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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von shutterstock.com und Richard Jenkins Photograph

 

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Übersicht der wichtigsten Figuren

In der Patisserie Tritschler

Ida Picard, geborene Tritschler (* 2. November 1874 in Stuttgart),
Patisserieverkäuferin

Professeur Lucien Picard (* 9. September 1872 in Straßburg),
Biologieprofessor, ihr Mann

Marcel Picard (* 19. Mai 1889 in Niederbronn-les-Bains),
Adoptivsohn von Ida und Lucien Picard, Patissier

Odette Picard, geborene Roussel (* 20. April 1897 in Rouen),
Marcels Frau, vormals Blumenverkäuferin

Anne Bernadette Picard (* 28. Februar 1915 in Straßburg),
Tochter von Odette und Marcel

Paul Picard (* 21. Juni 1894 in Straßburg), Jurastudent,
Sohn von Ida und Lucien Picard

Joséphine Picard (* 22. Februar 1899 in Straßburg),
Tochter von Ida und Lucien Picard

Trystan Bouvier (* 3. Juli 1896 in Colmar), deutscher Soldat
mit französischen Wurzeln, Bäckermeister,
Joséphine Picards Schwarm

Elise Tritschler, geborene Nägele (* 11. Juli 1853 in Sindelfingen),
Idas Mutter, Backwarenverkäuferin

Franz Tritschler (* 7. April 1850 in Stuttgart),
pensionierter Großbäcker, Idas Vater

Xavier Castanet (* 12. August 1854 in Colmar), Hausdiener

In der Patisserie Goldschmidt

Jacques Picard (* 23. März 1848 in Weghäusel),
Feinbäcker, Patriarch, Kriegsinvalide

Ruth Picard (* 1. August 1898 in Straßburg),
seine Enkelin

Geraldine Rolland (* 11. September 1848 in Metz), Köchin

Nicolas Rolland (* 26. August 1897 in Metz),
ihr Neffe, Hausdiener

Bertrand Strohmeier (* 11. September 1856),
Bäckermeister der Patisserie Goldschmidt

Weitere Personen

Oskar Tritschler (* 23. Februar 1873 in Stuttgart),
Idas Bruder, Rechtsanwalt

Claire Tritschler, geborene Goldschmidt, geschiedene Picard
(* 29. Juni 1853 in Nantes), Jaques Picards Ex-Frau,
Oskar Tritschlers Frau

Marie Picard (24. Januar 1850 in Weghäusel),
Kunstmalerin, Jacques’ Schwester

Bernadette Nanty, geborene Schwab, verwitwete Picard
(* 1. September 1828 in Neuhof), Jacques’ Mutter, Försterwitwe

Gustave Nanty (* 11. März 1827 in Neuhof),
Landwirt, Bernadettes zweiter Ehemann

Antoinette Leroc, geborene Nanty
(* 4. Juli 1845 in Weghäusel bei Straßburg), Gustaves Tochter,
einstige Hausdame der Tritschlers

Gaston Leroc (* 14. Mai 1844 in Paris), Antoinettes Ehemann,
Koch und Landwirt

Stéphane Weiss (* 8. Dezember 1894 in Paris), französischer Soldat,
Literaturstudent, Ruth Picards Schwarm

Louise Weiss (* 25. Januar 1893 in Arras),
Studienrätin für Geisteswissenschaften,
Ex-Kriegskrankenschwester, Journalistin,
Stéphanes Cousine väterlicherseits

Konrad Struve (* 11. September 1900 in Offenburg),
deutscher Soldat, Student der Rechtswissenschaften

Dr. Claude Favreau (* 30. Mai 1889 in Sainte-Marie-aux-Mines),
Lazarettarzt

Véronique Favreau (* 21. Juli 1899 in Sainte-Marie-aux-Mines),
seine Schwester, Bedienung

Maximilien »Max« Fouché (* 12. Februar 1834 in Metz),
pensionierter Hochschulbibliothekar

Detlef »Det« Clasbrummel (* 23. September 1896 in Straßburg),
Theaterschauspieler

Prolog

Juli 1914

Straßburg! Endlich! Die sechzehnjährige Ruth Picard stieg am Münsterplatz aus der Droschke, die sie vom Bahnhof hergebracht hatte. In der einen Hand hielt sie einen Koffer, in der anderen eine Schachtel voller Puits d’amour, kleine Blätterteigtörtchen mit Fruchtkonfitüre-Füllung, die im Deutschen »Liebesbrunnen« genannt wurden. Die modisch gekleidete junge Frau mit dem welligen dunklen Haar näherte sich der Patisserie ihrer Familie in der Krämergasse. Das Geschäft war nach ihren jüdischen Urgroßeltern benannt: Goldschmidt. Kurz bevor sie die Eingangstür erreichte, wurde sie von einem deutschen Soldaten angerempelt, die Schachtel mit den Puits d’amour fiel ihr aus der Hand, drei landeten auf dem Boden, zwei wurden vom Stiefel eines weiteren Soldaten zertreten. Ruth, die die Törtchen gestern zu Hause in Cognac selbst gebacken hatte, fluchte. »Merde!«

Die beiden Soldaten, die bereits achtlos weitergegangen waren, drehten sich erst jetzt um. »He! Hier spricht man deutsch!«, bellte der eine.

»Hier entschuldigt man sich, wenn man eine Dame anrempelt«, entgegnete Ruth trotzig und in perfektem Deutsch, während sie in die Knie ging, um ihre Schachtel mit den restlichen Törtchen aufzuheben.

Der Soldat wollte einen wütenden Schritt auf die junge Frau zugehen, doch der andere hielt ihn zurück. Mit einem etwas lüstern wirkenden Grinsen sagte er: »Na also, das Mamsellchen kann sie doch, die Sprache unseres Kaisers.«

Ruth würdigte die Soldaten keines Blicks mehr, sondern erhob sich und wandte sich erneut dem Eingang der Patisserie zu. Brummelnd trollten sich die beiden Männer in Richtung Münsterplatz.

Kopfschüttelnd griff Ruth nach ihrem Koffer. Ihr Vater, der seine temperamentvolle Tochter bestens kannte, hatte sie ermahnt, Konfrontationen mit den Deutschen in Straßburg aus dem Weg zu gehen. Sie seien derzeit sehr grob und gingen äußerst respektlos mit der Bevölkerung um. Doch Ruth hasste Unhöflichkeit und hatte deshalb ihren Mund nicht halten können, als der Soldat sie angerempelt hatte. Ihr Lebensmotto war: Das Universum schöner und gerechter machen! Den beiden Soldaten die Meinung zu sagen, das war gerecht, und dass sie nun außer Sichtweite waren, machte Straßburg schöner. Sie atmete tief durch und öffnete dann die Ladentür. Als das vertraute Bimmeln des Glöckchens darüber ertönte und sie Großvater Jacques hinter dem Verkaufstresen erblickte, traten ihr Freudentränen in die strahlend grünen Augen. Da ihre Mutter kurz nach Ruths Geburt gestorben war, hatte sie bisher allein mit dem Vater und der strengen Gouvernante Paulette Girod in Cognac gelebt. Die wenigen Ferien bei der Großfamilie in Straßburg waren stets ein Lichtblick gewesen, die schönsten Kindheitsmomente hatte sie dort erlebt. Ruths Cousine Joséphine und deren Adoptivbruder Marcel waren ihre besten Freunde, mit beiden stand sie in regelmäßigem Briefkontakt. Und nun hatte Ruths Vater René entschieden, dass sie wegen der derzeitigen Kriegsgefahr und seiner Verpflichtung bei der französischen Armee hierher zur Familie ziehen sollte. Zumindest, bis sich die politischen Wogen wieder geglättet hatten.

