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Dieses Buch handelt von den düstersten Jahren der deutschen Geschichte und von der Person, deren Name für sie steht. Die Rede ist von Adolf Hitler. Er brachte mit dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg Verwüstung und millionenfachen Tod über die Menschheit. Das schwerste Erbe jedoch, das Hitler und die zwölf Jahre seiner Gewaltherrschaft ihr hinterlassen haben, gründet in der ungeheuerlichen industriellen Vernichtung von Millionen Menschen, für die Auschwitz zur Chiffre geworden ist. Die aus dem Völkermord an den europäischen Juden resultierenden mentalen Verheerungen scheinen unauslöschlich zu sein. Er hat die Fundamente der Zivilisation erschüttert. Ihm kommt damit eine universale Bedeutung zu.
Weit mehr als die russischen und chinesischen »Vernichtungsuniversen«, wie der Philosoph Peter Sloterdijk die drei Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts nennt,[1] ist das deutsche in den Fokus des Interesses gerückt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die Bundesrepublik wie kein zweites Land ihrer problematischen Vergangenheit stellte, aber auch damit, dass die jüdische Gemeinschaft, also diejenigen, die ein besonderes Interesse an der Aufarbeitung dieses Abschnitts der Geschichte haben, über den gesamten Globus verstreut ist. Die Folge von beidem ist eine Fülle an Literatur zum Nationalsozialismus, die inzwischen selbst von denen kaum noch zu überschauen ist, die sich mit ihm professionell auseinandersetzen.
Der Blick zurück ist der Veränderung unterworfen. Denn Geschichte ist nichts Statisches. Sie wird vielmehr durch die sich wandelnde politische Gegenwart bestimmt. An den Hochschulen der liberalen Demokratien, besonders an denen in Deutschland, hat dies die historische Forschung seit den 1970er Jahren in immer stärkerem Maße sozialwissenschaftlich geprägt. Historische Zäsuren werden dabei oft eingeebnet, menschliches Planen, Entscheiden und Handeln treten zurück. Vor allem die gesellschaftlichen Strukturen sind es, die den Lauf der Geschichte bestimmen, lautet diese Lehrmeinung. Hinzu tritt in neuerer Zeit ein Geschichtsverständnis, wonach zusammenfassende Deutungen vergangener Epochen und Ereignisse unzulässig sind. Historiker könnten lediglich wiedergeben, wie die einzelnen Quellen von der Vergangenheit berichteten. Neben sozialgeschichtlich dominierter Betrachtung und Dekonstruktivismus hat sich als Antwort darauf im Internet – abseits des akademischen Glashauses – noch ein neuer, zu vernachlässigender Vulgärrevisionismus ausgebreitet.
Bei all diesen Varianten tritt die substanzielle Auseinandersetzung mit der historischen Figur Hitler zunehmend in den Hintergrund. Wenngleich das Sujet Biografie ohnehin nur schwerlich mit der sozialgeschichtlichen Betrachtung vereinbar ist, hat diese auch hier Einzug gehalten. Stand in der großen, zu Beginn der 1970er Jahre erschienenen Hitler-Biografie Joachim C. Fests noch ganz die handelnde Person im Mittelpunkt,[2] so disputierten spätere, sozialgeschichtlich orientierte Werke nahezu jegliche gestaltende Rolle des Menschheitsverbrechers weg.[3] In der heute als wegweisend geltenden Hitler-Biografie des britischen Historikers Ian Kershaw[4] ist der Diktator vor allem Projektionsfläche und Sammelpunkt gesellschaftlicher Strukturen. Und in der unlängst erschienenen Arbeit Volker Ullrichs ist dies nicht viel anders.[5] Wolfram Pyta gehört zu denen, die einen anderen Ansatz wählten. In seiner Herrschaftsstudie gelangt er zu dem Ergebnis, dass Hitlers Aufstieg und sein mörderisches Regime in der radikalen Anwendung ästhetischer Prinzipien gründeten.[6]
Nicht überall ist die sozialgeschichtlich dominierte Historiografie so unumstritten wie in Deutschland. In Frankreich zum Beispiel gibt es einen ungleich freieren zeitgeschichtlichen Diskurs. So schreibt der linkssozialistische Geschichtswissenschaftler François Furet, der ein Standardwerk über den Kommunismus, Das Ende der Illusionen, verfasst hat,[7] »dass die Historiker unserer Epoche, die vom Determinismus und dem soziologischen Verständnis der Geschichte besessen sind, […] gerne die […] Rolle [übersehen], die bestimmte Persönlichkeiten darin gespielt haben«.[8] Der Franzose, der glaubt, dass ohne Hitlers »politisches, dem Bösen zugewandtes Genie […] wohl alles anders verlaufen« wäre,[9] hat zweifellos recht, denn der Mensch ist eben nicht nur bloßer Spielball anonymer Geschichtsprozesse, sondern zur Gestaltung historischer Entwicklungen befähigt. Für den britisch-österreichischen Philosophen Karl R. Popper ist diese Fähigkeit ein elementarer Bestandteil der offenen und pluralistischen Gesellschaft, deren Grundzüge er als Gegenmodell zu jeglicher Ideologiekonstruktion entwarf.[10]
Was die Gestaltung historischer Prozesse angeht, gilt dies im negativen Sinn in ganz besonderem Maße für Hitler, denn er war die geschichtsmächtigste Figur des 20. Jahrhunderts. Er veränderte das Antlitz der Welt wie kein Zweiter. Das Ende des alten Europas als ihr Machtzentrum, die beiden antagonistischen Supermächte USA und Sowjetunion, die es beerbten, die Teilung des Kontinents und Deutschlands, den Kalten Krieg, den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung – das alles hätte es nicht gegeben, wenn Hitler auf irgendeinem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs geblieben wäre. Die Nachgeborenen sind sich dessen oft nicht bewusst.
In der Geschichte ist alles mit allem verknüpft. Umso unhistorischer ist es, wenn Hitler und vor allem sein Menschheitsverbrechen aus dem geschichtlichen Zusammenhang gerissen werden, was immer häufiger der Fall ist. Die Folge einer solchen Isolierung ist die Emotionalisierung, die bereits in der Forderung gipfelte, doch ganz auf eine historische Darstellung des Völkermords zu verzichten, weil sie das schlechthin Unbegreifliche begreiflich zu machen versuche und deshalb zwangsläufig scheitern müsse. Fest, dessen Werk vor dem Kershaws die Deutung Hitlers bestimmte, sprach in diesem Zusammenhang von einer »Art dämonologischer Verdrängung«, die eher Mythen und Legenden Vorschub leiste, nicht aber zu einem Verständnis des Geschehenen beitrage.[11] Dafür braucht es neben der sachlich-nüchternen Betrachtung vor allem dessen Einbettung in den historischen Kontext der deutschen und europäischen Geschichte. Nur dadurch ist die politische und moralische Dimension Hitlers zu ermessen.
