollte die Möglichkeit der Berücksichtigung neuer Erkenntnisse gewährleistet werden. Das Lebensmittelrecht wurde dadurch auch entsprechend elastisch gestaltet.

Das Lebensmittelgesetz der DDR erhob in seiner Präambel und im § 1 den Anspruch, eine gesundheitsprophylaktische Mission zu erfüllen. Die Aufgaben und Maßnahmen, die der Lebensmittelwirtschaft sowie anderen beteiligten Organe bei der Sicherstellung des Lebensmittelverkehrs zukamen, waren im § 1 (3) des LMG zusammengefasst. Es hieß dort:

»Bei diesen Maßnahmen sind die gesundheitlichen Erfordernisse sinnvoll mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu verknüpfen mit der Maßgabe, dass diese der Gesundheit der Bevölkerung zu dienen haben.«

Die gesundheitspolitische Aufgabe des Lebensmittelgesetzes war somit klar herausgestellt. Danach war es unstatthaft, wirtschaftliche Belange in den Vordergrund zu stellen, wenn sie nicht den volksgesundheitlichen Interessen entsprachen. Diese Formulierung hat sich in der Praxis allerdings als recht problematisch erwiesen. Es hatte sich nämlich wiederholt gezeigt, dass gerade unter den angespannten wirtschaftlichen Bedingungen in der DDR dieses Gebot ständig verletzt wurde. Die Vielzahl der vorliegenden Ausnahmegenehmigungen dokumentierte diese Situation (Tabelle 1). Für den Vollzug der Lebensmittelkontrolle bedeutete das den Zwang, oftmals nachträglich Verfahrensweisen oder Tatsachen akzeptieren zu müssen, die aus ökonomischen Interessen als »zwingende Notwendigkeit« dargestellt wurden.

Aus den Bestimmungen des § 1 (3) LMG resultierte ferner, dass es unstatthaft und sinnwidrig wäre, in der Lebensmittelüberwachung eine Einrichtung zu sehen, die nur offensichtlich gesundheitliche Aspekte zu berücksichtigen hatte. Engst (41) bemerkte hierzu:

»Ihre Maßnahmen sind nicht auf Fragen der akuten Verhütung von Krankheiten durch Lebensmittel und der Sicherung der Hygiene im Lebensmittelverkehr im engeren Sinne zu beschränken; sie muss zweifellos auch der Zusammensetzung der Lebensmittel, ihrer Qualität und Aufmachung sowie erwünschten und unerwünschten Begleitstoffen Aufmerksamkeit zuwenden, die in unübersehbarem Ausmaß die Volksgesundheit belasten.«

Das Lebensmittelgesetz der DDR war auf die besonderen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten in der DDR abgestellt. Und im Unterschied zu den Lebensmittelgesetzgebungen in der BRD oder auch in vielen anderen Ländern war es in besonderer Weise durch eine starke politisch-ideologische Indoktrination geprägt.

Zur politisch-ideologischen Indoktrination des
Lebensmittelgesetzes (LMG)

Die DDR war in ihrer marxistisch-leninistischen Eigendefinition eine Diktatur der Arbeiter-und Bauern-Macht. Sie war also keine Rechtsgesellschaft mit einer rechtsstaatlichen Praxis nach dem Verständnis einer freiheitlich-demokratischen Rechtsauffassung.

Die marxistisch-leninistische Rechtslehre hat für die Beurteilung der Frage, was Recht sei und was nicht, als bestimmendes Kriterium die ihrer Ideologie entsprechende tautologische Formel des Rechtspositivismus zur Hand: Recht ist, was der Staat (als formell kompetentes Organ) als Recht verkündet.

Mit anderen Worten hieß das: Es galt ein Rechtskodex nach dem Prinzip: Die Interessen der Gesellschaft oder des Kollektivs sind denen des Individuums übergeordnet. Hierin spiegelte sich die Auffassung vom »Klassencharakter« des Rechts wider, denn in der marxistisch-leninistischen Rechtsinterpretation war das Recht unter der Diktatur des Proletariats, »der Wille der Arbeiterklasse«, zum Gesetz erhoben.