»Ruth, meine kleine Ruth«, rief ihr Großvater, der inzwischen sechsundsechzig Jahre alt war, begeistert. Er kam hinter dem Tresen hervor und drückte seine grazile Enkelin mit seinem verbliebenen rechten Arm an sich; den linken hatte er 1870 beim Bombardement Straßburgs durch die Preußen eingebüßt.

»Dich hierherzuschicken war die beste Idee, die dein Vater je hatte«, freute sich Jacques Picard.

»Platz genug hast du ja«, lachte Ruth.

Der alte Patissier hatte das viergeschossige Haus in den letzten Jahren allein mit der Familienköchin und deren Neffen bewohnt. Seine betagte Mutter Bernadette lebte bei ihrem zweiten Mann und dessen Familie außerhalb Straßburgs auf dem Lande, seine Schwester Marie besaß inzwischen ein Atelier in Paris. Zwar wohnte die Familie von Jacques’ erstgeborenem Sohn Lucien gleich um die Ecke am Münsterplatz über ihrer eigenen Feinbäckerei, aber eine Enkelin im Haus zu haben machte den bisweilen recht brummigen alten Herrn sichtlich glücklich.

»Was ist das eigentlich für eine geheimnisvolle Mission, auf die mein Sohn René da geht?«, fragte er sie nun. »Ich hätte nie gedacht, dass dein Vater sich mal freiwillig zum Militär meldet. Bin immer davon ausgegangen, der kandidiert irgendwann als Bürgermeister von Cognac.«

Ruth zuckte mit den Schultern. »So genau weiß ich auch nicht, was er in Paris für Aufgaben bekommt. Es hat etwas mit der Versorgung der Truppen im Kriegsfall zu tun.«

»Ich hätte ihn gern noch mal gesehen«, sagte Jacques bedauernd. »Geht es ihm gut?«

Sie zuckte die Achseln. »Papa hat sich nie beschwert. Auch nicht darüber, dass er der Liebe wegen so weit wegziehen musste. Und auch nicht, dass er deshalb von der Patisserie in die Verwaltung gewechselt hat. Aber ich glaube, er vermisst Straßburg und das Backen öfter, als er zugibt – und dich auch.«

Jacques lächelte merklich gerührt. »Du tust ihm gut«, sagte er.

Sie nickte. Ihre Tante Ida hatte ihr erzählt, dass René vor ihrer Geburt ziemlich herrisch gewesen war. Das konnte sie sich nur schwer vorstellen: Sie hätte sich keinen aufmerksameren und liebevolleren Vater wünschen können.

Ruth war Renés einziger leiblicher Nachkomme, Marcel aus seiner ersten Ehe hatte sich als Kuckuckskind entpuppt und war dann von Renés älterem Bruder, Ruths Onkel Lucien, adoptiert worden. Ruth war es immer egal gewesen, dass Marcel kein leiblicher Cousin war, er hatte für alle von jeher trotzdem zur Familie gehört. Und seit einiger Zeit empfand sie sogar mehr für ihn. Bei ihrem Besuch zum fünfundsechzigsten Geburtstag des Großvaters im vorigen Jahr hatte sie sich ein wenig in den Sandkastenfreund verliebt. Wann immer sie seither an den gut aussehenden Feinbäcker dachte, breitete sich in ihrem Bauch ein angenehmes Kribbeln aus. Das war einer der Gründe, warum sie sich so sehr darüber freute, dass ihr Vater sie nach dem Attentat auf den Kronprinzen in Sarajevo und den nachfolgenden politischen Zerwürfnissen hierhergeschickt hatte. Kurz bevor er nach Paris aufgebrochen war, hatte René Picard seine Tochter beiseitegenommen und gesagt: »Ich bin so froh, dass ich dich habe, mein Mädchen. Wir alle sind es. Und ich bin stolz darauf, dass du so gut backen kannst. Ganz gleich, was kommt, du wirst den Namen unserer Patisserie hochhalten und dafür sorgen, dass die Menschen noch in hundert Jahren von unseren Leckereien naschen können.«

Sie hatte genickt und feierlich geschworen, dass sie genau das vorhabe. Doch seine Worte hatten so sehr nach Abschied geklungen, dass ihr mit einem Mal etwas mulmig zumute gewesen war. »Aber du wirst es doch selbst mitbekommen, Papa. Die sagen, wenn es wirklich Krieg gibt, ist der bis Weihnachten vorbei.«

»Wollen wir es hoffen«, hatte der Vater mit einem nachdenklichen Lächeln gemurmelt und sie noch einmal auf die Wange geküsst. Dann war er gegangen.

»Ich rufe gleich Nicolas, der soll dir den Koffer hochtragen«, kündigte der Großvater nun an. »Und seine Tante hat schon fleißig eingekauft. Sie kocht für dich, was immer du dir wünschst.«

»Wie schön, ich freue mich, Madame Rolland wiederzusehen«, sagte Ruth. Die schlanke, weißhaarige Familienköchin war für sie wie eine Großmutter.

»Eigentlich hätte sie vor gut einem halben Jahrzehnt in den wohlverdienten Ruhestand gehen sollen, doch sie besorgt mir immer noch den Haushalt. Treu wie eh und je. Wollte mich wohl nicht im Stich lassen«, meinte Jacques etwas verlegen.

Ruth verkniff sich ein Lächeln. Wahrscheinlich waren ihr Großvater und Geraldine Rolland, die ihren Mann bereits im Krieg 1870 verloren hatte, heimlich ineinander verliebt, wollten es sich aber nicht eingestehen.

»Grand-père, darf ich kurz drüben bei Onkel Luciens Familie vorbeischauen?«

Sie konnte es kaum erwarten, alle wiederzusehen. Vor allem Marcel, der sie per Brief gleich für ihren ersten Abend zu einem Spaziergang an der Ill eingeladen hatte. Und sie hatte bestimmte Hoffnungen bezüglich seiner Absichten bei diesem Treffen.

Der Alte lächelte. »Du darfst alles, solange du dich nicht in die Backstube schleichst und Zutaten für einen ungenießbaren Fantasieteig zusammenpanscht, wie du das im Alter von fünf Jahren getan hast.«

Ruth sah ihren Großvater an und lachte. »Versprochen.«

 

Ida Picard war ganz aus dem Häuschen. Heute würde Ruth ankommen, ihre geliebte Nichte! Obwohl Ida in der Patisserie ihrer Eltern eigentlich für den Verkauf zuständig war, liebte die neununddreißigjährige gebürtige Stuttgarterin es, selbst in der Backstube zu stehen und eigene Kreationen auszuprobieren. Zur Feier der Ankunft ihrer Nichte hatte Ida deren Lieblingstörtchen gebacken: Puits d’amour.