Dieser Historisierung, die namhafte Historiker bereits in den 1980er Jahren forderten,[12] wird in diesem Buch Rechnung getragen. Es behandelt zehn zentrale Aspekte von Hitlers Gewaltherrschaft, die in ihrer Gesamtheit dem historisch interessierten Leser einen Überblick über das Thema »Hitler und der Nationalsozialismus« geben sollen – kurz, übersichtlich und verständlich. Es beginnt mit einer kleinen Tour d’Horizon durch die Welt des europäischen Rassismus und Antisemitismus, die in die Frage mündet, ob der Judenhass in Deutschland in der Zeit, bevor Hitler die politische Bühne betrat, stärker ausgeprägt war als anderswo. Im Anschluss daran geht es darum, ob die »unvollendet« gebliebene Novemberrevolution des Jahres 1918 und die Spaltung der Arbeiterklasse den Januar 1933 erst ermöglicht haben, wie es von den Linksintellektuellen heute noch vertreten wird. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird aus dem entgegengesetzten politischen Lager der Versailler Friedensvertrag dafür verantwortlich gemacht und damit zumindest eine Teilschuld an Hitler den Siegermächten des Ersten Weltkriegs zugewiesen. Doch lässt sich solches aufrechterhalten?
Worüber deutsche Historiker in den 1980er Jahren erbittert stritten, nämlich ob der Rassenmord der Nationalsozialisten die Antwort auf den Klassenmord der Kommunisten gewesen war, wie der Geschichtsphilosoph Ernst Nolte zu wissen glaubte,[13] ist ein weiterer, auch heute noch aktueller Aspekt, der behandelt wird. Dem folgt die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es sein konnte, dass ein Politiker, der einer fanatischen Rassenideologie das Wort redete und Szenarien von einer »jüdischen Weltverschwörung« entwarf, Reichskanzler wurde. Und es geht auch darum, warum ihm die Nation trotz der von ihm verantworteten brutalen Ausschaltung jeglicher Opposition und trotz der menschenverachtenden Rassenpolitik folgte. Rechneten die Deutschen dies mit seinen Triumphen bei der Revision von Versailles auf – nicht zuletzt, weil sie den Mann mit dem exaltierten Sendungsbewusstsein nicht verstanden? War es etwa dieses Unverständnis, das ihn wie ein Erlösung verheißendes wagnerisches Wesen aus einer anderen Welt erscheinen ließ und in besonderem Maße der Verklärung Vorschub leistete?
Der Zweite Weltkrieg, ohne den es wohl keinen Völkermord gegeben hätte, nimmt in diesem Buch einen breiten Raum ein. Er begann mit dem Polenfeldzug, dem der Hitler-Stalin-Pakt vorausging. Was hat es mit dem Bündnis der beiden Todfeinde wirklich auf sich gehabt, das heute vom russischen Präsidenten Wladimir Putin demagogisch geschickt als Selbstschutzmaßnahme einer friedliebenden Sowjetunion dargestellt wird?[14] Und warum folgten die Deutschen ihrem »Führer« dennoch bis in den totalen Untergang? Vor dem Hintergrund, dass zwischen dem Frühsommer 1944 und der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 doppelt so viele Deutsche starben als in den vier Kriegsjahren zuvor, erhält diese Frage ihr Gewicht.
»Wie konnte das geschehen?«, sind die Ausführungen überschrieben, in denen es um den Völkermord an den europäischen Juden geht. Kompensierte Hitler mit dem Genozid seine militärische Niederlage? War er die furchtbare Realisierung seines frühen rassenideologischen Wahns? Apropos rassenideologischer Wahn. Die Auseinandersetzung mit seiner Weltanschauung zieht sich wie ein »roter Faden« durch den gesamten Text. Dabei wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, inwieweit sie auf seine Politik und Kriegführung einwirkte oder sie sogar bestimmte, was der Historiker Andreas Hillgruber bereits vor einem halben Jahrhundert glaubte nachweisen zu können,[15] wofür er von den frühen Sozialhistorikern um Hans-Ulrich Wehler erbittert bekämpft wurde.
Das Buch endet mit einer kritischen Betrachtung des deutschen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Es ist eine neue Geschichte, eine Geschichte von Verdrängung, Instrumentalisierung, des Sichstellens, des Selbsthasses und der Übermoral, aber auch des Aufflackerns von überwunden Geglaubtem. Es ist eine kurze Geschichte einer auseinanderdriftenden Gesellschaft. Denn ein Dreivierteljahrhundert »danach« hat es den Anschein, dass das Erbe Hitlers stärker denn je auf dieses Land einwirkt und an den Grundfesten seiner Demokratie rührt, der besten Form des Zusammenlebens, die die Deutschen je hatten, wie es der Blick auf ihre düsterste Vergangenheit umso augenfälliger macht.
Schließlich muss noch Dank gesagt werden – Dank für eine sich inzwischen über dreieinhalb Jahrzehnte erstreckende Zusammenarbeit mit dem Piper Verlag. Er gilt der Verlegerin, Felicitas von Lovenberg. Genannt werden müssen aber auch Anne Stadler, die Programmleiterin des Sachbuchs und die Pressechefin Eva Brenndörfer, die von Anfang an mit dabei war. Dieses Buch betreute Charlyne Bieniek. Sie legte eine beachtliche Professionalität an den Tag. Nicht nur ihre Kompetenz ist hervorzuheben, sondern auch ihre behutsame und sachliche Art, diese mit einzubringen. Dafür sei ihr besonders gedankt.
War er in Deutschland besonders ausgeprägt?
Der Blick zurück auf die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland ist heute in aller Regel von seinem Ende her bestimmt, also vom ungeheuerlichen Völkermord an den europäischen Juden. Dies impliziert einen moralisch-emotionalen Blickwinkel, sozusagen aus dem Grauen heraus, der dazu verleitet, Bezüge und Kontinuitäten zu sehen, auch dort, wo es sie gar nicht gibt. Denn jede antisemitische Äußerung (und von denen gibt es viele) wird vor dem Hintergrund des abscheulichen Menschheitsverbrechens gesehen. So entsteht gleichsam automatisch ein Zerrbild, das oft mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat. Tritt noch eine isolierte Betrachtung hinzu, ist das Urteil über den deutschen Antisemitismus vor Hitler klar.