Im Bereich des marxistisch-leninistischen Rechts galt demzufolge, dass die Politik der alleinige Maßstab für gesellschaftliches Handeln und auch gegenüber dem Recht war. Im Klartext hieß das, das Recht war eine der Politik untergeordnete Kategorie und damit ein wesentliches Mittel, die Gesellschaft in einer bestimmten Weise zu gestalten. Das Recht war dieser Doktrin zufolge vor allem eine definierte Norm zur Verwirklichung ideologischer Glaubensbekenntnisse. So gab es auch kein Verfassungsgericht, an das man sich hätte wenden können, wenn einem Unrecht widerfahren war.

Das Inverkehrbringen der Lebensmittel wurde demzufolge durch eine Rechtsverordnung geregelt, die – wie im Übrigen auch alle anderen Rechtsbestimmungen – grundsätzlich so abgefasst war, dass sie mit der politischen Zielsetzung übereinstimmte und diese sicherte.

Für die Lebensmittelgesetzgebung wurde diese erforderliche Anpassung und Elastizität der Rechtsordnung gesetzestechnisch dadurch erreicht, dass das Lebensmittelgesetz (LMG) der DDR als ein Rahmengesetz formuliert wurde, welches mit seinen Rahmenregelungen einen breiten Auslegungsspielraum schaffte, der häufig durch Ausführungsbestimmungen präzisiert wurde (51). Der Gesetzestext wurde durch eine Präambel eingeleitet, in der die Zielsetzungen der nachfolgenden Regelungen dargelegt wurden. Sie war allgemein politischer Natur (»Aufbau des Sozialismus, Stärkung der Republik etc.«) und verkündete im Großen und Ganzen die jeweilige politische Zielsetzung. Um eine solche Politik in die Praxis umzusetzen, bedurfte es der Unterstützung von Entscheidungsträgern, die bereit waren, diesem politischen Auftrag zu folgen. In diesem Kontext ist auch zu verstehen, warum die maßgeblichen Entscheidungsträger in der Lebensmittelüberwachung der DDR in bestimmten Situationen zuallererst nach politischen Vorgaben so und nicht anders entschieden haben.

Autokratische Systeme und alle Diktaturen funktionieren nach dem Prinzip des weitgehend blinden Dienens und Gehorchens. Das schließt die öffentliche eigene freie und kritische Willens- und Meinungsbildung aus. Dadurch entsteht ein Konformitäts- und Anpassungsdruck auf alle Gesellschaftsmitglieder nach dem Prinzip: Bloß nicht auffallen und offenbaren, dass man bestehende politische Zielsetzungen anzweifelt oder gar in Frage stellt.

Ein solcher Verhaltenskodex zeichnete vor allem die vielen folgsamen und angepassten Mitläufer in der DDR aus. Kritiker hatten es unter solchen Bedingungen wirklich nicht leicht. Fachliche Kompetenz und andere spezielle Eignungen mussten sich stets einem Bekenntnis zur treuen Gefolgschaft unterordnen.

Die Indoktrinierung des Lebensmittelgesetzes lässt sich eigentlich nur im Kontext dieser vorstehenden Betrachtungsweise verstehen. Ein indoktriniertes Gesetz kann nur dann mit einer ideologisch-politischen Zielstellung umgesetzt werden, wenn in den maßgeblichen Entscheidungsabläufen auch hinreichend willige und loyale Entscheidungsträger sitzen, die als Erfüllungsgehilfe des Parteiapparates fungieren.

In den nachfolgenden Kapiteln skizziere ich anhand von Anekdoten und einiger ausgewählter Fallbeispiele unterschiedlichste Verhaltensweisen bei einzelnen Entscheidungsabläufen, die zeigen, dass sachlich begründete rationale Sachentscheidungen oftmals einer politischen Zielsetzung geopfert wurden.