Ihre Begeisterung für das Backen hatte sich auch auf ihren Adoptivsohn Marcel übertragen. Der heute Fünfundzwanzigjährige war Bäckermeister geworden und sollte eines Tages die Patisserie übernehmen. Und Idas Nichte Ruth hatte sich bei ihren Besuchen in Straßburg ebenfalls von der Liebe zur Backkunst anstecken lassen. Schon als Kind hatte sie leidenschaftlich gern mit ihrer Tante Ida oder ihrem besten Freund Marcel in der Backstube gestanden. Und noch eine Leidenschaft teilten Ruth und Marcel: Sie interessierten sich auch für die Geschichte und die Geschichten des Backens. Beide stöberten mit Leidenschaft in jedem Buch über Backen oder Kochen, das sie in die Finger bekommen konnten. In den Ferien, die Ruth hier bei ihnen verbracht hatte, war die Nichte ihres Mannes für Ida fast wie eine zweite Tochter geworden.

Sie holte die Puits d’amour gerade aus dem Backofen, als ihre Mutter Elise hereinkam. Im Gegensatz zu Ida mit ihren braunen Locken war die grazile Einundsechzigjährige blond. Ein Blond, durch das sich erste graue Strähnen zogen, doch die Patissiersgattin strotzte immer noch vor Tatkraft. »Die duften ja verführerisch, Liebes«, freute sie sich. »Unsere kleine Ruth wird begeistert sein.«

»Hm, da bekommt man direkt Hunger«, ertönte nun eine weitere Frauenstimme aus Richtung der Tür. Idas Tochter Joséphine betrat mit ihrer Schultasche die Backstube. Die Sechzehnjährige war mit den blonden Haaren und den blauen Augen das jüngere Ebenbild ihrer Oma Elise und hatte auch deren großes Herz und mitfühlendes Wesen geerbt. Sie besuchte fleißig die Oberschule – um irgendwann Ärztin zu werden und möglichst viele Menschenleben zu retten. Ihr Interesse für die Wissenschaft hatte sie von ihrem Vater geerbt, einem studierten Biologen, der sich oft auf Expeditionen in aller Welt befand und an der hiesigen Universität lehrte.

»Ich möchte ja wetten, dass uns Ruth selbst Puits d’amour als Mitbringsel gebacken hat«, vermutete Joséphine beim Anblick der Blätterteigtörtchen und grinste.

Ihre Mutter sah sie erschrocken an. Die beiden Mädchen waren einander trotz der räumlichen Distanz sehr nah, es stand also zu befürchten, dass Joséphine recht hatte. Die erriet die Gedanken ihrer Mutter und legte den Arm um sie. »Macht doch nichts, Maman. Freuen wird sie sich trotzdem. Und man kann ja nie genug Puits d’amour haben.«

»Stimmt, Paul wird wie immer alle Reste vertilgen«, meinte Ida. »Wo ist der überhaupt? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.«

»Ich schau gleich mal nach ihm«, schlug Joséphine vor und machte sich auf den Weg ins Treppenhaus.

Sie fand ihren Bruder in dessen Zimmer vor. Der Zwanzigjährige saß vor dem Spiegel und fluchte über sein widerspenstiges blondes Haar, das er vergeblich zu kämmen versuchte. »Verflixt und zugenäht.«

»Komm, Paulchen, ich helfe dir«, sagte Joséphine und nahm ihm den Kamm aus der Hand. Als sie ihn zu frisieren begann, entspannte sich augenblicklich der Gesichtsausdruck des hageren und zerbrechlich wirkenden jungen Mannes. »Lieb von dir, dass du deine Vorlesung schwänzt, um Ruth zu begrüßen.«

Paul wollte Jurist werden wie sein Onkel, daher studierte er an der hiesigen Universität Rechtswissenschaften. »Ich werde auch noch rasch zum Markt gehen und ihr ein paar Blumen kaufen.«

Dass Paul so etwas für ein Mädchen tat, hatte Joséphine noch nie zuvor erlebt. Er verbrachte seine Freizeit mit seinen Freunden, die sie nicht mochte und von denen die meisten einer deutschtümelnden Studentenverbindung angehörten. Wie ihr Vater Lucien verabscheute Joséphine Nationalismus. Aber ihr Bruder war ein begeisterter Anhänger des Kaisers, und im Gegensatz zu ihr und dem gemeinsamen Adoptivbruder Marcel lehnte er alles Französische ab. Dabei wurden im Hause Tritschler beide Sprachen gesprochen – und obendrein Elsässisch.

Joséphine sorgte sich ein wenig um ihren Bruder Paul, denn er schien sich bei Ruths letztem Besuch in seine Cousine verliebt zu haben. Doch da würde er auf Granit beißen, Joséphine wusste aus vielen Gesprächen und Briefen, dass Ruth für jemand anders schwärmte. Sie wollte ihren Bruder darauf hinweisen, damit er nicht verletzt wurde. Und sie würde es dezent tun, sodass er sein Gesicht vor ihr nicht verlieren musste.

»Unser großer Bruder Marcel freut sich ja auch schon sehr auf Ruth«, begann sie betont beiläufig.

»Ja, aber er kann sie natürlich nicht die ganze Zeit in Beschlag nehmen und mit ihr in der Backstube spielen«, entgegnete Paul leicht abfällig. »Sie ist jetzt schließlich kein Kind mehr. Das hat man ja bei Opa Jacques’ Geburtstagsfeier letztes Jahr deutlich gesehen.«

»Ja, das ist Marcel aber auch nicht entgangen. Er möchte ihr sogar eine Reise nach Paris schenken«, insistierte Joséphine. »Und ich glaube, Ruth hat ebenfalls bemerkt, was für ein hübscher junger Mann unser Bruder geworden ist.«

»Ruth und unser adoptiertes französisches Zuckerbäckerchen?« Paul lachte abfällig. »Wohl kaum.«

Er betrachtete zufrieden sein Spiegelbild, erhob sich und küsste seine Schwester auf die Wange. »Danke, Finchen. Ich weiß nicht, warum du unbedingt studieren willst. Du hättest das Zeug, beim Friseur nebenan anzufangen.«

Beschwingt verließ er sein Zimmer, und Joséphine sah ihm besorgt nach. Der Arme, er würde verletzt werden!

 

Marcel Picard hatte Schmetterlinge im Bauch, während er über den Markt eilte, um Blumen für seine Cousine zu besorgen. Endlich würde er Ruth wiedersehen! Die Worte in ihren Briefen und Postkarten waren seit Großvaters Geburtstagsfeier letztes Jahr immer zärtlicher geworden. Er konnte es kaum erwarten, ihr bei ihrem Rendezvous heute Abend seine gewachsene Zuneigung endlich auch von Angesicht zu Angesicht zu zeigen. Und er wollte sie zu einer lang ersehnten Reise nach Paris einladen. Seit ihren Kindertagen hatten sie davon geträumt, die Patisserien in der Metropole zu besuchen. Nun endlich hatte er dafür genug zusammengespart.

Als der Fünfundzwanzigjährige am Blumenstand angekommen war, blickte er hilflos auf die Blütenflut. Im Gegensatz zu seinem botanisch versierten Adoptivvater hatte er wenig Ahnung von Gewächsen, außer sie eigneten sich zum Backen oder Kochen. Doch zum Glück hatte er schon öfter mit Odette Roussel, dem hübschen Blumenmädchen auf dem Markt, geplaudert. Die Siebzehnjährige würde ihm bestimmt bei der Zusammenstellung eines schönen Straußes helfen.

