Wortlos
Inhalt
Einleitung
Meine Ursprungsfamilie
Noch ein Fresser mehr am Tisch
Kindheit & Jugend - Erinnerungen
Leben ohne Ziel
Beziehungen
Angepasst
Spiel des Lebens
Kinder, Kinder
Auf und Ab
Seelenschreiben
Nachwort
Zeit für ein Danke
Haftungsausschluss
Impressum
Ziel des Buches
Ziel dieses Buches ist es:
• einen Dialog zu ermöglichen
• Wege zu zeigen
• klar zu machen, dass es Lösungen gibt
• Neugier zu wecken
• Fragen aufzuwerfen
• Ideen zu zeigen
• Gefühle aus dem Keller zu locken
• nachdenklich zu machen
• Menschen zusammen zu führen
• Licht und Liebe ins Dunkel zu bringen
• in Kontakt zu kommen – auch und gerade mit sich selbst
Es ist weder Bewertung noch Urteil, nicht mit dem Finger auf Menschen gezeigt, sondern in meinen eigenen Spiegel geschaut.
Ich hege damit weder Anspruch auf Wahrheit, noch auf Vollständigkeit. Es ist lediglich meine Sicht der Ereignisse in meinen Leben. Chaotisch und unsortiert, so, wie mein Leben verlaufen ist.
Alle Namen sind frei erfunden und entspringen meiner Phantasie, eventuelle Ähnlichkeiten oder Überschneidungen sind rein zufällig.
Zu meinem höchsten Wohl und zum Wohle so vieler, wie möglich!
Stefan Fritz
Vorwort
Mit Offenheit, Mut und hemmungsloser Liebe zum Detail holt Stefan Fritz uns voller Präsenz mitten in seine Lebensgeschichte. Er öffnet damit den Raum für eigene Erinnerungen und schmerzhafte Momente, die dadurch ins Bewusstsein gerufen und verarbeitet werden können. Danke Stefan für dieses wundervolle Werk, das mich während des Lesens phasenweise „wortlos“ machte. Meine Verarbeitung entstand dann spontan in folgendem Gedicht, das deine Geschichte beschreibt. Möge dieses Buch vielen Lesern und Leserinnen einen Weg zu Liebe und Heilung aufzeigen.
Isabelle Dobmann
Wortlos
Ohne Worte, einfach stumm…
Wehrlos, klein, vielleicht auch dumm?
Ließ den Schmerz über mich ergehen,
konnte einfach nicht widerstehen.
Wortlos
konnte oft nichts sagen,
schmerzvolles Tun nicht hinterfragen!
Angst und Scham hielten mich gefangen,
gefügig machte mich mein Verlangen.
Wortlos
verletzt, in mir selbst gefangen,
sind schmerzvolle Jahre über mich ergangen.
Mit Schokolade und Alkohol meine Gefühle verdrängt,
um ein Haar mein Leben an den Nagel gehängt.
Wortlos
Liebloser Sex statt zarter Berührung,
immer wieder geile Verführung.
Kopf und Bauch im steten Streit,
für jenste „Schandtaten“ allzeit bereit.
Doch endlich hab´ ich Liebe erfahren!
Wurde auch Zeit nach all diesen Jahren.
Endlich kann ich meine Geschichte teilen,
damit mich und vielleicht auch andere heilen.
Isabelle Dobmann
Einleitung
Einige Wochen vor meinem 42. Geburtstag nimmt mein Leben eine drastische Wendung, ohne dass ich bis dahin im Ansatz eine Ahnung habe, was eigentlich mit mir passiert.
