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Je vertrauenswürdiger die Bindungsperson als sichere Basis
ist, für umso selbstverständlicher wird sie gehalten, aber –
unglücklicherweise – je selbstverständlicher sie ist, umso eher wird ihre wichtige Bedeutung übersehen und vergessen.
Lesezeit: 7 Minuten
Wenn man wild child bei Wikipedia eingibt, findet man unter anderem eine Teenager-Komödie, mehrere Bands und einen Zuchthengst dieses Namens. Außerdem einen Film des berühmten französischen Regisseurs François Truffaut. Darin geht es um ein Kind, das die ersten Jahre seines Lebens keinen Kontakt mit anderen Menschen hat und damit völlig unberührt von dem ist, was wir – auf die ein oder andere Weise – unter Erziehung verstehen. #wildchild ist außerdem ein Hashtag, das Fotografen und auch Eltern im Internet für Bilder verwenden, die Kinder und Teenager wild, unangepasst, rebellisch und voller Lebensfreude zeigen.
Wir finden wiederum, dass wild child eine wunderbare Bezeichnung für kleine Kinder ist. Denn auch die sind wild und scheren sich nicht um Konventionen oder darum, was »man« so macht. Dabei toben sie gern durch die Wohnung, die zu einem Abenteuerspielplatz wird. Testen fasziniert immer wieder die Funktion eines Lichtschalters. Probieren, wie ein Gänseblümchen schmeckt. Oder – das gehört ebenfalls dazu – werfen sich im Supermarkt auf den Boden.
Weil kleine Kinder bereits nach Autonomie – nach Selbstbestimmung – streben, während sie gleichzeitig noch vieles lernen müssen, kommt es oft zu Konflikten: Die Kinder wollen etwas, können oder dürfen diesen Impuls aber nicht einfach so ausleben, wie sie sich das vorstellen. Meist wird darum von »Trotzphase« oder »Trotzalter« gesprochen, denn die Kinder reagieren häufig sehr heftig – und nicht nur die, sondern auch ihre Eltern.
Da kann es einem schon mal so vorkommen, als wollten sie einfach nur dagegen sein. Dagegen, dass Papa den Reißverschluss hochzieht, obwohl es allein noch nicht so gut klappt. Dagegen, im Kindersitz zu sitzen, obwohl das doch der Sicherheit dient. Dagegen, die Kiwi zu essen, obwohl die so gesund ist. Dagegen, die Badeschlappen wieder auszuziehen, obwohl vor der Tür Schnee liegt. Der Begriff Trotz unterstellt den Kindern jedoch eine Absicht, die sie nicht haben. Kleine Kinder sind spontan und ohne Kalkül. Sie folgen nur dem Programm, das die Natur ihnen seit Millionen von Jahren mitgegeben hat, damit sie sich zu einem selbstständigen und starken, überlebensfähigen Menschen entwickeln. Auch darum gefällt uns der Begriff wild child so gut, denn er wertet nicht.
Dabei sollte kein wild child allein gelassen werden wie der Junge in Truffauts Film. Es ist zunächst vor allem die Aufgabe der Eltern – also unsere –, dazu beizutragen, dass jedem wild child sein Vorhaben glückt, selbstständig und stark zu werden. Dass es nicht nur unversehrt aufwächst und sich in der Welt behaupten kann, sondern auch seinen Mitmenschen voller Empathie begegnet und ein Leben lang in der Lage ist, liebevolle, wertschätzende Bindungen einzugehen. Dass es lernt, wie es selbst dauerhaft für seine eigene körperliche und psychische Gesundheit sorgen kann. Das ist Erziehung im positiven Sinne, wie wir sie verstehen.
Die in unseren Augen beste Grundlage dafür bildet die bindungsorientierte Erziehung, denn es sind Bindungen zu anderen Menschen, an denen das Kind lernt und wächst. Zunächst zu den Eltern und Geschwistern, später auch zu Großeltern, Babysittern, Pädagogen und Betreuungspersonen in Kita und Schule, zu engen Freunden und viel später zu einem eigenen Partner. Das Leben besteht aus Bindungen, weil wir soziale Wesen sind.
Bindungsorientierte Erziehung wird oft auch bedürfnisorientierte Erziehung genannt. Bei Bindungen geht es immer um Bedürfnisse. Die des Kindes, aber auch die der Eltern und anderer Menschen in der Umgebung des wild child. Diese Bedürfnisse müssen aufeinander abgestimmt und ausgehandelt werden, sodass jeder den Raum bekommt, den er oder sie benötigt. Um zu wachsen, sich zu entfalten oder auch zu erholen von den vielen Anforderungen, die der Alltag an uns alle, Kinder wie Erwachsene, stellt.
Dass all das gelingt, dabei möchten wir Ihnen mit diesem Buch helfen.
Eltern haben wenig Zeit. Auch wenig Zeit zum Lesen. Und sie sind oft müde – zu müde, um sich in wissenschaftliche Bücher über Bindung und kindliche Entwicklung zu vertiefen. Wenn der Akku leer ist, hilft es nichts, dass sie sich für diese Themen interessieren und eigentlich gern Orientierung verschaffen würden. Doch wissenschaftliche Bücher über Bindung sind häufig dicke Wälzer. Hinzu kommt: Oft sind die Informationen darüber, was eine gute, sichere Bindung ausmacht, sehr abstrakt formuliert. Da liest man etwa: Eltern sollen prompt und angemessen auf die Signale des Säuglings reagieren. Aber was ist »prompt« und was »angemessen«? Später sollen sie dem Kleinkind genügend Autonomie zugestehen. Aber was bedeutet »genügend« konkret? Sie sollen warm, zugewandt und liebevoll erziehen, aber auch klare Anforderungen an das schon größere Kind herantragen und durchaus für Grenzen einstehen. Aber wie macht man das? Wie viele Grenzen verträgt ein Kind in welchem Alter? Und überhaupt, was bedeutet all dies im Alltag mit Kindern? Wenn das Kleinkind tobt und sich weigert, sich die Haare waschen zu lassen? Wenn es so mit der Entwicklung seiner Autonomie beschäftigt ist, dass elterliche Bedürfnisse nach Hygiene, Ruhe und Ordnung keine Rolle mehr zu spielen scheinen?