Als die blonde Schönheit den dunkelhaarigen jungen Mann in der Menge ausmachte, lächelte sie erfreut.

»Guten Morgen, Monsieur Picard«, sagte sie in ihrer Muttersprache Französisch, obwohl deren Gebrauch derzeit immer verpönter wurde. Aber es war stets so etwas wie ihr gemeinsamer Geheimcode gewesen, in dem Stimmengewirr aus Deutsch und Elsässisch, das auf dem Markt herrschte. Und so antwortete auch er in der Sprache seines Vaters: »Heute benötige ich Ihre Beratung. Ich brauche einen besonders schönen Strauß.«

»Ist er wieder für Ihre Großmutter?«, vermutete die hübsche Verkäuferin.

»Nein, ähm, diesmal ist er für … eine liebe Freundin.« Verdammt, warum errötete er denn jetzt? Es war ihm äußerst unangenehm, dass ihr charmantes Lächeln nun erstarb. War sie enttäuscht?

»Sie wissen nicht, welche Blumen diese Frau mag?«, erkundigte sich Odette etwas kühler.

Er schüttelte hilflos den Kopf. »Wir reden immer eher übers Backen. Sie ist mir sehr ähnlich.«

Die Floristin schaffte ein Lächeln. »Dann werde ich ein Bouquet zusammenstellen, das zu Ihnen passt.«

Als sie fertig war, präsentierte sie ihm einen Strauß, der wunderschön war – eine Liebeserklärung aus Blüten. »Merci«, sagte Marcel mit belegter Stimme. Er hatte es völlig verdrängt, schließlich war er ja in Ruth verliebt, aber Odette war der Grund, warum er immer so gute Laune hatte, wenn er auf den Markt ging. Und sie schien noch weitaus mehr Gefühle für ihn zu hegen, doch nun hatte er sie wohl verletzt. Da klopfte ihm jemand grob auf die Schulter, und er drehte sich erschrocken um. »Paul«, erkannte er gereizt seinen feixenden Adoptivbruder.

»Was willst du denn mit den Blumen? Hat mal wieder jemand in deinem Franzosenclan Geburtstag?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich auf Deutsch an Odette. »Ich will auch ’nen Blumenstrauß, Fräuleinchen. Aber was Schöneres als das Gestrüpp von meinem Bruder hier«, trat er unwissentlich bei der Verkäuferin ins Fettnäpfchen. »Ich brauch einen, der den Madames die Tränen in die Augen treibt, gerne so richtig schön groß.«

Wenig später gingen die beiden ungleichen Brüder mit ihren Blumensträußen vom Markt in Richtung der elterlichen Patisserie, Marcel verstimmt, Paul breit grinsend. »Hast du gesehen, wie die Kleine dir nachgesehen hat? Ich sag dir, du solltest zuschlagen. Ich würde die Blumen-Mamsell jedenfalls nicht von der Bettkante stoßen. Wobei – es kommt ja immer drauf an, in welche Richtung man sie stößt.«

Er lachte über seinen eigenen Witz, Marcel verzog genervt das Gesicht.

 

Als Ruth mit ihrer Schachtel mit den übrig gebliebenen Puits d’amour die Patisserie ihres Großvaters verließ, traf sie auf Nicolas, den Neffen von Madame Rolland, der seiner Tante im picardschen Haushalt unter die Arme griff und auch sonst alle anfallenden Aufgaben für die Familie erledigte. Der gut aussehende Achtzehnjährige, der zumeist eine Schiebermütze über seinem hellblonden Wuschelhaar trug, stammte aus recht ärmlichen Verhältnissen. Er war daher sehr dankbar für seine Anstellung – und äußerst fleißig. Ruths Cousine, der einfühlsamen Joséphine, hatte er anvertraut, dass er sehr darunter leide, »wie Oscar Wilde« zu sein, das hieß, er sah heimlich eher jungen Männern nach als jungen Frauen. Und Joséphine hatte es wiederum Ruth anvertraut. Aber die beiden würden dieses Geheimnis niemand anderem erzählen und beide für den freundlichen Nicolas einstehen, das hatten die Cousinen einander geschworen.

Er strahlte, als er Ruth erblickte. »Mademoiselle Ruth, wie schön, dass Sie hier sind. Wir haben uns alle so auf Sie gefreut.«

»Und ich mich auf euch«, erwiderte sie. »Dass mein Vater nach Paris musste, ist ein Geschenk des Himmels. Wissen Sie noch, dass meine Cousine, mein Cousin und ich auch mal nach Paris wollten? Und unser Versprechen steht: Dann nehmen wir Sie mit.«

Er lächelte schüchtern. »Das wäre kolossal.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie ganz wunderbar in die schönste Metropole der Welt passen«, meinte Ruth und reichte ihm lächelnd einen Puits d’amour aus der Schachtel.

Sie näherte sich verschwörerisch seinem Ohr. »Ich weiß, mein Großvater backt die auch. Aber unter uns, meine sind besser.«

 

Marcel erstarrte, als sein Blick in die Krämergasse fiel. Vor der Patisserie Goldschmidt stand Ruth, seine Ruth, ganz nah bei einem jungen Mann. Hatten sie sich etwa gerade geküsst? Das war doch Nicolas Rolland, der Neffe von Großvaters Köchin!

»Was macht Ruth denn da mit dem jungen Rolland?«, fragte Marcel, dessen Magen sich vor Eifersucht zusammenzog.

»Ach, wusstest du das nicht? Die beiden sind doch schon ewig heimlich verlobt. Die Turteltäubchen schreiben sich fast täglich«, behauptete Paul betont beiläufig. »Aber verrat sie nicht, es ist noch ein Geheimnis. Sie wollen es erst offiziell machen, wenn er geerbt hat. Da steht wohl demnächst etwas an.«

Marcel sah seinem jüngeren Bruder skeptisch ins Gesicht. Wie konnte es sein, dass er selbst von der angeblichen Liaison seiner Cousine nie etwas bemerkt hatte? »Woher weißt du denn davon?«

Paul senkte die Stimme. »Ich habe sie bei Großvaters Geburtstag unfreiwillig belauscht. Nicht mal Ruths engste Freundin Joséphine ahnt etwas davon. Also halt du bitte auch deine Klappe! Nicht dass die beiden noch Schwierigkeiten bekommen.«

Marcel war am Boden zerstört, zu allem Übel hatte Ruth sie inzwischen auch noch entdeckt und winkte ihnen begeistert zu.