Zum Ende des Monats verabrede ich mich mit einer Geschäftspartnerin, die ich seit zehn Jahren kenne und zu der ich ein freundschaftliches Verhältnis pflege, zu einem Abendessen. Sie ist selbstständig, viel beschäftigt und, aus meiner Wahrnehmung, glücklich verheiratet. Es ist das zweite Mal in all den Jahren, dass wir zur Vertiefung der Geschäftsbeziehung und Freundschaft einen solchen Termin sehr langfristig geplant haben. Doch an diesem Abend ist alles anders. Der reservierte Tisch steht mitten in einem gemütlichen Weinlokal, eine alte Fachwerk-Scheune mit behaglichem Kachelofen und eingerichtet mit rustikalen Holzmöbeln, alten landwirtschaftlichen Geräten und Werkzeugen. Es ist bis auf den letzten Platz belegt. Wir unterhalten uns sehr angeregt über Gott und die Welt. Mir fällt überhaupt kein Unterschied auf zu sonstigen Terminen mit ihr. Allerdings steht plötzlich wie aus dem Nichts die Bedienung am Tisch und fragt ganz vorsichtig: „Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich bei Ihnen kassieren? Ich würde gerne Feierabend machen!“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass offensichtlich schon seit längerer Zeit das gesamte Restaurant leer und dunkel ist und nur noch an unserem Tisch Licht brennt. Am Auto angekommen, umarmen wir uns zum Abschied gefühlt auch ein wenig länger als sonst. Ich steige in mein Auto und mit jedem Meter, den ich von diesem Ort wegfahre, verstärkt sich in mir ein Gefühl, das ich so noch niemals in meinem Leben vorher hatte. Es fühlt sich an, als ob in mir etwas fehlt. Ich kann es nur mit tiefer Einsamkeit und Trauer beschreiben, da ich zu dem Zeitpunkt keinen Vergleich habe. Aus dem Nichts fange ich während der Fahrt an zu weinen wie ein kleines Kind. Vor der Haustür angekommen, sitze ich völlig aufgelöst im Auto und habe den Wunsch so weit wegzufahren, wie dieses Auto nur zu leisten vermag. Seit Jahren verspüre ich jeden Abend auf dem Heimweg das Gefühl: ich bin hier nicht zu Hause! Doch in dieser Intensität habe ich es noch nie wahrgenommen. Ich ringe mich dazu durch, die Haustür aufzuschließen und befinde mich in einer surrealen Situation, die mir seit 20 Jahren bekannt und völlig normal erschien, sich aber jetzt plötzlich unwirklich und weit weg anfühlt: Es ist spät in der Nacht und im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Bärbel liegt mit Kopfhörern bewaffnet, schlafend und schnarchend auf der Couch. Ich lasse sie einfach liegen, wie so oft, und lege mich ins Bett.
Am nächsten Morgen fühlt sich mein Leben fremd an und ich habe keine Ahnung, was passiert ist und was sich geändert haben könnte.
Der Umgang mit den Menschen um mich herum, vor allem mit Bärbel, ist distanziert und sachlich, dazu nehme ich plötzlich Gegebenheiten völlig anders wahr, die vorher normaler Alltag waren. Ich habe jahrelang jeden Morgen einen kleinen Zettel geschrieben, selbst wenn nur „Guten Morgen, Süße!“ darauf stand. Ich stehe vor dem Stück Papier und lege es wieder weg, es will nichts aus dem Stift herauskommen, mir fällt nichts ein, was ich schreiben könnte. Von „wollen“ kann erst recht nicht die Rede sein!
Dafür habe ich regelmäßig mit meiner Geschäftspartnerin Thilda Kontakt per WhatsApp. Ich schreibe ihr von dem Gefühl in der Nacht und frage sie, ob es ihr ähnlich ging, bzw. was ich damit anfangen soll. Ich bekomme keine Antwort und bin noch mehr überfragt.