Ganz anders verhalten sich die Dinge, wenn dieser sachlich nüchtern in den europäischen Kontext und in die jeweilige Zeit gestellt wird, das heißt, wenn die damaligen Wertvorstellungen und Horizonte der Menschen berücksichtigt werden. Diese unterschieden sich von unseren heutigen fundamental. So bestimmte – als Hitler 1889 in Braunau am Inn geboren wurde – auf beiden Seiten des Flusses, also in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und im deutschen Kaiserreich, ein überbordender Nationalismus den Zeitgeist. In den anderen Monarchien des alten Europas war es nicht anders: Die eigene Nation stand über allem in der Welt. Sie wetteiferte mit anderen Völkern. Der Krieg war dabei die legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie es schon der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780 – 1831) geschrieben hatte.
Und auch das Bild vom Menschen war ein völlig anderes. Sie wurden in »Rassen« unterteilt. Da war zunächst die weiße Rasse, die Europäer, unter denen die Juden, als »semitische Rasse«, eine Sonderrolle spielten. Da waren die »Gelben«, also die Asiaten, und die Naturvölker, zu denen die »Neger« gerechnet wurden, womit Afrikaner und Afroamerikaner gemeint waren. Und da war noch eine Reihe anderer Naturvölker. Völlig unbestritten war aus europäischer Sicht, dass die eigene, die weiße Rasse die am weitesten entwickelte war und es nur ihr zukam, die Welt zu kolonialisieren und damit zu beherrschen. Wenn zum Beispiel der englische Kolonialpolitiker Cecil Rhodes (1853 – 1902), der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Monopol über zahlreiche Gold- und Diamantenminen in Britanniens südafrikanischen Territorien besaß, die britische als die »erste Rasse der Welt« bezeichnete[16] und in den Eingeborenen »billige Sklavenarbeiter« zur Rohstoffgewinnung sah, dann entsprach dies ganz und gar dem Zeitgeist.
Ein gutes Jahrhundert vor Rhodes, an den heute noch – nun in die Kritik gekommene – Denkmäler in Großbritannien erinnern, war es der »Rohstoff« Mensch selbst, der von den Engländern über den Atlantik in ihre dortigen Besitzungen verkauft worden war. Er war eine Handelsware. Bei den anderen Kolonialmächten wie Spanien, Frankreich, Belgien, Portugal und den Niederlanden war dies nicht viel anders. Sie alle betrieben Sklavenhandel. Gleichwohl war dieser, wie heute immer wieder glauben gemacht wird, keineswegs eine europäische Erfindung, die mit dem Kolonialismus aufgekommen war. Mit Menschen Handel zu treiben hatte seine Ursprünge bereits im alten Mesopotamien und wurde später von den Arabern in Afrika etabliert. Über viele Jahrhunderte hinweg besaßen sie das Monopol in Afrika. Der Anthropologe Tidiane N’Diaye kommt in seinem Buch Der verschleierte Völkermord zu dem Fazit, »dass der von den arabomuslimischen Räubern betriebene Sklavenhandel […] weitaus verheerender für Schwarzafrika war als der transatlantische«.[17]
An Deutschland ging dieser Kelch vorbei, denn der europäische Sklavenhandel war abgeschafft, als es in den 1880er Jahren zur Kolonialmacht wurde. Das war ein verspäteter »Platz an der Sonne«, den es sich in Afrika, in der Südsee und in China verschaffte. Denn die Welt war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend zwischen den europäischen Mächten aufgeteilt. Das Deutsche Reich stand dann in seinem kolonialen Gebaren den anderen keineswegs nach. Auch hier war alles bestimmt vom Geist einer kulturell-rassischen Überlegenheit. Die Eingeborenen aus den acht Kolonien wurden im Reich als Exoten bestaunt, mitunter auch leibhaftig, etwa in Hagenbecks Hamburger Tierpark. In Büchern wurden ihre Eigenschaften beschrieben. So hieß es zum Beispiel in einem Band über die deutschen Überseebesitzungen, dass der »Togoneger mit vielen anderen Naturvölkern den Hang zur Lüge« teile. Er kenne nicht das Rad, den Pflug, die Windkraft und den Hebel. »Um Jahrtausende ist er in diesen Dingen hinter der weißen und hinter der gelben Rasse zurück.«[18]
Die Kolonialmächte sahen sich demzufolge vor einer Erziehungsaufgabe. Der britische Schriftsteller Rudyard Kipling (1865 – 1936), der den Konflikt zwischen Abend- und Morgenland, zwischen Technik und Natur thematisierte, schrieb sogar von einer Bürde.[19] Nach den Vorstellungen der Zeit galt es nämlich, die Eingeborenen an die Standards des weißen Mannes heranzuführen. Dazu gehörten ihre Missionierung sowie die Übernahme europäischer Lebensformen. Wer sich dagegen auflehnte, wurde mit brutaler Gewalt zur Räson gebracht. Dies galt für die Aufständischen gegen die Herrschaft der Britischen Ostindien-Kompanie 1857 ebenso wie für die Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika, die sich 1904 gegen die Kolonialmacht erhoben und daraufhin von der deutschen Schutztruppe niedergemacht wurden.