 

Ruths Herz schlug vor Freude schneller, als sie die beiden so unterschiedlichen Brüder auf sich zukommen sah. Der eine ein unempathischer Nationalist mit einem riesigen, teuer, aber auch beliebig aussehenden Ungeheuer von Blumenstrauß in der Hand, der andere ein sensibler Meisterbäcker mit einer geschmackvollen floralen Liebeserklärung. Doch je näher Marcel kam, desto mehr bemerkte sie, dass sein kühler Gesichtsausdruck, in dem auch eine Spur Schmerz lag, in krassem Gegensatz zu dem Strauß in seinen Händen stand. Und das beunruhigte sie zutiefst. Paul überschüttete sie mit überschwänglichen Begrüßungsworten und drückte sie so unangenehm eng an sich, dass sein protziger Blumenbusch gequetscht wurde. Ruth schenkte ihm kaum Beachtung, sie hatte nur einen Gedanken: Was war mit Marcel los? Und es wurde immer schlimmer. Auf ihre freudige Begrüßung reagierte er steif und einsilbig. Als sie ihn schließlich eingeschüchtert fragte, ob sie heute Abend, wie in seinem letzten Brief erbeten, an der Ill spazieren gehen wollten, sagte er nur kühl: »Ich habe leider schon eine andere Verabredung.«

Tapfer kämpfte Ruth den Kloß in ihrem Hals und die aufsteigenden Tränen nieder, da kommentierte Paul verschwörerisch: »Das schöne Blumenmädchen Odette vom Markt hat sich in unseren Marcel verliebt.«

Die beiden Sträuße in Ruths Händen fühlten sich mit einem Mal bleischwer an, schienen ihre Handflächen zu verätzen. Sie wurde von unfassbarem Schmerz und Panik erfasst. Lieber Gott, lass mich jetzt nicht vor den beiden das Heulen anfangen, flehte sie stumm.

Zu ihrer Erleichterung kam in diesem Moment ihr Großvater aus der Patisserie gestürzt, und die beiden Brüder hörten endlich auf, sie anzustarren.

»Mobilmachung«, keuchte der alte Picard. »Der Krieg ist da!«

Ruth fielen die Blumen aus den Händen, und endlich hatte sie ein Alibi für ihre Tränen.

Teil 1

1918

1

Nervös beobachtete Ruth, wie ihr Großvater, der inzwischen siebzigjährige Patriarch Jacques Picard, mit einem zufriedenen Seufzer die alte Wanduhr im Wohnzimmer eine Stunde zurückstellte. »Nach achtundvierzig Jahren haben wir nun endlich wieder französische Zeit«, verkündete er, und sein Blick fiel durch das Fenster hinunter auf die Krämergasse. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er die beiden deutschen Soldaten erblickte, die durch den Schneeregen eilten. »Bald sind sie endgültig fort, die Boches«, hörte seine Enkelin ihn sagen.

Es war Donnerstag, der 21. November 1918, und vor zehn Tagen war der über vier Jahre andauernde Große Krieg zu Ende gegangen. Deutschland hatte bedingungslos kapituliert, überall gab es Unruhen und Plünderungen, die Könige und regierenden Fürsten hatten, ebenso wie der Kaiser, abgedankt, Prinz Max von Baden war Reichskanzler geworden. Auf den Rathäusern, auch auf dem von Straßburg, hatten die roten Fahnen der Soldatenräte geweht.

Inzwischen war in Rethondes, im Wald von Compiègne, das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet worden, und auch der letzte deutsche Soldat würde nun bald aus Straßburg abziehen.

»Wie die geprügelten Hunde schleichen sie davon. Fünfzehn Tage haben die Alliierten ihnen gegeben – wenn sie dann nicht weg sind, werden sie zu Kriegsgefangenen gemacht!«, sagte Jacques Picard triumphierend, während er sich zu seinen beiden Enkelinnen und seiner Schwiegertochter umdrehte. Ruth sah besorgt, wie Ida auf Jacques’ Worte hin wütend das Gesicht verzog. Ihre wunderschöne, dunkel gelockte Tante Ida war für sie wie eine Mutter. Seit Anfang des Monats war sie vierundvierzig Jahre alt, was man ihr jedoch nicht ansah. Da sie wegen der schwierigen Lage Idas Wiegenfest nicht hatten feiern können, hatte Ruth ihren Großvater überredet, die Tante und deren Tochter, die gleich um die Ecke am Münsterplatz wohnten, für heute zu einem nachträglichen Geburtstagsessen einladen zu dürfen – auch wenn alle Franzosen gehalten waren, Kontakte zu Deutschen auf das Nötigste zu beschränken. Zum ersten Mal hatte die zwanzigjährige Ruth selbst gekocht und war entsprechend nervös. Sie war sogar zu ihrer Urgroßmutter aufs Land gefahren, um ein Hühnchen für das Mahl zu besorgen. Hoffentlich würde ihr Großvater weitere Beleidigungen gegen deutsche Soldaten unterlassen! Schließlich hatten sowohl sein eigener Sohn Lucien, Tante Idas Mann, als auch deren Adoptivsohn Marcel in der Kaiserlichen Armee gedient und waren noch nicht heimgekehrt. Und auch Paul hatte gewiss keine Beleidigungen verdient: Er war zwar bereits wieder zu Hause, hatte aber seinen Einsatz für die Deutschen mit dem Verlust eines Beins teuer bezahlt.

Ächzend ließ sich der Alte auf den Stuhl sinken, auf dem seit Jahrzehnten immer nur er saß, und breitete umständlich die Serviette auf den Knien aus.

Sodann winkte er ungeduldig Nicolas herbei, den jungen Neffen der Familienköchin Geraldine Rolland, der schüchtern und etwas ungeschickt das von Ruth mühevoll zubereitete Hühnerfleisch mit Kartoffeln und Steckrüben auflegte.

»Wird Zeit, dass wir mal wieder etwas Anständiges auf den Teller bekommen«, schimpfte Jacques nach den ersten Bissen. »Aber auch das wird jetzt besser werden, wenn Straßburg endlich wieder französisch ist.«

Ruth fühlte augenblicklich einen heftigen Stich in der Magengegend. Immer musste er alles schlechtmachen! Erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass keine der drei Frauen am Tisch auch nur ein Wort gesagt hatte. »Hat es euch die Sprache verschlagen?«, brummte er.

Seine neunzehnjährige Enkeltochter Joséphine wechselte daraufhin einen betretenen Blick mit ihrer Mutter Ida. »Ach, Grand-père, wenn alles Deutsche nun plötzlich so schlecht ist«, sagte sie herausfordernd, »dann müssten Mutter und ich ja auch schlecht sein, denn sie ist Deutsche, und ich auch – immerhin zur Hälfte.«

»Wir kennen Straßburg nur als deutsche Stadt«, gab Ida zu bedenken. »Und du musst zugeben, dass das Zusammenleben bisher ganz wunderbar funktioniert hat.«

»Wunderbar nennst du das?« Jacques erhob sich wieder, die Handfläche seiner gesunden Hand schwer auf die Tischplatte gedrückt, von seinem Stuhl. »Wunderbar? In den letzten vier Jahren wurden wir Franzosen von den Deutschen behandelt wie Dreck. Nicht einmal bedanken durfte ich mich in meiner Heimatsprache. Und wenn ich Gelee wollte, musste ich Dicksaft sagen. Dicksaft! Wo gibt es denn so was?«

Ruth hatte zwar Angst, der Streit könne ausarten, musste sich aber auch eingestehen, dass ihr Großvater recht hatte: Die Zeit unter der deutschen Militärregierung war in der Tat alles andere als schön gewesen. Doch dafür konnten ihre beste Freundin und deren Mutter ja nichts!