In der zweiten Januarwoche fahre ich mit Bärbel und den Kindern fünf Tage nach Holland in ein Familien-Resort. Es fühlt sich an wie im Knast. Und die Tatsache, dass Bärbel hier kein Sofa hat, auf dem sie vor dem Fernseher einschläft, stattdessen jede Nacht neben mir liegt, macht mich schier wahnsinnig. Es fühlt sich irgendwie falsch an und mein Kopf versucht permanent eine Lösung auf die dauernde Frage zu finden: „Was ist hier eigentlich los???“
Das Gefühl von „Nicht dazu zu gehören“ in meinem eigenen Haus, wird in mir zunehmend stärker. Ich kann es allerdings immer noch nicht einsortieren.
Wochen gehen ins Land, der Kontakt zu Thilda ist jetzt häufiger als die Jahre davor. 2011 habe ich bei ihr eine Ausbildung zum Körper-Therapeuten gemacht und neuerdings unterstütze ich sie bei Seminaren, helfe beim Auf- und Abbau, verstehe mich super mit ihrem Mann. Die beiden sind ein tolles Team und ergänzen sich unglaublich gut in vielen Dingen.
Bärbel wird eifersüchtig. Dies war sie schon immer, aber aus meiner Wahrnehmung vollkommen unbegründet. Mitte März wirft sie mir in einem Gespräch eine Affäre mit Thilda vor! Ich bin stinksauer und merke stattdessen, dass sie permanent mit ihrem Handy beschäftigt ist. Das erste Mal in über zwanzig Jahren frage ich sie: „Was soll der Scheiß? Ich habe eher das Gefühl, du hast selber ein Ding am Laufen und willst von dir ablenken…!“ Es ist ein Sonntag und an diesem Abend sitzen wir gemeinsam vor dem Fernseher. Wie so oft schläft sie und ihr Handy gibt einen lauten Signalton von sich. Als ich den Ton abstelle, liegt darunter eine offene WhatsApp Nachricht mit einem Text, der eine Affäre offenlegt. Und da entscheide ich in Sekunden: „Zeit zu gehen!“ Nach einer Nacht Bedenkzeit steht mein Entschluss fest. Es ist eine der größten Entscheidungen in meinem gesamten Leben, denn ich lasse meine geliebten drei Kinder Hanna, Jan und Lena bei ihr zurück. Nach außen eine Bilderbuchfamilie: Eigene Firma, kleines Haus gebaut, Finanzierung bei der Bank, in das Dorf integriert, aktiv im Vereinsleben… Klingt nach normalem Durchschnitt.
Irgendwas ist anders in mir. Das spüre ich seit vielen Jahren. Wenn ich ganz ehrlich bin, schon immer. Es ist nicht greifbar, nicht begreifbar, nicht bewusst. In einem Gespräch über mein vergangenes Leben mit meiner inzwischen wundervollen, neuen Partnerin Thilda sage ich einen Satz, der alles verändert. Ich berichte: „Ich hatte überhaupt keine Gemeinsamkeiten mit Bärbel, aber wir hatten immer guten Sex.“ Thilda schaut mich entgeistert an und fragt: „Fällt Dir denn gar nicht auf, dass du in einem Satz zwei vollkommene Gegensätze erwähnst, die in keiner Weise zusammenpassen? Irgendwas stimmt in Deinem Leben nicht!“ Gemeinsam gehen wir auf die Suche und ich tauche immer tiefer in Fakten ein, die plötzlich in einem völlig neuen Licht stehen.
Eines Tages landete ich dann auf einer Internetseite mit der Überschrift:
Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit.
Es ist eine Liste mit kleinen und großen Dingen, die im Leben auftauchen können, wenn man als Kind einen sexuellen Missbrauch erlebt hat. Etwa 100 Stichpunkte lang beginne ich mich durchzuarbeiten. Mit jeder Zeile werden meine Augen größer. Ich habe Gänsehaut am ganzen Körper, in meinem Kopf dreht sich ein Gedankenkarussell, welches nicht mehr zu stoppen ist. Bis auf wenige Ausnahmen passt wirklich alles zusammen. Ich habe das Gefühl diese Liste beschreibt mein eigenes Leben! In meinem Inneren ist alles leer und taub wie Stein und zugleich macht sich unfassbare Erleichterung in mir breit.