Eine Sonderrolle spielten in der Welt der »Rassen« – wie bereits erwähnt – die Juden. Denn sie lebten nicht irgendwo auf fernen Kontinenten, sondern inmitten der europäischen Völker. Und sie waren auch keineswegs kulturell unterlegen. Das Gegenteil war allzu oft der Fall, weshalb bei Nichtjuden mitunter ein Gefühl der Unterlegenheit aufkam. Dies und ihr abgegrenztes Anderssein machten die Juden in besonderem Maße als Sündenböcke geeignet, zumal diese Rollenzuweisung eine lange Tradition hatte. Die Rede ist vom christlich motivierten Judenhass, dem Antijudaismus. Manche, wie zum Beispiel der Führer der zionistischen Weltbewegung, Theodor Herzl (1860 – 1904), sahen darin den eigentlichen Kern des Rassenantisemitismus. In seinem Buch Der Judenstaat schrieb er am Ende des 19. Jahrhunderts: Die Judenfrage sei »ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten«.[20]
Tatsächlich liegen die Wurzeln des modernen Rassenantisemitismus im christlich motivierten Judenhass des Mittelalters, genauer gesagt: des Hochmittelalters. Die amerikanische Judaistin Talya Fishman erklärt dies mit der Einführung des Talmuds, jenes Auslegungsbuchs, das auf die erbitterte Kritik des katholischen Klerus stieß, das die Inquisition auf den Plan rief und das auf Scheiterhaufen verbrannt wurde.[21] Die Juden – es handelte sich um einige Hunderttausend, die in Europa lebten – wurden von der Kirche nun nicht mehr als verblendete ältere Brüder angesehen, sondern als Ketzer. Hinzu kam neben strukturellen Veränderungen in der ständisch-feudalen Gesellschaft des Mittelalters auch ein Wandel in der Darstellung Christi vom Pantokrator, vom Weltenherrscher, zum Schmerzensmann am Kruzifix. Da die Juden es waren, die aus christlicher Sicht die Schuld am Leid Christi trugen, wurden sie zu den Gottesmördern. In einer durch und durch christlich-metaphysisch geprägten Welt war solches unverzeihlich. Von den Kanzeln der Kirchen wurden sie deshalb verdammt und bald von marodierenden Banden als Freiwild verfolgt. Im Zuge der großen Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts kam es in der Schweiz, im Elsass und am Niederrhein, an Main und Mosel zu Pogromen, in deren Verlauf Hunderte von Dörfern niedergebrannt und Tausende Juden getötet wurden. Ihre blutige Austreibung brachte dem christlichen Volk und seinen weltlichen Herren viele materielle Vorteile. Da die Juden aber von diesen gebraucht wurden, nahm man sie später zu schlechteren Bedingungen wieder auf.
Der Antijudaismus eines Martin Luther (1483 – 1546) stand ganz in der Tradition seiner Zeit. Hinzu kam, dass sich der Reformator als der Wortführer der Christen, des »wahren Gottes Volk«, begriff. Er hatte sich Rom widersetzt, und nun galt es für ihn, das »auserwählte Volk«, das sich hartnäckig weigerte, in Christus den Messias zu sehen, kraftvoll zurückzudrängen. In seiner bekannten Schrift Von den Juden und ihren Lügen[22] tat er das, indem er von den Landesherren forderte, ihre Synagogen und Schulen niederzubrennen, jüdisches kulturelles Leben zu zerstören und die Juden auszutreiben, so wie es in den Ländern der böhmischen Krone und besonders in Spanien geschehen war. Auch wenn Luthers Forderungen nicht umgesetzt wurden, die eng mit dem Klerus oder mit der Reformation verbundene weltliche Macht grenzte die Juden ohnehin aus, weshalb sie weitgehend rechtlos in eigenen städtischen Quartieren lebten und sich in als unchristlich geltenden Berufen, wie dem des Geldverleihers, verdingen mussten. Ein mehr oder weniger starker Antijudaismus mit Verfolgungen und Pogromen prägte so über die Jahrhunderte hinweg das Leben der europäischen Juden.
Dann kam die Aufklärung. An die Stelle der christlichen Weltdeutung, nach der die Menschen im Wesentlichen in Gläubige und Ungläubige unterteilt wurden, trat jetzt diejenige, Menschen nach physiologischen und geistigen Kriterien zu betrachten und zu klassifizieren. Im Zuge des neuen Universalismus waren theoretisch zwar alle Menschen gleich, befanden sich aber auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Diese neue Sicht auf den Menschen, die so neu gar nicht war, ging sie doch auf Aristoteles (384 – 322) zurück, begann sich seit Ende des 17. Jahrhunderts durchzusetzen. François Bernier (1620 – 1688) verfasste damals eine Schrift von der Neuen Einteilung der Erde nach den unterschiedlichen Arten oder Rassen, die sie bewohnen.[23] Eine solche Klassifizierung der Menschheit wurde von nahezu allen europäischen Geistesgrößen der Aufklärung geteilt. Immanuel Kant (1724 – 1804) schrieb: »In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der ›Race‹ der Weißen. Die gelben Inder haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind tiefer und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.«[24]
Weitgehend ausgeklammert wird beim Blick auf die Geschichte des Rassismus, dass auch der rassisch begründete Antisemitismus ein Kind der Aufklärung war. In dieser wandelte sich der theologisch hergeleitete Antijudaismus allmählich in eine weltliche Judenfeindschaft. Aus den rechtlosen, ausgegrenzten, randständigen Juden, die ohnehin schon aufgrund ihrer Diskriminierung längst nicht mehr nur als eine Religionsgemeinschaft angesehen wurden, wurden nunmehr die Angehörigen der »semitischen Rasse«. Als solche bezeichnete sie zum Beispiel der französische Philosoph und Schriftsteller Voltaire (1694 – 1778). Für ihn waren die Juden eine »minderwertige Menschenart«, die vom »Willen nach Fortpflanzung und zum Geld bestimmt sei«. Er schrieb ihnen »Unwissenheit, barbarische Sprache, Hass auf andere Völker, Grausamkeit, Aberglaube und verschiedene sexuelle Perversionen zu«.[25]
Kant polemisierte unter modernen Vorzeichen gegen die Gesetzmäßigkeit des jüdischen Glaubens mit seinen starren Regeln und bewegte sich damit noch ganz in der Tradition des Antijudaismus. Doch er beließ es nicht dabei, sondern er bediente sich auch gängiger Klischees, wenn er die Juden »Vampyre der Gesellschaft« nannte und ihren »Wuchergeist« geißelte. Er meinte, der Ruf, dass sie Betrüger seien, sei nicht unbegründet.[26] Voltaire und Kant waren nur zwei von vielen Denkern der Aufklärung, die ein negatives Bild der Juden zeichneten. Doch es gab auch diejenigen, die dem Judentum mit einer gewissen Toleranz gegenübertraten, wie Montesquieu (1689 – 1755), oder sogar mit Akzeptanz, wie Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781). Mit seinem 1783 uraufgeführten Schauspiel Nathan der Weise proklamierte er erstmals die damals alle Schranken einreißende Idee von der friedlichen Koexistenz der drei monotheistischen Religionen, von denen keine die »einzig wahre« sei.
Wenngleich die Aufklärung den modernen Rassismus und Rassenantisemitismus hervorbrachte, so ebnete sie doch gleichzeitig den Weg zu deren Überwindung. Voltaire war es, der das neue Denken verbreitete. Kant revolutionierte mit seiner Kritik der reinen Vernunft die Philosophie wie kein Zweiter. Montesquieu erdachte die Gewaltenteilung, wie sie heute noch die moderne Demokratie ausmacht. Ohne diese Männer ist die Französische Revolution von 1789 nicht zu denken. Mit dem so folgenreichen Ereignis wurde dann nicht nur der feudal-absolutistische Ständestaat abgeschafft, sondern auch die Durchsetzung der unveräußerlichen universellen Menschen- und Bürgerrechte unter dem Motto »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« proklamiert.