Es ist nicht überliefert, ob den Verfassern des Lebensmittelgesetzes in der DDR bewusst war, dass ein breiter Ausgestaltungs- und Auslegungsspielraum natürlich auch denjenigen in die Hände spielte, die ungeachtet der jeweiligen politischen Zielsetzung sich dem eigentlichen Anliegen der Lebensmittelüberwachung in ehrbarer Weise verpflichtet fühlten. Entkleidete man das Lebensmittelgesetz von seinen doktrinären Begleitinhalten, stellte sich nämlich heraus, dass das Lebensmittelgesetz (LMG) der DDR auch durchaus sinnvolle Regelungen und Feststellungen enthielt. Einige der skandalösen Entscheidungsabläufe wären durchaus vermeidbar gewesen, wenn sich die in der Lebensmittelkontrolle maßgeblichen Protagonisten mehr ihrem Berufsethos verpflichtet gefühlt hätten und nicht zuallererst als Diener und Gefolgsleute der Partei in Erscheinung getreten wären. Und es gab Ereignishorizonte mit Abgründen, in die man gar nicht hineinschauen wollte.

Im Jahr 1971 erhielt ich eine Einladung zu einem als streng vertraulich eingestuften Arbeitstreffen mit Sportmedizinern in Ostberlin. Eingeladen hatte einer der führenden Sportmediziner in der DDR, ein gewisser Dr. Höppner, der – wie sich später herausstellte – das Zwangsdoping-Programm in der DDR maßgeblich initiierte.

Das Arbeitstreffen fand in seinem Büro in der Friedrichstraße in Ostberlin an einem Nachmittag statt. Der Kreis der teilnehmenden Gäste war mit etwa zehn Personen recht überschaubar. Nach einer kurzen Begrüßung eröffnete Dr. Höppner die Besprechung und kam auch gleich zur Sache. »Ich habe Sie heute hier eingeladen«, so begann er, »um mit Ihnen folgendes Thema zu besprechen. Wir haben eine Devisenbereitstellung für den Kauf von Anabolika aus dem NSW erhalten. Diese finanziellen Mittel erlauben es uns, eine Menge von insgesamt 1,56 Tonnen Anabolika zu kaufen. Davon gehen aber etwa 80 % an den großen Bruder (gemeint ist die Sowjetunion Anm. des Autors), für den wir diesen Einkauf mit durchführen. Ich habe Sie heute hierher eingeladen, um von Ihnen zu erfahren, ob und in welchem Umfang auch in Ihren Dienstbereichen Interesse und Bedarf an der Bereitstellung solcher Substanzen besteht. Bitte nehmen Sie hierzu kurz Stellung!« Mir verschlug es die Sprache. Natürlich wusste ich, dass diese Substanzen schon in geringsten Mengen eine spezielle Wirkung entfalten und als Dopingmittel in gesundheitlicher Hinsicht sehr umstritten waren. »Oh Gott«, schoss es mir durch den Kopf, »wo bist du denn hier hineingeraten?« Ich hatte bislang mit der Bearbeitung und Betreuung ernährungswissenschaftlicher Forschungsprojekte zu tun, die aber mit sportmedizinischen Fragestellungen keine Berührung hatten. Also verneinte ich erst einmal ein Interesse unsererseits. Auch mein Fachkollege von der militärmedizinischen Fakultät zeigte seinerseits wenig Ambitionen, sich auf dieses Thema einzulassen. Nur so viel verriet uns Dr. Höppner dann doch, dass man im Bereich der Sportmedizin plane, leistungsfördernde Substanzen einzusetzen, um den DDR-Leistungssport an die Weltspitze zu führen.

Es waren solche Begegnungen, die mich sehr nachdenklich stimmten. Die Sportmediziner, die mir hier begegneten, waren alles andere als empathische Leute. Sie zeigten sich sehr verschlossen und wenig gesprächsbereit, wenn es darum ging, über ihre Projekte Auskunft zu geben. Man war gut beraten, sich mit ihnen nicht näher einzulassen.