Endlich, nach über 40 Jahren, eine Erklärung zu finden, für das, was ich schon mein ganzes Leben spüre. Ich beginne reihenweise Bücher zu lesen und Internetseiten zu durchforsten, führe unzählige Telefonate und frage meiner Verwandtschaft Löcher in den Bauch. Wieder ergibt sich ein gefühlter Graben. Einerseits finde ich in allen Schriften endlich eine Bestätigung dafür, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein auf dieser Welt bin. Dem entgegen steht der Großteil meines direkten Umfeldes mit der Kernaussage: Sowas gibt es bei uns nicht! Nicht in unserer Familie. Wir haben uns doch alle lieb. So etwas machen wir nicht. Das gibt es nur im Fernsehen!
Darum habe ich beschlossen, ein paar Erlebnisse und Fakten aus meinem Leben zu Papier zu bringen, die aufzeigen, wie viele einzelne Kleinigkeiten zu einem solch großen Gesamtbild führen.
Solltest du dich, lieber Leser, in einigen Passagen des Buches wiedererkennen, dann sei versichert, es gibt einen Weg aus dem Drama in die Freiheit. Ja, das eine oder andere Tal will dazu vielleicht noch durchschritten werden, um aufzuräumen. Aber am Ende des dunklen Tunnels wartet das Licht auf dich. Aus dem Tal der Tränen geht es in alle Richtungen nur bergauf. Ich habe mich in den letzten Jahren in dieser Hinsicht zum Bergführer für Menschen ausbilden lassen, die noch im Tal sitzen. Wenn ich es geschafft habe, schaffst du es auch. Habe Mut, Zuversicht und den Willen, etwas massiv in deinem Leben verändern zu wollen, dann wird auch für dich der Weg deiner Erfahrungen zu deinem größten Geschenk im Leben.
Kapitel 1
Meine Ursprungsfamilie
Ich bin das Kind zwei hochtraumatisierter Eltern. Mein Vater wird 1928 geboren und entsteht aus einer Liaison zwischen einem britischen Besatzungssoldaten aus dem Ersten Weltkrieg und einer Frau aus einem kleinen katholischen Dorf in der Nähe von Göttingen. Mir ist nicht bekannt, ob sie vergewaltigt wurde oder nicht. Ziemlich sicher ist, dass sie dem moralischen Druck der Dorfgemeinschaft mit einem Bastard nicht gewachsen ist und sie ihr Kind direkt nach der Geburt in Göttingen in einem katholischen Schwesternheim zur Adoption freigibt. Ein Arbeiterehepaar aus Hannover adoptiert 1930 ein Mädchen. Nach wenigen Wochen jedoch wird die Adoption annulliert und das Mädchen zur Mutter zurückgegeben. Frustriert kehren die Adoptiveltern in das Kinderheim zurück und adoptieren, sozusagen in zweiter Wahl den kleinen Jungen, weil er so lieb geschaut hat. Unter welchen emotionalen und gesundheitlichen Umständen muss der kleine Bursche wohl aufgewachsen sein? Geboren in der Zeit bitterster Armut in Deutschland. Von der eigenen Mutter nicht „gewollt“ und weggegeben. Es ist sicher kaum vorstellbar, was er in den zwei Jahren in diesem von Nonnen geführten Kinderheim erlebt haben mag! Ausgesucht als Notlösung von einer fremden Frau, die selbst keine Kinder bekommen konnte und eigentlich unbedingt ein Mädchen wollte.
In den letzten Monaten des 2. Weltkrieges meldet mein Vater sich mit 16 Jahren freiwillig zum Kriegseinsatz bei der Luftwaffe. Er wird jedoch als fluguntauglich erklärt und dem Bodenpersonal zugeordnet. Kurz vor Kriegsende wird er mit starken Schmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert. Ihm muss eine Niere entnommen werden, die komplett versteinert ist. Als Konsequenz wird er vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen.