Inspiriert worden waren die französischen Revolutionäre vom Unabhängigkeitskampf der 13 amerikanischen Kolonien, wo 1776 die »Virginia Declaration of Rights« niedergelegt worden war. Doch wie schon dort, wo die Menschenrechte die Grundlage für die Emanzipation der weißen Siedler (und Sklavenhalter) von der britischen Kolonialmacht bilden sollten, dienten sie im revolutionären Frankreich dem Dritten Stand – vor allem dem städtischen Bürgertum, aber auch den abhängigen Bauern –, die Herrschaft von Adel (Zweiter Stand) und Klerus (Erster Stand) zu brechen. Was die alte Ordnung niederriss und ein Quantensprung hin zum modernen Verfassungsstaat war, änderte also noch nichts an der Unterteilung der Menschheit in ungleichwertige Rassen, entzog aber zumindest der Sklaverei diesseits und jenseits des Atlantiks recht bald die Legitimation.
Den französischen Juden brachte die Revolution die Emanzipation. Sie erhielten die Bürgerrechte. Mit der napoleonischen Besatzung kamen die Ideen von 1789 dann in die deutschen Länder, und mit diesen wurde das Ende des minderen Rechtsstatus der hier lebenden Juden eingeleitet. In den Fürstentümern Anhalt-Bernburg und Anhalt-Köthen erhielten sie 1810 beziehungsweise 1812 die volle Gleichberechtigung. Im Königreich Bayern, im Großherzogtum Baden und in Frankfurt ergingen Emanzipationsgesetze. Außerdem schafften die deutschen Staaten Sondersteuern für Juden ab. In Preußen wurden sie mit dem »Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden« vom März 1812 Staatsbürger. Sie waren damit den übrigen Untertanen Friedrich Wilhelms III. (1770 – 1840) formaljuristisch gleichgestellt, die Ausübung ständischer politischer Rechte wurde ihnen jedoch noch vorenthalten.
In Preußen war schon vor Ausbruch der Französischen Revolution über eine Besserstellung der Juden diskutiert worden. Der Kriegsrat Christian Dohm (1751 – 1820) legte 1781 auf Anregung des Philosophen der Aufklärung Moses Mendelssohn (1729 – 1786) eine Schrift mit dem Titel Über die bürgerliche Verbesserung der Juden[27] vor. Danach sollte Zug um Zug eine rechtliche Gleichstellung der Juden mit den Christen erfolgen, was freilich nicht unumstritten war. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderte dann der im preußischen Dienst stehende Alexander von Humboldt (1769 – 1859) ihre Gleichstellung. Seiner Auffassung zufolge sollten die Juden durch »Verschmelzung«, »Zertrümmerung ihrer kirchlichen Form« und »Ansiedlung« von ihrem »Nationalcharakter« befreit werden.[28] Auch Humboldt, der ein gutes Verhältnis zu den Juden pflegte, sah in ihnen also nicht etwa nur eine Religionsgemeinschaft, sondern Angehörige einer eigenen Nation, sprich Rasse, die auf die Entwicklungsstufe der preußischen Nichtjuden gebracht werden sollte.
Als Rasse begriffen sich die Juden aber auch selbst. Sie hatten sich nicht der mit der Aufklärung vorgenommenen neuen Klassifizierung der Menschen entgegengestellt. Mit ihrer Emanzipation entwickelte sich zwar eine jüdische Kritik am Universalismus der Aufklärung, aber nicht an der Unterteilung der Menschen in Rassen und schon gar nicht an der Existenz einer jüdischen Rasse. Der Historiker Philipp Lenhard schreibt dazu: »Die Aneignung des Rassebegriffs war Ausdruck eines selbstbewussten Umgangs mit der eigenen Jüdischkeit. Gerade Juden, die nicht besonders religiös waren oder gar säkularen Ideen anhingen, bot der Rekurs auf die ›Rasse‹ eine Möglichkeit, sich weiterhin als Juden zu definieren. […] Im Gegensatz zum antiken und mittelalterlichen Judentum trat in der Neuzeit die Einheit von Abstammungs- und Religionsgemeinschaft auseinander. In diesem Zusammenhang gewann auch der Rassebegriff fundamentale Bedeutung für die jüdische Identitätsbildung.«[29] Die Begrifflichkeit »jüdische Rasse« war also bei den Juden nicht erst seit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Gebrauch, als Assimilationsbefürworter und Zionisten in ihrem Disput ebenso damit hantierten wie jüdischstämmige Anthropologen im Rahmen der Biowissenschaften.
Nicht zuletzt die Betonung jüdischer Eigenständigkeit in der christlichen Gesellschaft erschwerte ihre Emanzipation, die in Preußen nach dem Sieg über Napoleon (1769 – 1821) nicht so recht vorankommen wollte. Idealismus und Romantik hoben im Gegensatz zur Aufklärung die Unterschiede zwischen den Menschen und Religionen wieder hervor. Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), der Philosoph des Idealismus, bezeichnete die Juden als »Staat im Staat«[30] – dieselben Juden, von denen viele soeben noch in den Befreiungskriegen für Preußen gekämpft hatten. Das Klima bewirkte dann, dass in den auf dem Wiener Kongress dazugewonnenen Gebieten die Regelungen des Edikts von 1812 nicht angewandt wurden. Für Preußens Juden galten so 22 verschiedene Rechtsordnungen. Während im ehemaligen Königreich Westfalen zumindest theoretisch die völlige Gleichstellung gewährleistet wurde, bestanden in den Provinzen Posen und Westpreußen, in denen um 1830 etwa 30 Prozent der preußischen Juden ansässig waren, die aus russisch-polnischer Zeit stammende Rechtlosigkeit und der Gettozwang fort. Erst von 1833 an änderte sich das.