Hier möchte dieses Buch helfen. Es soll Ihnen als Informationsquelle und Nachschlagewerk dienen, aber auch als ganz konkreter Retter in der Not, wenn mal wieder nichts so läuft, wie man sich das so schön ausgemalt hat, damals, als das erste Kind noch in Mamas Bauch heranwuchs.
Darum haben wir es übersichtlich aufgeteilt:
Außerdem haben wir natürlich die von uns herangezogene Literatur im Literaturverzeichnis dokumentiert.
Vorab: Sie sollen gar nichts. Wir möchten Sie nicht belehren. Wir möchten Ihnen unser Wissen und unsere Erkenntnisse zur Verfügung stellen. Denn Kinder sind unsere Zukunft, sie sind unendlich wichtig und wertvoll. Wir haben uns eingehend mit den Themen Bindung und Bedürfnisorientierung befasst – wissenschaftlich und praktisch. Wir, das sind:
Dr. Eliane Retz. Ich bin Pädagogin, systemische Beraterin und Mutter von zwei Kindern. Studiert und promoviert habe ich an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In meiner wissenschaftlichen Arbeit hat mich interessiert, wie uns frühe Bindungserfahrungen prägen und was Eltern dabei unterstützt, ihren Weg als Familie zu finden. Die Praxis, der Alltag mit einem kleinen Kind, hat dennoch viele Fragen entstehen lassen, denn Mutter oder Vater zu werden ist ein großer Wendepunkt im eigenen Leben. Diese Fragen habe ich mir und anderen im Lauf der Zeit beantwortet und viele Konflikte gelöst. Dabei habe ich im Alltag erfahren, was ich in der Theorie schon kannte: Das kindliche Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit ist in den ersten Lebensjahren so groß, damit sich eine sichere Bindung entwickeln kann. Für eine gesunde Autonomieentwicklung ist es aber genauso wichtig, das »Selber-tun-wollen« des Kindes und dessen Wunsch nach Selbstständigkeit zu respektieren und zu fördern.
Warum Kinder so sind, wie sie sind, steht im Mittelpunkt meiner Elternberatung. Schon seit vielen Jahren berate ich Eltern mit ihren Säuglingen und Kleinkindern nach dem familiensystemischen Ansatz. Dabei beziehe ich mich auf aktuelle Erkenntnisse der Bindungs- und Entwicklungsforschung. Auf Instagram schreibe ich ebenfalls über diese Themen (@Dr.Retzel).
Christiane Stella Bongertz. Ich bin Kommunikationswissenschaftlerin, Journalistin und langjährige Autorin der Familienmagazine Eltern und Eltern Family. Für meine Arbeit bin ich es gewohnt, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte ebenso verständlich wie unterhaltsam zu präsentieren. Unter anderem betreue ich eine Expertenrubrik, in der ich im engen Austausch mit Wissenschaftlern und anderen Experten stehe. Dabei gewinne ich fundierten und oft frühzeitigen Einblick in aktuelle Themen und Entwicklungen der Forschung – auch in Sachen Erziehung und Bindung.
Mein wissenschaftliches Interesse wiederum liegt auf Wirklichkeitskonstruktion. Dabei geht es darum, wie wir auf Basis unserer – oft unbewussten – Glaubenssätze in Interaktion miteinander unsere gemeinsame Alltagswirklichkeit hervorbringen. Und wenn es um die Alltagswirklichkeit von Familien geht: Wie können wir das Wissen um diese Prozesse nutzen, um bewusst eine langfristig entspannte, liebevolle und förderliche Realität für unsere Kinder und uns selbst als Eltern zu schaffen?
Nicht zu vergessen: Ich bin selbst Mutter und außerdem »Bonusmama« – diesen charmanten Namen haben Stiefmütter in meiner Wahlheimat Schweden –, mein Einblick ins Thema ist also nicht rein theoretisch.
Lesezeit: 14 Minuten
»Bindungsorientierte Erziehung? Ja, hab ich schon mal gehört. Das ist doch, wenn man die Kinder stillt, bis sie schon ganz groß sind!«
Oder:
»Klar weiß ich, was ›bedürfnisorientiert‹ bedeutet! Das ist, wenn die Kinder keine Grenzen gesetzt bekommen und alles dürfen. So zieht man Tyrannen auf!«
So oder ähnlich lauten manche Vorurteile, wenn man von bindungs- oder bedürfnisorientierter Erziehung spricht. Auch wenn Stillen zweifellos eine großartige Möglichkeit für die Mutter ist, eine starke Bindung zu ihrem Baby aufzubauen, ist es keinesfalls eine Bedingung dafür. Es gibt noch unendlich viel mehr, was Mütter und Väter tun können, damit Bindungssicherheit wächst und sich langfristig etabliert.
Ein bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehungsstil ist auch nicht dasselbe wie die antiautoritäre Bewegung, der weniger erziehungswissenschaftliche als vielmehr politisch motivierte Theorien zugrunde liegen, oder eine permissive Erziehung, bei der dem Kind fast alles erlaubt ist. Er hat auch nichts zu tun mit der noch recht jungen Unerzogen-Bewegung. Wer bindungs- und bedürfnisorientiert erzieht, schreckt logischerweise nicht von vornherein vor dem Begriff »Erziehung« zurück – den lehnen die Unerzogen-Anhänger aber rundheraus ab. Und nein, Bedürfnisorientierung ist auch nicht damit verknüpft, wie man sich ernährt, welche Standpunkte man bei Gesundheitsthemen vertritt oder gar damit, bei welcher Partei man am Wahltag sein Kreuzchen setzt.
All dies deutet schon an, dass es hier ein großes Spannungsfeld gibt. Die einen sagen: »Ihr tut zu wenig! Ihr starrt nur noch gebannt auf eure Handys, anstatt euch mit euren Kindern zu beschäftigen!« Aber man hört auch: »Ihr tut zu viel! Ihr verwöhnt eure Kinder mit dieser bedingungslosen Liebe. Diese Generation wird niemals selbstständig werden.« Da geht es dann um Rabeneltern versus Glucken – oder es werden die moderneren Beschimpfungen verwendet: die (angeblich) überbehütenden Helikopter- oder Rasenmähereltern auf der einen Seite und die (angeblich) nie auftauchenden U-Boot-Eltern auf der anderen.
Irgendwie ist es nie richtig, was Eltern tun.