Den Sportmedizinern und Chemikern in der DDR, die sich über alle ethischen und moralischen Grundsätze und Bedenken hinwegsetzten und zunächst im großen Stil Anabolika einkauften, später dann auch selbst synthetisierten und verabreichten, kann man nur ein skrupelloses Handeln bescheinigen. Diejenigen Tierärzte in der Tierzucht und in der Landwirtschaft, die in bedenkenloser Weise Antibiotika, anabolisch wirkende Substanzen und andere toxische Stoffe unkritisch einsetzten, waren alles andere als unwissende Naivlinge. Auch wenn man manchen Tierärzten unterstellen darf, dass sie über keine fundierten chemisch-toxikologischen Kenntnisse verfügten, waren sie sich ihrer fragwürdigen Handlungsweisen durchaus bewusst. Ich hatte nie das Gefühl, wenn ich ihnen begegnete, dass sie nicht wussten, was sie taten.

Staatliche Lebensmittelkontrolle im rechtsfreien Raum

Der politischen Zielsetzung entsprechend sah die Lebensmittelgesetzgebung in der DDR eine ausschließlich nur staatliche Lebensmittelüberwachung vor. Diese staatliche Lebensmittelkontrolle ,, die ich nachfolgend mit dem Akronym »DDR-LMK » (d.h. DDR-Lebensmittelkontrolle) nenne – gestaltete prinzipiell alle ihre Entscheidungen und Vollzugsmaßnahmen gegenüber den Betroffenen unanfechtbar. So war sie nicht verpflichtet, ihre eigenen Maßnahmen jemals kritisch zu hinterfragen oder transparent der Öffentlichkeit zu präsentieren. Tätigkeitsberichte – wie sie heute an der Tagesordnung sind – und wie diese schon damals z.B. aus dem Vollzug der Lebensmittelkontrolle in der Schweiz (13, 18, 45) und der BRD (232) und anderenorts regelmäßig bekannt gegeben wurden, gab es in der DDR nicht.

Ein weiteres Wesensmerkmal der doktrinären Lebensmittelgesetzgebung äußerte sich u.a. darin, dass dem Warenbesitzer oder Produzenten im Rahmen der Lebensmittelkontrolle das Recht einer beweiskräftigen Gegenprobe verwehrt wurde. Die Erfahrungen beim Vollzug der Lebensmittelkontrolle bestätigten, dass dieser konzeptionelle Fehler in der Lebensmittelgesetzgebung nicht nur zu einer erhöhten Rechtsunsicherheit der Betroffenen führte, sondern auch einer willkürlichen und fehlerhaften Praxis Tür und Tor öffnete.

Das Fehlen einer gesetzlichen Gegenprobe war als ein schwerwiegender Mangel der Lebensmittelüberwachung anzusehen. Damit war grundsätzlich die Möglichkeit eingeschränkt, angezweifelte Untersuchungsergebnisse gründlich abzuklären. Ein solcher Rechtsschutz ist nach heutigem Rechtsverständnis eine Conditio sine qua non.

Darüber hinaus eröffnet die Gegenprobe aber auch für die amtliche Lebensmittelüberwachung die grundsätzliche Chance, mögliche Analysefehler rechtzeitig noch vor der endgültigen Auswertung mit dem Beschuldigten aufzudecken bzw. zu korrigieren. Allein die Tatsache, dass rechtskräftige Gegenproben möglich sind, zwingt die Analytiker zu einem sorgsamen und fehlerfreien Arbeiten. Im Hinblick auf korrektes Arbeiten ist das ein wichtiger Impuls. Die Aufdeckung von Analysefehlern, die mit gewisser Wahrscheinlichkeit nie ganz auszuschließen sind, ist ein Umstand, der den analytischen Chemiker nicht unbeeindruckt lässt. In dieser Hinsicht kommt also der Gegenprobenmöglichkeit eine entscheidende Bedeutung im Sinne der Verpflichtung zu einer korrekten Arbeitsweise zu (262, 263).