Erst Jahrzehnte später habe ich durch viele Jahre Arbeit mit Menschen die Erkenntnis gewonnen, dass Blase, Niere und Schilddrüse sehr stark auf unterdrückte bzw. unbewusste Ängste reagieren. Was, um alles in der Welt, muss ein junger Mensch bereits bis zu seinem 17. Lebensjahr erlebt haben, dass eine komplette Niere vor Schreck oder Angst erstarrt und förmlich zu Stein wird?
Meine Mutter wird 1929 als drittes Kind eines Lehrers und einer Hausfrau in einem Dorf im tiefsten Emsland geboren. Der ältere Bruder meldet sich in den letzten Kriegstagen freiwillig, gegen den Willen seiner Eltern, zum Einsatz und wird wenig später von einer Splittergranate zerfetzt. Meine Mutter erzählt so gut wie nie darüber. Wenn das Gespräch einmal darauf kommt, redet sie ohne jegliches Gefühl, ohne eine emotionale Regung über ihren, wie sie selbst sagt, so sehr geliebten Bruder. Das klang für mich in der Intonation, wie wenn sie berichtet hätte, ihr sei beim Kaffeetrinken ein Stück Kuchen von der Gabel gerutscht.
Ihre ältere Schwester kenne ich nur mit dunkler Sonnenbrille und unter dem Einfluss von starken Beruhigungsmitteln bei der Oma auf dem Sofa liegend. Sie ist nie aus dem Haus gekommen und hat nie auf eigenen Beinen gestanden. Sie hat meine Mutter voller Eifersucht und Hass jahrelang gemieden, beschimpft, bedroht, verklagt, gedemütigt und um das Erbe gebracht. In meiner Erinnerung fand jedwede Kommunikation zwischen den Beiden über Polizei, Anwalt oder Gericht statt. Ich selbst kann mich nicht erinnern, jemals ein Wort mit meiner Tante gewechselt zu haben.
Die Oma mütterlicherseits ist die Einzige aus der Generation, die ich noch kennengelernt habe. Die drei anderen Großeltern waren zum Zeitpunkt meiner Geburt schon gestorben. Diese Oma habe ich vielleicht 10x in meinem Leben gesehen. Auch sie hat in meiner Erinnerung nie eine Gefühlsregung gezeigt. Kein einziges Lächeln. Sie war steif und unnahbar für mich. Meine letzte Erinnerung an sie ist aus meiner heutigen Sicht völlig grotesk. Im Februar 1981 schaue ich in Hannover durch eine Glasscheibe auf einen schlichten Sarg, in dem meine Großmutter liegt und meine Mutter, die neben mir steht, bricht vor dieser Scheibe zusammen. Ich habe keine Träne vergossen und nicht eine Miene verzogen. Damals habe ich mich mit 10 Jahren gefragt, warum meine Mutter so traurig ist. Erst vor wenigen Jahren habe ich auf der Suche nach mir selbst herausgefunden, warum ich mich in dieser Situation so gefühls- und regungslos verhalten habe!
Es ist eine Umkehrung des parentalen Prinzips. Ich übernehme als Kind unbewusst die Verantwortung dafür, dass es meinem Umfeld, in erster Linie meiner Mutter gut geht. Wenn ich als Kind dafür Sorge trage, dass es meiner Mutter gut geht, ist die Chance, dass sie für meine Sicherheit sorgt, erheblich größer. Dann ist, evolutionär gesehen, mein Leben und Fortbestand gesichert.
Mein ältester Bruder Alfred wird 1955 per Zangengeburt auf die Welt geholt.