Wie der Blick in die historische Pädagogik zeigt, müssen sich Eltern bereits seit Jahrhunderten kritisieren lassen. Es gab schon immer zwei Pole: Die einen glaubten, dass Kinder alles mitbringen und wir Erwachsene diesen Prozess am besten liebevoll begleiten, das kleine Pflänzchen hegen und pflegen. Dem gegenüber standen die Vertreter der strafenden Pädagogik: Die kleine Pflanze wird streng überwacht, um Wildwuchs zu verhindern. Auch Gewalt war lange legitim, man durfte die Pflanze in die »richtige Richtung ziehen«.
Darum wird bis heute nach neuen Begrifflichkeiten gesucht, denn wer schon einmal versucht hat, Erziehung zu definieren, der merkt schnell, dass dies ein schwieriges Vorhaben ist. Es impliziert eben dieses »Ziehen«, die »Korrektur«. Viele Eltern sprechen lieber von »begleiten«, von »Beziehung statt Erziehung«. Allerdings fällt dabei ein wenig hintenüber, dass Eltern durchaus eine, wie es im Berufsjargon heißen würde, »leitende Funktion« haben. Ihre Aufgabe ist es, dem Kind zu zeigen, wo der Weg in eine selbstbestimmte Zukunft entlangführt und wie man ihn geht.
Kinder benötigen Erziehung, davon sind wir überzeugt. Aber nicht, damit sich Eltern ihr Kind zurechtziehen oder -stutzen können wie eine Zierpflanze in einem barocken Garten, die man in eine bestimmte Form pressen möchte. Vielmehr ist gute, förderliche Erziehung wie ein Klettergerüst, das das junge Pflänzchen stützt und schützt und an das es sich anlehnen kann, solange es noch zart und klein ist – damit es ungestört zu einem Baum werden kann, der stark genug ist für die Anforderungen des Lebens.
Das hat der Pädagoge Friedrich Fröbel gesagt, der visionäre Erfinder des Kindergartens und wiederum ein Schüler des Schweizer Pädagogen Heinrich Pestalozzi.
Wir möchten uns dieser »Erziehungsformel« anschließen.
Die Grundlage des Lernens am Beispiel ist eine vertrauensvolle, stabile Bindung. Ein Kind wird nämlich vor allem dem Exempel desjenigen Menschen folgen, dem es vertraut und dem es sich verbunden fühlt. Und diese Bindung entsteht aus der elterlichen Liebe, die das Kind erfahren darf. Das geschieht von Geburt an, wenn seine angeborenen Bedürfnisse gestillt werden: nach Nahrung, Geborgenheit, Schutz und Nähe. Im Lauf der Zeit lernt das Kind dann auch am Beispiel, wie liebevolle, gute Beziehungen funktionieren: Wenn nämlich nicht nur seine eigenen Bedürfnisse, sondern ebenso die Bedürfnisse der anderen eine Rolle spielen dürfen. Damit es diesen Lernprozess bereitwillig durchlebt, ist eine gute Bindung die Voraussetzung und sichere Basis.
Bindungsorientierung und Bedürfnisorientierung sind aus diesen Gründen zwei Seiten derselben Medaille. Je nachdem, welches Wort man benutzt, schaut man nur auf etwas andere Aspekte derselben Sache.
Wichtig: Wir werden in diesem Buch mal den einen, mal den anderen Begriff benutzen, je nachdem, auf welchen Aspekt wir gerade unseren Blick richten. Dennoch verstehen wir Bindungsorientierung und Bedürfnisorientierung als weitgehend synonym.
Bedürfnis- und bindungsorientierte Elternschaft bedeutet, dem Kind vorzuleben: Egal, was ist, egal, welches negative Gefühl dich gerade bewegt, ob du wütend, traurig, genervt, verzweifelt bist und auch, wenn du gerade deinen Bäuchleintee über meinem Computer ausgekippt hast, wir lösen das. Zusammen. Du bist nicht allein. Ich liebe dich ganz genau so, wie du bist. In meinen Augen bleibst und bist du immer liebenswert, auch dann, wenn du dich wenig liebenswert verhältst. Auch dann, wenn du wütend, traurig oder verzweifelt bist. Auch dann, wenn du dich kränkend mir gegenüber verhältst und sagst: »Du bist eine blöde Mama/ein blöder Papa.« Auch wenn ich nicht immer deiner Meinung bin, kannst du auf mich zählen. Aber auch ich habe Emotionen und Bedürfnisse, die zählen und für die ich einstehen darf.
Durch solch eine liebevolle Haltung fühlt sich das Kind nicht nur gebunden und geborgen. Es lernt am Vorbild, wie man sich selbst und andere liebt, ernst nimmt und dabei gelassen die Herausforderungen des Lebens meistert. Wie man Konflikte aushandelt und bewältigt. Weil dies mit ihm zusammengelebt wird. Daraus erwächst Resilienz, die Fähigkeit, sich wieder aufzurappeln, egal, was kommt. Daraus erwachsen Selbstvertrauen und Stärke. So bildet sich Stressresistenz. Seelische Widerstandskraft.[2] Die wirkt auch auf den Körper zurück. Man weiß heute, dass einem Übermaß an negativem Stress und dem dadurch aus dem Gleichgewicht gebrachten Hormonsystem eine Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten zukommt.[3]
Bedürfnisorientierte Elternschaft bedeutet auch, sich mit dem Kind zu freuen, zusammen Spaß zu haben. Sie bedeutet, einfach das Leben in all seinen Facetten zu teilen und dabei gemeinsam ein festes Band zueinander zu knüpfen, das auch dann nicht reißt, wenn es mal hoch hergeht.