Ich hatte die Gelegenheit, sowohl in der DDR als auch später in der bundesdeutschen Lebensmittelkontrolle arbeiten zu können. Von meinen Erfahrungen in der Lebensmittelkontrolle in der DDR ausgehend, muss ich eingestehen, dass bei einer Reihe von damaligen Analysedaten der begründete Verdacht einer nur ungenügenden Abklärung bis hin zur Fehlerhaftigkeit gegeben war. Im Unterschied hierzu habe ich die gewissenhafte Analysetätigkeit meiner Fachkollegen im damaligen Landesuntersuchungsinstitut für Lebensmittel, Arznei- und Tierseuchen (LAT Berlin) schätzen gelernt, die sehr darauf bedacht waren, auf keinen Fall Befunde auf der Basis fehlerhafter Analysedaten zu erstellen. Sie haben mit »sog. Blindproben« und in »Ringversuchen« immer wieder getestet, wie gut oder fehlerhaft sie gearbeitet haben. Die Zuverlässigkeit ihrer Untersuchungsergebnisse wurde durch Qualitätssicherungsmaßnahmen überprüft, die sie im Rahmen von Laborvergleichsuntersuchungen durchführten. Eine solche Praxis war mir in dieser Konsequenz aus keinem der damaligen Untersuchungsinstitute in der DDR so bekannt.

Laien und Amateure in der Lebensmittelüberwachung

Ein besonderes Merkmal der politisch-ideologischen Indoktrinierung des Lebensmittelgesetzes stellte die Einbeziehung sog. gesellschaftlicher Kontrollkräfte (Hygieneaktivs, Mitglieder der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI) sowie der Nationalen Front und anderer sog. Massenorganisationen) für Aufgaben auf dem Gebiet der Lebensmittelüberwachung dar. Diese Festlegung fand sich im Lebensmittelgesetz in den §§ 1 (1) und 16 (2) verankert. Die Bedeutung zur Mitwirkung von gesellschaftlichen Kräften im Rahmen der Kontrolltätigkeit staatlicher Organe wurde in der DDR tagtäglich betont (212). Ich hielt das für eine Absurdität sondersgleichen.

Die Herausforderungen an die Lebensmittelkontrolle sind derart komplex und durch komplizierte Sachverhalte gekennzeichnet, dass sie ein hohes spezialisiertes Fachwissen erfordern, über das der Laie nicht verfügt. Es grenzt an Leichtfertigkeit, in diese Kontrolltätigkeit irgendwelche unqualifizierten Kontrollpersonen einzubinden, die unfähig und überfordert sind, spezielle Risiken zu erkennen und einzuordnen. Allein im Hinblick auf die Gefahrenerkennung und -bewertung in epidemiologischer und mikrobiologischer Hinsicht fehlte ihnen jegliches Fachwissen, geschweige denn, dass sie in der Lage gewesen wären, eine Umweltbelastung durch unterschiedlichste Kontaminationen mit Umweltchemikalien, sonstigen Fremdstoffen, beabsichtigten oder unbeabsichtigten Lebensmittelzusätzen zu erkennen.

In der heutigen Lebensmittelkontrolle nehmen auf der untersten Vollzugsebene landesweit sog. Lebensmittelkontrolleure bestimmte Inspektionsaufgaben wahr (157). Es sind nicht wie z.B. in der Schweiz (233) akademisch qualifizierte Leute, sondern zumeist handwerklich gut geschulte Kontrolleure, die zuvor als Fleischer, Bäcker oder in einem vergleichbaren Lebensmittelberuf gearbeitet haben bzw. neuerdings – wie in Baden-Würtemberg (315) – mindestens über einen Abschluss als Meister verfügen müssen. Für einfache Tätigkeiten der augenscheinlichen Prüfung auf Sauberkeit, allgemeine Hygiene, sachgemäße Warenpflege und die Überprüfung einfacher Kennzeichnungsinhalte ist dieses Ausbildungsprofil auch durchaus ausreichend qualifiziert. Insofern haben sie auch ihre Berechtigung bei der Bewältigung dieser Routine-Inspektionsaufgaben.

Im Hintergrund sind es aber die wissenschaftlichen Sachverständigen, die mit ihrer Fachexpertise dazu beitragen, die hygienischen, toxischen und sonstigen Risikoquellen für Lebensmittel fundiert zu erkennen und zu bewerten.