Als meine Mutter eine schwere Brustentzündung bekommt, legt sie das schlafende Kind ins Bett, um in der Stadt den Arzt aufzusuchen. Dieser hat an diesem Tag allerdings keine Zeit für sie und so geht sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Da findet sie ihren Sohn vollkommen blau angelaufen im Kissen eingewickelt. In völliger Panik reißt sie ihn an den Beinen aus dem Bett, schlägt ihm auf den Hintern und holt ihn so ins Leben zurück. Alfred hat jedoch viele Jahre danach mit Asthma zu kämpfen.
Gut ein Jahr nach Alfreds Geburt wird meine Mutter erneut schwanger. Als sie mit Wehen ins Krankenhaus kommt und schon im Kreißsaal liegt, gibt der diensthabende Arzt ihr eine Morphiumspritze, um die Wehen zu unterdrücken. Der Arzt hat an diesem Tag Geburtstag und will lieber mit den Schwestern im Dienstzimmer ein Glas Sekt trinken. Mein Bruder Benno wird dann mit mehreren Stunden Verzögerung 1957 unter dem Einfluss von Morphium geboren.
Obwohl die wirtschaftlichen und wohnlichen Verhältnisse der jungen Familie sehr eingeschränkt sind folgt schon bald die dritte Schwangerschaft meiner Mutter und 1960 wird mein Bruder Christoph geboren. Auch diese Geburt läuft nicht ganz unproblematisch für Mutter und Kind ab, da der Junge mehr als 10 Pfund wiegt und stolze 60 cm lang ist.
Prinzipiell gibt das ungeborene Baby das Signal um geboren zu werden. Die Aufgabe einer Mutter ist es, mit dem Baby in Verbindung zu gehen und es zum gegebenen Zeitpunkt loszulassen. Das Baby ist von Natur aus in der Lage, die Geburt alleine zu bewältigen. Eine Mutter, die gestresst ist, ängstlich, wütend oder traurig, ist evolutionär nicht auf eine Geburt vorbereitet und körperlich nicht in der Lage, entspannt loszulassen. Gefühle von Angst und Wut sind stammhirngesteuert. Das Stammhirn regelt alle autonomen Funktionen des Körpers, die für das Überleben zuständig sind. Zusammen mit anderen Hirnanteilen wie dem Kleinhirn und dem limbischen System regelt es das Kampf-/Fluchtverhalten, löst Erstarrung oder Entspannung aus und sorgt z.B. im ersten Lebensjahr für ein überlebenssicherndes Verhalten durch frühkindliche Reflexe. Eine Gebärende kann demnach weder körperlich noch geistig gut loslassen noch sich öffnen, wenn sich ihr Körper im angespannten Kampf-/Flucht- oder Erstarrungsmodus befindet. Zu den Vorgängen des Öffnens und Loslassens zählen v.a. die Atmung, die gesamte Muskulatur sowie die Prozesse der Verdauung und Ausscheidung (Urin & Stuhlgang) und der Geburtsprozess. Im angespannten ängstlichen oder sorgenvollen Zustand hat der Körper im Wesentlichen zwei Möglichkeiten der Reaktion. Entweder er lässt alles schlagartig los (Fluchtverhalten: sich vor Angst in die Hosen machen). Das käme einer Sturzgeburt gleich. Oder der Körper ist vollkommen angespannt (um sich auf eine mögliche Kampf- oder Fluchtsituation vorzubereiten: Der Körper will sich schützen, igelt sich eher ein, zieht sich zurück und legt sich einen Schutzpanzer wie eine Schildkröte an). Diese unbewussten Körperreaktionen führen zu einer Geburt, die sich über Stunden hinzieht und wie bei meinem ältesten Bruder im schlimmsten Fall z.B. in einer Zangengeburt enden kann.