Bedürfnisorientierte Erziehung gibt es schon lange: Sie ist wahrscheinlich sogar die älteste Erziehungsstrategie der Welt. Das legen jedenfalls anthropologische Beobachtungen bei abgeschieden lebenden Stämmen nahe, die noch immer so leben wie unsere Vorfahren – wie etwa die Ye’kuana-Indianer in Südamerika. In ursprünglicheren Kulturen wie diesen ist es normal, die Kinder von Geburt an zu tragen, sie in unmittelbarer Nähe der Mutter schlafen zu lassen, überall hin mitzunehmen, bei Bedarf zu stillen und sie auch später ins tägliche Leben miteinzubeziehen, sodass sie am Beispiel der Erwachsenen lernen können.[4]
In unserer westlichen Kultur war der amerikanische Kinderarzt und Psychiater Benjamin Spock einer der Ersten, die in den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts empfahlen, Babys intuitiv und mit viel Körperkontakt aufzuziehen. Das stand im krassen Gegensatz zur damals verbreiteten Auffassung, die Kinder bloß nicht zu sehr zu verzärteln und zu verwöhnen, da sie den Eltern sonst später auf der Nase herumtanzen würden. Trotzdem oder gerade deswegen wurde sein Buch The Common Sense Book of Baby and Child Care – also in etwa: Gesunder Menschenverstand bei der Baby- und Kinderpflege – ein Bestseller. Zu Deutsch heißt sein Buch etwas nüchtern Säuglings- und Kinderpflege, der so wichtige gesunde Menschenverstand hat es leider nicht in den Titel geschafft.
Den Begriff der bindungsorientierten Erziehung oder besser gesagt den englischen Terminus Attachment Parenting prägte schließlich der amerikanische Kinderarzt William Sears Mitte der Achtzigerjahre. Er hatte unter anderem das Buch der Autorin Jean Liedloff gelesen, die in Südamerika die Lebensweise der eben genannten Ye’kuana-Indianer erforscht hatte und Säuglingspflege nach deren Vorbild auch westlichen Müttern empfahl. Darauf basierend systematisierte Sears diesen bindungsorientierten Ansatz mit klaren Empfehlungen.
Er prägte die sieben sogenannten Baby-Bs:
Auch wenn Sears’ Arbeit den Weg gewiesen hat, ist die Definition von bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehung nicht abgeschlossen, sondern in einem steten Wandel begriffen. Ein Wandel, zu dem wir nun also auch mit diesem Buch beitragen.
Ein Erziehungsstil ist keine Methode, sondern die grundsätzliche Haltung der Eltern, die sich in ihrem Verhalten dem Kind gegenüber widerspiegelt. Diese Haltung ist geprägt von den Werten und Normvorstellungen der Eltern. Getragen von dieser grundsätzlichen Haltung lebt dann jede Familie dennoch ihre Eigenheiten: Auch wenn Familie Arnold zum Beispiel im Großen und Ganzen die Auffassungen von Familie Bertold teilt, finden die Eltern in Familie Arnold es sehr wichtig, dass ihre Kinder am Esstisch sitzen bleiben, bis alle aufgegessen haben, während die Kinder in Familie Bertold einfach aufstehen und spielen gehen dürfen.
Wir möchten Sie auch hier nicht lange mit theoretischen Grundlagen aufhalten. Darum beschränken wir uns auf die Punkte, die wir zum besseren Verständnis der Bindungsorientierung für Eltern hilfreich und wichtig finden. Hier kommt:
Wegbereiter der Erziehungsstilforschung war der Sozialpsychologe Kurt Lewin. Er hatte Ende der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts erstmals Führungsstile von Jugendgruppenleitern unterschieden und deren Auswirkung auf das Leistungsverhalten der Jugendlichen beobachtet. Lewin war auch derjenige, der den bekannten Begriff des Laissez-faire – französisch für Gewährenlassen – geprägt hat, den Sie vermutlich schon einmal gehört haben. Lewin beschrieb Laissez-faire als einen von drei Führungsstil-Grundtypen. Die beiden anderen Typen waren der demokratische Stil, bei der Entscheidungen in der Gruppe gemeinsam getroffen wurden, sowie der autoritäre, bei der Entscheidungen ausschließlich vom Gruppenleiter gefällt wurden.
Während Lewin das Verhalten von fast erwachsenen Jugendlichen und ihren Leitern im Blick hatte, beschäftigte sich der Entwicklungspsychologe Alfred L. Baldwin einige Jahre später bereits mit den Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Dazu entwickelte er Fragebögen, die »Fels-Behaviour-Scales«, die noch heute verwendet werden. Auf seinen Beobachtungen wiederum fußt die wichtige Arbeit der Entwicklungspsychologin Diana Baumrind. Sie hat Anfang der Siebzigerjahre vier übergeordnete und sehr hilfreiche Kategorien entwickelt, nach denen sich Erziehungsstile grob einordnen lassen.
Man bestimmt die Erziehungsstile auf zwei Achsen nach ihrem Grad der Zugewandtheit/Wärme (y-Achse) und ihrem Grad der Lenkung/Kontrolle (x-Achse):
Beim vernachlässigend-zurückweisenden Verhalten, das unten links im Diagramm anzusiedeln ist, handelt es sich nicht wirklich um Erziehung, sondern eher um deren Abwesenheit: Vernachlässigte Kinder werden weitgehend sich selbst überlassen und eben nicht erzogen. Um noch einmal Fröbel zu bemühen: Elterliches Beispiel und elterliche Liebe sind bei Vernachlässigung Mangelware.
Übrig bleiben drei Hauptrichtungen, die wir hier kurz umreißen wollen. Andere Forscher haben seit Baumrind noch etliche Unterformen unterschieden, aber wir möchten hier nicht zu sehr ins Detail gehen, um das Buch nicht mit zu vielen Begriffen zu überfrachten. Um einen Überblick zu bekommen, ist Baumrinds Arbeit aufgrund ihrer Klarheit und Übersichtlichkeit sehr hilfreich.
Vorab sei gesagt: Die Reinformen der Erziehungsstile kommen in der beschriebenen extremen Ausprägung so gut wie nie vor, in der Alltagswirklichkeit sind die Übergänge fließend. Die Definitionen helfen aber, ein Gefühl für das eigene Erziehungsverhalten zu bekommen. Und sie helfen zu verstehen, warum eine bindungsorientierte Erziehung sinnvoll ist.
Der autoritäre Erziehungsstil
In seiner Extremform ist der autoritäre Erziehungsstil das Modell »Zucht und Ordnung«, bei dem die Kinder zu gehorchen haben und durch Bestrafung bei unerwünschtem Verhalten in eine bestimmte Richtung geformt werden sollen. Das familiäre Klima ist überwiegend kalt und von Zurückweisung geprägt. Das Kind hat kein oder wenig Mitspracherecht, seine Autonomie wird nicht gefördert oder nur da geduldet, wo sie den Vorstellungen der Erziehungsberechtigten nicht zuwiderläuft. Oft wird die Autonomie darum von den Kindern heimlich gelebt – denn das Bedürfnis danach und die Notwendigkeit, sie anzustreben, sind nicht verschwunden.