»Aber davor war es doch sehr harmo…«, setzte Ida an einzuwenden, da fiel Jacques ihr ins Wort: »Davor, davor, davor! Jetzt ist, was zählt.«

Er wandte sich mit strenger Miene an Ruth. »Gleich nach dem Essen machst du dich daran, französische Flaggen zu nähen. Ab morgen, wenn unsere Soldaten kommen, ist unsere Stadt wieder blau-weiß-rot, alle Elsässer sind aufgefordert, mitzuhelfen. Und gerade du schuldest es deinem seligen Vater, der für unser Frankreich sein Leben geopfert hat.«

Seit sein jüngerer Sohn René 1915 in der Schlacht bei Ville-sur-Tourbe gefallen war, hatte Jacques sich völlig in sich zurückgezogen und kaum gesprochen. Und nun wünschte sich Ida, ihr Schwiegervater hätte sein Schweigen nicht gebrochen. Sie merkte, wie sich die grünen Augen ihrer armen Nichte mit Tränen füllten. Auch Ida selbst musste schwer schlucken und fühlte sich wieder an ihre Anfangsjahre in Straßburg erinnert. Damals war der alte Picard ihr und ihrer Familie mit unverhohlenem Hass entgegengetreten. Beinahe wäre die Liebe zwischen seinem erstgeborenen Sohn Lucien und ihr an den Intrigen seiner Eltern zerbrochen. Jacques’ Hass hatte sich erst gelegt, als er herausfand, dass er sein Leben gleich in doppelter Weise den Tritschlers zu verdanken hatte: Erst hatte Franz ihn im Deutsch-Französischen Krieg gerettet, und dann hatte Ida ihn aus der Ill gezogen. Fortan war alles gut gewesen – bis bei Beginn des Großen Krieges die deutsche Militärregierung in Straßburg das Regiment übernommen hatte. Und ein Stück weit konnte Ida auch verstehen, dass Jacques den Deutschen diese Zeit übel nahm. Sie war ja selbst empört gewesen, wie rüde und respektlos sich die Besatzungsmitglieder den Elsässern gegenüber aufgeführt hatten. Die Franzosen unter ihnen waren verfolgt und teilweise sogar festgesetzt worden, ihre Muttersprache wurde verboten.

Doch nun war all das vorbei. Und Straßburg erstmals seit fast einem halben Jahrhundert wieder französisch.

»Jacques«, sagte sie leise, während sie aus dem Augenwinkel beobachtete, dass Joséphine und Ruth sich stumme Blicke zuwarfen. Keine von beiden hatte bisher einen Bissen hinuntergebracht, und das, obwohl der Hunger doch schon lange ihr stetiger Begleiter war. »Jacques! Wer, wenn nicht unsere Familie ist ein gutes Beispiel dafür, dass Liebe stärker ist als Nationen? Mein Vater hat dich 1870 nach der Belagerung gerettet, ohne zu fragen, ob du Deutscher bist oder Franzose.«

»Oh, bitte!«, fuhr Jacques gereizt auf. »Ich kann es nicht mehr hören. Ja, dein Vater hat mir das Leben gerettet, und dafür bin ich ihm auch unendlich dankbar. Aber soll ich deshalb bis zum Totenbett vor ihm auf den Knien rutschen?«

»Natürlich nicht!«, rief Ida empört. »Niemand verlangt, dass du auf den Knien rutschst. Inzwischen seid ihr doch längst Freunde auf Augenhöhe – und das ist auch gut so!«

Jacques legte in einer sehr langsamen Bewegung sein silbernes Messer, das die Kriegstage mit den zahlreichen Plünderungen und Tauschgeschäften überstanden hatte, neben dem Teller ab und sah Ida ruhig, aber abweisend an. »Du irrst dich, mein Kind«, sagte er. »Dein Vater und ich waren noch nie Freunde und können es auch nie sein. Deutsche und Franzosen sind niemals Freunde.«

»Aber …«, meldete sich nun bestürzt Joséphine zu Wort, »aber ich bin doch Deutsche. Und damit ist deine Familie zur Hälfte deutsch.«

»Jawohl«, sagte Jacques kalt. »Eine Schmach. Eine unerträgliche Schmach.«

»Also …«, setzte Ida empört an, doch ihre Tochter kam ihr, vor Wut bebend, zuvor. »Was fällt dir ein, uns so zu beleidigen? Mein großer Bruder ist deutscher Soldat, und mein Vater ebenfalls – dein eigener Sohn! Wünschst du denen auch die Verhaftung?«

»Mir gefällt dein Ton nicht, junges Fräulein«, bellte der Patriarch zurück. »Wenn euch nicht passt, was ich sage, könnt ihr gern nach Hause gehen. Weit habt ihr es schließlich nicht, dein Großvater Franz musste mir eure Patisserie damals ja direkt vor die Nase setzen. Von mir aus braucht ihr auch nie mehr wiederzukommen. Das hier ist jetzt wieder ein französisches Haus.«

Ruth, die bisher verzweifelt schweigend dabeigesessen hatte, sprang auf und sagte mit brüchiger Stimme: »Das kannst du nicht machen, Grand-père.«

Jacques beachtete sie gar nicht.

Joséphine starrte ihn fassungslos an. »Aber ich bin deine Enkeltochter, Großvater. Die Tochter deines Sohnes Lucien.«

Als der Alte den Kopf hob, glaubte Ida zunächst, so etwas wie Bedauern in seinem Blick zu erkennen. »Ja«, knurrte er dann und fügte zu ihrem Entsetzen hinzu: »Ja, das lässt sich leider nicht ändern.«

Ida atmete scharf ein, legte ihr Besteck auf den Teller zurück – auch sie hatte keinen Bissen gegessen –, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. »Komm, Joséphine.« Sie legte ihrer zutiefst getroffenen Tochter die Hand auf die Schulter. »Wir sind hier wohl wirklich nicht mehr erwünscht.«

Joséphine fiel es schwer aufzustehen, ihre Beine zitterten. Doch sofort war ihre verlässliche Freundin Ruth neben ihr, um sie zu stützen und ihrem gemeinsamen Großvater empört entgegenzurufen: »Wenn sie geht, gehe ich auch! Die eine gibt es nicht ohne die andere.«

»Du bist Französin. Du hast mit denen da«, Jacques zeigte mit dem Kinn abfällig auf Joséphine und ihre Mutter, »du hast mit denen da nichts zu schaffen.«

»O doch!«, rief Ruth empört. »Mit denen da habe ich sogar jede Menge zu schaffen. Joséphine ist mehr als meine Cousine, sie ist meine beste Freundin. Ihr verdanke ich die schönsten Ferien hier in Straßburg. Und Tante Ida war auch immer für mich da, vor allem, als Vater gefallen ist. Du warst ja eiskalt.«

»Ruth«, mahnte Ida leise. »Nicht.«

»Aber es ist doch wahr«, beharrte die junge Frau und folgte dann den anderen hinaus. Unten an der Haustür brach Ruth in Tränen aus. »Wie kann er nur so gemein zu euch sein?«, schluchzte sie. »Ich will nicht mehr mit dem alten Griesgram unter einem Dach leben.«

»Ach, Liebes«, seufzte Ida und nahm ihre Nichte in die Arme. »Im Grunde ist er einsam. Seine Frau hat ihn für einen Deutschen verlassen, seine Schwester ist nach Paris gezogen. Und Renés Tod hat ihn wohl doch mehr mitgenommen, als er nach außen hin zeigen wollte. Da kam vielleicht der Hass aus dem ersten Krieg wieder mit hoch. Die Deutschen haben ja 1870 auch seinen besten Freund getötet.«

»Dann meinst du, ich soll bei ihm bleiben?«, schniefte Ruth.