In den Jahren vor der Märzrevolution von 1848 wurde die Judenemanzipation zu einer zentralen politischen Streitfrage, eben zur »Judenfrage«. Der sogenannte »Vormärz« war in Deutschland die Zeit, in der Liberale, bürgerliche Demokraten und Nationale sich gegen die Restauration formierten und Einheit, Recht und Freiheit für alle Deutschen forderten. Mit dabei waren auch Juden. Doch sie blieben vielen fremd, wurden mitunter als Widerpart zur neuen Bewegung angesehen. Nationalliberale Judenfeinde, wie Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860), vertraten die Auffassung, dass die Juden »ein verdorbenes und entartetes Volk« seien[31] und deshalb in einem zu schaffenden deutschen Nationalstaat nichts zu suchen hätten. Antisemitismus gab es auch in der Bewegung des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852) und in den Burschenschaften, die sich im Mai 1832 unter den Farben Schwarz-Rot-Gold zum Hambacher Fest einfanden. Doch alles in allem waren die Ideen des »Vormärz« keineswegs antisemitisch-ausgrenzend, sondern eher integrativ. Dies war in den deutschen Landen nicht anders als bei den antirestauratorischen Bewegungen in Österreich, Italien oder Ungarn.
Zur selben Zeit war in Europa mit dem sozialistischen Gedankengut ein sozial motivierter Antisemitismus aufgekommen, bei dem der jüdische Reichtum und die Protagonisten desselben, die Bankiers, in den Fokus rückten. Sie waren zumeist Angehörige der orthodoxen Judenheit, die nun der Ausbeutung des Volkes bezichtigt wurde. Protagonisten dieses Antisemitismus waren in Frankreich die Frühsozialisten, Leute wie Pierre Leroux (1797 – 1871) oder Charles Fourier (1772 – 1837), im Deutschland des »Vormärz« die Junghegelianer, allen voran Bruno Bauer (1809 – 1882). Er agitierte gegen die Judenemanzipation, weil diese lediglich die Privilegienstruktur des Staates stärke. Unter dem Einfluss des Philosophen und Religionskritikers Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) schrieb auch Karl Marx (1818 – 1883), selbst jüdischer Abstammung, lange vor seiner Analyse des Kapitals 1843 einen Beitrag »Zur Judenfrage«.[32] In diesem Traktat, in dem er den Glaubensjuden ihre Existenzberechtigung absprach, vertrat er die Auffassung, dass eine Emanzipation der Juden zwar wünschenswert sei, aber keine echte Emanzipation sein könne, weil sie ohne die vollständige und widerspruchslose Lossagung vom Judentum möglich sei. Einfacher ausgedrückt: Die Emanzipation kapitalistisch-orthodoxer Juden in einer ebenso kapitalistischen Gesellschaft brächte die Entwicklung in Richtung auf eine klassenlose Gesellschaft nicht voran.
Der Klassenhass der ersten Kommunisten auf wohlhabende Juden war jedoch nicht frei von rassenantisemitischen Elementen. So beschimpfte Marx seinen Widersacher, den Arbeiterführer Ferdinand Lassalle (1825 – 1864), der im Gegensatz zum internationalistischen Marxismus preußisch-nationalstaatlich orientiert war, als »jüdische[n] Nigger«. »Es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem Nigger kreuzten). Nun diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft«, schrieb Marx.[33]
Daneben produzierte der Marxismus wenig bekannte, aber umso bemerkenswertere Gedankenspiele. Während sich vereinzelte radikal-nationalistische Antisemiten in wütenden Gewaltfantasien gegenüber der jüdischen Rasse verstiegen, vertraten führende Marxisten die Auffassung, dass Völker beziehungsweise Volksgruppen, die nicht reif für den Klassenkampf seien, keine Existenzberechtigung hätten. Friedrich Engels (1820 – 1895) schrieb in der von Marx seit Sommer 1848 herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung, »diese Völkerabfälle […] bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution«.[34] Und Marx meinte, dass diese Völker »im revolutionären Weltsturm unterzugehen« hätten.[35] Der Cambridger Literaturhistoriker George Watson sieht deshalb in Marx den »Stammvater des modernen politischen Völkermordes«.[36]
Während also das aufkommende sozialistische Denken einerseits den Antisemitismus beförderte, lieferte es im Zusammenwirken mit dem Liberalismus und der bürgerlichen Demokratiebewegung andererseits die Grundlage für die weite Teile Europas erfassende Revolution von 1848. Deutschland brachte diese die vollständige Judenemanzipation. Das Vorparlament der Frankfurter Paulskirche, in dem auch Juden vertreten waren, beschloss, dass die »bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte« der Bürger durch ihr religiöses Bekenntnis weder »bedingt noch beschränkt« werden dürften. In zahlreichen deutschen Kleinstaaten wurden nun Gleichstellungsgesetze erlassen. Im Dezember 1848 gewährte die neue preußische Verfassung die vollständige Emanzipation der Juden. Auch wenn nach dem Scheitern der Revolution vieles wieder rückgängig gemacht wurde, so führten doch die beginnende Industrialisierung und die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands die Einschränkung der Rechte der Juden zunehmend ad absurdum. Im Preußischen Landtag und im Norddeutschen Reichstag wurde die Judenemanzipation im Juli 1869 formal beschlossen und nach der Gründung des Deutschen Reiches im April 1871 als Reichsgesetz übernommen.
Gleichzeitig befeuerten die rasanten gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit und der überall in Europa aufkeimende Nationalismus den Rassenantisemitismus, der vor allem in antiliberalen Kreisen seinen Nährboden fand. Für Diskussionsstoff sorgte dort Arthur Graf Gobineaus (1816 – 1882) Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen,[37] der Mitte der 1850er Jahre erschienen war, aber erst zur Jahrhundertwende in deutscher Sprache vorliegen sollte. Der französische Aristokrat brachte darin als Erster die vermeintliche Bedeutung der »Rassereinheit« ins Spiel, die später ein Kernelement der nationalsozialistischen Ideologie werden sollte. Die Rassereinheit war für Gobineau deshalb von zentraler Bedeutung, weil für ihn der einzig wesentliche Faktor in der Geschichte das Naturgesetz und damit die Rasse war. Die jüdische Rasse ordnete er – sozusagen als Unterrasse – der weißen Rasse zu. Er brachte den Juden sogar einen gewissen Respekt entgegen, blieben sie doch unter sich und schufen damit die Voraussetzung für den Fortbestand ihrer Rasse – eine Voraussetzung, die zwar der französische Adel erfülle, nicht aber die Deutschen. Diese waren für den Rassentheoretiker eine Mischrasse aus Kelten und Slawen. Der Publizist Joachim Fest, der 1973 sein Standardwerk über Hitler vorlegte, schrieb über Gobineau, er habe »erstmals die Angst vor dem Rassenwirrwarr der Neuzeit formuliert und den Untergang aller Kulturen mit der Promiskuität des Blutes verknüpft«.[38]
Gobineaus Vorstellungen wurden befördert durch die bald die Welt in den Bann ziehende Theorie des Briten Charles Darwin (1809 – 1882) vom Überleben des Stärkeren (survival of the fittest),[39] die eigentlich auf dessen Landsmann, den Philosophen und Soziologen Herbert Spencer (1820 – 1903), zurückging.[40] Die Evolutionslehre wurde nunmehr trivialisiert und auf die Rassenlehre übertragen. Dem ewigen Daseinsgesetz der natürlichen Selektion zufolge mussten nun auch die jeweiligen Rassen einem gnadenlosen Existenzkampf ausgesetzt sein. Solches schien zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann einen erhöhten Stellenwert zu erhalten, als es in Asien zu antikolonialen Revolten, wie zum Beispiel dem Boxeraufstand, kam und nicht nur in Deutschland das Wort von der »gelben Gefahr« die Runde machte. Wer allerdings angesichts des Postulats von der Rassereinheit die größte Bedrohung für die nordische beziehungsweise arische Rasse darstellte, lag für eingefleischte Antisemiten auf der Hand. Es war diejenige Rasse, die inmitten dieser nordischen lebte und der zunehmend ein parasitärer Grundzug nachgesagt wurde, die jüdische.