Der permissive Erziehungsstil
Permissiv heißt »zulassend«. Dementsprechend haben die so erzogenen Kinder größtmögliche Autonomie, denn die Eltern üben wenig Kontrolle aus und stellen geringe Ansprüche. Das kindliche Verhalten wird immer akzeptiert. Die Eltern sind sehr nachgiebig und geben ihrem Kind keine Rückmeldung, was sein Verhalten bei ihnen selbst und anderen auslösen kann. Es fehlt also an Orientierung und an einer Bindungsperson, die das Kind mit den Anforderungen des Lebens und damit einhergehenden Frustrationen vertraut macht. Der permissive Erziehungsstil versäumt es, die Selbstregulationsfähigkeit von Kindern anzusprechen und zu fördern. Diese Fähigkeit ist sehr wichtig, denn sie ermöglicht es einem Kind, seine Aufmerksamkeit und Impulse, seine Gefühle, Gedanken und seine Handlungen selbst zu lenken.
Der autoritative Erziehungsstil
Die kindlichen Bedürfnisse spielen eine große Rolle, aber zugleich stellen die Eltern auch hohe Anforderungen an ihre Kinder – dies sind die zentralen Kennzeichen des autoritativen Erziehungsstils. Dadurch kommt es natürlich zu Konflikten im Alltag, denn der autoritative Erziehungsstil bringt selbstbewusste, diskussionsfreudige Kinder hervor. Eltern, die autoritativ erziehen, gelingt es, diese Konflikte konstruktiv zu begleiten, denn diese sind etwas sehr Sinnvolles. Anstatt willkürlich Verbote auszusprechen, Strafen anzudrohen oder elterliche Erwartungen mit Macht durchzusetzen, bleiben die Eltern in Verbindung mit den Kindern. Ein wichtiger Leitgedanke stammt in diesem Zusammenhang von Jesper Juul (1948–2019), der gerne betonte, dass sich die Qualität von Eltern nicht nach den Regeln bemesse, die sie ihren Kindern vorgeben, sondern nach der Art ihrer Reaktion, wenn diese Regeln gebrochen werden.
Eine Erziehung, die die Anforderungen des autoritativen Erziehungsstils erfüllt – wie die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung es tut –, hat sich in der Forschung als für die kindliche Entwicklung am vorteilhaftesten herausgestellt. Sie ist wertschätzend und gibt Raum für Entwicklung, bietet aber mit einem schützenden Rahmen auch gleichzeitig Halt und Orientierung.
Kinder, die so erzogen werden, haben mehrheitlich lebenslang ein höheres Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, sind selbstständiger, kommen in zwischenmenschlichen Beziehungen besser zurecht und werden seltener drogenabhängig, depressiv oder verhaltensauffällig als Kinder, die anders erzogen wurden.[5]
Wir sehen auch das Attachment Parenting als dem autoritativen Erziehungsstil zugehörig an – allerdings nur dann, wenn es gelingt, die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder gut auszubalancieren. Dies bedeutet, dass Kinder nicht weniger Rechte als ihre Eltern haben, sondern ihnen ein hohes Maß an Mitbestimmung, entsprechend ihrem Alters- und Entwicklungsstand, zugesprochen wird. Ein Kleinkind bestimmt also nicht, wohin die Urlaubsreise geht, aber es wird ernst genommen in seinem grundlegenden Bedürfnis nach Teilhabe und trifft in vielen Bereichen des Alltags sehr wohl Entscheidungen. Es bedeutet aber ebenso, dass Eltern nicht die Lakaien ihrer Kinder sind und diesen jeden Wunsch erfüllen müssen. Auch wenn die Bindung zum Kind ein wichtiges Ziel ist, bedeutet das niemals elterliche Selbstaufgabe.
Wie das im Alltag zu schaffen ist?
Um diese Frage zu beantworten, gibt es dieses Buch.
Selbst wenn die bindungsorientierte Erziehung erst seit einiger Zeit (wieder) populärer wird und als Trend unter Familien noch jung ist, die ihr zugrunde liegende Bindungsforschung ist es nicht. Darum kommen wir jetzt zum dritten und letzten Teil unserer »Eine kurze Geschichte«-Trilogie, mit der wir den kleinen Crash-Kurs in den Grundlagen der Bindungs- und Bedürfnisorientierung abschließen:
Bindung wurde ausführlich und lange untersucht – und eine sichere Bindung anzustreben ist keine Modeerscheinung! Es geht dabei um nicht weniger als die existenziell wichtige Bedeutung von frühkindlichen Bindungserfahrungen.
John Bowlby, geboren 1907, gilt als Begründer der Bindungstheorie. In den Fünfzigerjahren leistete er wichtige Pionierarbeit auf diesem Gebiet und wies – unter anderem im Auftrag der WHO – den Zusammenhang zwischen mütterlicher Fürsorge und seelischer Gesundheit von Kindern nach. Sein Buch Attachment and Loss (auf Deutsch Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung) von 1969 gilt als Grundstein der Bindungstheorie. Seine noch frühere Analyse Child Care and the Growth of Love (auf Deutsch Frühe Bindung und kindliche Entwicklung, erschienen 1953) wurde 2007 in die Liste der »Hundert Meisterwerke der Psychotherapie« aufgenommen.
Aus der Bindungsforschung weiß man: Die Begleitung der kindlichen Entwicklung bis ins Erwachsenenalter wird für alle Beteiligten um ein Vielfaches leichter, wenn die Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind sicher ist. Das bindungssichere Kleinkind bekommt natürlich ebenso Wutausbrüche, es wird starke Gefühle zeigen – das ist sogar wichtig –, aber es wird auch ein grundsätzliches Vertrauen in seine Eltern haben und immer wieder den Wunsch verspüren, mit ihnen zu kooperieren.