Da meine Mutter offensichtlich vor der ersten Geburt schon voller Angst war, in der zweiten, während des einsetzenden Geburtsvorgangs mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, hatte sie sicherlich große Angst vor der dritten Geburt. Aus den Erzählungen meiner Familie weiß ich, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sowohl die Hebamme als auch der Arzt meiner Mutter noch zusätzlich Angst gemacht haben, da dieses Kind einfach größer war als die beiden Jungs zuvor. Das absolut Wichtigste, was eine Frau in Vorbereitung auf eine Geburt und während des Geburtsprozesses braucht, ist das Gefühl der absoluten Ruhe und SICHERHEIT. In meiner Familie war der Raum haltende, Ruhe schenkende und Sicherheit gebende Mann allerdings als Handelsreisender unter der Woche NIE anwesend. Der Arzt, dem meine Mutter ursprünglich ihr Vertrauen geschenkt hatte, hat selbiges mit einer Morphium-Spritze während der vorangegangenen Geburt zerstört. Allein diese Voraussetzungen können genügen, dass sich eine Frau nicht ausreichend sicher fühlt, nicht loslassen kann, sich nicht öffnen und damit nicht entspannt gebären kann.
Mein Vater arbeitet als Handelsvertreter und hat sein Verkaufsgebiet in Hessen. So entscheidet er sich mit seiner Familie im Winter 1962/63 von Hannover in eine Kleinstadt nach Oberhessen zu ziehen. Einige Zeit nach diesem Umzug wird sein Einsatzgebiet von Hessen nach Baden-Württemberg und Bayern verlagert und so muss er wieder genauso weit reisen, wie vor dem Umzug nach Hessen.
Die Familie lebt in großer Armut und immer am Rande des Existenzminimums. Vor allem meine Mutter hat ein unbeirrbares Gottvertrauen und beide Eltern halten sich streng an die Moralvorstellungen der katholischen Kirche. So wird nicht im Geringsten über Verhütung oder andere Möglichkeiten nachgedacht, dem stets wachsenden finanziellen Mangel entgegenzutreten.
In der Folge wird meine Mutter ein weiteres Mal schwanger und 1964 kommt meine Schwester Deborah mit einem stark entstellten Gesicht zur Welt. Es ist mir nicht bekannt, ob es während der Schwangerschaft oder der Geburt irgendwelche besonderen Vorkommnisse gab, die einen solchen Umstand begünstigt haben. Allerdings gehe ich davon aus, dass die werdende Mutter nach drei für sie katastrophalen Geburten zuvor, wohl eher mit großer Unsicherheit und Angst durch diese Schwangerschaft gegangen sein dürfte, selbst wenn sich diese Ängste und Sorgen weitestgehend im Unterbewusstsein abspielen.
Unser Kopf vergisst und verdrängt überwältigende Erlebnisse gerne, der Körper und das Unterbewusstsein erinnern sich an jede Sekunde unseres Lebens!
Nach dem vierten Kind wird meiner Mutter dringend eine Gebärmutterentnahme nahegelegt, um dem vermeintlichen Risiko einer weiteren Schwangerschaft zu entgehen. Nach Einschätzung der Mediziner besteht inzwischen erhöhte Gefahr für Leib und Leben der Mutter und eines weiteren Kindes. Meine Mutter lehnt einen solchen Eingriff zwar entgegen dem Rat der Ärzte aber im vollkommenen Glauben an Gott ab.
Als sich 1966 eine weitere Schwangerschaft ankündigt, rät der Frauenarzt meiner Mutter zu einer Abtreibung. Soweit mir bekannt ist, gibt es dazu schon einen Termin sowie Vorbereitungen. Nach reiflicher Überlegung lehnt sie im letzten Moment den ärztlichen Rat gottesfürchtig ab. Im Spätherbst 1966 wird meine Schwester Esther geboren. Noch im Kreissaal schlägt der Arzt meiner Mutter erneut vor, die Gebärmutter zu entfernen, um weitere Risiken auszuschließen. Doch meine Mutter weicht nicht von ihrem Weg und lehnt den Vorschlag abermals ab. Sie rechnet fest damit, dass die Natur ihr bis zum 40. Lebensjahr die Entscheidung abnimmt.