»Du kennst ihn doch«, sagte Ida sanft. »Manchmal ist er aufbrausend, und hinterher tut es ihm leid. Wenn du es tatsächlich nicht mehr aushältst bei ihm, sind wir ja gleich um die Ecke. Und du weißt, dass du dort willkommen bist – jederzeit!«

»Danke.« Ruth war nun wieder etwas ruhiger. »Wahrscheinlich hast du recht, und er ist wirklich einsam. Dann mache ich ihm eben die Freude und nähe Fahnen.«

»Du darfst dich schon auch selbst ein bisschen freuen«, sagte Ida lächelnd. »Ganz Straßburg ist in Feierlaune, endlich ist Frieden. Morgen werden die Franzosen erwartet, alle schmücken die Stadt. Sei dabei! Du bist Französin. Vielleicht freut sich dein Papa irgendwo mit euch.«

»Aber …«

»Nein, du verrätst uns damit nicht«, versicherte Ida, die Ruths Gedanken erraten hatte.

»Unter einer Bedingung.« Ruth sah Joséphine erneut flehend an, die daraufhin innehielt.

»Welche denn?«, fragte die zögernd. Sie hatte sich, tief verletzt, bisher vollkommen aus dem Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Cousine herausgehalten.

»Dass du morgen zur Siegesfeier mitkommst.«

»Aber ich …«, wehrte Joséphine ab.

»Bitte«, beharrte Ruth. »Du bist schließlich genauso Französin wie Deutsche.«

Joséphine wollte schon ablehnen, fing dann aber einen bittenden Blick ihrer Mutter auf. »Also gut«, sagte sie. »Ich begleite dich. Bis morgen.«

»Vergiss nicht, deine Maske aufzusetzen«, mahnte Joséphine ihre Mutter. Als erfahrene Kriegskrankenschwester wusste sie: Jetzt, da so viele Soldaten in der Stadt waren, war die Gefahr, sich an dieser Lungenpest, wie die derzeit grassierende Spanische Grippe auch genannt wurde, anzustecken, besonders groß.

Ida seufzte und zuckte dann mit den Schultern. »Es hilft ja nichts«, sagte sie, zog ihre Stoffmaske aus der Tasche und bedeckte Mund und Nase.

Vor der Patisserie Tritschler trafen Joséphine und Ida auf Odette Picard. Das einstige Blumenmädchen war inzwischen glücklich mit Marcel verheiratet. Die Einundzwanzigjährige strahlte eine unbändige Energie aus, jeder in ihrer Nähe fühlte sich sofort wohl. »Wieso seid ihr denn schon zurück?«, fragte sie verwundert.

»Opa hat uns rausgeworfen, bevor wir Ruths Essen kosten konnten«, berichtete Joséphine.

»Wie bitte?«, rief Odette empört und stemmte die Hände in die Hüften. »Was ist denn in den gefahren?«

»Mit mir kann man sich ja nicht mehr sehen lassen«, brach es zynisch aus Ida heraus. »Ich bin ja eine Deutsche.«

»Und ich eine halbe«, fügte Joséphine hinzu.

»So ein Unsinn«, urteilte Odette resolut und schob ihre Schwiegermutter sowie ihre Schwägerin ins Haus. »Ich lasse mich sehr gerne mit euch sehen. Ist er selbst schuld, der alte Brummbär. Machen wir es uns heute Abend eben vor unserem eigenen Kamin besonders gemütlich.«

Joséphine lächelte in sich hinein. Anfangs war sie zwar ebenso schockiert gewesen wie die arme Ruth, als Marcel verkündet hatte, eine andere zu heiraten. Doch sobald sie Odette näher kennengelernt hatte, war ihr klar gewesen: Marcel hatte einfach ein unglaubliches Glück gehabt mit dieser Frau. Auch Joséphine fühlte sich durch deren Zuspruch sofort besser.

Kaum hatten sie die Tür zur Wohnung im ersten Stock geöffnet, flog ein kleines, blondes Mädchen mit wippenden Zöpfen auf sie zu, das seiner Mutter Odette wie aus dem Gesicht geschnitten war. »Omi, Omi, das ging ja schnell«, rief die Kleine begeistert.

»Ja, das ging schnell«, wiederholte Joséphine sarkastisch. »Manchmal ist der Uropa Jacques ein ganz Schneller.«

Odette strich ihrer Tochter lächelnd über den Kopf. Dann sagte sie: »Anne, lauf doch rasch in die Küche und bitte Monsieur Castanet, etwas von dem Kriegskuchen aufzuschneiden.«

Ida bemerkte einmal mehr, dass sich in den letzten Jahren aus Sorge um ihren Mann ein trauriger Zug um Odettes Mund eingegraben hatte. Und auch sie selbst wurde immer öfter von Albträumen mit Erinnerungsfetzen jenes Tages geplagt, als ihr Adoptivsohn im Alter von vier Jahren beinahe in der Ill ertrunken war. Heute war die Sorge um Marcel leider von längerer Dauer und ließ sich bisweilen einfach nicht mehr verdrängen.

 

Der junge Mann sah den dampfenden und verführerisch duftenden Teller mit Suppe, den man ihm gereicht hatte, ungläubig an wie einen Schatz. Der Neuankömmling war gewiss erst vor Kurzem wehrtauglich geworden. In seinem ausgemergelten Gesicht erahnte man noch Spuren seiner Kindheit. Einer Kindheit, deren Hoffnungen und Zukunftsträume der Große Krieg ganz offensichtlich nachhaltig beschädigt hatte. Als der achtundzwanzigjährige Marcel Picard ihm einen Löffel gab, begann der Jüngere gierig zu essen.

»Nicht zu schnell!«, mahnte Marcel. »Sonst bekommst du Dünnpfiff. Und wenn du dein Essen nicht anständig verdaust, hast du bald wieder Hunger.«

»Danke«, schmatzte der andere. »Das ist so lecker. Wo haben Sie das bloß her?«

»Ich habe gelernt, dass man auch aus Resten etwas zaubern kann«, offenbarte Marcel. Normalerweise war er im Laufe der Gefangenschaft eher wortkarg geworden. Aber er hatte heute tagsüber beobachtet, wie einige »Kameraden« – oder besser: Mitgefangene – dem schmächtigen Jungen dessen ohnehin karge Ration abgeknöpft hatten. Marcel wusste aus eigener leidiger Erfahrung, dass sich in den Lagern oft jeder selbst der Nächste war. Jeder gegen jeden, allein. Es dauerte lang, bis sich hier ein rücksichtsvoller Umgang oder gar Freundschaften bildeten – wenn überhaupt. Obwohl man wie Vieh aneinandergepfercht wurde, konnte das Kriegsgefangenenlager der einsamste Ort der Welt sein. Deshalb hatte Marcel den Jungen zu dieser nächtlichen Stunde in sein Reich geholt: die winzige und schlecht ausgestattete Feldküche. Und dort wollte er ihm nicht nur heimlich Suppe schenken, sondern auch etwas anderes, nach dem der Neuankömmling gewiss genauso hungerte: ein vertrauensvolles, langes Gespräch.