Einer, der die rassenantisemitischen Strömungen seiner Zeit geradezu in sich aufgesogen hatte, war der 1848er-Revolutionär Richard Wagner (1813 – 1883), der mit Gobineau mehrmals zusammentraf. Sein antisemitisch-germanisch-mythisches Weltbild und eine geniale Befähigung als Komponist und Musikdramatiker verschmolzen bei dem späteren Bayreuther miteinander, für dessen Bühnenwerke sich der junge Hitler schon in Linz begeisterte. Dem Antisemitismusforscher Wolfgang Benz zufolge habe Wagner einen »verhängnisvoll[en] Einfluss« ausgeübt, indem er in seinen Opern und in seinem »ebenso wirkungsvollen wie irrationalen Aufsatz« »Das Judenthum in der Musik« aus dem Jahr 1850 seine antisemitischen Überzeugungen verbreitet habe.[41] Wagner schrieb darin, dass der Jude »unfähig« sei, sich künstlerisch auszudrücken, weder mittels der Sprache noch durch seinen Gesang. In seinem Tagebuch hielt er später ergänzend dazu fest: »In der Natur ist es so beschaffen, dass überall, wo es etwas zu schmarotzen giebt, der Parasit sich einstellt«, und fügt hinzu, »ein sterbender Leib wird sofort von den Würmern gefunden, die ihn vollends zersetzen und sich assimilieren. Nichts anders bedeutet im heutigen europäischen Culturleben das Aufkommen der Juden.«[42]
Der Antisemitismus Wagners spiegelt sich auch in seinen Opern wider. Immer wieder thematisierte er darin den Widerstreit zwischen Materialismus und Seele. Die Helden seiner Musikdramen sind germanische Erlöserfiguren, wie Lohengrin, der die Welt vor dem Materialismus retten will, oder wie Parsifal, der die als jüdisch gekennzeichnete Antipodin Kundry durch den Tod erlöst. Den Musikwissenschaftler Hartmut Zelinsky veranlasste dies zu der Feststellung, Wagner habe damit »dem exterminatorischen Antisemitismus des Holocaust Vorschub geleistet«.[43] Andere erwiderten darauf, dass Wagner unter dem Einfluss von Gobineaus Blutrassismus seinen Antisemitismus zugunsten einer alle Gegensätze überwindenden Revitalisierung durch das Blut Christi hinter sich gelassen habe, wie er es in seinen »Regenerationsschriften« festhielt.[44] Micha Brumlik sieht beide Tendenzen in Wagners Werk.[45] Darüber hinaus finden sich bei Wagner, in dem Hitler die »größte Prophetengestalt« sah, die das deutsche Volk besessen habe,[46] nahezu alle Motive, die den späteren Weg des Diktators ausmachten, von der Erlösung über die Vernichtung bis zum Untergang.
»Klärung« in der »Judenfrage« brachte dann für Europas Antisemiten zur Wende zum 20. Jahrhundert Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain (1855 – 1927), den Hitler noch persönlich kennenlernte und abgöttisch verehrte. Als britischer Privatgelehrter mit einem Faible für alles Deutsche legte er 1899 eine Schrift vor, die zum Standardwerk des theoretischen Rassenantisemitismus wurde. Auf mehr als 1000 Seiten fasste er in den Grundlagen des 19. Jahrhunderts[47] die bislang gängigen antisemitisch-rassistischen »Erkenntnisse« in einer Art Kulturgeschichte zusammen. Für ihn war der Arier die »Seele der Kultur«, denn er trage das Vermächtnis des Altertums in sich – die griechische Kunst und Philosophie, das römische Recht und das ursprüngliche Christentum. Diese Arier seien als »Herrenrasse« dazu auserwählt, ein neues Weltalter herbeizuführen. Voraussetzung dafür war auch für Chamberlain die »Reinhaltung« der Rasse, denn »edle Menschenrassen werden durch das semitische Dogma des Materialismus, das sich […] frei von allen arischen Beimischungen erhalten hatte, für immer entseelt und aus dem ins Helle strebenden Geschlecht ausgeschlossen«.[48] Zu den Bewunderern Chamberlains, der mit seinem Traktat die europäischen Literatursalons eroberte, gehörten neben Hitler unter anderen auch Kaiser Wilhelm II. (1859 – 1941), Winston Churchill (1874 – 1965) und Albert Schweitzer (1875 – 1965).