Wenn man dies weiß und darum ein Kind von Geburt an bedürfnis- und bindungsorientiert aufziehen will, geben Sears’ vorhin beschriebene Grundsätze, die Baby-Bs, eine gute erste Orientierung. Nun haben Sie aber vielleicht schon einmal gehört oder gelesen, dass Sears durchaus umstritten ist. Das ist richtig, liegt aber weniger an seinen Grundsätzen des Attachment Parenting als an seiner persönlichen Haltung. Der 1939 geborene, christlich-konservative Sears steht zum Beispiel der Berufstätigkeit von Müttern ablehnend gegenüber. Diese gerade in den USA immer noch relativ weitverbreitete Haltung brachte ihm die Kritik ein, frauenfeindlich zu sein, auch wenn es sich bei seiner Befürwortung traditioneller Rollenmodelle eher um seine private Meinung handelt, die in die meisten seiner Schriften keinen Eingang gefunden hat.
Wichtig ist uns an dieser Stelle zu betonen: Bindungsorientierte Elternschaft und Erziehung sind auf keinen Fall nur etwas für Frauen, die nicht berufstätig sind! Und: Sie ist nicht nur etwas für Frauen – auch wenn die bindungstheoretische Forschung bisher vor allem die Mutter-Kind-Bindung in den Fokus gerückt hat. Das liegt daran, dass sich engagiert kümmernde Väter lange die Ausnahmen waren. Erst in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten lösten sie sich mehr und mehr von der alten Rolle des oft abwesenden Ernährers und wagten mit ihren Familien neue Lebensmodelle. Aber alle Eltern können sich in dem ihnen zur Verfügung stehenden Rahmen am Ziel orientieren, mit Feinfühligkeit und Nähe eine stabile Bindung zu ihrem Kind aufzubauen und zu pflegen.
Ein Problem dabei kann allerdings sein: Viele Eltern möchten gern bindungsorientiert leben und erziehen, aber sie fühlen sich von den Ansprüchen, die sie dadurch an sich selbst stellen, unter Druck gesetzt. Mütter haben das Gefühl, nicht zu genügen, wenn sie nicht stillen können. Sie entwickeln ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihr Baby auch mal im Kinderwagen schieben oder nicht sofort hochnehmen, wenn es weint, weil sie gerade noch mit etwas anderem beschäftigt sind. Ist der Sprössling etwas größer, machen sie sich oft bittere Vorwürfe, wenn es ihnen nicht in jeder Situation gelingt, Konflikte mit ihrem fordernden und widerstrebenden Kleinkind nonchalant zu lösen. Wenn sie mal wütend werden oder Sätze sagen, die sie eigentlich von ihren eigenen Eltern kennen, glauben sie, ihrer Tochter oder ihrem Sohn womöglich dauerhaft Schaden zuzufügen.
Ironischerweise entfernen sich die Eltern in solchen selbstkritischen Momenten von ihrem Kind. Selbstanklagen und Ängste sind wie Frequenzen, die die Bindung vorübergehend stören. Die Eltern sind nicht mehr verfügbar, weil sie um sich selbst kreisen. Dabei sind sie weiter weg, als wenn ihnen einmal der Geduldsfaden reißt und sie laut schimpfen.
Wenn wir eine bindungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft befürworten, plädieren wir dabei unbedingt für Gelassenheit der Eltern – nicht nur gegenüber dem Kind, sondern auch gegenüber sich selbst. Während das Kind im Babyalter ist und weit darüber hinaus. Bedürfnisorientierung ist kein strenges Dogma oder eine Methode mit lauter Patentrezepten, sondern eine grundsätzliche Haltung. Solange man das Ziel nicht aus den Augen verliert, bestätigen Ausnahmen die Regel. Sie sind erlaubt und menschlich.
Die Bedürfnisse der Eltern spielen beim bedürfnisorientierten Ansatz – das darf man nicht vergessen, und darauf werden wir auch immer wieder zurückkommen – ebenfalls eine wichtige Rolle. Anfangs, wenn das Baby noch klein und vollkommen abhängig von den Eltern ist, ist diese Rolle noch vergleichsweise klein. Ein Säugling, der in seinem Bettchen nach der Mama schreit, kann nicht verstehen, dass diese in Ruhe ein Telefonat zu Ende führen möchte. Mit zunehmendem Alter und der damit einhergehenden Entwicklung des Kindes ändert sich das. Nun dürfen die elterlichen Bedürfnisse zunehmend mit denen des Kindes abgestimmt werden.
Dadurch wird es für Eltern allerdings auch komplizierter. Denn sind die »Regeln« der bindungsorientierten Elternschaft mit promptem Erfüllen der kindlichen Bedürfnisse – Füttern, Wickeln, Kuscheln, Anziehen, Ausziehen und so weiter – anfangs noch sehr klar umrissen, fragen sich Mütter und Väter spätestens, wenn es auf den ersten Geburtstag des Kindes zugeht: Wann dürfen wir denn jetzt mal mit dem richtigen Erziehen anfangen? Was versteht mein Kind wann überhaupt? Was bedeutet Bedürfnisorientierung im Alltag mit Kleinkindern? Wenn das Kind seine Wild-child-Seite herauskehrt, tobt und schreit und sich auf den Boden wirft?
Wir möchten Ihnen helfen, Ihre bedürfnisorientierte Elternschaft gelassen und zusammen mit Ihrem Kind auch über die Babyzeit hinaus zu entwickeln, Konflikte zu lösen und grundsätzlich mit Ihrem Kind vertrauens- und liebevoll in Verbindung zu bleiben. Das ist manchmal anstrengend, aber alles deutet darauf hin, dass es sich langfristig lohnt. Wir als erfahrene Expertinnen wollen die Befunde der Bindungs- und Entwicklungsforschung aufgreifen, mit Leben füllen und für Eltern praktikable und gut umsetzbare Empfehlungen entwickeln. Immer bezogen auf die Erkenntnisse der Wissenschaft, aber eben lebensnah, denn Ziel jeder guten Wissenschaft sollte das Verlassen des Elfenbeinturms sein, um dem Allgemeinwohl zu dienen. Deshalb gibt es dieses Buch. Es basiert auf wissenschaftlichen Studien, ist aber randvoll mit Informationen, Hinweisen und Ideen, wie das bindungsorientierte Familienleben gelingt.
Sie haben sich also entschlossen, Ihr geliebtes Kind bindungs- und bedürfnisorientiert zu erziehen.