»Sogar die Wachoffiziere bewundern es, wenn jemand ein wenig guten Geschmack in diese grässliche Lagerwelt reinbringen kann. Als ich hier so neu war wie du, da hatte ich mich aufgegeben. Der Krieg ging ja über vier Jahre, alle Seiten sind zermürbt. Deshalb werden die Franzosen uns deutschen Gefangenen gegenüber immer bösartiger und grausamer.«

»Das stimmt«, bestätigte der junge Mann. »Dabei haben auch die sich in den Berner Verhandlungen zu menschlicherer Behandlung verpflichtet. Und dann gilt natürlich immer noch die Haager Landkriegsordnung von 1907: In den Lagern behalten die Gefangenen ihren Status und Rang als Offiziere oder einfache Soldaten, alle sollen mit Menschlichkeit behandelt werden und in Bezug auf Nahrung und Unterkunft den eigenen Truppen gleichgestellt sein. Aber in so einem Lager … Da wird dann in der Realität eben doch oft auf solche völkerrechtlichen Bestimmungen gepfiffen. Gerade jetzt nach so langer Zeit und bei den eingeschränkten Ressourcen.«

»Woher weißt du denn das alles?«, wunderte sich Marcel.

»Ich will mal Politiker werden, lese, was ich in die Finger kriegen kann. Bevor die mich eingezogen haben, wollte ich Rechtswissenschaften studieren.«

»Donnerwetter!«

»Otto von Bismarck hat ja mal gesagt: Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie! Aber sowohl die Juristerei als auch das politische Interesse liegen bei mir in der Familie. Mein Urgroßonkel war Rechtsanwalt und hat vor siebzig Jahren in Offenburg die badische Revolution mit ausgelöst«, erzählte der Junge nun ein wenig stolz und leckte den letzten Rest Suppe vom Teller. »Ich glaube, in Zukunft sollten die europäischen Länder zusammenarbeiten. Wir sehen ja gerade, wohin der Nationalismus und das Herrendenken geführt haben.«

»Ja, nur wer viel weiß, kann konstruktive Ideen für die Zukunft finden«, meinte Marcel. »Es ist wichtig, sich an diesem Ort nicht aufzugeben. Ich behalte mir meine Würde, helfe anderen weiterhin, solange es geht, das habe ich mir geschworen. Zu Hause in Straßburg war ich Feinbäcker, und jetzt habe ich mir auch hier so eine Nische geschaffen, wo es den Leuten schmeckt.«

»Mit Erfolg«, bestätigte der Junge anerkennend. »Ich habe seit bestimmt zwei Jahren nichts so Leckeres mehr gegessen.«

»Freut mich«, sagte der solchermaßen Gelobte und streckte die Hand aus. »Ich bin übrigens Marcel Picard.«

»Konrad Struve aus Offenburg«, stellte sich der Jüngere vor und drückte mit erstaunlicher Kraft die Hand des Feldkochs.

»Was ist denn hier los?«, bellte plötzlich eine Stimme auf Französisch.

Marcel und der jüngere Gefangene fuhren erschrocken herum und sahen sich einem streng dreinblickenden Lageroffizier mit rotem Schnauzbart gegenüber. Marcel bemerkte, dass Konrad Struve neben ihm zu zittern begann. Offenbar wusste er, dass auf Nahrungsunterschlagung der Tod stand. Der Offizier zog seine Pistole.

2

»Ruth!« Jacques Picard konnte ein erleichtertes Lächeln nicht verbergen, als er seine Enkelin in der Tür bemerkte. »Komm her, mein Mädchen, sieh dir das an.« Er winkte sie zu sich und zeigte voller Stolz auf ein zusammengerolltes Banner in den klassischen französischen Farben. Blau-Weiß-Rot. »Bisschen staubig, die alte Dame, aber das bekommen wir schon hin. Bis morgen erstrahlst du in neuem Glanz, mein Schätzchen«, freute er sich.

»Wo hast du die denn so schnell her?«, wollte Ruth wissen. Ihr Tonfall war kühler als sonst, sie wollte ihrem Großvater schon noch zeigen, wie übel sie ihm sein Verhalten nahm, doch Jacques bemerkte es entweder nicht oder ignorierte es geflissentlich.

»Ja, da staunst du, was?«, freute sich der Alte. »Versteckt hab ich sie. All die Jahre über. Unter meinem Kleiderschrank. Ich wusste, dass sie eines Tages wieder zum Einsatz kommen würde, das gute Mädchen.«

Ruth dachte an die Worte ihrer Tante Ida und seufzte gottergeben. »Dann mache ich die dir mal schön sauber«, bot sie an.

Erstmals seit Langem zeigte er sich gut gelaunt. »Unsere gute Madame Rolland hat in der Bibliothek schon mit den anderen Fahnen begonnen. Dann hängen wir die drei Prachtstücke aus den beiden Wohnzimmerfenstern. Die Patisserie Goldschmidt und das Haus Picard werden die heimkehrenden Soldaten morgen gebührend willkommen heißen. Das wird ein Fest!«, freute er sich. Dann wurde er plötzlich ganz nachdenklich. »Wenn das dein Vater noch erlebt hätte!«

Nach diesen Worten erhob er sich ächzend – das Gliederreißen machte Jacques immer mehr zu schaffen – und wankte zur Tür.

»Wo willst du denn hin?«, rief Ruth ihm nach.

»Na, wohin wohl«, knurrte der Alte. »In meine Backstube natürlich. Wenn die Helden morgen heimkehren, dann müssen sie doch ordentlich versorgt werden. Sie sollen schmecken, dass das Elsass wieder französisch ist!«

»Ich kann keinen Unterschied zwischen deutschem und elsässischem Kougelhopf erkennen«, sagte Ruth zu leise, als dass er sie hätte hören können. Das sollte er auch gar nicht. Laut bot sie an: »Ich könnte dir doch helfen! Beim Backen, meine ich.«

»Du? In der Backstube?« Der Großvater lachte auf. »Wie denn das?«

Sie schluckte. Er tat gerade, als sei sie noch das kleine Mädchen, das vor dem Krieg, als es noch ausreichend Zutaten gab, immer zu ihm nach unten geschlichen war, um hier eine Sultanine und dort ein wenig Zucker zu ergattern.

Aber nun war sie kein kleines Mädchen mehr, sondern über zwanzig Jahre alt – und hatte den großen Traum, diejenige zu sein, die das Unternehmen in die Zukunft führen würde. Das war sie allein schon ihrem Vater schuldig. Manchmal hatte Ruth in den qualvollen zweieinhalb Jahren, die seither vergangen waren, gedacht, er habe seinen Tod kommen sehen und deshalb im Juli 1914 seine eindringlichen Worte an sie gerichtet.

Aber nicht nur weil ihr Vater es sich gewünscht hatte, sondern auch ganz generell würde Ruth nur zu gern in der Backstube stehen, um die typischen elsässischen Leckereien zuzubereiten: Macarons, Kougelhopf, Elsässer Apfelkuchen mit Rahmguss, Bredele, Flammkuchen sowie allerlei Tartes. Doch an Jacques’ breitem Rücken führte kein Weg vorbei.