Die weitverbreiteten Grundlagen wurden im deutschen Sprachraum ergänzt durch einen verstärkten Rückgriff auf die germanische Mythologie, wie er schon bei Wagner stattfand. Der Österreicher Guido von List (1848 – 1919) verknüpfte diese mit einer theosophischen Kosmologie und der Forderung nach einer unbedingten »Rassenhygiene«, wie sie schon Gobineau verlangt hatte. Alles wurde zu einer Art »arischer Religion« verschmolzen, bei der die altgermanischen Gottheiten, wie Wotan, zu neuem Leben erstanden und den Runenzeichen eine magische Kraft zugeschrieben wurde. List beeinflusste auch einen anderen Ariosophen, wie die Vertreter dieser Weltsicht genannt wurden: Jörg Lanz von Liebenfels (1874 – 1954). Auch er wollte mithilfe einer neuen »arischen Religion« die Voraussetzungen schaffen, eine »arische Herrenrasse« heranzuzüchten, die für den Kampf der Rassen, vor allem den Kampf gegen die jüdische, gewappnet sein sollte.[49]
Die (pseudo-)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Rassen im Allgemeinen und der »Judenfrage« im Besonderen ging im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit einer immer stärker werdenden politischen Instrumentalisierung des Antisemitismus einher. Ein Paradebeispiel dafür ist das rückständige Russland, wo bis 1861 ein Drittel der Bevölkerung Leibeigene war und der alte Antijudaismus ungleich länger als anderswo in Europa fortlebte. Etwa fünf Millionen Juden lebten dort im sogenannten Ansiedlungsrayon, einer Art Riesengetto, in den westlichen und südlichen Gebieten des Zarenreiches, also in Litauen, Polen, der Ukraine, Wolhynien, Bessarabien, Teilen Galiziens und am Schwarzen Meer. Benz vergleicht ihre Situation bis zum Ersten Weltkrieg mit der der Juden Mitteleuropas im 18. Jahrhundert, wenn er schreibt: Sie seien eine »randständige, von jedem gesellschaftlichen Status und damit von adäquaten Erwerbs- und Aufstiegschancen ausgeschlossene rechtlose Minderheit« gewesen.[50]
Die russischen Juden mussten immer wieder als Sündenböcke für die politischen Fehlentwicklungen und die notorisch katastrophale Versorgungslage herhalten. So war es nach der Ermordung von Zar Alexander II. (1818 – 1881) in den 1880er Jahren zu einer Reihe von Pogromen gekommen. Unter dem letzten Zaren, Nikolaus II. (1868 – 1918), verschlimmerte sich die Situation der Juden noch. Viele von ihnen schlossen sich den neu entstandenen liberalen und später auch sozialistischen Parteien an. Sie hofften, ihre emanzipatorischen Wünsche so durchsetzen zu können. Aber auch andere Motive spielten eine Rolle. So schreibt der Kommunismusforscher Gerd Koenen, dass es auch die Vorstellung gegeben habe, »der stickigen Welt der Vorfahren in eine neue Form des Modernseins zu entkommen, nicht durch bürgerliche Assimilation, sondern durch die imaginäre Symbiose mit einem Proletariat […]«.[51] Die Antwort auf ihr politisches Aufbegehren war eine von Sankt Petersburg inszenierte Welle von Übergriffen und Pogromen, deren schlimmste 1903 in Gomel und Kischinew sowie 1905 in Odessa stattfanden.
In diesem Kontext entstand das wohl übelste aller antisemitischen Machwerke, das im Zuge der bolschewistischen Revolution von 1917 eine explosionsartige, millionenfache Verbreitung über den gesamten Globus finden sollte, sahen doch viele in ihm die Blaupause der die Welt erschütternden Ereignisse: Die Protokolle der Weisen von Zion.[52] Sie sind eine zusammenhanglose Collage, die es aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar macht, dass sie von den damaligen Zeitgenossen ernst genommen wurden, wenn es etwa heißt, das Ziel der »Weisen von Zion« sei es, eine »jüdische Weltherrschaft« aufzurichten. Diese sollte auf der »Allmacht des Goldes« gründen, aber auch auf der Unterdrückung der Arbeiterschaft. Aufgerichtet werden sollte diese Weltherrschaft durch die Zerstörung der Völker. Lüge, Betrug und Täuschung, politische Ideen wie der Liberalismus oder die Demokratie, die Prostitution und die unterwanderte Presse, aber auch Wirtschaftskrisen und bloßer Terror seien die Mittel, mit denen die Herrschaft verwirklicht werden sollte.
Bei den Protokollen handelte es sich angeblich um die Sitzungsprotokolle des ersten Zionistenkongresses, der im Jahr 1897 unter Führung des Begründers der zionistischen Weltbewegung, Theodor Herzl, in Basel stattgefunden hatte. Dort war es um die Schaffung einer gemeinsamen, auf dem Prinzip der Gleichheit gründenden und damit in gewissem Sinne sozialistischen Heimstätte der über alle Länder verstreuten Juden gegangen. Herzl begründete die Notwendigkeit eines Judenstaates in seinem 1896 erschienenen Buch Der Judenstaat mit »dem Verlust unserer Assimilierbarkeit«. Sie würden »nach unten hin zu Umstürzlern proletarisiert« und stellten »die Unteroffiziere der revolutionären Parteien«, während gleichzeitig »nach oben« ihre »furchtbare Geldmacht« wachse.[53]
In diese Zeit wird die Entstehung der Protokolle datiert, die freilich keinerlei realen Bezug zu der Zionistenkonferenz hatten. Dies schloss übrigens auch Hitler nicht aus, der sie aber in ihrer inhaltlichen Tendenz für überaus zutreffend ansah.[54] Tatsächlich waren sie das Werk des zaristischen Geheimdienstes. Erstmals veröffentlicht wurden sie 1903 als Neunteiler in einer Sankt Petersburger Gazette unter der Überschrift »Das jüdische Programm zur Welteroberung«.[55] Kurz darauf erschienen sie in Buchform mit dem Titel Das Große im Kleinen unter der Herausgeberschaft eines russisch-orthodoxen Schwärmers namens Sergei Nilus (1862 – 1929). Später gelangte das Traktat unter der Überschrift Der bald herannahende Antichrist an die russische Öffentlichkeit. Die Anspielung auf die Apokalypse verstärkte dessen wohlkalkulierte antisemitische Wirkung in der mythisch-religiösen Welt des Zarenreiches noch um ein Vielfaches, denn die vermeintliche jüdische Verschwörung wurde mit dem Kampf des Bösen gegen die göttliche Ordnung gleichgesetzt.
Der eskalierende Judenhass in Russland mit seinen Gewaltexzessen trug dazu bei, dass in den letzten drei Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges mehr als zwei Millionen Menschen mosaischen Glaubens das Zarenreich verließen. Sie emigrierten vor allem in die Vereinigten Staaten, in die Donaumonarchie und ins Deutsche Reich. In die weiter westlich gelegenen Länder Europas kamen nur wenige. Auch diesem Umstand ist es zuzuschreiben, dass Juden zum Beispiel im Frankreich des 19. Jahrhunderts nur 0,2 Prozent der Bevölkerung (das waren etwa 80 000 Menschen) stellten. Und dennoch gab es auch dort einen Antisemitismus, der unterschiedliche Ursachen hatte und mit der Abgegrenztheit der jüdischen Volksgruppen zusammenhing. Während die vor allem von der Iberischen Halbinsel stammenden sephardischen Juden in Südfrankreich gut integriert waren, waren – laut BenzLa France Juive[56]