Die Vorteile haben Sie überzeugt: Sie möchten, dass Ihr Kind zu einem resilienten Menschen voller Selbstvertrauen heranwächst. Einem Menschen, der sich nicht scheut, vertrauensvoll Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, ohne seine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren. Sie möchten Ihr Kind so fürs Leben rüsten, dass ihm destruktiver Stress nicht übermäßig viel anhaben kann, es möglichst wenig anfällig ist für Depressionen und auch nicht so leicht zum Opfer von Mobbing oder Manipulation wird.
Dieser Entschluss wird also großen Einfluss auf das gesamte Leben Ihres Kindes haben.
Aber er wird unweigerlich zur ein oder anderen Frage führen – Fragen, die sich häufig schnell beantworten, wenn Sie wissen, warum Bindung ein so wichtiges menschliches Grundbedürfnis ist und wie sie entsteht.
Darum soll es in den folgenden Kapiteln gehen.
Außerdem geben wir Ihnen in Kapitel 7 einen Überblick über wichtige Grundlagen zur Entwicklung eines Kindes vom Baby zum Kleinkind und dann zum Vorschulkind. Damit verfügen Sie über Wissen, das es Ihnen erlaubt einzuschätzen, was Sie Ihrem Kind in welchem Alter zutrauen können, was es bereits versteht und was nicht. Wir werden immer wieder darauf verweisen, wenn wir Ihnen im Praxisteil Lösungen für konkrete Konfliktsituationen vorschlagen. So können Sie genau nachlesen, worauf unsere Vorschläge fußen, und gewinnen dadurch mehr und mehr Kompetenz im Alltag mit Ihrem Kind.
Lesezeit: 4 Minuten
Kinder kommen mit einem sicheren Instinkt auf die Welt, was ihnen guttut und was sie zum Wachsen und für ihre Entwicklung brauchen. Der Wunsch nach Bindung ist uns angeboren. Ein Säugetierbaby sichert sein Überleben durch die beschützende Nähe seiner Mutter und protestiert gegen jede Trennung von ihr. Ein spielendes Äffchen, das mit einem Angst auslösenden Reiz – zum Beispiel einem anderen Affen, den es nicht kennt – konfrontiert wird, versucht, sämtliche Hürden zu überwinden, um zurück zu seiner Mutter zu gelangen. Es möchte sofort von ihr hochgenommen und getragen werden. Wenn das Affenkind durch andere bedroht wird, so verteidigt die Mutter ihr Kind. Das wird als protective threat bezeichnet – als schützende Drohung. Ihr Kind trägt sie dabei an ihrem Körper. In dieser Position beobachtet das Äffchen seine Mama von Geburt an und lernt von ihr, sich sicher in seiner Umwelt zu bewegen.[6]
Bei einigen Affenarten übernehmen auch die Väter solches Fürsorgeverhalten. Dazu gehören zum Beispiel die in Südamerika lebenden Tamarine und Marmosetten.[7] Interessanterweise hat man beobachtet, dass auch bei den Männchen dieser Affenarten das hauptsächlich fürs Stillen zuständige milchbildende Hormon Prolaktin ansteigt, wenn sie Vater werden. Zugleich nimmt die Testosteronkonzentration im Blut ab. Diese Kombination scheint das Fürsorgeverhalten anzukurbeln.
Und raten Sie einmal, bei welchem »Affen« dies noch beobachtet werden kann? Sie ahnen es vermutlich: beim Menschen. Nicht nur die Mutter bereiten Hormone bereits während der Schwangerschaft auf ihre Fürsorgeaufgabe nach der Geburt vor, hormonelle Veränderungen zeigen sich zu diesem Zeitpunkt auch im Hormonhaushalt des Partners. Ist das Baby einmal da, werden diese Veränderungen noch deutlicher. Bei Vätern kann das Testosteron um bis zu 30 Prozent abfallen, und das Prolaktin steigt nach der Geburt umso mehr, wenn der Vater sich intensiver mit dem Kind beschäftigt. Daraus lässt sich unter anderem schließen, dass auch aus biologischer Sicht nicht allein die Mutter als enge Bezugsperson fürs Baby vorgesehen ist.[8] Dabei sollte man allerdings nicht vergessen: Auch wenn diese Hormone das Entstehen von Bindung erleichtern, sind sie nicht deren Voraussetzung. Mit Geschwistern, Großeltern oder biologisch nicht verwandten Personen wie Adoptiveltern kann sich ebenfalls eine enge Beziehung entwickeln. Bindung ist nicht automatisch aufgrund von Verwandtschaft gegeben, sondern es braucht den intensiven Austausch miteinander, damit dieses einzigartige Band geknüpft wird. Das kann verwundern, macht aber aus evolutionärer Sicht absolut Sinn. Wenn die Mutter nach der Geburt zu schwach war, erkrankte oder im schlimmsten Fall sogar starb, mussten andere als Bindungspersonen für das Neugeborene zur Verfügung stehen.
Noch einmal zurück zu den Eltern: Die Bindungsforschung, die auf der biologischen Verhaltensforschung basiert, zeigt, dass Menschenbabys – ebenso wie alle anderen Säugetierbabys – Verhaltensweisen an den Tag legen, die darauf zielen, in ständiger Verbindung mit den Eltern zu bleiben: Rufen, Schreien, Kreischen, Ankuscheln, Hinterherrobben oder -kriechen, Anklammern und Festhalten sind wirksame Methoden, um gegen eine Trennung zu protestieren.
Kinder tragen ein physiologisches Grundbedürfnis nach Nähe und Geborgenheit in sich. Sie sind Bindungswesen und darauf angewiesen, dass fürsorgliche Eltern bereit sind, ihnen all die Liebe und Verfügbarkeit zu geben, die sie brauchen, um sich zu entwickeln. Ohne die Fürsorge der Eltern – oder anderer Personen – würden die Säuglinge sterben. Dass Kinder dieses uralte evolutionäre Erbe in sich tragen, ist in Teilen unserer Gesellschaft inzwischen angekommen. Dennoch stößt das starke kindliche Bindungsbedürfnis nach wie vor oft auf Unverständnis. Es wird als Last empfunden oder als überflüssig angesehen.
Dabei reicht ein kurzer Blick in die historische Bindungsforschung, um zu erkennen, wie es Kindern erging, die vernachlässigt und ohne Bindung in Waisenhäusern heranwuchsen. Die Folgen dieser frühkindlichen Bindungsstörungen ließen sich oftmals nicht mehr reparieren und hinterließen großes Leid im Leben der Betroffenen, die unter den entbehrungsreichen Bedingungen ihrer Kindheit litten.[9]
Es ist das Verdienst der Bindungsforschung, eine Sprache dafür gefunden zu haben und zu finden, was Kinder brauchen, um sich gut zu entwickeln. Auch wenn es immer wieder neue Erkenntnisse in den Erziehungswissenschaften gibt: Das physiologische Grundbedürfnis von Kindern nach Nähe und Geborgenheit bleibt eine verlässliche Konstante – und dabei die wichtigste, auf der alles andere aufbaut. Weiß man dies, bekommt das kindliche Verhalten einen Sinn und erscheint nicht mehr als eine Laune der Natur. Es wird verstehbar, und die Sorgen, das kleine Kind wolle mit seinen Stimmungen und Wünschen die Eltern lediglich terrorisieren, können sich auflösen und einem lösungs- und entwicklungsorientierten Umgang mit den Anforderungen des Alltags Platz machen.
Kleine Kinder sind das, was man »betreuungsintensiv« nennt. Aus Perspektive eines Kindes ist sein Verhalten jedoch immer sinnvoll. Denn es ist darauf ausgerichtet, eine gute Bindung mit den engsten Fürsorgepersonen aufzunehmen und trotz dieser starken Verbundenheit dennoch Autonomie zu erlangen. Das birgt schon in der Anlage ziemliches Konfliktpotenzial, ist aber eine unumgängliche Notwendigkeit: Das Kind muss die Welt erkunden, um sich darin irgendwann auch allein zurechtzufinden. Die tragfähige Bindung ist bei diesen Erkundungen – fachlich Exploration genannt – das Sicherungsnetz. Sie gibt dem Kind spürbaren Schutz, und daraus erwächst Selbstvertrauen. Denn es weiß: Wenn etwas schiefgeht, wenn ich Liebe, Trost oder Hilfe brauche, bin ich niemals alleine.
Eines ist sicher: Auch und gerade wenn wir unseren Elternjob gut gemacht haben, wird unser Kind uns irgendwann verlassen, um sein eigenes Leben zu leben. Dieser Schritt muss kein schmerzvoller Kontaktabbruch sein, denn im Idealfall bleibt eine lebenslange, tiefe Eltern-Kind-Bindung erhalten. Der friedliche Auszug des Kindes aus dem elterlichen Nest ist vielmehr der Beweis dafür, dass es uns gelungen ist, den kleinen Menschen, der uns damals, vor vielen Jahren, anvertraut wurde, zu einem selbstständigen und zufriedenen Leben zu befähigen. Für Eltern ist es deshalb bedeutsam und ungemein hilfreich, die zentralen Befunde der Bindungsforschung zu kennen, um die es im Folgenden gehen wird.
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»Bindung ist ein unsichtbares, emotionales Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet.«[10]
Dieses Zitat stammt von John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, den Sie schon kennengelernt haben. Damit sich dieses so besondere emotionale Band entwickelt, braucht es unzählige Interaktionen im Alltag – vom ersten Tag an. Reagieren die Eltern feinfühlig, prompt und angemessen auf die Signale ihres Babys, kann sich eine sichere Bindung etablieren. Das Baby erfährt, dass es sich auf die Unterstützung seiner Eltern verlassen kann.
Besonders wichtig ist dabei das Reagieren, wenn das Baby und später das Kleinkind weint und Trost braucht. Kinder, die so bei ihren Eltern emotional »auftanken«, können sich dann wieder voller Neugier der Erkundung ihrer Umwelt zuwenden. Deshalb sind diese Situationen in den ersten Lebensjahren des Kindes von so großer Bedeutung.
Eine sehr typische Situation, die Eltern in der Anfangszeit mit dem Baby erleben, ist folgende: Das Baby weint. Die Eltern sind ratlos. Das Kind wird nun noch einmal gestillt oder bekommt das Fläschchen, es wird gewickelt, getragen, man spielt mit ihm, und ihm wird etwas vorgesungen. Dennoch weint das Baby bei jedem Ablegeversuch. Das ist Bindungsverhalten in seiner ursprünglichsten Form. Der kleine Mensch möchte ganz nah bei seinen Eltern sein und protestiert gegen jegliche Form der Trennung. Genau in diesem Moment, wenn die Eltern dem Bedürfnis des Kindes folgen, es weiter im Arm halten und auch innerlich einwilligen, »Du hast schon recht, wir bleiben einfach zusammen«, entsteht Bindung.
Ein lebhaftes Kind, das sein Bindungsverhalten zeigt, kann Eltern phasenweise ziemlich fordern. Das ist normal und angemessen in der frühen Phase des Lebens – und es ergibt Sinn: Da Kinder ihre Eltern so oft brauchen, haben Mama und Papa unzählige Gelegenheiten, das emotionale Band zu stärken. Dieser Gedanke kann müden Eltern helfen, wenn sie häufig in der Nacht geweckt werden und sich dann um ihr Kind kümmern. Bindung entsteht in diesen sogenannten bindungsrelevanten Situationen. Macht das Kind dann die wichtige Erfahrung, dass es Trost und Unterstützung erhält, wird das Bindungsband dichter und stabiler gewebt. Das kleine Kind spürt: »Meine Eltern sind verfügbar und nehmen mich an mit meinen Bedürfnissen. Ich muss mich hier nicht zurücknehmen.«
Wird das Baby und spätere Kleinkind allerdings selbst mit seinem wirkungsvollsten Instrument, dem Schreien, nicht wahrgenommen oder bewusst übergangen – entweder aus Angst, es zu verwöhnen, oder um ihm ein bestimmtes Verhalten anzutrainieren, zum Beispiel nachts ruhig und »brav« allein zu schlafen –, geschieht etwas mit dem Kind. Dann wird es sein Streben nach Bindung irgendwann aufgeben. Es schreit nicht mehr. Es ist »brav«. Aber nicht, weil sein Wunsch nach Bindung verschwunden ist, sondern um sich selbst vor erneuten kummervollen Zurückweisungen zu schützen, nachdem es die trostlose Lektion gelernt hat: Ich werde nicht gehört. Oder schlimmer noch: Ich bekomme Ärger, wenn ich laut bin, meine Eltern werden wütend und schimpfen mit mir.
Beispielliebe